Ein Liebesdrama im Berliner Tiergarten

Textdaten
Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Ein Liebesdrama im Berliner Tiergarten
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10, Seite 200–265
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
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Ein Liebesdrama im Berliner Tiergarten.

Die Liebesdramen des alten Homer beruhen bekanntlich nur auf einer Sage, die jedoch der unsterbliche klassische Dichter des grauen Altertums in herrlicher Weise besungen hat. Wem geht nicht noch heute das Herz auf, wenn er sich der schönen Jugendtage erinnert, an denen er als Primaner die Gesänge Homers gelesen hat. Wie schön schildert Homer den trojanischen Krieg, der von 1193 bis 1184 vor Christo geführt wurde, weil Paris, der zweite Sohn des Königs Priamos von Troja, die schöne Helena, Gemahlin des Königs Menelaos von Sparta, entführt hatte und Priamos sich weigerte, die Helena herauszugeben. Auch die prächtige Schilderung Homers von den Sirenen, den drei reizenden Jungfrauen, die auf einem Eiland des Westmeeres zwischen der Insel der Kirke und der Szylla, auf einer blumigen Strandwiese, umgeben von bleichenden Menschengebeinen, weilten und durch ihren bezaubernden Gesang die Vorübersegelnden anlockten, um sie zu töten, ist selbstverständlich nur eine romantische Dichtung. Wenn es dem alten Homer vergönnt gewesen wäre, von den Toten aufzuerstehen und in der Nacht vom 7. zum 8. März 1913 den Berliner Tiergarten zu passieren, dann hätte er, in der Nähe der Lichtensteinbrücke, bei silberhellem Mondeslicht eine junge Dame, mit einem geladenen Revolver bewaffnet, gesehen, die unwillkürlich an die von ihm geschilderten Sirenen erinnerte. Wohl war es nicht bezaubernder Gesang, der den 19jährigen Georg Reimann zur späten Nachtstunde an die Stelle des Tiergartens führte, in deren Nähe ein Bach, leise rauschend, dahinfließt. Aber eine bezaubernd schöne Mädchengestalt hatte den ebenfalls entzückend schönen, schwärmerisch veranlagten Jüngling angelockt. Ein kurzer Blick in das engelschöne Antlitz des jungen Mädchens, das die Mordwaffe bereits schußbereit in ihrem Muff verborgen hatte, eine kurze Auseinandersetzung:

„Du oder ich, einer von uns beiden ist zu viel auf der Welt“,

ein kurzes Ringen und – zwei Schüsse hallten durch die Stile der Nacht, ein junges Menschenleben, ein selten schöner, adretter Jüngling, ein zweiter Paris, lag entseelt am Boden. Das Blut sickerte in starken Strömen aus dem Hinterkopfe des jungen Mannes, in den er zwei tödliche Schüsse erhalten hatte. Das Erdreich färbte sich blutrot. Drei junge Leute waren, von den Schüssen aufgeschreckt, an den Tatort geeilt. Der 19jährige Hausdiener Georg Reimann lag entseelt auf dem feuchten Rasen, das Gesicht nach unten gekehrt. An einem gegenüberstehenden Baum lehnte die auffallend schöne, 20jährige Hedwig Müller. Sie sah starr vor sich hin. „Er hat sich erschossen“, stammelte sie, dann fiel sie in Ohnmacht. – In einer armseligen Hofwohnung der Weltstadt saß eine abgehärmte, ältere Frau und nähte emsig. Sie mußte die Nächte zu Hilfe nehmen, wenn sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter, die augenblicklich ohne Stellung war, verdienen wollte. Mit Entsetzen sah die fleißige Frau, daß die Uhr auf Mitternacht zeigte. Ihr einziges Kind Hedwig war von ihrem Stelldichein aus dem Tiergarten noch immer nicht zurückgekehrt. Nichts Gutes ahnend, kleidete sich Frau Müller an und steuerte dem Tiergarten zu. „Hede! Hede!“ rief Frau Müller aus vollen Leibeskräften in die Stille der Nacht hinein; alles Rufen und Suchen war aber vergebens. Frau Müller eilte weinend nach Hause; was mag der Hede passiert sein? sagte sie halblaut, als sie in die Wohnung zurückkehrte und von Hedwig noch immer keine Spur zu entdecken war. Da endlich, kurz vor zwei Uhr nachts, pochte es an der Tür. Hedwig trat mit furchtbar verstörtem Blick ins Zimmer, und noch ehe Frau Müller fragen konnte, was geschehen sei und weshalb sie so spät komme, brach Hedwig in die Worte aus:

„Georg ist tot!“

Hedwig konnte vor Aufregung die ganze Nacht kein Auge schließen. Am folgenden Tage beruhigte sie sich, da sie hörte: die Polizei sei zu der Überzeugung gelangt, daß Georg Reimann Selbstmord begangen habe und die Leiche zur Beerdigung freigegeben sei. Allein die Gerichtsärzte, Medizinalrat Dr. Hoffmann und Medizinalrat Dr. Störmer stellten bei der Obduktion fest, Reimann habe zwei Schüsse in den Hinterkopf erhalten, von denen jeder einzelne tödlich war, ein Selbstmord sei daher ausgeschlossen. Sei es schon unwahrscheinlich, daß der Getötete sich selbst in den Hinterkopf geschossen habe, so sei es jedenfalls unmöglich, daß er auch den zweiten Schuß auf sich abgegeben habe. Dieses Gutachten war die Veranlassung, daß die Staatsanwaltschaft die

Verhaftung der Hedwig Müller

verfügte. Das entzückend schöne Mädchen, das am 4. April 1893 geboren, also zur Zeit der Tat erst 19 Jahre alt war, mußte sich vom 3. bis 7. Oktober 1913

wegen Mordes

vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I verantworten. Dieses in den Annalen der Kriminaljustiz wohl einzig dastehende Vorkommnis hatte begreiflicherweise ein ungeheures Aufsehen nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Deutschen Reiche und auch im Auslande hervorgerufen.

Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Landgerichtsrat Schlichting. Die öffentliche Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae. Die Verteidigung hatten Justizrat Leonhard Friedmann und Rechtsanwalt Dr. Ledermann übernommen. Als Sachverständige wohnten der Verhandlung bei: Medizinalrat Dr. Hoffmann, der Oberarzt der Irrenanstalt Dalldorf Geh. Medizinalrat Professor Dr. Kortum, Nervenarzt Dr. Toby Cohn, praktischer Arzt Dr. G. Steinitz und als Schießsachverständige Major a. D. Berger und Hofbüchsenmacher Barella. – Die Angeklagte wurde in blauem, ausgeschnittenem Kleide aus der Untersuchungshaft auf die Anklagebank geführt. Es war begreiflich, daß sich die Blicke der zahlreichen Zuhörer und Zuhörerinnen der blendend schönen Hedwig zuwandten. Sie machte keineswegs den Eindruck einer Angeklagten, über deren Haupt

das Richtbeil

schwebte. Die Anklage lautete

auf Mord

im Sinne des § 211 des Strafgesetzbuches. Auch als die Mutter der Angeklagten und zwei Schwestern, sowie der Bruder des Getöteten als Zeugen im Saale erschienen, blieb Hedwig Müller vollkommen ruhig. Sie beantwortete alle Fragen des Vorsitzenden mit einer geradezu erstaunlichen Gewandtheit. Sie verstand, ihre Rolle als die gekränkte Unschuld vortrefflich zu spielen. Die angeklagte junge Dame hatte ein so wohlklingendes, prächtiges Organ und verstand derartig logisch ihre Verteidigung zu führen, daß ihr bezauberndes Äußere ganz wesentlich noch beim Sprechen gewann. Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte die Angeklagte: Sie bestreite, den Reimann erschossen zu haben. Reimann sei sterblich in sie verliebt gewesen, und zwar derartig, daß er sich im Packraum der Mittlerschen Buchhandlung, in der sie beide beschäftigt waren, den Kopf an der Wand einrennen wollte, weil sie seine Liebeswerbungen abwies. Nach längerer Zeit habe sie ihm Gehör geschenkt. Reimann habe sehr bald erfahren, daß sie mit einem Dr. Sternberg ein intimes Liebesverhältnis unterhalte. Reimann, der furchtbar eifersüchtig war, habe ihr deshalb die heftigsten Vorwürfe gemacht, sie beschimpft und ihr gedroht, von dem Verhältnis dem Chef Mitteilung zu machen. Sie habe alles mögliche aufbieten müssen, um den stürmischen Jüngling zu beruhigen. Er habe sie aber auf Schritt und Tritt verfolgt und, als sie eines Abends mehrere Stunden in der Wohnung des Dr. Sternberg zugebracht hatte, habe sie Reimann unten erwartet, sie wieder von neuem beschimpft und ihr Vorwürfe gemacht. Sie hatte aus Anlaß des Verhaltens von Reimann, der sonst ein sehr netter Junge war, den Entschluß gefaßt, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte sich deshalb einige Tage vor dieser Begebenheit bei Wertheim in der Leipziger Straße einen Revolver gekauft. Als Reimann im Tiergarten wiederum Zank anfing, habe sie den Entschluß gefaßt, ihrem Leben ein Ende zu machen. Sie habe den Revolver aus der Tasche gezogen. Als Reimann dies gesehen, habe er ihr die Waffe mit Gewalt entrissen. Dadurch müsse entweder ein Schuß losgegangen und dem Reimann in den Kopf gedrungen sein, oder Reimann habe sich selbst erschossen. Genau wisse sie das nicht, sie sei in solcher Aufregung gewesen, daß ihr der ganze Vorgang nur noch dunkel in Erinnerung sei; sie hätte fast das Bewußtsein verloren gehabt. – Vors.: Es ist Ihnen doch bekannt, Angeklagte, daß Reimann zwei Schüsse im Hinterkopf hatte, die, wie die Sachverständigen begutachten, ihm von fremder Hand beigebracht sein müssen. – Angekl.: Ich habe jedenfalls Reimann nicht erschossen. – Vors.: Die Angeklagte hat auf Veranlassung des Untersuchungsrichters ihre Lebensgeschichte und auch das Vorkommnis vom 7. März 1913 in ausführlicher Weise geschildert. Da das Schriftstück ein Charakterbild der Angeklagten veranschaulicht, werde ich es, soweit es in öffentlicher Sitzung zulässig ist, zur Verlesung bringen. Das Schriftstück lautet: „Ich Hedwig Lucie Marie Müller bin am 4. April 1893 geboren. Mein Vater

war Architekt. Auf meine erste Kindheit, bis etwa zum
Hedwig Müller.
6., 7. Jahre, kann ich mich nur so weit besinnen, als ich durch Erzählungen meiner Mutter oder Verwandten unterstützt werde, da eine mehrwöchentliche Nervenkrankheit im 12. oder 13. Jahre eine Gedächtnisschwäche für längere Jahre zurückliegende Ereignisse zur Folge hatte. Ich weiß aber aus Schilderungen, daß ich ein außerordentlich geistig reges Kind war, ich war auch ziemlich graziös und zeigte ungefähr im 5. Jahr ein auffallendes Talent zum Theaterspiel. Im Umgang mit Kindern hatte ich eine Art, mir möglichst die Herrscherrolle anzueignen und dachte und handelte stets für die mitspielenden Kinder, ohne aber zänkisch und trotzig zu sein. Lange machte mir jedoch solch Spiel nicht Spaß, ich zog Erwachsene Kindern vor, da diese ja eher meiner Gedankenrichtung folgen konnten. Ich liebte es besonders, von Erwachsenen in Gespräche gezogen zu werden, was häufig geschah, da man sich an meiner anmutig, bescheidenen, aber doch altklugen Art zu fragen oder Bemerkungen zu machen, belustigte. Im 6. Jahre weiß ich, daß meine Brüder vielfach in einer studentischen Verbindung verkehrten, die in den Vereinszimmern eines Familien-Stammlokales ihre Kommersabende und Sitzungen abhielt. Es war mir eine diebische Freude, mich dort gelegentlich einzuschmuggeln und hatte mir bald einen liebenswürdigen, netten Studenten herausgeangelt, den ich allen als „meinen Freund“ vorstellte. Ich war bald der erklärte Liebling sämtlicher Stammtische und durfte auch manchmal allen Anwesenden „mit dem ganzen Inhalt eines kleinen Himbeers“ kommen. Bald war jedoch die Zeit da, die dem Spiel ein Ende machte, indem ich zur Schule geschickt wurde, und zwar besuchte ich eine Charlottenburger Volksschule, in der ich mich zwar sehr wenig wohl fühlte, aber dafür die letzten Bänke drückte. Ich konnte mich absolut nicht an das aufmerksame Stillsitzen gewöhnen, sondern bevorzugte, da ich viel Schick zur Frisierkunst hatte, mich mit den Zöpfen meiner Vorsitzenden zu beschäftigen, was mir stets erforderliche Prügel einbrachte. Ich hatte absolut keine Zuneigung, weder zum Lehrer noch zu den Schularbeiten, und es verging kein Tag, daß dieselben ohne Tränen fertig wurden. Ich brachte es aber doch immer zur Versetzung, trotzdem noch einige Wochen Schulbesuch ausfiel wegen der üblichen Kinderkrankheiten Scharlach und Masern, der sich dann schließlich auch eine Umschulung wegen Verzuges nach Moabit in die dortige 199. Gemeindeschule anschloß. Gelegentlich dieser Umschulung wurde die Frage erörtert, ob man mich nicht in die Kgl. Elisabethschule in der Kochstraße stecken sollte, die bereits sämtliche weiblichen Verwandten meines Vaters besucht hatten. Klopfenden Herzens wurde ich auch von dem damaligen Schuldirektor examiniert, da aber eine augenblickliche starke Überfüllung in der Klasse, der ich hätte eingereiht werden müssen, herrschte, sollte ein Gesuch um Aufnahme ein Semester später wiederholt werden. Später wußte ich aber durch Bitten dahin zu wirken, daß dies unterblieb, da ich 1. eine ausgesprochene Abneigung gegen Zwang und Formen hatte, 2. aber mich für recht dumm hielt und ein Mich-lächerlich-Machen schwer überwinden konnte. Ich kam also in die

genannte Schule, in der es mir ähnlich wie in der ersten erging. Ich kam zu einem alten Fräulein, das meinem einst- maligen Lehrer außerordentlich glich. Die ersten Zensuren fielen auch recht mäßig aus, ohne daß aber die Versetzung je ausblieb. Endlich kam ich in der 6. Klasse zu einem Fräulein gleichen Namens wie ich. Dieser Zufall ließ mich sie näher in Augenschein nehmen. Ich fand bald, daß sie weit netter, denn die übrigen Lehrkräfte war. Es machte mir auch nichts aus, daß ich wegen meiner fürchterlichen Schrift Hiebe bekam. Bei der zweiten Zensur hatte ich mich so wesentlich heraufgearbeitet, daß es allgemein auffiel. War mir früher das Lernen eine Strafe gewesen, so war es mir jetzt eine Lust, und gleichzeitig wuchs eine an Verehrung grenzende Liebe zu diesem Fräulein in mir. Sie war uns nicht die „Paukerin“, sondern die herzlich interessierte Mitarbeiterin. Ich blieb zu meiner Freude während aller Versetzungen bis zur 1. Klasse, die der Rektor selbst in den Hauptfächern beaufsichtigte, bei ihr, und die Trennung wurde mir herzlich schwer. Sie hatte während dieser 5 Jahre mich auch privatim zu sich herangezogen und mir, da sie Blumenliebhaberin war, die Pflege derselben anvertraut. Dieser Umstand erlaubte es mir denn auch im letzten Halbjahr in den Pausen zu ihr zu flitzen. Die erste Klasse brachte nicht viel Neues und ließ ich wieder etwas nach, zumal wir uns daheim entschlossen hatten, durch Eingabe an die zuständige Deputation Dispens vom 2. Halbjahr zu erlangen, um mich schneller an einen Geldverdienst zu bringen. Ferner ist man ja auch dann in dem Alter, in dem die Tollheiten ernstes Lernen aus dem Kopf treiben.

Die Zeit meiner Einsegnung war da und gleichzeitig legte sich die Schwester meines Vaters, ebenfalls eine H. Müller, die einige Monate vorher eine schwere Operation durchgemacht hatte, zu letzter Krankheit. Dieselbe Tante hatte seit 25 Jahren mit einer Freundin, der jetzigen Frau Lehmann, zusammengelebt und geschafft, war unverheiratet geblieben, hatte unter dem Zusammenbruch der Familie sehr gelitten, sich von der Welt sehr abgewendet und in aufrichtiger Liebe und selbstlosester Aufopferung an diese Freundin angeschlossen. Ihre Liebe zu meinem Vater hatte sich bereits in gesunden Tagen auf mich übertragen. Sie hatte mir oft in unvergeßlich schönen Stunden, die ich mit ihr in Niederschönhausen während meiner Ferienzeit verlebte, von unseren Voreltern erzählt. Unter anderem, daß zirka 4–5 Generationen zurückgegriffen, die Vertreter eine Linie Ratsämter am hiesigen Hofe bekleidet, eine andere Linie auf dem Ende des 17. Jahrhunderts berühmt gewesenen Kupferstecher G. Müller zurückzuleiten ist. Noch mein Großvater und Urgroßvater seien ziemlich bedeutende Männer gewesen und nannte sie mir auch Kunststätten, deren Deckenmalereien von den Müllers ausgeführt waren. Die Vertreter der Künstlerlinie waren allmählich zur Porträtmalerei und später zur architektonischen Kunst übergegangen, durch Degeneration war die Familie von höchster Höhe zu dem jetzigen Stande heruntergekommen, und weil die außergewöhnliche Begabung und Intelligenz sämtlicher Männer ihnen hohe Einkünfte brachte und sie dem Leichtsinn nachhingen, Unsummen zu verspielen und zu vergeuden. Sie selbst hatte, zart besaitet, diesen Niederschlag schwer empfunden und ernst an sich gearbeitet, den eventuell ererbten Leichtsinn zu unterdrücken. Wiederholt hatte sie mich dringend gemahnt, daß ich auch eine Müller sei und meine Intelligenz nur zu gutem Tun verwenden dürfte. Diese Tante nun wünschte mich nach meiner Einsegnung bei sich zu haben, und so ging ich mit 14 Jahren zu ihr. Sie starb, nachdem sie ihre Freundin gebeten, mich im Auge zu behalten.

Aus Pietät der Toten gegenüber blieb ich ein halbes Jahr bei der neuen Tante, die dann auf Reisen ging. Ich sollte nun etwas lernen, und zwar wurde, da ich häufig ganz guten Geschmack bewiesen, die Schneiderei als günstiger Beruf angesehen. Ich arbeitete nun praktisch ein Jahr bei einem ersten Gesellen meiner Tante, die in den achtziger Jahren mit zu den Inhabern erster Ateliers gehörte. Es stellte sich aber bald heraus, daß die Entwürfe, die der Kopf brachte, von den Händen nicht ausgeführt werden konnten, also ein Brotverdienen damit, wenigstens in jungen Jahren, nicht möglich war. Inzwischen heiratete die Tante, die sich an ein Alleinsein nicht gewöhnen konnte, einen gleichalterigen Jugendgespielen. Sie zogen nach Niederlehme bei Königswusterhausen in das Landhaus des Mannes und luden mich ein, mich bei ihnen, wenn ich wollte, zu erholen, da ich sehr durch meine Schneiderei körperlich heruntergekommen war. Ich nahm die Einladung an und richtete mich sehr gut dort ein.

Hedwig Müller schilderte dann ihren Aufenthalt in Niederlehme und fuhr alsdann fort: „Bei meinem Erscheinen trug man mir, da man viele auffallende Ähnlichkeiten mit der Toten bei mir entdeckte, die gleichen Gefühle wie seinerzeit ihr entgegen. Mir entgingen natürlich die Dinge nicht, und ich begegnete der falschen Freundlichkeit entweder mit burschikosem Berlinertum oder beißender Ironie, je nach- dem man bei mir getippt hatte. Es dauerte nicht lange, da legte man mir Erbschleicherei zur Last und viele schöne Tugenden mehr. Ich wollte den Klatschmäulern den Sieg nicht ohne weiteres gönnen und hielt mit gekniffenen Zähnen durch. Endlich entschlossen sich meine Tante und deren Mann zu einem Hauskauf in Berlin. Ich nahm das als günstige Gelegenheit wahr, um, nachdem ich noch einen vierwöchentlichen Umzug durchgekostet, nach Hause zu gehen. Dort türmten sich auch dunkle Wolken zusammen. Meine Brüder aus erster Ehe meiner Mutter, hatten nach dem Ausscheiden meines Vaters die Erhaltung des Hausstandes übernommen. Der eine hatte sich, um der Verpflichtung schnell zu entgehen, in eine Ehe gestürzt, bei der sich bald herausstellte, daß es mehr Hölle denn Ehe war. Er ging bald nach dem Rhein. Nun lagen die ganzen Sorgen auf meines ältesten Bruders Schultern. Beide Brüder haben eine Volksschule besucht, aber durch Fleiß, besonders der älteste, es als Ingenieur in der Brückenbaubranche zu ersten und gut bezahlten Stellungen gebracht. Diese zähe Energie, hochzukommen aus einem Nichts, hatte dem ältesten Bruder schwere Nervosität eingebracht, und so sehnte er sich, möglichst schnell ebenfalls die Last abzuschütteln. Ich ging also in diese wirren Verhältnisse zurück im Vertrauen auf einen glücklichen Zufall und meine wirtschaftlichen Kenntnisse. Das Glück ließ mich bald eine Stellung finden und es währte nicht lange, da sprang mein Bruder mit beiden Beinen zugleich von uns weg.

Wir waren nun, meine Mutter und ich, auf uns beide angewiesen. Wir vermieteten und schränkten uns äußerst ein, um mit meinem Gehalt von 45 Mark auszukommen. Durch Zufall wurde noch die Kinderfräuleinstelle bei meinem Chef, dem Zahnarzt Dr. Oppler, bei dem ich als Empfangsfräulein tätig war, frei, und ich übernahm noch mehr Arbeit gegen eine monatliche Entschädigung von 10 Mark und Verpflegung. Es wird eigenartig klingen, daß zwei Menschen mit dem Geld auskamen, aber es ging, wenn auch gerade nur... Meine Garderobe stellte ich mir mit äußerst geringen Mitteln selbst her, und meine Mutter war noch versorgt. Ich hielt das vierzehn Monate durch und lernte in den letzten Monaten abends in einem Schnellkursus auf einer Handelsschule Stenographie und Schreibmaschine und suchte dann eine neue Stellung.

Ich fand solche bei Herrn Rechtsanwalt Dr. Freundlich, der eine kleine Praxis hatte und eine Anfängerin brauchte. Ich war drei Monate für ein Gehalt von 25 Mark bei ihm tätig. Da bot sich mir Juli 1911 die Stellung im Hause Mittlers Sort. (A. Bath), Mohrenstraße 19. Ich wurde dort mit einem Gehalt von 60 Mark als Expedientin engagiert. Nach einem halben Jahr bekam ich eine Zulage von 15 Mark. Ich war sehr stolz auf diese, wie mir schien, fürstliche Gage und fühlte mich recht wohl dort, zumal mein Chef, ein äußerst liebenswürdiger Herr, stets herzlich nett zu mir war. Ich darf wohl behaupten, mich einer gewissen Beliebtheit erfreut zu haben. Mein freies, heiteres Wesen sprach an, und selbst die Gattin meines Chefs, die häufig ins Geschäft kam, war stets recht liebenswürdig zu mir. In diesem Sommer, 1911, ging meine Mutter, die in den letzten Jahren so ungemein viele Entbehrungen erlitten, die einen alten Menschen von 56 Jahren, der im Leben unendlich schwere Schicksalsschläge ertragen, ja weit härter ankommen wie einem jungen, zu ihrer Schwester, die im Frühjahr in Fangschleuse eine Familienpension übernommen hatte, einer Frau Brachwitz. Auf dem Wege dorthin begleitete ich sie und sah dort Herrn Dr. Sternberg. Ich mußte abends allein nach Hause fahren, da meine Mutter auf Wochen dort bleiben sollte. Der Zufall wollte es, daß Herr Dr. Sternberg den gleichen Zug zur Rückkehr von seinen Ausfluge nach Berlin benutzte, wie ich, und so war bald eine Unterhaltung angeknüpft und weitergesponnen, da mich die Zufälle belustigten. Wir erzählten uns allerlei lustiges Zeug, und er brachte mich nach Hause. Beim Verabschieden die übliche Bitte um ein Wiedersehen, die sonst stets prompt von mir mit Lachen zurückgewiesen, war diesmal nicht vergebens, da mir seine zwanglose, natürliche Art riesig imponiert hatte. Ich verabredete tatsächlich ein Stelldichein mit ihm. Aber bereits in meiner Wohnung angekommen, ärgerte ich mich über mein Nachgeben und setzte mich sofort, nachts um 12 Uhr, noch hin und schrieb ihm wenige freundliche Zeilen, daß ich kein Wiedersehen wünsche, und brachte den Brief sofort zum Kasten. Ich war sehr stolz auf meine Überwindung, die im Grunde genommen eine sehr kleine war, da es mich nie schmerzte, kleine Abenteuer zu unterlassen.

Ich kann nicht sagen, daß ich je von Liebessehnen belästigt worden bin. Vielleicht lag es daran, daß man mir schon als dreizehn-, vierzehnjähriges, stark entwickeltes Mädchen nachgestellt und ich stets, wo ich auch hinkam, durch meine tolle Ausgelassenheit und schäumende Jugendlust einerseits und reifere Denkungsart andererseits zum Mittelpunkt des Interesses der Herren wurde, was mir ja a tempo die Wut und Eifersucht der Mädchen, ja Frauen eintrug, daß sich der Reiz des Umschwärmtwerdens sehr bald bei meiner nicht vorhandenen Arroganz vollkommen verlor, ich den Herren nicht als Dame, sondern den Menschen als wilder Übermut gegenüberstand. Es hätte wohl kaum eine angeregte Dummheit gegeben, der ich mich nach Aufforderung zur Beteiligung widersetzt hätte. Ich drängte mich nie Menschen auf, sondern wartete stets, selbst jüngeren gegenüber, bis man zu mir kam. Es geschah dies tatsächlich nicht aus Stolz, den man mir angedichtet, sondern aus dem persönlichen Gefühl heraus, nur nicht einem Menschen auf die Nerven fallen, oder etwa als armes Mädchen Verbindungen heischen zu wollen. Daher ergab es sich, daß ich nie zu einer Freundin gekommen war.

Ich habe viele Herren kennen gelernt, habe aber immer gesehen, alles möglichst vorübergehend zu behandeln. Sie waren ja alle so geckig, daß ich ihnen sehr bald die Wahrheit sagte, die natürlich wehtat.

Aus der ersten natürlichen Veranlagung heraus, mich nicht Menschen anzuketten, zweitens dem absoluten Nichtbegehren eines Mannes und drittens eingedenk der Worte, daß ich eine Müller sei, war es mir nie schwer, selbst goldenen Fallen zu entgehen.

Im Oktober führte der Zufall mich wieder mit Dr. Sternberg zusammen. Er war inzwischen verreist gewesen. Wir sahen uns häufig, aber nur kurze Zeit, da er sich neben seinem Beruf noch literarisch betätigte. Ich ging den Winter über auch in seiner Wohnung aus und ein und gewann ihn ganz langsam recht lieb. Er hatte eine überaus zarte Art, den Zwischenraum zwischen uns so gut zu überbrücken, daß er mir so bald zu einem Erzieher wurde, dem ich manches an Benehmen ablernte, und ich wurde ihm zu einer harmlosen Unterhaltung für wenige übrige Zeit. Es war noch immer ein Verliebtgetue, aus dem erst im April 1912 ein richtiges Liebesverhältnis wurde. Trotzdem auch hierbei mir das Herz nicht mit dem Verstand durchging, indem ich mich ganz in Liebesfesseln einwühlte, ließ ich manches, was ihm nicht behagte, und da ich merkte, daß es zu meinem Vorteil, gab ich vielfach meine Freiheitsbestrebungen auf, schloß mich ihm wohl auch an, ließ aber immer eine Schranke zwischen uns, die es uns in jedem Augenblick ermöglichen sollte, ohne jeden Mißklang einander freizugeben. Ich machte mich in keiner Beziehung von ihm abhängig, und kam ihm auch nie mit irgendwelchen Miseren, deren ich so reichlich zu verzeichnen hatte. Ich kannte seine große Nervosität und seine starke Abneigung gegen Tratsch und Gewäsch, daß ich ihn nie hätte belästigen mögen. Ich war stets aufrichtig bemüht, ihm, so gut ich konnte, angenehme Gesellschafterin und Unterhaltung zu sein.

Unser Verkehr war uns beiden das naturgemäße Empfinden zweier Menschen, die, gesund und erwachsen, sich recht liebhaben. Er entbehrte jeder niederen Gesinnung zu irgendwelchen gemeinen Handlungen. Es war ein nicht alltägliches „Verhältnis“, sondern ein freies, sich gegenseitig Gutes und Liebes tun und stets aufeinander Rücksicht nehmen. Unsere Liebkosungen waren zahlreich, aber nicht auf geschlechtliche Erregung berechnet. Im übrigen war unser Geschlechtsverkehr normal und ruhig.

Über ihre Beziehungen zu Georg Reimann schrieb Hedwig Müller: Im Januar 1912 wurde ein neuer Bote bei meiner Firma eingestellt. Wir hatten bisher immer ein recht übles Menschenmaterial in dieser Stelle gehabt, aber ich war mit allen fertig geworden. Nun kam plötzlich ein manierliches Bürschchen, glatt und behende, und man freute sich bald allgemein über den ganz amüsanten, netten Jungen. Er begriff äußerst schnell, war zu allen Verrichtungen bereit und willig. Selbst Privatbesorgungen für sämtliche Angestellte erledigte er zu steter Zufriedenheit. Die meiste Zeit verbrachte ich mit ihm zusammen, da ich allein mit ihm meinen Platz im Packraum hatte. Ich merkte sehr bald, daß ich mir diesen Jungen nicht erst gefügig machen brauchte, denn ich hatte mitunter Wünsche oder Anordnungen kaum ausgedacht, so waren sie schon gemacht. Er erriet förmlich meine Gedanken, um sie auszuführen. Er naschte gern Süßigkeiten und kaufte sich täglich bestes Konfekt, ließ aber stets die Tüte von mir öffnen und den Inhalt anreißen. Kurz gesagt, er war ein Mittelding zwischen Kavalier und Pagen; ich fühlte mich genötigt, ihm öfter Belohnungen in Gestalt von Schokolade oder Obst zukommen zu lassen. Später wuchs das Verfahren dahin aus, daß eine stete Halbierung der Leckereien erfolgte. Hedwig Müller schilderte alsdann, daß sie im Sommer 1912 zu der Erkenntnis gekommen sei, Georg Reimann sei in einem ungünstigen Milieu groß geworden und lebe noch in diesem Milieu. Es tat ihr deshalb ungemein leid um den Jungen, den sie nicht einen Augenblick für schlecht gehalten habe. Sie fuhr dann fort: „Er hatte auf meine Veranlassung eine Sparkasse bei mir angelegt. Während des Sparens revidierte ich häufig scherzend seine Jackettasche. Bei dieser Gelegenheit gelangte ich in den Besitz seines Taschenbuches, das ein Sammelbuch der Erotik in Wort und Bild bot. In seiner Abwesenheit schnitt ich sämtliche Blätter heraus und zerschnitzelte dieselben ganz klein. Ich gab ihm das Buch nach seiner Rückkehr; er geriet in eine maßlose Wut. Ich nahm ihn mir an dem Tage vor und erklärte ihm, daß das doch sehr häßlich gewesen sei. Er versprach mir in die Hand, es zu unterlassen. Erst im Februar 1913 wollte es ein Zufall, daß ich sah, daß wieder eine der scheußlichsten Aufzeichnungen vermerkt war.“ Weiter hieß es: „Reimann hat oftmals meine postlagernde Korrespondenz befördert und abgeholt. Ich habe niemals geglaubt, Reimann könne an dem harmlosen Inhalt der Korrespondenz Interesse haben. Erst als ich meine Briefe wieder selbst beförderte, wollte er Einsicht in sie haben, was ich verwundert ablehnte. Da erst sagte er mir, daß er stets den Inhalt des Briefwechsels gebucht und mir eine Suppe einbrocken werde, an der ich zu löffeln hätte. Es war mir natürlich unangenehm, daß irgendein Gerede entstehen sollte, was meine Stellung beeinflussen könne. Ich bat ihn, doch vernünftig zu sein und den Mund zu halten. Er versprach dies gegen weitere Einsicht. Ich ging endlich darauf ein, wußte es aber so einzurichten, daß er meine Briefe überhaupt nicht sah. Die Briefe, die ich morgens abhob, verschwanden im Korsett oder Strumpf. Ein Knistern hatte aber einmal seinen Verdacht erregt, so daß er in Arndts Gegenwart (Oberpacker in der Mittlerschen Buchhandlung) über mich herfiel und mir gleichzeitig eine Bildserie, Aufnahmen von mir, vernichtete, die ich ebenfalls vor ihm versteckt hatte. Die Folge davon war, daß ich ihm das beste Bild geben mußte, um wieder Ruhe zu haben.

Ich wurde nun gleichgültig und ließ ihm seinen Willen, indem ich ihn meine Taschen revidieren ließ. Von Stunde an begann er mir auf die Nerven zu fallen. Es waren dann wieder Tage, an denen es glatt verlief. Aber stets sah ich nur nach seinen Augen, um mich entsprechend einzuschalten. Es gab wiederholt Auftritte, wenn ich nur den leisesten Widerspruch wagte. Ich hatte das Gefühl, daß man bereits aufmerksam geworden war auf uns, und das jagte mich mehr ins Bockshorn. Inzwischen näherte sich meine Ferienzeit. Er jammerte häufig, daß er die 14 Tage kaum überleben werde und deshalb geneigt sei, die Stellung aufzugeben. Ich sah darin einen gewaltigen Nachteil für mich, da er mir dann an den Fersen gehangen hätte. Ich bewog ihn, doch zu bleiben. In den ersten Monaten hatte ich ihm wiederholt dargestellt, daß er nicht in solchen untergeordneten Stellungen stecken bleiben dürfte, daß er sich herauf- arbeiten müsse. Darauf antwortete er mir, daß ein Mädel wie ich in solchem dr...... Verlag nichts zu suchen hätte und daß wir eigentlich zusammen kündigen und gemeinsam etwas unternehmen könnten. Ich sagte ihm, daß ich mich ganz wohl fühle. Da erklärte er, er würde nicht gehen, um sich meinem Einfluß zu entziehen.

Die Ferien waren vorbei. Ich merkte, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen. War sein Benehmen früher lächerlich verliebt, so war es jetzt brüsk und roh. Es kam wiederholt vor Arndt zu heftigen Auftritten. Es begann für mich eine Kette Aufregungen schwerster Natur neben einer angestrengten Tätigkeit. Ich führte in meiner biedern Rücksichtnahme gegen ihn seine heftigen Wortausbrüche auf zu große Überlastung, geringe Lebensfreude und Verdruß über die verschmähte Liebe zurück. Denn das war mir ja mittlerweile sehr klar geworden. Ich versuchte durch vergrößerte Freundlichkeit und Güte, ihn zu besänftigen, was auch gelang. Natürlich wurde er dadurch bei mir wieder mit mehr Mitleid umgeben. Ich hatte das Empfinden, daß es bei ihm genau so zerrissen aussehen mußte wie bei mir, und daß er nur roher und ein Junge sei, der nie versucht hatte, sich zu beherrschen. So kam der Oktober heran, der ein Jubiläum meines Chefs brachte. Gelegentlich dieses Festessens, zu dem ich eingeladen war, hörte ich plötzlich, daß man den Reimann stark im Verdacht hatte, Bücher beiseite geschafft zu haben. Das stieg mir doch in die Krone. Es schien mir unmöglich und brachte ihn mir wieder einen Schritt näher. Sowie Gelegenheit war, zog ich ihn ins Vertrauen und bat ihn dringend, mir die Wahrheit zu sagen. Ich bot ihm an, falls er es getan, Fürbitte für ihn einzulegen, aber er sollte es doch sagen, es würde sicher nichts geschehen. Er war sehr erregt, weinte heftig an meiner Schulter und versicherte, es nicht gewesen zu sein. Die Sache war für mich erledigt, und er blieb. Es dauerte aber nicht lange. Der Freudenrausch über ‚meine unendliche Güte‘ war noch nicht vorüber, da begannen seine Rohheiten wieder mit elementarer Gewalt. Es verging kein Tag ohne die widerwärtigsten Szenen. Er quälte mich mittags, wenn wir allein waren, mit seinem albernen Liebesgewäsch und schlug wie ein Toller mit dem Kopf auf den Packtisch, wenn ich nicht reagierte. Es brach natürlich bei mir die ganze Nervosität hervor und ließ mich dies Gebaren weit schmerzlicher empfinden. Es genügte eine augenblickliche Zärtlichkeit, ein Bedauern, wie z. B. ‚mein armer Jorg‘, oder ‚dummer kleiner Junge‘, um ihn wieder zu beruhigen.

Da plötzlich trat er mit der Forderung an mich heran, der Sache ein Ende zu machen mit einem einmaligen Schweigegeld in Gestalt meiner Person. Ich hielt ihn für bereits verrückt und wehrte mich dagegen entschieden. Kurz vor Weihnachten wurde er plötzlich gekündigt. Bereits nach zwei Tagen forderte er mich auf, die Kündigung rückgängig zu machen. Ich lehnte ab. Er legte mir zu Last, ihn aus dem Brot gebracht zu haben, da ich ihn los sein wolle. Ich tat trotzdem nichts in der Sache. Er selbst ging zum Chef betteln und durfte bleiben. Wie ein Irrsinniger kam er angestürmt, fiel mir vor Arndt um den Hals und würgte mich bald vor Seligkeit. Es gab nur noch zwei große Ungeheuerlichkeiten für mich: 1. wie lange wird es noch dauern, 2. wird es zu dem letzten Äußersten kommen? Tatsächlich entschloß ich mich, in aller Kürze in seine Wohnung zu gehen. Der Boden war mir ohnedies im Geschäft zu heiß geworden, meines Bleibens war nicht mehr, mochte nun kommen, was wollte. Ich teilte ihm meinen Entschluß mittags mit und erwartete ihn abends.“ (Die Schilderung über die Vorgänge in der Wohnung des Reimann muß aus Schicklichkeitsgründen unterbleiben.) „Die nächsten Tage verliefen ruhig,“ so hieß es weiter in der Schilderung, „wir sprachen wenig miteinander. Bis plötzlich wieder ein Schauer einsetzte. Jetzt war das Maß bei mir voll, meine Beherrschung war zu Ende, ich stieß ihn grob zurück. Da verzog sich sein sonst verzweifeltes Gesicht zu höhnischem Grinsen. Er schlug mich in Gegenwart von Arndt und entwendete mir den Schlüssel zu Dr. St.s Haus aus meiner Handtasche. Ich forderte den Schlüssel zurück und ging ihm in der Erregung in die Haare. Ich fühlte aber bald furchtbare Schmerzen am ganzen Körper und wurde heftig schwindelig, so daß ich nicht wußte, wo ich mich befand. Die ganze Aufwallung löste sich in eine Art Wein- krampf auf. Die Angestellten wurden aufmerksam. Der Aufforderung des Prokuristen, den Hausschlüssel herauszugeben, kam er nicht nach. Erst am andern Morgen, nach- dem ihm mein Chef den Kopf gewaschen, gab er ihn heraus. Am nächsten Tage flog er und ich durfte kündigen.“

Es hieß weiter in den Memoiren: „Nachdem Reimann aus dem Geschäft entlassen war, habe sie ihn endgültig ab- schütteln wollen, es sei ihr aber nicht gelungen, denn als sie ihn in der Friedrichstraße traf, sei ein Rippenstoß die erste Begrüßung gewesen, und er habe verlangt, daß er sie besuchen dürfe. Trotz aller Mühe habe sie ihn nicht los- werden können. Eines Abends habe er sie mit Dr. St. in dessen Haus treten sehen, und dies habe dem Faß den Boden ausgestoßen. Reimann habe bis spät abends vor dem Hause gelauert, und als sie aus dem Hause trat, sei er sofort auf sie losgestürzt und habe sie am Arm gepackt. Plötzlich habe er ihre Handtasche ergriffen und ihr den Hausschlüssel des Dr. St. entrissen. Am nächsten Tage habe sie ihm einen fünf Seiten langen Brief geschrieben und darauf eine Antwort erhalten, in der er für sein ganzes Benehmen um Entschuldigung bat und ihr weitere Vorwürfe wegen ihres Umgangs mit Dr. St. machte. Als sie wieder zu Dr. St. kam, habe ihr dieser einen an ihn gerichteten Brief des Reimann gezeigt, der sie wie ein Keulenschlag getroffen habe. In dem Briefe stand: Dr. St. sollte nicht denken, er sei der einzige, der ihre Zuneigung habe, denn auch ihm, dem Briefschreiber, habe sie sich hingegeben. Dr. St. habe ihr gut zugeredet, sie sehr bedauert, er habe ihr seine Hilfe angeboten und gesagt, sie solle nicht den Kopf verlieren. An demselben Tage habe sie zufällig Reimann am Siegmundshof getroffen, und es hagelten wieder Vorwürfe auf sie nieder. Als sie dann nach Hause gekommen, sei sie ganz schwermütig gewesen, ihr ganzes bisheriges Leben sei kaleidoskopartig an ihr vorübergezogen, die Zukunft habe sich ihr grau in grau gezeigt, und sie habe beschlossen, aus dem Leben zu scheiden. Reimann habe sie zu einem Rendezvous am 7. März nach dem Tiergarten bestellt, wo er angeblich ihr den Hausschlüssel des Dr. St. wiedergeben wollte. Sie habe sich bei Wertheim einen Revolver und in einem Geschäft der Passage die Munition gekauft und sich dann zu Hause erst niedergelegt und über alles mögliche nachgedacht. Ihr sei alles durch den Kopf gegangen, sie habe

von ihrer Mutter zärtlich Abschied genommen

und sei dann zu dem Zusammentreffen mit Reimann gegangen. Auch da sei es wieder zu heftiger Aussprache gekommen und sie habe sich in verzweifelter Stimmung befunden. „Die ganzen unterdrückten Seufzer hätte ich hinausschreien mögen.“ Sie habe vergeblich um Rückgabe des Hausschlüssels gebeten und Reimann dann erregt verlassen. Dieser aber sei ihr nachgeeilt und habe sie gestellt: sie sollte mit ihm nach Hause gehen. Sie habe ihn abgewiesen. Da habe er zu weinen angefangen und sich selbst Vorwürfe gemacht, sie habe „sein Geflenne“ mit angehört, es habe sich bei ihr eine Schwäche bemerkbar gemacht, sie fühlte eine Leere im Kopf, so daß sie sich an eine Bank lehnen mußte. „Er setzte sich auf diese Bank und weinte erbärmlich“, und was dann kam, müsse eine Bestimmung des Geschickes gewesen sein. „Ich glaube an eine Art von Kismet, es sollte alles so kommen.“ Sie sei von einem leisen Schwindel erfaßt worden und habe sich an einen Baum gelehnt, er sei hinzugetreten, da habe sie die Waffe aus der Tasche gezogen. Er müsse wohl die Waffe gesehen haben, sei auf sie losgestürzt und habe ihr den Revolver entreißen wollen, indem er gerufen habe: „Um Gottes willen! Dann erschieße ich dich und komme nach!“ Dann habe sie ein Krachen gehört,

wahnsinniges Entsetzen

habe sie gepackt. Ihr erster Gedanke sei der an eine etwaige Verstümmelung ihres Körpers gewesen. Sie könne sich nur denken, daß, als er ihr den Revolver entrissen, sie in der Angst seine Hand gefaßt habe und dann die Schüsse losgegangen seien. In ihrem Kopfe sei ein wirres Durcheinander gewesen, als sie zur Besinnung gekommen. Nach beendeter Verlesung bemerkte der Vorsitzende: Den Hintergrund der ganzen Sache bildet

die Sinnlichkeit, die Liebe und die Leidenschaft.

Allein die Angeklagte ist nicht wegen dieser Liebe, sondern wegen Mordes angeklagt. Auf verschiedene Vorhaltungen des Vorsitzenden erklärte die Angeklagte, daß sie zu Reimann nur eine Art mütterlicher Liebe gehabt habe. Reiman habe aber bald ihr Benehmen falsch verstanden und mehr von ihr verlangt. Bezüglich einiger zur Verlesung gebrachte Karten mit zärtlichen Liebesworten, erklärte die Angeklagte, daß sie den Schein wahren wollte, da sie Angst hatte, Reimann würde ihr, wenn sie sich ablehnend verhielte, im Geschäft Unannehmlichkeiten bereiten. Eine derartige Karte begann mit den Worten: „Mein kleiner, lieber, dummer Junge! Warum habe ich keinen Glückwunsch zu der neuen Wohnung bekommen?“

Der Vorsitzende hielt der Angeklagten vor, daß sie, wenn sie nur den Schein habe wahren wollen, Reimann doch nicht zu einem „Kaffeeklatsch“ in ihrer Wohnung habe einzuladen brauchen, mit dem Hinweise, daß sie allein sei. In einem an Dr. St. gerichteten Brief bedauerte die Angeklagte, daß sie im Augenblick gerade „nichts zum Küssen“ habe. In einem von dem erschossenen Reimann in der Wut geschriebenen Briefe an die Mutter der Angeklagten, der aber nicht zur Absendung gekommen war, gestand er seine intimen Beziehungen zu der Angeklagten ein mit dem Hinweise, daß sie ihn, als sie in Fangschleuse allein auf Sommerwohnung war, aufgefordert habe, über Nacht dort zu bleiben. „Wann ist ein Tor nicht willig, wenn eine Törin will“, hieß es im Anschluß hieran in dem Briefe des Reimann. In einem Taschenbuch Reimanns, das fast ausschließlich Liebesgedichte enthielt, hatte er drei Daten besonders angegeben und unterstrichen, an denen er mit Hedwig Müller zusammengetroffen war. Ein Bild, das von der Angeklagten in nicht mißzuverstehender Weise mit drei Fragezeichen versehen war, veranlaßte den Vorsitzenden zu der Bemerkung: „Na, das geht doch über die ‚mütterliche Liebe‘ etwas hinaus!“ Einige Briefe und Karten, die die Angeklagte an Reimann geschrieben hatte, begannen mit der Überschrift: „Mein kleiner artiger Lord!“ In einer dieser Karten bat sie Reimann, sie am Sonnabend nicht abzuholen, da sie mit einer Freundin in das Deutsche Opernhaus gehen wollte. Tatsächlich war sie an diesem Tage mit Dr. St. zusammengetroffen. Auf den Vorhalt des Vorsitzenden, daß aus allen ihren Karten an Reimann die Sinnlichkeit hervorblicke, erklärte die Angeklagte: „Das war alles nur ironisch gemeint.“

Es wurden alsdann mehrere Angestellte aus dem Geschäft vernommen, in dem die Angeklagte und Reimann tätig waren. Die Zeugen bekundeten, daß ihnen im Verkehr der beiden manches auffällig vorgekommen sei. – Die beiden Schwestern des Erschossenen bekundeten, daß ihr Bruder stets ein guter Junge gewesen und in die Angeklagte riesig verliebt gewesen sei. Er habe geglaubt, daß diese nur ihn wirklich lieb habe, während sie mit Dr. St. nur seines Geldes wegen in Beziehungen stehe.

Dr. St. bekundete: Hedwig Müller sei ein außergewöhnlich liebenswürdiges und ungemein intelligentes Mädchen. – Photograph Ritzer bekundete, daß seine Frau, der das hübsche Gesicht der Angeklagten aufgefallen war, sie eines Tages, als sie vor seinem Schaufenster stand, in den Laden gebeten und gefragt habe, ob sie Modell für Kopfaufnahmen stehen wolle. Die Angeklagte habe zugesagt und sich mehrmals photographieren lassen, wofür er Beträge bis zu 20 Mark an sie gezahlt habe. Als eines Tages Reimann für die Angeklagte Bilder abholte und seine Frau im Scherz sagte, sie solle dem Reimann ein Bild schenken, habe die Angeklagte dies abgelehnt mit dem Bemerken, Reimann könne das Geschenk vielleicht falsch auffassen.

Als darauf

die Mutter der Angeklagten,

eine einfach gekleidete ältere Frau, den Saal betrat, weinte die Angeschuldigte. Die Zeugin bekundete: Sie habe eines Tages Georg Reimann kennen gelernt. Ihre Tochter habe dabei gesagt, Reimann sei ein junger Mensch, der keine Stellung habe und dem man deshalb etwas helfen müsse. Einige Zeit darauf habe ihre Tochter während ihrer Abwesenheit in Begleitung des Reimann, der Mädchenkleider getragen habe, ihre Wohnung aufgesucht. Sie habe sich weiter keine Gedanken darüber gemacht, sondern geglaubt, daß es sich um einen Scherz handelte. Auf eine Frage des Vorsitzenden erklärte die Zeugin, daß sich einer ihrer Brüder aus Furcht vor einer Krankheit erschossen habe, ihr eigener Ehemann sei sehr leichtsinnig gewesen und habe sich nächtelang herumgetrieben. Auf weitere Fragen bezüglich des Charakters ihrer Tochter erklärte die Mutter: Sie kleidete sich nett, ohne große Ausgaben dafür aufzuwenden; sie wußte aus nichts etwas zu machen. – R.-A. Dr. Ledermann ließ sich durch die Zeugin bestätigen, daß ihre Tochter mehrfach ein gewisses, auf Gutmütigkeit zurückzuführendes Interesse für Reimann bekundet habe; beispielsweise habe sie der Mutter gesagt, daß Reimann gern Flammerie esse und gebeten, ihm doch etwas Flammerie zu machen. Die Zeugin hatte auch von ihrer Tochter ge- hört, daß Reimann ihr einmal Briefe habe entreißen wollen. Es sei nicht wahr, daß ihre Tochter sie schlecht behandelt habe. – Vors.: Sie scheinen keinen großen Einfluß auf Ihre Tochter gehabt zu haben, sonst hätten Sie doch später den Verkehr mit dem Dr. St. verhindern sollen. – Zeugin: Das kann man als Mutter nicht. – Vors.: Na, da haben Sie doch wohl nicht die richtige Vorstellung von dem Einflußgebiet einer Mutter. Sie hatten aber Ihrer energischen Tochter gegenüber nicht die genügende Stärke, – Zeugin: Wir haben uns gut verstanden; wir haben beide gearbeitet. – Die Angeklagte blieb auf Vorhalt dabei, daß sie die photographischen Bilder, die Reimann von ihr besaß, ihm nur auf dessen fortgesetztes Verlangen und wiederholte Drohungen überlassen habe. – Eine Schwester des Reimann: erklärte: Ihr Bruder habe mit der Angeklagten im besten Einvernehmen gelebt, das Zerwürfnis sei erst gekommen, als Dr. St. auftrat und von der Stunde an, als der Bruder außer Stellung war. Von da an habe er angefangen, das Fräulein zu verfolgen. Er sei auch nicht bloß einmal, sondern mehreremal in deren Wohnung gewesen. – Den Darstellungen dieser Zeugin widersprach die Angeklagte wiederholt energisch mit Zwischenrufen wie: „Absolut nicht!“, „Es ist gar nicht daran zu denken!“ Sie behauptete, daß Reimann ein Verhältnis mit einem jungen Mädchen gehabt habe, das in einer Erziehungsanstalt gewesen sei. – Medizinalrat Dr. Hoffmann bekundete: Die Obduktion der Leiche des Reimann hat ergeben, daß dieser zwei Schüsse erhielt, an denen er zugrunde gegangen ist. Beide Schüsse befanden sich am Hinterkopf, jeder einzelne war tödlich. Wer einen solchen Schuß bekommen hat, ist nicht imstande, selbst noch einen zweiten Schuß auf sich abzugeben. Die Schüsse sind mit Rücksicht auf die vorgefundenen Brandränder als Nahschüsse aufzufassen. Die Schußkanäle sprechen dafür, daß eine etwas kleinere Person geschossen hat. – Staatsanwaltschaftsrat Dr. – Gysae: Der Getötete war 1,67 Meter groß, die Angeklagte ist 1,63 Meter groß. – Angekl. (unterbrechend): O bitte, 1,64 Meter – ohne Absätze! – Medizinalrat Dr. Hoffmann beantwortete noch verschiedene Fragen der anderen medizinischen Sach- verständigen und erklärte schließlich: er habe noch keinen derartigen Selbstmord gesehen; nach Lage der Schußkanäle hätte der Selbstmörder seinen Körper ungewöhnlich verrenken müssen. – Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann: Es kann nachgewiesen werden, daß Reimann eine ganz außerordentliche Elastizität der Gliedmaßen besaß; er konnte die Beine über die eigenen Schultern legen, die Arme verrenken usw. – Auf Vorhalt des Justizrats Friedmann bestätigte Medizinalrat Dr. Hoffmann, daß die Angeklagte auf seinen Antrag auf sechs Wochen zur Untersuchung ihres Geisteszustandes einer Öffentlichen Anstalt überwiesen worden sei. Sie wollte gar keine Erinnerung an die Tat haben, behauptete, sie habe zwei Seelen in ihrer Brust und führe ein Doppelleben. Dazu kam eine anscheinend nicht unwesentliche erbliche Belastung und Erscheinungen nervöser und hysterischer Art. Im Untersuchungsgefängnis habe sie einen hysterischen Anfall nicht gehabt. – Staatsanwalt Dr. Gysae: Die Angeklagte hat sich den Verhältnissen in der Haft in sehr freundlicher und friedlicher Weise angepaßt.

Dr. Steinitz hatte die Angeklagte als zwölfjähriges Mädchen am Veitstanz behandelt; es handelte sich aber um keinen schweren Fall. Richtig sei es, daß Veitstanz bei psychopathischen Individuen häufiger vorkomme, als bei normalen. Im vorigen Jahre sei die Angeklagte einmal in seine Sprechstunde gekommen und habe über Nervosität, Schlaflosigkeit und dergleichen geklagt. Sie sei ihm so aufgefallen, daß er sie fragte: „Was ist eigentlich mit Ihnen, haben Sie Ärger gehabt, oder Kummer, oder haben Sie an der Börse spekuliert?“ Tatsächlich sei sie sehr nervös gewesen.

Am zweiten Verhandlungstage wurde zunächst eine volle Stunde unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt. Dem Vernehmen nach wurden die Beziehungen der Angeklagten mit dem Erschossenen und auch mit Dr. Sternberg in eingehender Weise erörtert. Nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit äußerte der Vorsitzende: Sie sind, wie wir gestern gehört haben, in einem Zustand großer Erregung und seelischer Depression gewesen. Ihre Mutter hat uns gesagt, Sie seien heiter gewesen, es sei aber eine krampfhafte Heiterkeit gewesen; der Arzt hat gesagt, er habe sich gewundert, daß ein so junges Mädchen so nervös sei. Der Grund dieser seelischen Depression war doch darin zu finden, daß Sie das Doppelspiel mit den beiden Männern spielten. Wie Sie sagen, seien Sie durch Reimann dazu gezwungen worden, jedenfalls sagten Sie sich: dieses Doppelspiel geht nicht mehr. Reimann wurde von der Liebe zu Ihnen furchtbar erregt, er wollte wohl auch die Liebschaft mit Dr. St. zerstören? – Angekl.: Ich kann nicht sagen, welche Gründe Reimann bewogen haben. – Vors.: Sie geben doch selbst zu, daß Reimann Sie wahnsinnig liebte? – Angekl.: Wenn er gewußt hätte, daß ich von Dr. St. reiche Geldunterstützungen erhielt, dann würde er wohl ganz ruhig gewesen sein. – Vors.: Wollen Sie damit sagen, daß er bereit gewesen wäre, Ihr Zuhälter zu werden? – Hier sprang die Schwester des Getöteten auf und rief: Das ist nicht wahr! – R.-A. Dr. Ledermann: Reimann hat der Angeklagten wiederholt gesagt: „Du mußt aus dem Geschäft heraus. Das beste wäre, wenn wir beide kündigten, ich werde dir einen Strich ziehen, auf dem du laufen kannst. – Angekl.: Ich habe ihm oft gesagt, er sollte sich doch eine bessere Stelle suchen, die seinen Fähigkeiten besser entspreche, denn er sei doch ein ganz intelligentes Kerlchen. Er antwortete aber: Und wenn ich täglich die Dielen scheuern sollte, so würde ich doch nicht gehen, solange du hier bleibst. – Vors.: Das beweist doch wieder, daß Reimann zu Ihnen

in toller Liebe entbrannt

war. – Angekl. (verächtlich): Ach Liebe! Das war ja keine Liebe. Es ist ja Unsinn, so etwas als Liebe zu bezeichnen. – Vors.: Georg Reimann war doch von Ihnen als eine Kette betrachtet worden, die Sie durchs Leben schleifen sollten? – Angekl.: Ja! – Vors.: Und wie wollten Sie ihn los werden? Sie behaupten: durch Selbstmord. – Angekl.: Ich wollte ihn durch gutes, immer wiederholtes, vernünftiges Zureden bewegen, sein unnützes Vorgehen zu unterlassen. – Vors.: Jedenfalls war Ihre Stimmung eine sehr ungleiche. Es war das heraufziehende Gewitter und die drohende Explosion. Wiederholen wir noch einmal die Vorgänge: Am 3. März hatten Sie bis ½3 Uhr morgens Dr. St. besucht und bei Ihrem Weggehen spielte sich die Szene mit dem Wegnehmen des Hausschlüssels ab. Sie sind dann nach Hause gegangen und haben Reimann einen Brief geschrieben. Welchen Inhalt hatte dieser? – Angekl.: Daß ich es nicht länger aushalten kann, daß ich alles über mich zusammenbrechen lassen würde; ich wolle alle Konsequenzen tragen, ich wolle Schluß machen, sobald er meinen Leuten etwas sagen würde – ob er seinen Leuten etwas sagen würde, war mir ganz egal. – Vors.: In dem Brief steht aber: Du oder ich! Einer von uns beiden ist zu viel auf der Welt! – Angekl.: Ich weiß es nicht mehr, aber ich bestreite es nicht. – Vors.: Von den Leuten, die es anging, ist es so aufgefaßt worden, daß Sie Selbstmord begehen wollten, denn wenn man jemand töten will, zeigt man es ihm nicht vorher an. – Angekl.: Ich wollte ihm nur sagen, daß wir beide zusammen nicht mehr so weiter leben könnten, da ich das nicht mehr aushalte. – Vors.: Dann kam folgender

Brief des erschossenen Reimann:

„Kleine Müllern! Wie konntest Du so einen Brief mit derartigem Inhalt schreiben! Das war zu viel, immer Öl ins Feuer, wo es schon so furchtbar brennt. Nur alles, weil Du es so haben willst. Hast Du es gewagt, mich so lasterhaft und gemein in Deinem Schreiben hinzustellen, wie ich es in Wirklichkeit nicht war, so will ich es jetzt mit Gewalt versuchen, es zu werden. Denn Du treibst mich ja dazu. Dein Verkehr mit St. ist vielleicht nicht so gemein und ekelhaft wie unserer gewesen ist, was? Nur der eine Unterschied, daß er ein Mann von Bildung, einen Titel und die Hauptsache, wohl Geld hat, und ich in Deinen Augen nur ein Kuli bin. Das ist der eine Unterschied und möchte ich nur wissen, warum Du in erster Zeit so an mir gehangen, mich immer hinbestellt hast und ich mich jedesmal gesträubt hatte, weil ich immer dachte, Du bist keine Dirne. Und dennoch habe ich mich fangen lassen und warum? Weil ich Dir nicht widerstehen konnte! ‚Ja, wann ist ein Tor nicht willig, wenn eine Törin will?‘ Kleine Hulde, ich tu’ Dir weh, das weiß ich, solche Opfer sucht sich nur eine Kokotte, denn diese Erfahrungen hat man leider schon so oft gemacht. Nun befinde ich mich in Deinen Krallen, jetzt kann und will ich nicht mehr raus. Magst Du jetzt nichts mehr von mir wissen, so sollst Du doch ewig an mich denken. ‚Die Zeit kann Furchen schreiben ins Gesicht, doch daraus vertreiben kann sie nicht‘, ‚O Rache, Du kennst sie, ihr Genuß ist Mord und ihre Sättigung das Grausen‘, Hole Dir Freitag den Schlüssel; es war ja verrückt, daß ich mich so habe hinreißen lassen, brauche derartige Zeugen nicht. Also, ich erwarte Dich um ½8 Uhr.“

Vors.: Sie haben ihm darauf eine Antwort geschrieben. Was machten Sie dann? – Angekl.: Ich kann mich auf keine Einteilung besinnen.

Der Vorsitzende ging dann nochmals auf die Entwicklung der Dinge kurz vor dem kritischen Abend ein und hob verschiedene Momente hervor, die darauf schließen lassen konnten, daß die Angeklagte kurz vor der Tat doch nicht so furchtbar erregt und sinnlos gewesen sei, wie sie es dar- stellte, da sie noch verschiedene Handlungen vorgenommen hatte, die auf ganz ruhige Überlegung hindeuteten. Die Angeklagte trat allen diesen Verdachtsmomenten mit großer Energie, staunenswerter Schlagfertigkeit und oftmals mit stark erhobener Stimme und lebhaften Gestikulationen mit den Händen entgegen.

Vors.: Wie war denn nun das Verhalten des Dr. St., als er von Reimann den ominösen Brief erhielt und Ihnen davon Mitteilung machte? – Angekl.: Dr. St. fragte, ob das wahr ist, was in dem Brief steht. – Vors.: Und was antworteten Sie darauf? – Angekl.: Ich sagte nur: Ja! – erledigt! – Vors.: Sie haben gar kein Wort der Rechtfertigung gesagt? – Angekl.: Ich sagte nur: es ist ein Mann, der mich verfolgt. Was sollte ich sagen? Er hatte doch geschrieben, daß ich mich ihm wie eine Dirne hingegeben habe, ich konnte mich ja doch nicht rechtfertigen, denn es war ja doch wahr! Mir blieb eben nichts übrig, als aus dem Leben zu scheiden. – Vors.: Nun hat Ihnen ja Dr. St. noch sehr gut zugeredet und Ihnen offenbar verziehen; es lag doch also eigentlich für Sie kein Grund zum Selbstmord vor. Hat nicht Dr. St. auch über Ihre Zukunft mit Ihnen gesprochen? – Angekl.: Ja, er wollte mich aus Berlin wegbringen, ich schlug diesen Vorschlag aber ab. – Vors.: Sie konnten Dr. St. also ganz beruhigt verlassen und brauchten nicht aus dem Leben zu scheiden. – Angekl.: Ich hatte mich über die ganze Sache furchtbar geschämt und war darüber so verzweifelt, daß mir einer sonst was hätte bieten können – für mich gab es kein Zurück, der Gedanke des Selbstmordes stand unwandelbar bei mir fest. Ich mußte mir eine Kugel durch den Schädel jagen. – Vors.: Sie haben anderen Leuten aber gar nichts von Ihren Selbstmordgedanken verraten. – Angekl.: Nein! Ich werde doch nicht dritten Personen sagen, daß ich mich totschießen werde. Das wäre doch von mir blödsinnig gewesen.

Der Vorsitzende kam noch einmal darauf zurück, daß Reimann das letzte Rendezvous auf 8 Uhr vorgeschlagen, die Angeklagte aber die Zeit auf 10 Uhr abends verschoben habe, indem sie ihm schrieb: „Ich habe keine Lust, mich noch mit Dir sehen zu lassen und werde Dich heute um 10 Uhr erwarten: Wullenweber-, Ecke Jagowstraße.“ Ferner gelangte ein Brief zur Verlesung, den Reimann an die Mutter der Angeklagten geschrieben hatte.

Auf eine weitere Frage des Vorsitzenden erklärte die Angeklagte: Ich weiß wohl, daß alles gegen mich spricht, ich kann mir doch aber nicht helfen. – Vors.: Es ist jedenfalls auffällig, daß sowohl Sie als auch Reimann am 7. März Briefe geschrieben haben, aus denen absolut nicht auf einen Selbstmord zu schließen war. Sie haben an Dr. St. einen Brief geschrieben, der am Morgen nach der Tat eingetroffen ist. Der Brief beginnt mit den Worten: „Mein lieber, lieber Leo! Ich gehe jetzt den Schlüssel holen und hoffe, die häßliche Sache endlich aus der Welt zu schaffen, wenn ich nicht morgen abend bei Dir bin, dann weißt Du ja meine Adresse.“ Sie äußerten nicht, daß Sie Selbstmordgedanken hatten? – Angekl.: Ich wollte dies dem Dr. St. nicht mitteilen. Der Brief ist in einer Art Galgenhumor geschrieber worden. – Vors.: Reimann hatte Ihnen am 7. März folgendes geschrieben: „Na, Kleines, wie geht’s, hat Dir Dein Doktorchen verziehen? Das wäre doch nett von ihm, oder willst Du Dich noch totschießen? Geh’ nur wieder hin zu ihm, das verdunkelte Licht an seinem Fenster wird es ja verraten, wie weit Du wieder mit ihm bist. Ich weiß ja doch, Du kannst ihn nicht lassen. Aber was ich bis jetzt getan habe, ist ja eine Kleinigkeit, es kommt noch viel schlimmer.“ – Vors.: Was hat Sie eigentlich veranlaßt, nachdem Reimann Sie um ½8 Uhr nach dem Tiergarten be- stellt hatte, ihm schleunigst zu schreiben, er solle erst um 10 Uhr kommen? – Angekl.: Reimann hatte mir zwei Tage vorher auf der Straße einen Auftritt gemacht, ich fürchtete, daß er dies wieder tun werde. Ich weiß, daß auch dies gegen mich spricht. Wenn ich auch vielleicht nicht sehr klug bin, so dumm wäre ich doch nicht gewesen, wenn ich Reimann hätte erschießen wollen, von vornherein alle Verdachtsmomente zu beseitigen. – Vors.: Das sollen Sie auch getan haben. Sie sollen den Brief, in dem Sie Reimann zu dem verhängnisvollen nächtlichen Rendezvous bestellten, zurückgefordert und zerrissen haben? – Angekl. (sehr erregt): Das ist nicht wahr! Es ist gesagt worden, ich hätte den Brief in zwei Teile zerrissen. Das wäre ja furchtbar töricht gewesen. Jeder Straßenkehrer hätte zwei so große Stücke aufgehoben und gelesen. Es gibt doch auch noch eine Kriminalpolizei, die sehr bald den Brief erhalten hätte. Es wäre ja Wahnsinn, wenn ich so etwas getan hätte. – Die Angeklagte erzählte alsdann, wie sie den Revolver gekauft hatte, Sie habe dabei gescherzt und gelacht, um bei dem Verkäufer den Gedanken zu verbergen, daß sie Selbstmordabsichten habe. – Vors.: Haben Sie nicht auch an eine andere Todesart gedacht, junge Mädchen springen doch eher ins Wasser? – Angekl.: Nein. – Staatsanwalt: Es ist jedenfalls auffällig, daß die Angeklagte, die ein Dutzend Patronen gekauft hatte, die Waffe nur mit drei Kugeln geladen hatte. – Angekl.: Ich habe immer, wenn ich nicht wußte, wieviel ich nehmen sollte, die Zahl drei gewählt. Ich dachte, die erste Kugel kann fehlgehen, dann nimmst du die zweite und eventuell die dritte. – Vors.: Fräulein Müller, wenn Sie sich erschießen wollten, dann brauchten Sie doch Reimann nicht dazu hinzubestellen. – Angekl.: Ich weiß selbst nicht, wie das gekommen ist; ich war ganz verwirrt und wollte auch den Schlüssel des Dr. St. haben. – Vors.: Das ist doch aber mehr wie merkwürdig, daß Sie in dieser Situation noch an den Schlüssel gedacht haben? – Angekl.: Ich war damals so verwirrt, daß ich gar nicht wußte, was ich tat. – Die Angeklagte bemerkte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Reimann fing, als er ankam, sofort wieder gemein zu schimpfen an. Es fiel mir auf, daß sehr viele Leute vorübergingen, so daß ich dachte, Reimann habe sich seine Schwestern und andere Bekannte hinbestellt, zumal die Leute mehrmals an uns vorübergingen. – Vors.: Ganz unrecht hatten Sie mit diesem Gedanken nicht, denn tatsächlich hat Reimann zu seiner Schwester geäußert, die späte Stunde des Rendezvous sei ihm auffällig.

Gertrud Reimann bekundete auf Befragen: Ihr Bruder habe beim Weggehen gesagt, es komme ihm komisch vor, daß er so spät von Fräulein Müller bestellt worden sei. Sie habe darauf versetzt: Na, dann gehe doch nicht hin. Der Bruder habe aber geantwortet: Dann denkt vielleicht Fräulein Müller, ich bin feige. – Es erschien darauf als Zeuge Hausdiener Erich Reimann, der Bruder des Erschossenen, ein 16jähriger, körperlich sehr entwickelter, sehr hübscher junger Mann. Er soll dem Erschossenen sehr ähnlich sehen, nur soll der Erschossene noch bedeutend hübscher als dieser gewesen sein. Der Zeuge erzählte in gewählter Sprache auf Befragen des Vorsitzenden: Sein Bruder war wahnsinnig in Fräulein Müller verliebt. Sein Bruder habe ihm geschrieben, er wolle nicht allein zum Rendezvous gehen, er solle mitkommen, er werde ihn am Bahnhof Tiergarten erwarten. Er (Zeuge) sei pünktlich am Bahnhof Tiergarten gewesen und aus Neugierde mitgegangen. Sein Bruder und Fräulein Müller hätten sich zwar nicht begrüßt, aber freundschaftlich die Hand gereicht. Sehr bald sei es zwischen beiden zum Streit und Ringen gekommen. Fräulein Müller wollte seinem Bruder einen Brief entreißen und verlangte außerdem den Hausschlüssel. Er habe etwas entfernt gestanden. Plötzlich habe aber die Angeklagte ihn bemerkt und zu ihm gesagt: Gehe nach Hause, morgen kommt dein Baron! – Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann: Wer war denn der Baron? – Zeuge: Das war ein Engländer. – Vert.: Wie alt war der Herr? – Zeuge: Etwa 30 Jahre. – Vert.: Es ist ein besserer Herr? – Zeuge: Ja. – Vert.: Sie sind homosexuell veranlagt? – Vors.: Herr Rechtsanwalt, wir können unmöglich jeden Zeugen fragen, ob er homosexuell veranlagt ist, ich kann diese Frage nicht zulassen. – Vert.: Der Herr war Ihr Freund? – Zeuge: Ja. – Vert.: Ist Ihnen vielleicht bekannt, ob Ihr erschossener Bruder anormal veranlagt war? – Zeuge: Das weiß ich nicht. – Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Er habe sich auf die Aufforderung von Fräulein Müller entfernt. Sein Bruder habe niemals Selbstmordgedanken geäußert, er könne auch nicht glauben, daß er sich erschossen habe. Soweit ihm erinnerlich, habe Fräulein Müller den Brief, den sie seinem Bruder weggenommen, sofort zerrissen. – Die Schwestern des Erschossenen bekundeten ebenfalls auf Befragen: Ihr Bruder habe niemals Selbstmordgedanken geäußert. – Der Vorsitzende teilte darauf mit: Der Gerichtshof hat beschlossen, nachmittags

einen Lokaltermin am Tatort

abzuhalten. – Alsdann wurden drei junge Leute vernommen, die am Abend des 7. März, kurz nach 10 Uhr, den Tiergarten, unweit der Lichtensteinbrücke, in unmittelbarer Nähe des Kanals, passiert haben. Sie bekundeten übereinstimmend: Sie hätten in Abständen von wenigen Sekunden hintereinander drei Schüsse gehört. Nach dem dritten Schuß seien sie eiligst nach der Richtung, woher die Schüsse gekommen waren, geeilt. Dort hätten sie auf dem Rasen die Leiche eines jungen Mannes, die auf dem Bauche lag, gesehen. Aus dem Kopfe rieselte Blut. Dicht neben der Leiche lag ein Revolver. Gegenüber der Leiche, etwa einen Schritt entfernt, stand die Angeklagte, ganz starr vor sich hinsehend, ohne einen Laut von sich zu geben. Als die Zeugen sie fragten, was geschehen sei, fiel sie in Ohnmacht. Sie erholte sich aber in wenigen Sekunden. Bald darauf seien mehrere Leute und auch Polizeibeamte hinzugekommen.

Der Lokaltermin.

Ein prachtvolles Herbstwetter lachte über Berlin. Die Angeklagte war in der Nachmittagssitzung bereits reisefertig gekleidet. Sie erschien auf der Anklagebank mit einem schicken Hut; ihr Gesicht verdeckte ein dünner, durchsichtiger weißer Schleier. Neben ihr hatte eine Gefangenenaufseherin Platz genommen. Nachdem die vorerwähnten Zeugen vernommen waren, begaben sich die Mitglieder des Gerichtshofes, die Geschworenen, der Staatsanwalt, die Verteidiger, die Sachverständigen und eine große Anzahl Zeugen in vorher bestellten Autodroschken nach dem Tatort. Auch die Angeklagte, begleitet von der Gefangenenaufseherin, den Gerichtsdienern Hermann Emmerich und Albert Böhme, wurde in einer Autodroschke nach dem Tatort transportiert. Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich vor dem Gerichtsgebäude eingefunden. Die Angeklagte bestieg das Auto mit lachendem Gesicht, nicht als ob es sich um eine Fahrt handelte, wo unter Umständen über ihr Lebensschicksal entschieden werden sollte, sondern als ob sie eine Spazierfahrt antreten würde. Die Angeklagte zeigte sehr bald den Ort des verhängnisvollen Rendezvous, das zwischen zwei Bäumen stattgefunden habe. Sie bemerkte: Es sei sehr leicht möglich, daß sie nach dem Ringen mit Reimann, der ihr den Revolver entreißen wollte, zur Erde gestürzt sei; sie wisse sich aber nicht mehr darauf zu erinnern. – Vors.: Das ist ja möglich. – Angekl. (in erregtem Tone): Ich weiß nicht, weshalb man mir das nicht glaubt. – Vors.: Die Möglichkeit ist von niemandem bestritten worden. – Die letzten drei Zeugen wurden darauf vom Vorsitzenden ersucht, sich auf die Stelle zu begeben, von der aus sie die Schüsse gehört haben. – Gerichtsdiener Böhme werde, von Sekunden unterbrochen, mit einer schrillen Pfeife drei Pfiffe abgeben. Alsdann sollten sie in schnellem Trabe, wie sie es an jenem Abend getan, an den Tatort eilen. Dieses Experiment wurde zweimal vorgenommen, die Zeugen kamen aber beide Male etwa 30 Sekunden nach dem letzten Pfiff. – Die Angeklagte wiederholte, daß, als sie den Revolver zog, um sich zu erschießen, Reimann sich auf sie stürzte und ihr mit Gewalt den Revolver zu entreißen suchte. Es kam zu einem gewaltsamen Ringen. Bei dieser Gelegenheit müsse sich entweder die Waffe entladen haben und zwei Schüsse in den Hinterkopf des Reimann gedrungen sein, oder Reimann habe ihr die Waffe entwunden und sich selbst erschossen. Als sie sah, daß Reimann am Boden lag, habe sie die Waffe gegen ihre Schläfe gerichtet, sie habe aber leider nur ihren Hut getroffen; eine vierte Kugel habe sie nicht gehabt. Genaues könne sie hierüber nicht sagen, da ihr das Bewußtsein geschwunden sei. – Zwei Geschworene markierten hierauf ein gewaltsames Ringen. Einer hatte den Revolver, mit dem Reimann seinen Tod erlitten hatte, in der Hand. Der andere machte den Versuch, den Revolver seinem Gegner gewaltsam zu entreißen. Bei dieser Gelegenheit kam wohl die Hand, in der der eine Geschworene den Revolver hatte, in eine Richtung, daß, wenn der Revolver sich entladen hätte, eine Kugel vielleicht in den Hinterkopf hätte dringen können. Das Experiment, das zweimal vorgenommen wurde, war jedoch so zweifelhaft, daß alle Anwesenden die Überzeugung hatten, auf diese Weise könnte Reimann nicht zweimal in den Hinterkopf geschossen worden sein. Es wurde auch von Kennern behauptet, dies könnte höchstens mit einer Browningpistole geschehen sein, nicht aber mit einem so minderwertigen Revolver, der 4,50 Mark gekostet hat. Nach diesem Ringen der Geschworenen erklärte der Vorsitzende den Lokaltermin für beendet.

Am dritten Verhandlungstage überreichte der Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann eine Photographie, die den erschossenen Reimann in Frauenkleidern, in Begleitung seines Bruders Erich darstellte. Alsdann schilderte Malergehilfe Ziebell nochmals die ganze Situation, die er am Tatort vorfand. Auf die Fragen an die Angeklagte, was denn passiert sei, habe diese geäußert: „Ich habe ihn doch lieb gehabt, und er hat mich auch geliebt!“ Die Angeklagte sei völlig niedergebrochen gewesen und habe zusammenhängend überhaupt nichts erzählen können. Unterwegs habe die Angeklagte nochmals geäußert: „Er hat mich doch auch gern gehabt, ich habe kein Stückchen Kuchen, kein Stückchen Schokolade essen können, ohne ihm ein Stückchen abzugeben.“ – Vors.: Haben Sie denn etwas Derartiges gesagt? Das würde doch mit Ihren gestrigen Angaben nicht übereinstimmen. – Angekl.: O doch, das war innere Überzeugung. Vors.: Das war Ihre Überzeugung, und trotzdem haben Sie Georg Reimann so schlecht gemacht. – Angekl.: Es hat tatsächlich einmal eine Zeit gegeben, in der das, was ich zu dem Zeugen gesagt haben soll, zutraf. Später ist es eben anders geworden. – Vors.: Es ist doch eigentümlich, daß Sie nur Gutes von Reimann erzählt haben, nachdem er, wie Sie doch behauptet haben, kurz vorher Erpressungen gegen Sie begangen hatte. – Angekl.: Reimann war mitunter auch sehr lieb und nett, dann aber wurde er plötzlich gemein zu mir. Reimann ist auch kein schlechter Mensch gewesen, er befand sich nur in schlechter Gesellschaft. – Vors.: Hat die Angeklagte erzählt, daß sie Selbstmordabsichten habe? – Zeuge: Ja, direkt aber nicht. Sie erzählte, daß sie Reimann im Geschäft schlecht gemacht habe, auch habe er an ihren Freund, Dr. St., einen gemeinen Brief geschrieben. Dr. St. stehe aber für sie viel zu hoch, der solle mit diesem Schmutz nichts zu tun haben. Durch diese Dinge sei sie völlig zusammengebrochen. – Vors.: Hat sie Ihnen erzählt, daß ein Ringen zwischen ihr und Reimann stattgefunden hat? – Zeuge: Jawohl. Sie erzählte, daß er ihren Arm zurückgedrängt habe, daß sie beide gerungen hätten und daß sie dann plötzlich einen Schuß krachen hörte.

Auf einige Fragen und Vorhaltungen des Sachverständigen Dr. Toby, Cohn erklärte der Zeuge: Die Angeklagte stand seitwärts von der Leiche. Als sie gefragt wurde, was denn geschehen sei, erklärte sie zunächst, indem sie nach dem Herzen faßte: Ich fühle keine Schmerzen. Sie war

in keinem normalen Zustande.

Die Augen waren ganz starr. Er (Zeuge) habe einen solchen Ausdruck noch niemals in den Augen eines Menschen gesehen. Der Zeuge wurde von dem Vorsitzenden darauf aufmerksam gemacht, daß er seine in der Voruntersuchung betonte Überzeugung, daß der dritte Schuß nicht von der Angeklagten abgegeben sei, nach den Ergebnissen des Lokaltermins doch wohl nicht aufrecht erhalten könne. – Der Zeuge gab dies zu. – Vors.: Man sieht, daß mitunter ein Lokaltermin sehr nützlich ist. – Justizrat Friedmann: Aber alles, was Sie, abgesehen von dieser Ihrer Überzeugung, ausgesagt haben, halten Sie aufrecht? – Zeuge: Jawohl!

Vors.: Nun, Angeklagte, wie stellen Sie denn nun die Sache dar; meinen Sie, daß Reimann sich selbst erschossen hat oder daß beim Ringen um den Revolver die tödlichen Schüsse losgegangen sind? – Angekl.: Ich mußte annehmen, daß er einen Selbstmord begehen wollte, aber da ich nicht zur Überlegung kam und Angst hatte, faßte ich irgend etwas, und es entstand das Ringen zwischen uns. – Vors.: Was für ein seltsamer Mann muß doch Reimann gewesen sein. Erst machen Sie ihn schlecht und behaupten, daß er sogar die Absicht gehabt habe, sich durch Sie ernähren zu lassen und Zuhälter zu werden, und nun soll er plötzlich ein Held geworden und zu Ihnen gesagt haben: „Wenn du stirbst, komme ich nach!“ – Angekl.: Reimann war immer voller Widersprüche. – Vors.: Die Wendung: „ich komme nach“, entspricht eigentlich mehr Ihrer Ausdruckweise. – Angekl.: Er hat immer in überschwenglicher, in Gedichtform gesprochen und Pose gemacht. – Rechtsanwalt Dr. Ledermann: Es kann bewiesen werden, daß Reimann ein ganz phantastischer Mensch war. – Vors.: Es ist doch ein Widerspruch: wenn ein Mensch wie Reimann Selbstmord begehen will, dann schießt er ganz sicher auf sich los. – Angekl.: Ich kann nur sagen: die Waffe entglitt meiner Hand, ich ging der Waffe nach und faßte danach. Was durch meine Bewegung veranlaßt worden ist, kann ich nicht sagen.

Der zweite Zeuge, der mit dem Vorzeugen auf den Knall des Revolvers sofort an den Tatort geeilt war, Werk- führer Tuchel, schloß sich dem Vorzeugen an. Er sei der Meinung, daß die Angeklagte den dritten Schuß nicht abgegeben haben könne, da sie drei schon zu nahe herangekommen gewesen seien, und es hätten sehen müssen. Die Angeklagte habe auf dem Wege nach der Polizeiwache von den Vorgängen dieselbe Darstellung gegeben, wie sie sie hier vor Gericht und in ihren Memoiren gegeben hat. Sie erzählte, sie habe den Getöteten recht lieb gehabt und alles aufgewendet, um durch ihren Einfluß ihn zum ordentlichen und brauchbaren Menschen zu machen, und nun habe er sie so schlecht gemacht, daß sie sich habe das Leben nehmen wollen. Als der Wachtmeister auf der Polizeiwache sie fragte, warum sie sich denn gewehrt habe, wenn sie sich doch selbst erschießen wollte, erklärte sie, sie habe Angst vor einer Verstümmelung gehabt. – Vors.: Hat sie erzählt, wie sie in der Nacht nach dem Tiergarten gekommen ist? – Zeuge: Sie sagte, sie wollte sich das Leben nehmen und von dem Getöteten den Hausschlüssel des Dr. St. zurückhaben. – Vors.: Hier in der Verhandlung hat die Angeklagte zuerst gesagt, sie wisse nicht, wie sie dahin gekommen sei. – Angekl.: Ich bin in einer begreiflichen Erregung gewesen und weiß nicht jede Einzelheit. – Vors.: Nun, die Leute, die ihr Leben wegwerfen wollen, die denken doch an etwas anderes, als an die Herausgabe eines Hausschlüssels. – Angekl.: Ich war an jenem Tage überhaupt nicht fähig, zu denken. Ich folgte ganz mechanisch dem, was mir in den Kopf kam, und da Reimann mich zu der Begegnung aufgefordert hatte, bin ich hingegangen. – Vors.: So viel Gedanken hatten Sie aber doch, daß Sie die Zeit des Stelldicheins von 8 Uhr auf 10 Uhr verschoben. – Angekl.: Das habe ich getan, weil ich mich schämte, den Leuten ein Schauspiel durch meinen Selbstmord zu geben. Das wollte ich nicht, und deshalb habe ich eine Zeit gewählt, wo es menschenleer im Tiergarten ist. – Verteidiger Justizrat Friedmann: Hat denn die Angeklagte den Reimann bei ihrer dem Zeugen gemachten Erzählung schlecht gemacht? – Zeuge: Nein; sie erklärte nur wiederholt, daß es ihr sehr leid tue.

Rechtsanwalt Dr. Ledermann: Hat der Zeuge damals den Eindruck gehabt, daß alles Lüge sei, was sie erzählte, oder ob alles, was sie unmittelbar nach der schrecklichen Katastrophe sagte, wahr sei? – Zeuge: Ich hatte den Eindruck, daß alles wahr sei. – Bureaudiener Kistenberger bekundete im allgemeinen dasselbe, wie die Vorzeugen. Auch zu diesem Zeugen hatte die Angeklagte geäußert: „Wir haben uns sehr lieb gehabt!“ Als sie die Waffe hervorholte, habe Reimann sie ihr entrissen. Sie habe Reimann dann umarmt und ihm den Arm nach hinten gedrückt.

Dr. St. bekundete noch, daß er

am Morgen nach der Tat

telephonisch nach der Wohnung der Mutter der Angeklagten bestellt worden sei. Da er erst aus den Reden nicht klug werden konnte, habe er ihr gesagt: Du bist wohl wahnsinnig geworden, so etwas zu machen. Die Angeklagte habe sofort auf das entschiedenste bestritten, etwas Unrechtes getan zu haben und habe auch sogleich erklärt, Reimann habe Selbstmord begangen. Die Angeklagte habe sich dann im Bett herumgeworfen und immer gerufen: „Nur nicht reden, nur nicht fragen!“ – Um zu erfahren, was aus der ganzen Affäre werden würde, sei er (Zeuge) zu seinem Freunde, dem jetzigen Verteidiger Dr. Ledermann, gegangen, der bei der Polizei Erkundigungen anstellte. Es habe sich ergeben, daß von der Polizei Selbstmord angenommen wurde und daß die Leiche zur Beerdigung bereits freigegeben sei. Beide seien dann zu der Angeklagten gefahren, wo es bald sehr vergnügt und lustig zugegangen sei. Auch die Angeklagte habe dabei wieder gescherzt und gelacht. Die Angeklagte habe auf seine Frage, weshalb sie, wenn sie Selbstmord verüben wollte, überhaupt noch mit Reimann zusammengetroffen sei, geantwortet, sie habe erst den Schlüssel holen müssen. – Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Die Angeklagte ist wahrscheinlich deshalb so vergnügt gewesen, weil sie von Rechtsanwalt Dr. Ledermann erfahren hatte, daß die Polizei Selbstmord annehme und die Leiche bereits zur Beerdigung freigegeben habe.

Frau Müller,

die Mutter der Angeklagten,

bekundete auf verschiedene Fragen: Die Beziehungen meiner Tochter zu Reimann sind mir immer ganz unerklärlich gewesen. Meine Tochter hatte, wie sie stets sagte, Mitleid mit diesem Jungen; daß in letzter Zeit der Grund ihres Zusammenhaltens mit Reimann darin lag, daß sie ihn durch Freundlichkeit abhalten wollte, seine Drohungen auszuführen, wußte ich nicht. Ich wußte auch nichts davon, daß, wie Reimann behauptete, Intimitäten mit meiner Tochter vorgekommen seien, und daß sie ihn in seiner Wohnung besucht haben sollte. Reimann hatte offenbar einen schlechten Einfluß auf sie, sie war sonst immer gut und lieb zu mir, seit der Bekanntschaft mit Reimann aber war ihr Wesen ganz verändert. Sie sprach auch mehrmals von der Absicht, Selbstmord zu begehen, worauf ich ihr sagte: „Aber Hede, wir haben doch schon traurigere Zeiten durchgemacht, jetzt sind wir aus dem gröbsten heraus und du hast eine gute Stellung!“ Die Zeugin fuhr alsdann fort: Selbst wenn ich ausgelacht werden sollte, muß ich doch sagen: Nach meiner Meinung hat der Junge sie suggeriert. Die Tochter hat mir oft erzählt: Wenn Reimann nicht auf der Tour ist, um Gänge zu besorgen, hat er manchmal eine halbe Stunde lang vor ihr auf den Knien geruht und sie unentwegt angestarrt. Ich bin deshalb der festen Überzeugung, daß er sie suggeriert hat, denn es ist von Tag zu Tag schlimmer mit ihr geworden und ich hatte keine Gewalt mehr über sie. So hatte sie einmal erzählt: Reimann habe einen Brief gesehen, den Dr. St. an sie geschrieben hatte. Diesen wollte er haben; sie habe den Brief rasch in die Bluse gesteckt, er habe aber im Befehlston gesagt, daß er den Brief haben müsse, da habe sie ihn auch herausgegeben. Zu einem anderen hätte sie sicher gesagt: Sie sind wohl verrückt! Der Junge hatte zweifellos eine große Macht über sie; sie sagte oft auf meine erstaunte Frage, warum sie dies oder jenes tue: „Ich muß!“ Als sie am Abend der Tat gegen ½10 Uhr weg ging, sagte sie, sie gehe nach dem Tiergarten, um eine Aussprache mit Reimann zu halten; sie sagte, sie habe das Zusammentreffen auf 10 Uhr vertagt, weil sie in der Tiergartengegend recht bekannt sei und nicht wollte, daß sie mit Reimann gesehen würde. Als sie um 12 Uhr noch nicht wieder zu Hause war, wurde ich ängstlich, machte mich auf nach dem Tiergarten. Ich irrte dort wie im Traum umher und rief nach ihr, jedoch ohne Erfolg. Dann eilte ich wieder nach Hause und habe mir gleich gesagt: irgend etwas muß passiert sein. Zu Hause angelangt, sah ich ein Papier mit einem schwarzen Fleck. Da schoß mir der Gedanke durch den Kopf: „Herrgott, sie hat einen Revolver!“ Dann bin ich wieder nach dem Tiergarten gegangen, ging ausrufend durch die Gänge, dann ging ich wieder nach Hause, weil man mich belästigte. Gegen ½2 Uhr wurde meine Tochter mir dann nach Hause gebracht. Ich war ganz entsetzt und fragte sie: „Hede, was hast du gemacht?“ Da stand sie wie entgeistigt und sagte mir leise:

„Georg ist tot!“

In demselben Augenblick fiel sie zusammen. Ich brachte sie in das Bett – es war eine furchtbare Nacht! Dann phantasierte sie allerlei Zeug zusammen und stöhnte mehrmals auf: „Das Feuer!“, „Es knallt ja so!“, „Laß doch die Uhr stillstehen, sie schlägt ja immerzu“, „Ich werde noch verrückt und komme ins Irrenhaus!“ – Ich mußte mich zu ihr ins Bett legen und die Lampe brennen lassen. Sie hat auch im Halbschlummer wiederholt: „Georg! Georg!“ gerufen. Am nächsten Tage hat sie mir gesagt: sie habe den Revolver, mit dem sie Selbstmord verüben wollte, in dem Muff gehabt, er habe ihn wahrgenommen, ihn ihr entrissen, und auf sie geschossen. Dann habe sie noch einen Knall gehört, und habe auf der Leiche gelegen.

Kriminalschutzmann Wendt: Die Sache ist zuerst als Selbstmordsache bearbeitet worden. Als der Gedanke an Selbstmord schwand, sei er beauftragt worden, die Angeklagte nach dem Polizeipräsidium zu holen. Er fand sie im Bette liegend vor. Sie erklärte, sie sei zu schwach, um nach dem Präsidium zu kommen. Bei der daran sich anschließenden Befragung der Angeklagten habe sie ihre Mutter aus dem Zimmer gewiesen und gesagt: Sie würde nicht aussagen, wenn die Mutter im Zimmer bliebe. Alsdann habe sie geäußert: Reimann habe im kritischen Augenblick ihr den Revolver entrissen und auf sie geschossen, indem er ausrief: „Erst du, dann ich!“ Dann habe er auch einen Schuß auf sie abgegeben, der den Hut, den sie trug, durchlöchert habe. Tatsächlich zeigte der Hut auch ein durch einen Schuß hervorgerufenes Loch. – Vors.: Welchen Eindruck machte denn die Angeklagte bei dem Verhör? – Zeuge: Sie machte einen unheimlich ruhigen Eindruck, so daß ich gar nicht wußte, was ich dazu sagen sollte. Sie machte ihre Äußerungen in lächelndem Tone und verschiedene Bemerkungen, die zu der Sache schlecht paßten. Als ich ihr andeutete, daß sie eventuell festgenommen werden würde, antwortete sie: „Machen Sie mit mir, was Sie wollen!

Machen Sie Hackepeter aus mir, vergessen Sie aber nicht das Gewürz dazu!

Mir ist alles gleich; wenn ich nachher daliege mit dem Kopf zwischen den Beinen, dann ist ja doch alles aus! – Vors.: Also Redensarten, wie „Recht muß doch Recht bleiben“, oder „ich werde fälschlich verdächtigt“ und dergleichen machte sie nicht? – Zeuge: Nein. Das Verhältnis der Angeklagten zu ihrer Mutter muß sehr komisch gewesen sein, denn sie gab der Mutter bezüglich der Kleider, die sie ihr reichen sollte, in einem Ton Anweisungen, die sich kein Dienstbote gefallen lassen würde. Es fehlte bloß noch, daß sie die Sachen der Mutter an den Kopf warf. Als Medizinalrat Dr. Hoffmann die Obduktion vorgenommen hatte, hat er erklärt, daß Selbstmord ausgeschlossen sei.

Justizrat Friedmann hielt dem Zeugen verschiedene Momente vor, die darauf hindeuteten, daß er stark animos gegen die Angeklagte sei. Unter anderem habe der Zeuge auf dem Korridor zu einer anderen Zeugin gesagt: Die gute Situation, in der sich die Angeklagte vor Gericht zu befinden scheine, werde sofort ein Ende nehmen, wenn er vernommen werde. – Der Zeuge erklärte hierauf, daß er nur die Wahrheit gesagt habe.

Krankenpflegerin Kreutz bekundete: Die Angeklagte erzählte mir eines Tages, sie habe geschossen, der Mann sei sofort auf das Gesicht gefallen. „Fräulein Müller erzählte mir dann, sie habe zwei ‚Bräutigams‘ gehabt, einen konnte sie nicht leiden, sie habe deshalb darauf gesonnen, einen los zu werden.“ – Vors.: Es ist doch auffällig, daß Ihnen die Angeklagte so ohne weiteres etwas Derartiges erzählte. Wie kamen Sie denn überhaupt zu einem derartigen Gespräch? – Zeugin: Die Angeklagte erzählte es einer anderen Patientin und da hörte ich zu. – Vors.: Angeklagte, erinnern Sie sich eines solchen Gesprächs? – Angekl.: Wie ich zur Untersuchung meines Geisteszustandes nach Dalldorf kam, wurde ich in einem unfreundlichen, dunklen Raum einquartiert, zwischen wirklich Geisteskranken; es war für mich ein entsetzlicher Anblick und ich habe schreckliche Dinge erlebt. Bei jenem Gespräch mit einer Patientin, die mir völlig klar vorkam, habe ich dieser erzählt, daß „man behaupte“, ich habe Reimann erschossen, die Verdachts- gründe gegen mich seien sehr schwer, da die Schüsse sehr unglücklich sitzen. – Vors. (zur Zeugin): Sie hören, die Angeklagte behauptet, sie habe nur gesagt, man werfe ihr das vor, sie solle das so und so gemacht haben. – Zeugin: Nein, sie hat ganz bestimmt gesagt, sie selbst hat geschossen! – Justizrat Leonhard Friedmann: Keine Polizei, kein Untersuchungsrichter, kein Staatsanwalt hat es fertig gebracht, die Angeklagte zu einem Geständnis zu veranlassen, und da soll die Angeklagte der Wärterin gegenüber ein Geständnis abgelegt haben? Das wäre doch etwas sehr auffällig. – Geheimer Medizinalrat Dr. Kortum bestätigte, daß ihm die Zeugin Kreutz sofort nach dem Gespräch jene Mitteilungen gemacht habe. Die Zeugin sei in ihrem Beruf zuverlässig und fleißig, allenfalls sei bei ihr eine leichte Beschränktheit feststellbar. – Auf eine Frage eines Geschworenen, ob sie gewußt habe, was der Angeklagten zur Last gelegt werde, erklärte die Zeugin Kreutz, daß ihr gesagt worden sei: „Das ist die, die einen erschossen hat!“

Zeuge Kaufmann Biede, der bei der Mutter der Angeklagten wohnte, bekundete: Das Verhältnis der Tochter zur Mutter war ein gutes. Die Angeklagte habe ihm mehrfach erzählt, daß Reimann sie mit Liebesanträgen verfolge. Er riet ihr, sich doch zur Wehr zu setzen; sie meinte aber, sie könne die Sache nur mit Güte zum Austrag bringen, denn er wolle sie bei Herrn Dr. St. und in ihrem Geschäft unmöglich machen. – Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Sie hat doch wohl nicht Dr. St. gesagt, sondern den vollen Namen genannt? – Vors.: Sie haben sich wohl hier nur so ausdrücken wollen, weil Sie diese Bezeichnung in den Zeitungsberichten gesehen haben. Für die Öffentlichkeit hat ja dieser Name auch wirklich kein Interesse, und deshalb begnügen sich die Zeitungen mit Recht nur mit dem Anfangsbuchstaben. (Zur Angeklagten): Sie haben immer gesagt, Sie hätten sich Reimann hingegeben, um ihm einen Schweigesold zu geben. Was hätte denn Reimann tun können, wenn Sie ihm diesen Sold nicht bewilligt hätten? – Angekl.: Er hätte gewiß im Geschäft Radau gemacht und ich würde meine Stellung losgeworden sein. – Vors.: Dann hätten Sie sich eine andere Stellung gesucht, so fürstlich war doch Ihre Stelle auch nicht. Sie hatten doch Treupflichten gegen Dr. St, und ein Mädchen, das behauptet, daß es so sehr auf Ehre hält, wie Sie, wird sich dann doch nicht einem anderen Manne hingeben! – Angekl.: Ich habe überhaupt nicht gewußt, was ich damals alles tat.

Zeuge Biede bekundete noch auf Befragen, daß er wiederholt Selbstmordgedanken von der Angeklagten gehört habe, weil Reimann sie so quäle und peinige und sie fortgesetzt verfolge. Die Frage des Vorsitzenden, ob er ge- gesehen, daß Reimann einmal in Frauenkleidern bei der Angeklagten war, verneinte der Zeuge.

Angekl.: Reimann begegnete mir eines Tages auf der Straße in Frauenkleidern und forderte mich auf, mit ihm in ein Kino zu gehen. Ich erklärte ihm, daß ich in solchem Aufzuge nicht mit ihm gehe, denn er sehe ja aus wie eine Dirne. Er erklärte aber: „Ich gehe nicht von deiner Seite und wenn du mich totschlägst!“ Um kein Aufsehen zu erregen, sagte ich: er solle schleunigst von der Straße weg und in meine Wohnung kommen. Da Biede in seinem Zimmer war, öffnete ich seine Tür, bat ihn, mir Hilfe zu leisten und sich Reimann anzusehen, der nun schon in Frauenkleidern ankomme. – Der Zeuge erklärte, daß er sich darauf nicht besinnen könne, daß es aber möglich sei. Als die Angeklagte ihm Vorhaltungen machte, wurde der Zeuge unsicher. Als er vereidet werden sollte, bat er um Bedenkzeit, da er zu aufgeregt sei. Nach einiger Zeit erklärte der Zeuge: Er besinne sich darauf, daß die Angeklagte ihm einmal zugerufen habe, er solle sich Reimann in Frauenkleidern ansehen. – Vors.: Also sie hat nicht etwa ihrer Empörung Ausdruck gegeben und Ihre Hilfe erbeten, sondern nur ganz obenhin gesagt, Sie sollten sich Reimann mal in Frauenkleidern ansehen. – Zeuge: Jawohl.

Über die Photographie, die den Georg Reimann in Frauenkleidern und neben ihm seinen Bruder Erich zeigte, wurden die Mitglieder der Familie Reimann vernommen. Sie erklärten, daß es sich um einen Silvesterscherz gehandelt habe, bei dem Georg Reimann ein Kleid seiner Schwester angezogen habe. Der Photograph habe ihm – wie die Photographie zeige – auch noch eine große Sektflasche in den Arm gegeben.

Vorsteher des Leichenschauhauses, Dr. med. Röske, bekundete: Er habe den Kopf des Getöteten eingehend untersucht. Ein und derselbe Mensch könnte sich diese beiden Schüsse nur dann selbst beigebracht haben, wenn er den Revolver zuerst in die eine und dann in die andere Hand genommen hätte. Jeder Schuß muß an sich schon tödlich gewesen sein. Der Schuß in den Hut der Angeklagten muß in einer Entfernung von 12 Zentimetern abgegeben worden sein. An der Hand der Leiche haben sich Spuren von Pulverschleim nicht vorgefunden.

Hierauf gab

der Schießsachverständige, Major a. D. Berger,

ein längeres Gutachten ab auf Grund der eingehenden Schießversuche, die er mit dem Revolver angestellt hatte. Der Sachverständige erörterte die verschiedenen geltend gemachten Möglichkeiten, die bei der Schießaffäre in Frage kommen konnten. Der Revolver sei ein mehr als minderwertiges Fabrikat, dessen Treffsicherheit sehr zweifelhaft sei. Die Beschaffenheit des Revolvers bewirke, daß eine große Menge von Pulvergasen nach hinten entweiche und ein Teil der Gase als Verblakung von der Hand des Schützen aufgefangen werde. Unter Umständen werde die ganze Hand von Pulvergasen verblakt werden, doch sei es nicht ausgeschlossen, daß die Hand auch rein bleibe. Nach dem Befund seien die Schüsse auf Reimann in den Hinterkopf aus einer Entfernung von einem bis allerhöchstens fünf Zentimetern abgegeben. Die Schüsse müssen abgegeben sein aus einer Deckung, doch sei es nicht wahrscheinlich, daß vielleicht die Schüsse aus dem Muff der Angeklagten herausgedrungen sein könnten, denn dann würde der Muff unbedingt Feuer gefangen haben. Der Umstand, daß das Aufblitzen von den Hinzueilenden nicht wahrgenommen wor- den sei, zeuge dafür, daß die Schußrichtung den Zeugen entgegengesetzt gewesen sei. Daß der erste tödliche Schuß bei einer Umarmung abgegeben worden, sei so gut wie ausgeschlossen. Nach den weiteren schußtechnischen Ausführungen des Sachverständigen, an die sich zahlreiche Fragen des Vorsitzenden, des Staatsanwaltschaftsrats Dr. Gysae und der Verteidiger schlossen, und die durch Vorführung der verschiedenen Stellungen des Revolvers bei den in Frage kommenden Möglichkeiten illustriert wurden, bemerkte der Sachverständige: Es sei möglich, aber nicht wahrscheinlich, daß Reimann geschossen habe. Es sei ausgeschlossen, daß sich Reimann die beiden Schüsse mit derselben Hand beibringen konnte, ganz abgesehen davon, daß nach medizinischem Gutachten jeder dieser Schüsse tödlich war. Dagegen spreche auch die Tatsache, daß

zwei entgegengesetzte Schußkanäle

vorhanden seien. Die Frage, ob die Schüsse bei einem Ringen losgegangen sein könnten, bildete den Gegenstand zahlreicher Versuche, ebenso die Frage, ob der Schuß durch den Hut der Angeklagten von ihrer Hand oder von der Hand Reimanns abgegeben worden sei. Der Sachverständige hielt die letzte Annahme nicht für wahrscheinlich, aber auch nicht für unmöglich. Der Sachverständige erläuterte seine Ansichten durch die Darstellung eines Ringens, zu dem sich der Zeuge Zibell wiederholt bereit erklärte.

Der Vorsitzende gab schließlich ein Resümee der Darstellungen des Sachverständigen, das dahin ging: Die Möglichkeit, daß die Angeklagte den Reimann erschossen hat, ist gegeben, die zweite Möglichkeit, daß die Angeklagte während eines Ringens Reimann erschossen hat, ist auch gegeben, allerdings mit weit geringerer Wahrscheinlichkeit. Wenn man alle nur irgendwie zweifelhaften Punkte ausschaltet, so muß man, da beide Schüsse von hinten in den Kopf gedrungen sind, annehmen, daß ein glatter Meuchelmord vorliegt. – Justizrat Leonhard Friedmann: wies darauf hin, daß es eigentlich selbstverständlich sei, daß ein Meuchelmörder von hinten schießen werde. Die Anklage behaupte ja, daß Mord vorliege, und wenn man alles, was zugunsten der Angeklagten spreche, ausschalten wolle, so bleibe natürlich ein Meuchelmord übrig. – Der Sachverständige erklärte auf eine große Anzahl von Fragen: Wenn man annimmt, daß die Angeklagte Reimann getötet habe, dann stehe der objektive Befund dieser Annahme nicht entgegen. Es folgten

die Gutachten der medizinischen Sachverständigen.

Nervenarzt Dr. Toby Cohn: Die Angeklagte ist eine erblich stark belastete Person. Ihr Vater ist der Geisteskrankheit verdächtig gewesen, ein Halbbruder ist sehr nervös, ein anderer Verwandter hat sich erschossen, die Mutter hat einen Selbstmordversuch gemacht. Es sind bei der Angeklagten eine ganze Reihe von Krankheitszeichen beobachtet worden: Zwangsvorstellungen, Zitteranfälle, ohnmachtsähnliche Anfälle, gesundheitliche Erscheinungen, die man den hysterischen Globus, die hysterische Kugel nennt. Die Angeklagte hat gezeigt, daß sie einen nicht alltäglichen, außergewöhnlichen Charakter hat; sie ist sehr intelligent, vielleicht scheint sie intelligenter, als sie wirklich ist; sie liebt die Pose unter Benutzung von sprachlichen Klischees, die sie vielleicht aus der Literatur, und vielleicht nicht aus der besten Literatur, entlehnt hat. Ihr Charakterbild ist schwankend. Ihrem Krankheitsbilde entspricht aber die eigentümliche Gelassenheit, Gleichgültigkeit und unverständliche Ruhe in Momenten, die zu solcher keinerlei Veranlassung gegeben haben. Der objektive Befund ist eine Störung der Reflexe, Störung des Hautgefühls, außerdem ist die eine Körperhälfte weniger empfindlich wie die andere. Wenn man alles zusammenfaßt, so handelt es sich hier um das Krankheitsbild einer schweren Hysterie. Die Hysterie ist nicht, wie vielfach von Laien geglaubt wird, eine eingebildete Krankheit; es gibt allerdings Hysterische, die sich eine Krankheit einbilden. Das ist aber gerade ein Symptom der Hysterie. Diese sogenannte Neuropsychose weist kaleidoskopartig wechselnde Symptome auf, daran wieder ist die Flüchtigkeit der Symptome, das plötzliche Kommen und Gehen und die Abhängigkeit der Symptome von seelischen Einflüssen charakteristisch. Einige dieser Krankheitstypen werden von der Angeklagten auch in ganz charakteristischer Weise geschildert. Man müsse sich nun die Frage vorlegen, ob zwischen einer so schwer hysterischen Person und der Tat Zusammenhänge bestehen. Nach dem ganzen Ergebnis der Verhandlung und des körperlichen Befundes liegt eine hohe Wahrscheinlichkeit vor, daß die Angeklagte in einem hysterischen Dämmerzustand gehandelt hat. Ein derartiger Zustand ist etwa mit den Phantasien eines Fiebernden oder den Handlungen eines Nachtwandlers zu vergleichen. In einem derartigen Zustand ist das Bewußtsein nicht ausgeschaltet, sondern nur eingeengt. Die Person nimmt nur Bruchstücke des Außenlebens in sich auf; es handelt sich gewissermaßen um ein gefälschtes Bild des Außenlebens, da entweder Halluzinationen oder Illusionen hier eine Rolle spielen. Nach den Schilderungen der drei Zeugen, die die Angeklagte 30 Sekunden nach der Tat gesehen hatten, hat sich die Angeklagte in einem Zustand befunden, der als typischer Dämmerzustand bezeichnet werden muß. Aus den Bekundungen des Dr. St. und des Rechtsanwalts Maretzky ist erkennbar, daß sie schon am Tage vor der Tat sich in einem Zustande befunden hat, der als „niedergebrochen“ bezeichnet wurde und sich dann wieder durch sinnloses Lachen und krampfhafte Lustigkeit bemerkbar machte. Das Abgeben eines Schusses kann bei einer so schwer hysterischen Person einen Dämmerzustand zweifellos hervorrufen. Die Angeklagte hat also während des Schießens schon in einem Dämmerzustand sich befunden und damit in einem Zustande der Geistestätigkeit, der die freie Willensbestimmung ausschloß.Vors.: Vielleicht erweitern Sie Ihre Ausführungen noch nach der Richtung, ob ein normaler Mensch in einer solchen Situation, wie die Angeklagte, sich anders benehmen würde, oder ob nicht auch ein normaler Mensch starr vor Entsetzen über das Geschehene dastehen würde. – Sachverständiger Dr. Cohn: Ich habe einen normalen Menschen in solcher Situation noch nicht gesehen. Wenn eine Person in solchem Zustande sich befindet, wie die ersten drei hinzueilenden Zeugen die Angeklagte gefunden haben, würde ich sagen: Es handelt sich nicht um einen normalen Menschen, sondern um Dämmerzustand. – Vors.: Aber es kann doch, wie wir in einem anderen Prozesse gehört haben, eine solche Tat auch aus normalen Motiven heraus erfolgen, und wenn sich der Betreffende an Einzelheiten noch erinnert, ist keine Geistesstörung anzunehmen. – Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Schließt ein solcher Dämmerzustand nicht aus, daß die betreffende Person nach kurzer Zeit so viele Einzelheiten über die Vorfälle erzählt, wie es die Angeklagte den drei Zeugen gegenüber getan hat, die sie zuerst nach der Tat befragt haben? – Sachverst.: Nein, das schließt sich nicht aus, – Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Ist die Angeklagte in ihrer schweren Hysterie gemeingefährlich? Sie könnte doch jeden Augenblick solche Tat wiederholen. Ich denke da an eine von dem Sachverständigen veröffentlichte Schrift: „Schutz der Allgemeinheit gegen Geisteskranke.“ – Sachverst.: Bei solchen Hysterischen liegt es ähnlich wie bei Trunksüchtigen und Epileptischen, die an sich auch nicht für gemeingefährlich gelten können. – Justizrat Friedmann: Hält es der Sachverständige nicht für viel wahrscheinlicher, daß ein Dämmerzustand vorlag und nicht bloß eine Aufgeregtheit der Angeklagten? – Sachverst.: Jawohl.

Sachverständiger Geh. Medizinalrat Dr. Kortum,

dirigierender Arzt der Anstalt Dalldorf: Er habe die Angeklagte vom 26. Juli bis 7. August in Dalldorf zur Beobachtung gehabt. Auf Grund dieser Beobachtung und der Ergebnisse dieser Verhandlung sei er zu dem Schluß gekommen, daß die Angeklagte eine hysterische Person sei, die zurzeit nicht als geisteskrank und unzurechnungsfähig anzusehen sei. Er stimme aber mit Dr. Cohn darin überein, daß sie zu der Zeit, als die beiden letzten Schüsse fielen, sich in einem Zustande befand, der die freie Willensbestimmung ausschloß. Er gebe die bedingte Möglichkeit zu, daß sich die Angeklagte beim Abgeben der letzten beiden Schüsse in einem Dämmerzustande befunden habe – vorausgesetzt, daß ihre Darstellung der Vorgänge wahr sei; er halte sie für wahr. Diese seine Erwägung sei durch die mit der medizinischen Erfahrung übereinstimmende Tatsache unterstützt, daß sie, als sie aus dem Dämmerzustande beim Erscheinen der drei ersten Zeugen erwachte, an den Augenblick anknüpfte, wo das Bewußtsein zu dämmern anfing, denn das erste, was sie sagte, war: Er hat mich geschossen! Ein normaler Mensch würde in solcher Situation nicht geistesabwesend dastehen und zunächst nichts antworten, sondern man würde Entsetzen und Verzweiflung in seinen Mienen lesen. Auch die Tatsache, daß sie am nächsten Tage den Zeugen Tuchel, der am Abend vorher nach dem Vorgang lange Zeit mit ihr gesprochen, zunächst nicht wiedererkannte, spreche für den Dämmerzustand. Sollte die Voraussetzung der Wahrheit ihrer Angaben ausgeschlossen werden, so würde er (Sachverständiger) unter diesen Umständen keinen Ausschluß der freien Willensbestimmung, aber wohl eine verminderte Zurechnungsfähigkeit annehmen müssen. – Auf die Frage des Staatsanwaltschaftsrats Dr. Gysae, ob die Angeklagte als gemeingefährlich geisteskrank anzusehen sei, erklärte der Sachverständige, daß er auf die Frage zurzeit eine konditionelle Antwort nicht geben könne.

Am vierten Verhandlungstage äußerte sich nochmals der Schießsachverständige, Major a. D. Berger: Er habe gestern sagen wollen, daß, wenn ein Mord angenommen werden sollte, es unwahrscheinlich sei, daß hier ein Mörder die Waffe nach dem Kopf des Getöteten gerichtet hat. Der Sachverständige begründete dies mit der Entfernung, in der die Waffe gehalten worden sein muß, denn der Mörder hätte sich sagen müssen, daß bei einer solchen Entfernung die kleinste Seitwärtsbewegung des Opfers ein Verfehlen des Zieles zur Folge haben würde. – Vors.: Jeder Fall liegt doch anders, sie spielen sich doch nicht nach einem bestimmten System ab. Es können solche Taten nicht bloß von einem kühl berechnenden Meuchelmörder, sondern auch im Affekt begangen werden, es kann doch Totschlag vorliegen. – Sachverst.: Auf Totschlag hat sich mein Gutachten nicht bezogen. Im übrigen bleibe ich bei meiner Überzeugung, daß der erste Schuß .... Vors. (unterbrechend): Herr Major, wenn Sie nicht neue Momente vorführen können, würde ich weitere Ausführungen nicht zulassen, denn ich müßte dann jedem der anderen Sachverständigen zur Wiederholung ihrer Aussagen das Wort geben müssen. – Sachverständiger: Neue Momente will ich nicht beibringen, ich will nur betonen, daß ich bei meiner gestrigen Ausführung bleibe. – Justizrat Friedmann: Der Herr Vorsitzende hat wiederholt betont, daß alles getan werden solle, um möglichste Aufklärung zu schaffen, da bitte ich doch, dem Sachverständigen das Wort zu gestatten. – Vors.: Selbstverständlich ist die Aufklärung nach allen Richtungen hin wünschenswert, doch kann ich Wiederholungen nicht zulassen. – Justizrat Friedmann: Dann erlaube ich mir die Frage an den Sachverständigen, ob er bei seiner Meinung verbleibt, daß der zweite und dritte Schuß in den Kopf des Getöteten gegangen ist und der erste Schuß den Hut der Angeklagten getroffen hat? – Vors.: Ich muß dabei bleiben, daß ich dem Sachverständigen nur zur etwaigen Vorbringung neuer Momente das Wort geben kann. – Justizrat Friedmann: Nach der Prozeßordnung sollen nur solche Fragen abgelehnt werden, die als ungeeignet erachtet werden. – Vors.: Ungeeignet sind solche Fragen, die nur Wiederholungen zur Folge haben können. – Justizrat Friedmann bat um Gerichtsbeschluß, nahm den Antrag aber wieder zurück und fügte hinzu: Die Geschworenen würden ja wissen, woran sie sind. – Ein Geschworener wünsche zu wissen, wo eigentlich der Hut des getöteten Reimann geblieben ist, den er doch bei dem Zusammentreffen im Tiergarten auf dem Kopf gehabt habe. – Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Auf den Hut sei von der Anklagebehörde keinerlei Wert gelegt worden. – Zeuge Zibell: Er könne sich nicht besinnen, ob der Hut neben der Leiche gelegen habe. – Anna Reimann: Der Hut, der keine Brandspuren aufwies, habe im Leichenschauhause bei der Leiche gelegen.

Der Vorsitzende verlas darauf die von ihm entworfenen Schuldfragen, die auf Mord oder Totschlag lauteten und die Unterfragen enthielten, ob der Totschläger ohne Schuld durch Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist (§ 213), oder ob andere mildernde Umstände vorhanden sind.

Hierauf erhielt

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae

das Wort zur Schuldfrage: Meine Herren Geschworenen! Als wir am Sonnabend in dem herbstlichen Tiergarten die Örtlichkeit besichtigten, wo sich die Tat abgespielt hat, bot diese Örtlichkeit doch ein anderes Bild, als in der Märznacht, in der drei Männer auf den Knall eines Revolvers dem Schall nachliefen und einen jungen Menschen tot am Boden liegend und in der Nähe der Leiche eine gut gekleidete junge Dame vorfanden. Es handelte sich wieder um das Opfer einer verhängnisvollen Revolverschießerei, von der die Spalten der Zeitungen und die Gerichtssäle jetzt so häufig widerhallen, und mit der auch Sie sich in der arbeitsvollen Sitzungsperiode sehr viel zu beschäftigen hatten. Auch hier handelt es sich um einen jener Fälle, in denen das Schießeisen eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Sie, meine Herren Geschworenen, sind nun berufen, das letzte Wort zu sprechen in dem Drama, und zwar als Richter. Eine ganze Reihe von Momenten hatten die Möglichkeit nahegelegt, daß in der Tat ein Mord vorliege und daher war es notwendig, in diesem Rahmen die Tat der Angeklagten Ihrer Entscheidung zu unterbreiten. Die Hauptverhandlung hat dies aus einem richtigen und tatsächlichen Grunde nicht bestätigt. Wenn man einen Mord annehmen will, so muß nach dem Standpunkt des Reichsgerichts die Überlegung für alle Teile der Tat gefordert werden, nicht bloß für die Vorbereitung, sondern auch für die Ausführung der Tat, so daß der Mörder sorgsam gezielt haben muß, um sein Opfer zur Strecke zu bringen. Ich stehe nicht an zu erklären, daß in vorliegendem Falle im Augenblick der Tat keinesfalls die Überlegung vorhanden gewesen ist. Es handelt sich also, wie vorweg zu bemerken ist, nicht um den Kopf der Angeklagten! Ich will gleich hinzufügen: Ich werde beantragen:

die Frage nach Totschlag zu bejahen,

ferner die Frage zu bejahen, daß die Angeschuldigte zum Zorn gereizt war und endlich die Frage nach mildernden Umständen zu bejahen, denn diese sind im weitesten Maße vorhanden. Sie werden vielleicht einen anderen Antrag von mir erwartet haben mit Rücksicht auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. Cohn. Ich würde diesem Gutachten entschieden folgen, wenn ich es für berechtigt hielte. Gewiß ist Herr Dr. Toby Cohn ein Mann von anerkannter wissenschaftlicher Bedeutung, er hat aber trotzdem ein Gutachten abgegeben, an dem ich die schärfste Kritik üben muß, denn es ist abgegeben ohne ausreichende Unterlage, ohne ausreichende Vergleichsmäßigkeit und ohne den Mut der Konsequenz. Das Gutachten des Geh. Rats Dr. Kortum klang Ihnen vielleicht ähnlich, in Wahrheit aber war es grundverschieden. Unser langjähriger, verdienter Gerichtsarzt, Herr Medizinalrat Dr. Hoffmann, der leider von Berlin abwesend ist, hat nicht die Meinung gehabt, daß die Angeklagte geisteskrank sei, er hat es aber doch für seine Pflicht gehalten, wegen einiger Krankheitserscheinungen der Angeklagten, den Antrag aus § 81 zu stellen. Herr Dr. Cohn hat die Angeklagte einmal gesehen und gesprochen. Sein Gutachten beruht auf den eigenen Angaben der Angeklagten, die er alle als wahr annimmt, obwohl die Angeklagte doch ausgesprochen hysterisch ist. Hysterische sind aber bekanntlich zur Unwahrhaftigkeit und zur Lüge geneigt. Es hat mir fast einen körperlichen Schmerz bereitet, daß ein Mann von der wissenschaftlichen Bedeutung des Herrn Dr. Cohn „Zwangsvorstellungen“ feststellen zu können glaubt, lediglich auf die Angaben der Angeklagten hin. Er hat die Zwangsvorstellungen mit der Platzfurcht verglichen. Es ist auffallend, daß der Sachverständige eine Zwangsvorstellung feststellen zu können glaubte. Es wird auf die Verfassung verwiesen, in der die drei Zeugen, die auf den Knall hinzugeeilt waren, die Angeklagte gefunden haben. Ja, würde denn ein normaler Mensch, nachdem er in das Medusenhaupt einer so entsetzlichen Tat geschaut, sich anders verhalten? Dr. Cohn sagt: er habe einen normalen Menschen in einer solchen Situation noch nicht gesehen. Es fehlt ihm also die Vergleichsmöglichkeit.

Die Herren Psychiater

walten gewiß sehr gründlich und sehr gewissenhaft ihres Amtes, sehen aber fast nur Kranke und vergessen ganz, daß Gott sei Dank ein größerer Prozentsatz der Menschen noch normal ist. Der Sachverständige hat ja auch die Angeklagte nach der Tat nicht gesehen, sondern nur die Darstellung gehört, die die drei braven Männer, die als die ersten hinzugeeilt waren, nach ihrem besten Wissen gegeben haben. Es ist doch selbstverständlich, daß ein 20jähriges, junges Mädchen nach einer solchen furchtbaren Szene ganz erschüttert und sprachlos dasteht, dazu braucht man nicht an einen Dämmerzustand zu denken. Herr Dr. Cohn müßte doch die Konsequenzen seines eigenen Artikels ziehen, den er im Anschluß an den Fall Ritter geschrieben hat, in dem er einen Schutz vor Geisteskranken fordert. Einem solchen Gutachten kann ich also keinesfalls folgen. Auf eine Zwischenbemerkung des Justizrats Friedmann habe ich gestern keineswegs mit einer für die Angeklagte noch fühlbareren Strafe drohen wollen; es kann gar keine Rede davon sein, daß ich die Angeklagte als Geisteskranke ins Irrenhaus schicken will. – Ganz anders lautet das Gutachten des Geheimrats Dr. Kortum, der als Voraussetzung hinstellt, daß die Angaben der Angeklagten wahr sind, und bei Wegfall dieser Voraussetzung die Verantwortlichkeit der Angeklagten bestehen läßt. Ich behaupte, daß das letztere der Fall ist und daß die Angeklagte über die Vorgänge nicht die Wahrheit sagt. Sie ist eine außerordentlich begabte Person, ihre Niederschrift ist außerordentlich geschickt gemacht, klingt etwas hochtrabend. Ihre werte Person ist in den Vordergrund gestellt. Sie haben selbst gehört, wie sie in fabelhaft geschickter Weise immer wieder eine Antwort fand und von dem Rechte des Angeklagten, zu leugnen und zu lügen, ausreichend Gebrauch machte. Der Staatsanwalt ging dann ausführlich auf den Entwicklungsgang der Angeklagten und ihre ganze Persönlichkeit ein. Er wies darauf hin, daß sie aus einer guten und früher gut situierten Familie stamme, die durch den trunksüchtigen und lüderlichen Vater herabgekommen sei. Die Angeklagte sei eine frische, zur Fröhlichkeit hinneigende Person, die in nicht alltäglicher Weise frisch und freudig den Kampf mit dem Leben aufgenommen und in jungem Alter tapfer mitgearbeitet habe, um ihre Mutter mit zu erhalten. Sie ist ja erblich belastet, aber nirgends hat sich gezeigt, daß sie mehr als hysterisch ist. Das hat sich so wenig gezeigt, daß der Zahnarzt Dr. Oppler dieser angeblich „Fallsüchtigen“ seine Kinder zur Obhut anvertraute. Als ihr dann der Dr. St. seine Freundschaft und seine Liebe schenkte, wurde dieses Verhältnis für sie und für den Dr. St. eine Quelle des Glücks, denn das Verhältnis war nicht alltäglicher Art. Sie kam in einen neue Daseinskreis, dem sie sich durch Erweiterung ihrer Bildung und Festigung ihrer ganzen Persönlichkeit gern anzupassen suchte. Sie haben zusammen Bücher gelesen, lasen die Reisebeschreibungen, die der oft beruflich auf Reisen befindliche Dr. St. ihr gegeben hat, sich vor, besuchten gute Opern und gute Theater. Die Angeklagte war nicht bestrebt, aus diesen Beziehungen finanzielle Vorteile zu erzielen. Da kam das Verderben über sie in dem Augenblick, als ihre Beziehungen zu Georg Reimann begannen, einem jungen Mann, auch aus besserer Familie stammend, auch ein Sohn eines verarmten Architekten aus Glatz, auch ein Mann, der eine bessere Bildung genossen hatte. Das „mütterliche“ oder „schwesterliche“ Verhältnis, das die Angeklagte glauben machen will, konnte in dieser Form nicht lange bestehen bleiben. Reimann war, wie die Angeklagte sagte, „halb Kavalier, halb Page“, aber der Page begann bald die Augen zu erheben zu seiner Herzogin, er dachte daran, daß er ein Mann geworden, und als er erfuhr, daß sie mit einem anderen Manne in Verkehr stand, wurde ihm sofort klar, daß dies nicht bloß ein schriftlicher Verkehr sein könne. Als er die briefliche Bestätigung davon vor Augen sah, da begann für ihn die Eifersucht, da wurde er liebesrasend. Sie hat in frevelhafter Weise mit dem jungen Manne

gespielt wie die Katze mit der Maus.

Nach und nach ist aus dem Liebesrasenden ein ganz gemeiner Erpresser geworden. Die Angeklagte ist ein gewecktes Mädchen, jeder Situation gewachsen, sie ist ein Berliner Kind im besten Sinne des Wortes, und sie mußte sich von selbst sagen, daß, wenn sie sich dem Reimann hingab, für diesen der Appetit mit dem Essen kommen mußte. Dieses Doppelspiel, das die Angeklagte spielte, hätte jeden normalen Menschen schließlich in den Zustand bringen können, in dem sich die Angeklagte befand, als sie nach und nach bis zu dem Grade der Verzweiflung kam, wo sie dem Reimann schrieb: „Du oder ich; einer von uns ist zuviel auf der Welt.“ Als dann Reimann den anonymen Brief an den Mann schrieb, der ihr ganzes Glück war, als Reimann diese letzte, gemeinste Waffe aller Schwächlinge in Anwendung gebracht hatte, da reifte in ihr der Entschluß, der Sache ein Ende zu machen, so oder so! Die Situation für sie war unhaltbar, sie setzte ihr eigenes Leben ein, wollte aber auch den Vernichter ihres Lebensglückes mit aus dem Leben nehmen. Wenn ein Mädchen, das so drangsaliert und zum äußersten getrieben wird, zur Selbstbefreiung schreitet, so ist das erklärlich, aber strafbar. Es ist geradezu unheimlich, wie Reimann sie gequält und verfolgt hat. Er hatte ihr mit der Vernichtung ihrer Existenz gedroht, sie stand dem schonungslos vorgehenden Manne machtlos gegenüber. Da ist der übervolle Becher zum Überlaufen gekommen. Ihr Plan ging nicht mehr dahin: „Du oder ich“, sondern „du und ich“. Die Angeklagte hat die Tat ganz planvoll vorbereitet. Man denke nur daran, daß sie das Zusammentreffen mit Reimann von 8 auf 10 Uhr verlegt, und daß das Mädchen, das in den Tod gehen wollte, auch noch daran dachte, den Hausschlüssel des Dr. St. zurückzuverlangen, und die Verlegung der Zeit damit erklären will, daß sie sich schämte, mit dem R. sich noch sehen zu lassen. Es wäre ja doch unerhört, wenn jemand straflos bleiben sollte, weil er es versteht, über die entscheidenden Minuten den Schleier des Vergessens zu breiten, und einfach sagt: er weiß davon nichts mehr. Sie weiß sicher mehr, als sie sagen will. Man kann sich die Vorgänge an dem Orte der Tat recht klar zeichnen. Der Mann, der vorher schon sich gemein und bedrohend gezeigt hat, der wird sie bei dem Geplänkel um den Brief in derselben Weise beschimpft und schlecht gemacht und den aufgespeicherten Zorn entladen haben. Und da setzte die Angeklagte die Waffe dem jungen Manne an den Hinterkopf, gab zwei Schüsse auf ihn ab und den dritten auf sich selber, der bei ihrer Aufregung sein Ziel verfehlte. Alsdann stand sie da in voller Verzweiflung, als sie dies Furchtbare erlebt hatte. Der altbewährte und zuverlässige Medizinalrat Dr. Hoffmann, der die Obduktion vorgenommen, hat klipp und klar erklärt, daß nach dem Ergebnis der Obduktion

ein Selbstmord ausgeschlossen

ist. Auch die Möglichkeit, daß beim Ringen die tödlichen Schüsse losgegangen sein sollten, ist undenkbar, alle sonst vorgeführten Möglichkeiten erscheinen absurd. Wenn Justizrat Friedmann die Möglichkeit, daß der Getötete sich beim Hinfallen gedreht habe, durch den Hinweis bekräftigen wollte, daß eine solche Drehung auch bei den auf dem Theater „Sterbenden“ üblich ist, so stimmt dies nicht, denn auf dem Theater erfolgt diese Umdrehung, weil man den Schauspieler nicht in der schwierigen Lage lange liegen lassen will. Ein altes Wort sagt: „Die Szene wird zum Tribunal.“ Hüten Sie sich aber, auch hier die Szene zum Tribunal werden und einen Theatergebrauch als Beweis dienen zu lassen. Denken Sie auch an das ganze Verhalten der Angeklagten nach der Tat, an ihre Bemerkungen, die sie dem Polizeibeamten machte, als sie zur Haft gebracht wurde. Solche Witze und solche Bemerkungen wird in einem so bedeutungsvollen Moment doch gewiß kein Mensch machen, der sich unschuldig fühlt, selbst wenn man einen guten Prozentsatz von den schnoddrigen Berliner Redensarten in Abzug bringt. Alles, was die Angeklagte über die Vorgänge bei der Tat gesagt hat, ist nach meiner festen Überzeugung nicht wahr. Erklären Sie die Angeklagte des Totschlags schuldig, aber bewilligen Sie ihr mildernde Umstände. Folgen Sie der zweiten Alternative des Geheimrats Kortum, der da sagte: Wenn die Behauptungen der Angeklagten nicht wahr sind, ist sie für ihre Tat verantwortlich. Aber sie ist hysterisch und bis zur Vernichtung ihres eigenen Lebens bis aufs Blut gepeinigt worden. Reimann war in der letzten Zeit kein besonders achtungswertes Mitglied der Menschheit. Sie werden das Richtige finden, wenn Sie die Schuldfragen in meinem Sinne beantworten.

Verteidiger R.-A. Dr. Ledermann wies an einzelnen Punkten nach, daß Reimann nicht wahrheitsliebend war, daß er ein phantastischer Phrasenheld gewesen sei, der von sich selbst renommierte. Nicht Liebe habe der Angeklagten ein größeres Interesse für Reimann eingeflößt, sondern ein gewisses Mitleid. Er sei ihr als ein netter, guter Kerl erschienen, bis er nach und nach seine wahre Natur zeigte. Wenn sie ihn geliebt hätte, dann würde sie doch niemand gehindert haben, ihm allein anzugehören. Sie liebte ihn nicht, sondern hatte Angst vor ihm, der alles daran setzte, sie ganz unter seine Macht zu bekommen; sie hatte Angst um ihre Stellung, Angst um ihre Mutter, deren Ernährerin sie war. Auch Reimann liebte die Angeklagte nicht, sonst wäre er nicht so gemein gegen sie vorgegangen, denn es ist nicht mehr als wahrscheinlich, daß er sie nicht nur beschimpft, sondern auch daran gedacht hat, sie zur Dirne zu machen und ihr Zuhälter zu werden. Die Angeklagte sei keine Person, der man die Absicht zu morden oder zu töten zutrauen könne. Sie sei

ein lustiger, fröhlicher Kerl

gewesen, ein Sonnenschein für alle, die mit ihr zu tun gehabt haben, deren Gutmütigkeit, Stolz und deren Ehrgefühl von den verschiedensten Zeugen bekundet wurde. Die Angeklagte habe nie die Absicht gehabt, zu töten, sondern nur die, sich selbst das Leben zu nehmen. – Die Darlegungen des Staatsanwalts über die vermeintliche Entwicklung der Dinge an dem Tatort treffen gegenüber den Tatsachen nicht zu. Jemand, der einen Menschen tötet, bleibe doch sicherlich nicht bei der Leiche stehen. Nach dem Gutachten der Sachverständigen sei gar kein Zweifel, daß die Angeklagte zu der Zeit, als die Schüsse fielen, sich in einem Dämmerzustand befand. Ganz entschieden müsse sich die Verteidigung gegen die Kritik verwahren, die der Staatsanwalt dem von ihr gestellten Sachverständigen habe zuteil werden lassen. Es handle sich hier um einen wissenschaftlich anerkannten Sachverständigen, der aus seiner reichen ärztlichen Erfahrung heraus seine mit guten Gründen belegte Überzeugung klargelegt habe. Nach diesem Gutachten müssen die Geschworenen die Angeklagte freisprechen. Die Geschworenen mögen eindringen in die komplizierte Psyche des Mädchens und in die komplizierten Vorgänge. Zuzugeben sei, daß der Verdacht groß sei, aber die Angaben der Angeklagten seien nicht widerlegt und auch wahrscheinlich. Geben Sie, so schloß der Verteidiger, die Angeklagte dem bürgerlichen Leben wieder, dem sie schon 6 Monate entzogen ist, geben Sie sie ihrer Mutter wieder, der sie eine Stütze im Alter sein muß!

Verteidiger Justizrat Friedmann: Nicht bloß Sie, meine Herren Geschworenen, werden erstaunt sein, daß der Staatsanwalt einen Antrag auf schuldig gestellt hat, sondern von diesem Erstaunen werden weitere Kreise erfaßt werden, ebenso wie die Männer auf der Verteidigerbank. Ein solcher Antrag ist nach dem Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen kaum verständlich und ist mit dem ganzen Gange der Verhandlung, der Vorgeschichte des Prozesses und den Ergebnissen der Verhandlung nicht vereinbar. Nach diesen Ergebnissen kann man unmöglich zu einer sicheren Entscheidung kommen. Der Verteidiger richtete alsdann an die Geschworenen die ernste Mahnung, über den Einzelheiten, auf die so großes Gewicht gelegt sei, über den Details nicht den großen Gesichtspunkt zu verlieren, der allein sie leiten könne, wenn sie die Wahrheit finden wollen. Nach einem längeren geistvollen Hinweis auf Wesen und Bedeutung der Geschworenengerichte und auf die manchmal nicht unberechtigte Furcht vor gelehrten Richtern, ersuchte der Verteidiger die Geschworenen, nicht nach Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu urteilen, sondern sich einzig und allein zu fragen: Was ist erwiesen?

Im weiteren ersuchte der Verteidiger die Geschworenen, sich auch von keiner Seite außerhalb des Saales irgendwie beeinflussen zu lassen und nicht darauf zu achten, wenn in der Öffentlichkeit dieser oder jener seine Meinung über die Schuld oder Unschuld der Angeklagten kundgebe. Den Geschworenen müsse als einziger Leitfaden die freie Beweiswürdigung dienen, und wenn diese freie Beweiswürdigung und ihre Grenzen richtig eingeschätzt würden, müßten sie zu einem Nichtschuldig kommen. Die Tatsachen treiben zu diesem Schluß. Aber die Angeklagte sei auch nicht eine Persönlichkeit, der man ohne weiteres eine solche Tat zutrauen könne. Der Verteidiger nahm den Sachverständigen Dr. Toby Cohn nachdrücklich gegen die Ausführungen des Staatsanwalts in Schutz und führte aus, daß dessen Gutachten ein in jeder Beziehung wohlbegründetes und durchaus nicht im Gegensatz zum Kortumschen Gutachten stehendes war. Es erübrige sich daher, alle vorhandenen Möglichkeiten noch einmal durchzugehen und die Schlußfolgerungen des Staatsanwalts zu widerlegen, denn schon nach diesem Gutachten müßten die Geschworenen zu einem Nichtschuldig kommen, da danach die freie Willensbestimmung der Angeklagten in den kritischen Augenblicken ausgeschlossen war. Zu den „Möglichkeiten“ würde schließlich auch die noch gar nicht berührte Frage der Notwehr gehören. Wenn man annehme, daß der erste Schuß derjenige gewesen, der den Hut der Angeklagten durchbohrte, so sei die weitere Tätigkeit der letzteren auch aus dem Gesichtspunkte der Notwehr diskutabel. Die Geschworenen dürften nicht das Unwahrscheinliche ohne weiteres als unwahr betrachten, denn oft sei gerade dieses Unwahrscheinliche die Wahrheit. Die ganze Vorgeschichte des Prozesses zeige ja auch, daß man ursprünglich an eine Schuld der Angeklagten überhaupt nicht dachte. Der Verteidiger schloß mit der Bitte, sämtliche Schuldfragen zu verneinen. (Bravo im Zuhörerraum.) Der Vorsitzende bemerkte, daß alle Beifalls- oder Mißfallsbezeugungen im Gerichtssaale unzulässig seien. –

Die Angeklagte, die am letzten Tage der Verhandlung sehr niedergeschlagen war und fast den ganzen Tag den Kopf zur Erde senkte, so daß das schöne Gesicht nicht zu sehen war, erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich habe nichts mehr zu sagen. Der Vorsitzende gab alsdann den Geschworenen die Rechtsbelehrung. Auf Wunsch der Geschworenen wurde ihnen der Revolver, die Patronen, der Muff der Angeklagten und deren durchschossener Hut in das Beratungszimmer mitgegeben.

Nach etwa 2½ stündiger Beratung verkündete der Ob- mann, Professor Dr. Kühne: Die Geschworenen haben die Angeklagte des

Totschlags, unter Zubilligung mildernder Umstände, für schuldig

erkannt.

Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gysae: Die mildernden Umstände fließen aus zwei Quellen: Einerseits aus der Erwägung, daß die Angeklagte infolge ihrer Veranlagung minder zurechnungsfähig bei der Ausführung der Tat war; andererseits, daß die Angeklagte sich in einer Lage befand, nicht ganz ohne ihre Schuld, aber doch nicht ganz durch ihre Schuld, von der sie nicht wußte, wie sie anders enden solle. Andererseits handelt es sich um ein Menschenleben; man muß aber berücksichtigen: um welches Menschenleben; um einen Menschen, der die Angeklagte bis aufs Blut gepeinigt und verfolgt hat. Unter Berücksichtigung auch der Jugend der Angeklagten beantrage ich ein Jahr sechs Monate Gefängnis und Anrechnung eines Teiles der Untersuchungshaft. – Verteidiger Justizrat Friedmann: Falls der Gerichtshof nicht den § 317 der Strafprozeßordnung anwenden will, habe ich keine Ausführungen zu machen. Das Gericht wird wissen, welche Strafe es nach dem Spruche der Geschworenen zu finden hat. Jedenfalls beantrage ich die Haftentlassung der Angeklagten. – Nach kurzer Beratung des Gerichts verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Schlichting, folgendes

Urteil:

Innerhalb des Rahmens, den der Spruch der Herren Geschworenen gezogen, hatte das Gericht die Strafe festzustellen. Das Gericht hat folgendes geprüft: Die Angeklagte hatte vom Vater nicht nur die Intelligenz, sondern auch den Leichtsinn geerbt und so war es für sie notwendig, daß sie eine besonders starke moralische Stütze durch ernste und sorgsame Erziehung erhielt. Ihr fehlte das gute Elternhaus, die sorgfältigen Eltern, die einem jungen Mädchen einerseits eine gewisse Freiheit lassen, andererseits aber auch mit Strenge darauf sehen, daß die Grenzen dieser Freiheit nicht überschritten werden. Sie kam in die Großstadt, wo die Verlockungen an sie herantraten und wo eine besondere Kontrolle durch zuverlässige Freundinnen besonders notwendig gewesen wäre. Der Boden für sie war vorbereitet; sie ging ein Liebesverhältnis ein mit einem Mann, der in anderen Kreisen wie sie lebte. So ideal das gewesen sein mag, es bestand doch eine Kluft zwischen ihnen. Bei der sinnlichen Natur und der ihr innewohnenden Erotik blieb noch ein Platz für einen Zweiten. Georg Reimann war das Gegenstück von Dr. St., und wenn er etwas Lasterhaftes an sich hatte, so war dies vielleicht das, was die Angeklagte reizte. „Einen Kuß auf deinen losen, frechen Mund!“, so schrieb sie und dies beweist, daß sie sich nicht immer so brav und gebildet unterhalten wollte, wie mit Dr. St. Sie sagte selbst: Eine Doppelnatur wohne in ihr, wie ja wohl in jedem Menschen etwas von einer solchen steckt. Sie liebte es, sich mit Reimann etwas nachlässiger und weniger ernst zu unterhalten. So kam eine gewisse Neigung zu ihm. Bei Dr. St. hatte sie einen gewissen Respekt zu bewahren, bei dem jungen Menschen war sie die Königin allein. Dieses Doppelspiel war eine Lage, der sie nicht gewachsen war, denn nun zeigte sich Reimann von der schlechten Seite. Er hatte sie, nach dem letzten Brief zu urteilen, auf alle Art bedroht und geängstigt. Bei ihrer hysterischen Natur entschloß sie sich zu dem Schritt, der sie von dieser Fessel befreien sollte. In dieser Verfassung hat sie die Tat begangen, die die Herren Geschworenen als Totschlag erkannt und für die sie ihr mildernde Umstände bewilligt haben. Danach hat der Gerichtshof, in Erwägung, daß sie trotz ihrer Intelligenz eine mangelhafte moralische Bildung besaß und sich in einer Notlage befand, da sie ein Erpresser in[WS 1] ihre Gewalt gebracht hatte, in fernerer Erwägung, daß sie geistig dem Dr. St. nahe-, moralisch aber dem Reimann näherstand, gemeint, eine Strafe mittlerer Art verhängen zu sollen.

In Erwägung aller dieser Umstände hat der Gerichtshof auf zwei Jahre und sechs Monate Gefängnis erkannt, wovon sechs Monate auf die Untersuchungshaft angerechnet werden. –

Die Angeklagte nahm das Urteil mit ziemlichem Gleichmut entgegen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: in in