Ein Tag auf dem Lootsen-Schooner
Ein Tag auf dem Lootsen-Schooner.
„In fünfzehn Minuten läuft der Schooner aus.“ Diese kurze mit Bleistift geschriebene Depesche weckte mich an einem schönen Sommermorgen in dem Ostseebade S., wo ich mich während der Hundstagsferien zur Cur eingenistet hatte, aus dem Schlafe. Mit Windeseile war ich angekleidet, und bald eilte ich durch die dichten „Anlagen“ dem Hafen entgegen. Mein freundlicher Hauswirth, der heute als Oberlootse den „Delphin“, einen schmucken Dampfer, befehligte, hatte mir die obige Nachricht zukommen lassen, um meinem Wunsche, eine Lootsenausfahrt mitzumachen, zu willfahren. Sein scharfes Seemannsauge hatte mich auf meiner Morgengaloppade schon längst erkannt, noch ehe ich davon eine Ahnung hatte, und von ferne winkte er mir zu, daß es die höchste Zeit sei. Ein kurzer Laufschritt, ein kühner Sprung – und ich war auf dem Schooner, der im nächsten Augenblicke vom Lande abstieß.
Während wir in die See hinausdampften, sah ich mich zunächst auf dem sehr sauber gehaltenen „Delphin“ etwas genauer um. Das fünfundzwanzig Meter lange Schiff trägt, wie alle Lootsenfahrzeuge, am Vordermast in eigenthümlicher Weise die deutschen Farben (schwarz-weiß-roth auf weißem Grunde), hat eine vorzügliche Maschine von sechsunddreißig Pferdekräften, eine freundliche Kajüte für den Oberlootsen und Steuermann, eine einfachere für die Lootsen, eine Kochvorrichtung und an Back- und Steuerbord je ein großes, mit Korksäcken versehenes hängendes Ruderboot. Die von dem Oberlootsen befehligte Besatzung besteht aus einem Steuermann, zwei Matrosen, zwei Maschinisten, zwei Heizern und neun Lootsen und repräsentirt eine nicht geringe Summe seemännischer Intelligenz; denn die Lootsen sind ausschließlich ehemalige Capitaine und Steuerleute, die außerdem durch strenge Examina ihre Befähigung zu dem wichtigen und gefahrvollen Lootsendienst dargelegt haben müssen.
Durch meinen liebenswürdigen Freund, den Oberlootsen, den einzelnen „Seebären“ in einfachster Form vorgestellt, war ich bald in die interessantesten Gespräche verwickelt und erfuhr, daß meine Reisegenossen die Fahrt um die Welt sämmtlich mindestens einmal gemacht, mit vielen Nationen verkehrt und mannigfache Unfälle erlebt hatten. Es war eine Lust, ihnen zuzuhören; wer je den Erzählungen älterer Seeleute gelauscht hat, wird empfunden haben, von welchem Ernste, von welch prunkloser, aber fesselnder Darstellungsweise alles durchdrungen ist, was sie sagen. Diese Männer der That machen keine leeren Worte; in ihrer knappen Redeweise liegt meistens etwas ungewöhnlich Entschlossenes, aber auch etwas unendlich Gutmüthiges, und das ist leicht erklärlich; hängt es doch mit dem Berufe und den Lebensgewohnheiten des Seemannes zusammen; denn keine Berufsgattung fördert zu so schnell entschlossenem Handeln auf, wie die des Schiffers, und in nur wenigen Lebensstellungen findet der Mensch zu aufopferungsfähiger Selbstvergessenheit so oft Gelegenheit wie in dieser, welche häufig genug Veranlassung giebt, eine erbetene oder nicht erbetene Hülfe schnell zu leisten, die weit über die starre Instruction hinausgeht.
Während ich in der Kajüte meines Freundes einen von ihm selbst bereiteten strammen Kaffee, der seine „Weißheit“ einem biederen Eigelb verdankte, eingenommen hatte, waren wir ein tüchtiges Stück weiter gedampft, sodaß die hinter uns liegende Küste im Morgennebel verschwand.
Auf dem Vordertheil des „Delphin“ geht es seit der letzten Viertelstunde recht lebhaft zu. Die Lootsen stehen in Gruppen zusammen; ein riesiges Fernrohr und ein Doppelglas, die beide deutliche Spuren unausgesetzter Benutzung tragen, wandern von Hand zu Hand und werden nach einer Stelle des Horizontes gerichtet, wo ein graues Pünktchen allmählich auftaucht, in welchem ein ungeübtes Auge nimmermehr ein Schiff vermuthet haben würde.
Für die Lootsen bildet es das Object der lebhaftesten Unterhaltung. Zunächst gilt es, zu ermitteln: ist das Fahrzeug ein „Lootsenschiff“, das heißt hat es den bestimmten Tonnengehalt, auf Grund dessen es mit einem Lootsen besetzt werden muß; denn kleinere Schiffe, Fischerboote etc. dürfen unter eigener Führung einlaufen. Ist es wirklich ein Lootsenschiff, so zeigt es auf der höchsten Mastspitze die „Lootsenflagge“; das ist eine einfache Flagge [128] in den Nationalitätsfarben, mit welcher also die Lootsenpflichtigkeit und zugleich die Staatsangehörigkeit des Fahrzeuges gemeldet wird. Mit Hülfe des Fernrohrs ist dies längst erkannt, noch ehe der Unkundige nur eine Ahnung davon hat. Nach einer halben Stunde ist das Fahrzeug näher herangekommen es ist ein prachtvolles Vollschiff mit unzähligen großen und kleinen Segeln, die von einer günstigen Brise aufgebläht werden und tüchtige Fahrt machen; stolz flattert uns die schwedische Flagge im Morgenwinde entgegen.
Jetzt beginnt die eigentliche Thätigkeit der Lootsen. Auf ein kurzes Kommandowort Seitens des Oberlootsen eilen Alle nach dem an Steuerbord hängenden Boote und lösen die Taue im nächsten Augenblicke saust das Boot nach unten und tanzt auf den Wellen, die mir, obgleich heute kein „Sturm“ ist, im Verhältniß zu der da unten schwimmenden Nußschale recht bedenklich erscheinen. Mit großer Geschicklichkeit und turnerischer Elasticität sind drei durch Turnus bestimmte Lootsen in das herabgelassene Boot gesprungen; Einer aus ihrer Zahl befestigt das ihm zugeworfene Tau an demselben, einige kräftige Ruderschläge - und das kleine Fahrzeug befindet sich im Schlepptau des Dampfers, der seine für wenige Momente gemäßigte Fahrt mit vollen Kräften wieder aufnimmt. Secundenlang verschwinden jene drei Lootsen vollständig hinter den Wellenbergen, die das Boot, dessen Spitze wegen der scharfen Fahrt 45° über der Meeresoberfläche hervorragt, vor sich aufthürmt. In den nächsten Minuten gilt es, die ganze seemännische Geschicklichkeit und Kühnheit zur Anwendung zu bringen, um dem Lootsen den Uebergang - oft ist es auch ein Ueberspringen - aus dem Boot auf das fremde Schiff zu ermöglichen. Alle Parteien, das Schiff, der Dampfer und das im Schlepptau befindliche Boot müssen jetzt mit größter Sicherheit und Sachkenntniß manövriren. Die erste Aufgabe des zu besetzenden Schiffes ist seine Fahrt zu moderiren und eine solche Stellung zu nehmen, daß die Leeseite (die gegen den Wind geschützte) dem Schooner zugewendet ist. Der Dampfer hat aber das Lootsenboot so nahe an jenes heranzuschleppen, daß es, bei dem Abwerfen des Taues, das heißt bei der Trennung von dem Dampfer, durch möglichst wenig Ruderschläge an das fremde Schiff herankommt. Das ist selbst bei mäßigem Wellengange stets ein gefahrvolles Stück. Ergreifen und Festmachen des zugeworfenen Taues, Anlegen, Ueberklettern des Lootsen, Wiederabstoßen des Bootes ist das Werk einiger Augenblicke und bei stürmischem Wetter ein Wagniß auf Leben und Tod.[1] Die beiden rudernden Lootsen suchen sich nun wieder an den Dampfer, der ihre Absicht durch Manövriren erfolgreich unterstützt, heranzuarbeiten, und während dieser Manipulationen nimmt der Oberlootse den geeigneten Augenblick wahr, um vom Dampfer aus mit dem fremden Schiffscapitain ein kurzes, dem Wellengeräusch zum Trotze laut ertönendes Gespräch anzuknüpfen über Woher? Wohin? etc. Dieser Dialog geschieht in einem Idiom (ein seltsames Gemisch von Plattdeutsch und Englisch), das durch die Zuthaten von technischen Bezeichnungen dem Laien absolut unverständlich ist. Nichts destoweniger erschien mir diese Sprache echt international; denn ich habe nie bemerkt, daß die Führer der verschiedensten Flaggen, die wir im Laufe der nächsten Wochen einholten, den Dialog nicht angenommen hätten. Jener Lootse, den wir glücklich an Bord des Schweden gebracht sahen, hat von diesem Augenblick das Commando des Schiffes übernommen, er wägt alle Verantwortlichkeit und ist dem Capitain übergeordnet. Bleibt das Fahrzeug im Hafen, so hört mit dem herabrollenden Anker die Thätigkeit des Lootsen auf, dieser wird an Land gesetzt, erstattet aus dem Bureau die betreffenden Meldungen und ist nun bis aus Weiteres ohne Thätigkeit; ist das hereingebrachte Schiff aber ein durchpassirendes, so wird es nach Erledigung der erforderlichen Formalitäten durch einen „Land- oder Binnenlootsen“ (eine Gruppe, die nur auf dem Strome thätig ist), weiter geführt.
Mittlerweile haben wir neue Schiffe aus West und Ost entdeckt, zwei Barks, eine Brigg und einen englischen großen Dampfer innerhalb der nächsten Stunden besetzt und finden jetzt Muße, unser Mittagsmahl auf dem (ohne Dampf) „treibenden“ Schooner einzunehmen.
Der Schiffskoch hat heute recht schmackhafte Brühkartoffeln hergestellt, zu welchen sich einzelne Lootsen Fische gebraten haben, deren einladender Duft lieblich mit der an Bord wehenden frischen Brise contrastirt. Unter anregenden Gesprächen mit meinem freundlichen Wirth fließen die Stunden schnell dahin. Wäre es nicht das bewegliche Element, auf dem wir uns schaukeln, wir könnten sagen: es ist ein eminent historischer Boden, den wir betreten haben. Dort drüben ist die Stelle, wo das sagenreiche Vineta in die Fluthen versunken ist. Welche Völker und Nationen sind nicht hier vorübergesegelt, von den Phöniciern und Gothen bis zu den Schweden und Dänen, die zu ungezählten Malen von hier die deutschen Küsten heimsuchten! Diese Wellen trugen die „Galeyen und Strußen“ Gustav Adolf's und kurze Zeit nachher die sterblichen Ueberreste dieses edlen Schwedenkönigs.
Die Pflicht ruft indeß wieder und bringt neue Bewegung in die Mannschaft des Schooners. Es ist eine Brigg in Sicht, die, wie der gebrochene Vordermast und die langsame Fahrt zeigt, Havarie gelitten hat.
Mit vollem Dampfe eilt ihr der „Delphin“ entgegen, um ihr thatkräftige Hülfe zu bringen, und in kurzer Zeit ist sie besetzt und befindet sich in unserem Schlepptau. Wir steuern dem Hafen zu, da kein ankommendes Schiff weiter zu entdecken ist – da plötzlich ertönt das Commando „Langsam!“; das Schlepptau wird losgeworfen, und wir müssen die Brigg ihrem Schicksal überlassen; denn auf dem Ausguckthurm der äußeren Lootsenstation erscheint eine Doppelflagge (oben schwarz-weiß, unten schwarzes Rechteck mit weißem Kreis), sie giebt das Signal: „Ein Schiff in Sicht“.
Als Antwort, daß wir die Mittheilung empfangen haben, wird unsere Flagge einen Moment herabgeholt und dann wieder gehißt, in welchem Augenblicke auch das Signal vom Thurm verschwindet. Wir wenden demnach, um das hoffentlich letzte Fahrzeug für heute einzuholen; denn die von uns schnöde verlassene Brigg erhält von anderer Seite bald Hülfe. Längst ist sie im innern Hafen avisirt worden, und einige Privat-Schleppdampfer, die mit dem Lootsenwesen außer aller Verbindung stehen, sind, in ihrer Fahrt concurrirend, bei der willkommenen „Beute“ angelangt und bewerben sich um die Gunst des fremden Capitains. Wunderliche Scenen sollen sich oft zwischen dem Führer des Schleppers und dem des ankommenden Schiffes entspinnen. In allerdings derb seemännischer Art stellt der erstere die Frage des Dichters: „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?“ das heißt in Prosa „Was bezahlst du mir, wenn ich dich, da dir der Athemzug der treibenden Brise innerhalb der Moolen bald ausgehen wird, an das Bollwerk schleppe?“ Man feilscht unter dem Gebrüll der sich brechenden Wogen hin und her, bis endlich der Handel abgeschlossen wird und der Schlepper Vorspanndienste übernimmt.
In mindestens einer Stunde kann das zuletzt gemeldete Schiff erst herangekommen sein. unser „Delphin“ legt sich deshalb schließlich noch auf den Fischfang. Wer indeß zur Ausführung desselben Angeln und Netze oder sonstige Vorrichtungen voraussetzen würde, dürfte sich in schwerem Irrthum befinden; der „Fang“ geschieht auf ganz andere Art. Von Westen her taucht eine ganze Flotille Fischerböte auf, die dem Hafen zusegelt. Mit merkwürdigem Kennerblick haben die Lootsen das „Gesuchte“ herausgefunden, und drei bis vier Mann springen in unser Boot, mit der gewohnten Geschicklichkeit sind sie in kurzer Zeit an die Fischer herangekommen, es wird angelegt, herübergeklettert, gehandelt, gekauft (natürlich billig), und nach einer halben Stunde sind Alle zurück, einige Eimer frische Fische als Ausbeute des improvisirten Fanges mit sich bringend. Sofort beginnt das Ausnehmen und Schaben der Flundern, und zwar wird es mit großem Geschick ausgeführt; denn jeder Seemann versteht bekanntlich mehr vom Kochwesen, als manche stolze Köchin zu Lande. An Wasser ist kein Mangel, sodaß bald die schmucksten Gerichte fertig sind, an welchen die damit beglückten Hausfrauen der Lootsen ihre helle Freude haben werden.
Das erwartete Schiff, ein russischer Transportdampfer, ist endlich herangekommen es wird schnell besetzt. Noch ein kräftiges „Vorwärts“ des Oberlootsen – und wir dampfen mit voller Kraft „nach Hause“, froh der Fahrt und ihrer Resultate, aber auch froh, den mütterlichen Erdboden wieder betreten zu können.
- ↑ In den seltenen Fällen, wo ein Auslaufen des Lootsenfahrzeuges unmöglich ist, tritt die „Windbaake“ in Thätigkeit. Das ist eine schlagbaumartige Vorrichtung, mit welcher durch Bewegungen nach links und rechts dem gefährdeten Schiffe die Einfahrtslinie zugewinkt wird. Bei nebligem Wetter wird eine Glocke gezogen; sie würde, könnten wir ihre metallene Zunge deuten wohl von mancher Unglücksstunde berichten können. ( Vergleiche auch Jahrgang 1880, S. 568 u. f.)