Textdaten
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Autor: Johannes Wilda
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Titel: Ein Invalidenheim
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 8–12
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Invalidenheim.
Von Johannes Wilda.     Mit Zeichnungen von Ewald Thiel.


Das Invalidenhaus zu Berlin.

Es ist ungeheuerlich, wie eine Großstadt der Neuzeit das Gelände um sich her „auffrißt“. Was ist aus dem Berlin geworden, das einst aus den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs mit kaum 6000 Bewohnern und 800 meist einstöckigen und strohgedeckten Hütten hervorging! In einem seiner Dramen erzählt Wildenbruch, wie man von einem Turm der inneren Stadt Berlin ausgespäht und dann „fern im Norden, in der Gegend des Wedding“ Menschen oder von Menschen aufgewirbelten Sand entdeckt habe. Eine Vorstellung dieses Entlegenseins vermag man sich heute kaum mehr zu bilden.

Nicht ganz so weit draußen wie der „Wedding“ und etwas mehr westlich, in der Gegend der einst vielberufenen Panke, erstreckt sich das Besitztum, das wir jetzt ins Auge fassen wollen.

„Erstreckte“ sollte man lieber sagen, insofern als „erstrecken“ den Begriff einer weiten Ausdehnung in sich schließt. Das war einmal! Wenn der Alte Fritz das Gebiet wieder sähe, würde er sich wundern, wie klein es geworden und wie anders heute die Welt dort ausschaut! Die „Sandscholle“ hieß es ehemals in der Amtssprache; wenn der Wind sich dort erhob, so wirbelte er Sand auf wie in der Wüste Sahara, dergestalt, daß zuweilen ein Reiter auf den angehäuften Hügeln über die Palissaden wegreiten konnte, welche die Stadt Berlin hier begrenzten.

Als der Große König aus dem Zweiten schlesischen Kriege heimgekehrt war, da machte er einen lobenswerten Gedanken zur That: die Abtragung einer Schuld gegen seine braven Soldaten. Er sah sich die Sandscholle mit seinem berühmten Adlerblick an und befahl, daß hier ein Haus für seine Invaliden gebaut werden solle, denn „wir müssen für unsere Freunde, die alten Soldaten, sorgen!“ Von Magdeburg wurde der Ingenieurkapitän Petri beordert, ein Herr nach dem Herzen seines Königs, flink und sparsam – und binnen zwei Jahren war nicht bloß der große Bau fertig, es waren auch an der ausgeworfenen Bausumme von 121000 Thalern 1338 Thaler, 7 Groschen und 6 Pfennig gespart. Im November 1748 fand die Einweihung [9] statt und 600 mehr oder weniger krumm und lahm geschossene Krieger hielten ihren Einzug, wobei nach dem Befehl des Königs „arme“ Invaliden besonders bevorzugt wurden.

So stand nun das Haus da, ungefähr schon so, wie es heute ausschaut: ein drei bescheidene Stockwerke hohes, volle 175 Meter langes Gebäude, nebst einem Mittelbau, dem „Risalit“ („Resolut“ sagen die Invaliden). Zwei auch hübsch lange Flügel gehen davon aus; sie umschließen mit dem Hauptgebäude den auf unserer Abbildung S. 8 ersichtlichen „Kanonenhof“, mit seinem Belagerungsgeschütz von 1780 in der Mitte. Den Schmuck der Anlagen kannte dieser Hof ursprünglich nicht; dafür ward dort ein lebhafter Markt abgehalten, denn das einsam gelegene Anwesen, das noch bis in die Neuzeit hinein die Bezeichnung „Invalidenhaus bei Berlin“ führte, bildete eine kleine Stadt für sich mit eigener Wirtschaftsführung. Rechts und links liegen zwei Seitenhöfe, deren Abschluß durch je ein Kirchlein sowie durch die ehemaligen Wirtschafts- und jetzigen Stallgebäude gebildet wird. Anfangs wurde die nach dem Spandauer Schiffahrtskanal schauende Westseite als die Front angesehen; in der Neuzeit erachtet man dafür die nach dem Kanonenhofe gelegene Ostseite, an der die Scharnhorststraße vorüberführt. Auf jeder Front steht die vom Alten Fritz angebrachte Inschrift „Laeso et invicto militi“, „dem wunden und unbesiegten Krieger“ und seit kurzem prangt auch ein goldenes Reliefbild des königlichen Stifters unter dem Giebel des Vorder-Risalits.

Die Blinden.

Friedrich II. hatte sich gedacht, seine Invaliden würden sich trefflich zur Urbarmachung des vertrackten Sandes eignen und damit nicht bloß selbst eine gesunde Arbeit haben, sondern auch dem Hause eine gute Einnahmequelle schaffen. Aus diesem Grunde geschah auch die Ueberweisung der gewaltigen Bodenfläche von 134 ha an das Invalidenhaus. Allein der Plan schlug fehl; sei es, daß es an den nötigen landwirtschaftlichen Hilfsmitteln mangelte, sei es, daß die alten Knaben keine rechte Kraft und Lust zum Ackerbau besaßen, genug, es wurde durch die Selbstbewirtschaftung nicht einmal der nötige Futtervorrat für die Oekonomie des Hauses gedeckt, und so kam man dazu, den Landbesitz um ein Billiges zu verpachten oder zu verkaufen. Allmählich ging er fast ganz in Privathände über oder wurde zu sonstigen fiskalischen Zwecken hergegeben. Der alte Hamburger Bahnhof, die Gnadenkirche, das Augusta-Hospital, die Gebäude der Bergakademie, der Landwirtschaftlichen Hochschule, des Museums für Völkerkunde, der Exercierplatz der Artillerie – „Grützmacher“ genannt nach einem alten Pächter der Wirtschaft des Invalidenhauses – die Kasernen der Gardefüsiliere, das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, der Stettiner Bahnhof etc. etc., alles dies liegt auf der dem Invalidenhause gestifteten Sandscholle des Alten Fritz.

Der ersten inneren Ordnung des Hauses fehlt es nicht an Zügen, die uns heute etwas befremdlich anmuten. Die Invaliden waren in drei Kompagnien eingeteilt. Die Offiziere wohnten für sich. Von den Mannschaften bildeten je ein Verheirateter und vier ledige „Kammerburschen“ eine „Kameradschaft“, die gemeinschaftlich in einer Stube nebst Kammer hauste, d. h. das Ehepaar in der Stube, das ledige Volk daneben in der Kammer, und es bestand die Absicht, daß die Frau die oft hilflosen Burschen mit bedienen sollte. Fünf Kameradschaften erhielten eine Küche zugewiesen.

Für die religiöse Erbauung der Invaliden hatte der Alte Fritz reichlich gesorgt, denn er hielt sehr auf die „Dankbarkeit für Gottes Wohlthaten“. Auch an Schulunterricht fehlte es nicht im Invalidenhause. Der Kommandant mußte von jeder Konfession einen Unteroffizier oder Gemeinen aussuchen, der „beim Gottesdienst vorsang, die Kirche rein hielt, auch die Kinder im Lesen und Christentum informierte“, wofür der Mann dann monatlich 1 Thaler 6 Groschen „extraordinär“ bekam. Leider war aber selbst dieser Lohn oft umsonst bezahlt, da die Invaliden ihre Sprößlinge, statt sie in die Schule zu schicken, lieber zu dem einträglichen Wollespinnen ausnutzten. Später ist das glücklicherweise anders geworden.

Der Stratege.

An dem fröhlichen Kribbelkrabbel des Kindervolks hat das Invalidenhaus selten Mangel gelitten. Noch jetzt kann man zwischen den alten Knasterbärten die heraufwachsende junge Gesellschaft auf den Höfen oder in den Gärten oder bei trübem Wetter treppauf treppab und durch die endlosen, schlauchartigen Gänge tollen sehen, falls nicht der Invalide, welcher zu gewissen Stunden des Tages das Haus im Innern abzupatrouillieren hat, allzu übermütigen Unfug verhindert.

Die Gunst für die verheirateten Invaliden ist freilich nicht immer herrschend geblieben. Der Kriegsminister von Boyen schrieb z. B. einmal: „Nur gerade soviel Weiber, als die Anstalt bedarf, müssen darin aufgenommen und bei der Auswahl muß darauf gesehen werden, daß sie wenige oder gar keine Kinder haben, denn die Familien sind das größte Hindernis der Reinlichkeit.“ Die Damen des Hauses werden über diese Beurteilung wohl nicht sehr entzückt gewesen sein. Leider bleibt noch zu bemerken, daß Friede und Freundschaft nicht durchweg unter ihnen an der Tagesordnung waren, vielfach wohl wegen der gemeinsamen Küchen. Es kam soweit, daß 1836 um Einrichtung eines Civilgefängnisses [10] für widerspenstige Frauen gebeten wurde, welches Gesuch indessen vom Kriegsministerium dahin entschieden wurde, die holde Weiblichkeit, die sich derlei Excesse zu Schulden kommen lasse, sei, falls der Ehemann selbst keine Abhilfe zu schaffen vermöchte, brevi manu zu exmittieren, d. h. kurzer Hand hinauszuweisen!

Manche rauhe äußere und innere Stürme suchten das Invalidenhaus heim. Als 1760 die Russen nach Berlin kamen, da berichtete an seinen König der damalige erste Kommandant, Oberst von Feylitsch, die Kosaken hätten ihn und sämtliche Offiziere und Gemeine aus dem Hause gejagt, hätten allen das Ihrige genommen, so daß mancher kein Hemd behalten habe. Und nicht viel besser ging es 1806. Napoleon gab sich zwar einen äußerst ritterlichen Anschein, indem er verkündigte, alle Invaliden sollten in ihrer Lage nicht nur erhalten, sondern sogar aufgebessert werden „in Erwägung, daß die alten Soldaten, welche ihrem Fürsten gut gedient, ein besonderes Recht auf Unser Interesse haben“. Der schlaue Korse wußte, wie man Soldatenherzen erobert! Da aber seine Behörden alle preußischen Kassen aufs gründlichste leerten, so blieb das allerhöchste Wohlwollen für die Invaliden auf das Papier beschränkt. Die armen Leute suchten sich in der Stadt ihren Unterhalt, oft durch Betteln, und es dauerte noch Jahre, bis der erschöpfte Staat wieder für sie sorgen konnte.

Auf dem Friedhof.

In der Märzrevolution 1848 wollte ein Volkshaufe, der vor das geschlossene Gitter zog, das Haus niederbrennen, indes gelang es der Beredsamkeit eines ehemaligen Oberfeuerwerkers, dies zu verhindern. Die in den Straßenkämpfen jener Tage gebliebenen Soldaten wurden auf dem Invalidenkirchhof beerdigt, 1854 aber nach dem ebenfalls im Invalidenparke errichteten Nationaldenkmal übergeführt, das ihre Namen sowie die der Gefallenen von Dresden und von Baden, im ganzen 475, der Nachwelt verkündigt.

Was die inneren Stürme betrifft, so ist zu vermelden, daß man zeitweilig damit umging, das Haus zum Teil in eine Artilleriekaserne, ein andermal in ein Lazarett zu verwandeln. Ja, General Roeder stellte 1835 sogar die gänzliche Auflösung in Friedenszeiten zur Erwägung, da viele Zimmer leer ständen und die Invaliden es vorzögen, ohne militärischen Zwang mit einer Zulage in ihrer Heimat zu leben.

Allerdings gab es mancherlei an Haus und Bewohnern zu bessern. Schon General von Kessel hatte die feuchten Fußböden des fast gar nicht unterkellerten Hauses beseitigt, später erwarben sich dann namentlich der General von Boyen, der Prinz Wilhelm (der spätere Kaiser Wilhelm I.) und General von Ollech, der Geschichtschreiber des Hauses, Verdienste mannigfacher Art. Das Kammerburschenwesen oder vielmehr -unwesen wurde früh abgeschafft; die Verheirateten lebten allein in ihrer mit einem Kochofen versehenen Stube nebst Kammer und die Unverheirateten in gesonderten Stuben.

So ist es im wesentlichen noch heute. Ist man an der Pförtnerwohnung am Thore vorüber, so tritt man in den südlichen Hof, dann, eine Stufe tiefer, über die Schwelle des einen Seitenflügels. Der schmucklose Flur ruft sofort den Eindruck einer Kaserne aus älterer Zeit hervor. Es ist ganz still, nur hier und da öffnet sich eine der vielen Thüren. Ein hüstelnder alter Krieger hinkt vorüber, oder am Geländer der Treppe schleicht ein blinder Greis die Stufen herunter. Derselbe Zugang mit seiner schier ärmlichen Einfachheit führt auch zu der im oberen Stockwerk gelegenen Wohnung des Gouverneurs (derzeit General der Infanterie von Grolman), deren vorderer und allerdings etwas stattlicherer Eingang sich an der Straße befindet. Der Kommandant, der dem inneren Dienst des Hauses vorsteht – gegenwärtig Generallieutenant von Blumröder – wohnt im anderen Flügel.

Augenblicklich befinden sich nur etwa 60 Unteroffiziere und Gemeine sowie 54 Offiziere im Hause, die in weit überwiegender Mehrzahl verheiratet sind. Die unverheirateten Mannschaften leben zu je dreien auf einer Stube zusammen. Da der den Offizieren angewiesene Platz ziemlich reichlich bemessen ward, so ist das ganze Haus besetzt, trotzdem früher anderweitig benutzte Räume zu Wohngelassen umgebaut wurden. Mancher alte General hat in diesen von einem Hauch altmodischer Behaglichkeit durchwehten Stuben schon einen friedlichen Lebensabend genossen. Und sein Sohn wurde wohl ebenfalls Offizier, und der Enkel, der als kleiner Kadett dem Großpapa General hier stramm seine Neujahrswünsche übermittelte, saß vielleicht nach einem halben Jahrhundert an derselben Stelle, neben demselben Ofen und ließ sich von seinem Enkel beglückwünschen.

Beim Kartenspiel.

Im Kasino der Offiziere befindet sich ein Glasschrank mit allerlei Reliquien, von denen unser Bildchen S. 11 einige darstellt.

Da sehen wir an der Spitze den Stern des Schwarzen Adlerordens, den der Alte Fritz trug; darunter eine bieder geformte Mütze Blüchers von erfreulicher Geräumigkeit, Medaillen auf Siege Friedrichs und historische Trinkgläser. Ferner Schwerins Tabaksdose und vor allem einen Feldbecher Napoleons I., der sich in seinem bei Waterloo erbeuteten Feldwagen befand.

Der Geburtstag des Alten Fritz, der 24. Januar, wird natürlich immer noch als ein besonderer Festtag des Hauses betrachtet, und ein Wohlthäter hat den Mannschaften eine Stiftung gemacht, aus deren Ertrag sie an diesem Tage Leib und Kehle extra erquicken dürfen. Mit viel Dienst behelligt man auch die noch leidlich leistungsfähigen alten Knaben nicht; ein bißchen Patrouillieren im Hause, der Wächterdienst an der Siegessäule auf dem Königsplatz, hier und da ein Kleider-Appell – das ist so ziemlich alles. Schießwaffen haben sie gar nicht. Manche gehen auch tags über irgend einer Civilbeschäftignng nach, wobei sie dann selbstverständlich Civilkleidung tragen, nicht die an ihrem etwas vorweltlichen Schnitt, den weißen Knöpfen und dem B (Berlin) auf den Schulterklappen kenntliche Uniform. Wer abends über 9 Uhr ausbleiben will, hat sich wie in der Kaserne einen Urlaubspaß zu erbitten. Die Familien erhalten [11] ein für allemal eine Einlaßkarte, ohne die der Posten nachts niemand ins Haus läßt. Zapfenstreich giebt es nicht; überhaupt hat jegliche Blaserei aufgehört, seitdem der letzte Trompeter des Hauses ins Grab sank. Dafür aber bereitet Sonnabend mittags jeweilig die Kapelle eines Garderegiments den alten Herren eine musikalische Unterhaltung.

Machen wir einmal einen Besuch auf einer der fünf „Pflegestationen“, wie man die Stuben der Unverheirateten nennt. Wir klopfen an – ein freundliches „Herein“!

Die vier alten Herren, die da ihrer Partie Schafskopf obliegen, erwidern unsere Begrüßung höflich, spielen dann aber auf unsere Bitte hin mit sachlichem Ernste weiter, indessen wir uns etwas im Gemache umschauen. Kasernenluft und gleichzeitig eine gewisse Gemütlichkeit umgeben uns, ein Gemisch aus Hackländer und Chodowiecki. Nicht am wenigsten trägt zu diesem Eindruck der ehrbare Lederlehnstuhl am Fenster bei. Drei eiserne Betten, ein kahler Tisch nebst Bänken und Holzstühlen, ein paar Kriegs- und Kaiserbilder an den Wänden machen die übrige Einrichtung aus. Die Leute scheinen sich hier wirklich wohl zu fühlen. Im Essen und Trinken und Schlafen kommen sie nicht zu kurz, noch weniger im Rauchen, denn die urgemütliche lange Pfeife steht bei ihnen immer noch hoch in Ehren. Eine solche Lebensweise aber scheint zu konservieren. Eine sehr große Anzahl Kameraden folgte dem Befehl zum „letzten Appell“ in einem beneidenswert hohen Alter.

Die letzten warmen Tage.

Noch erfreulicher als während der Winterszeit in gut gewärmter Stube gestaltet sich der Hausbewohner Dasein im Sommer. Die Familien pflegen ihre Gärtchen; die alten Kameraden verlegen ihre Spaziergänge und Gespräche unter die Platanen, Linden und Rüstern, die in Fülle auf der einstigen Sandscholle gepflanzt sind. Da sitzen sie, so lange des Sommers warme Sonnenstrahlen es gestatten, geruhsam beisammen und rauchen und verbessern dabei die Verhältnisse des Hauses, der Armee, des Vaterlandes und der ganzen Welt.

Zuweilen steht auch wohl ein Stratege unter ihnen auf. Ein solcher erlangte z. B. vor einer Reihe von Jahren einen gewissen Ruhm. Als zuerst Helden von Anno 70 und 71 ins Haus kamen, erfaßte die älteren Herren von 66, 64 und 48 und einige ganz eisgraue aus den Befreiungskriegen eine Art Eifersucht, die bei heftigen Feldzugsdebatten zum Ausbruch zu kommen pflegte. Nur gegen den „Strategen“ konnten die alten Herren nicht an. Wenn dieser Vortrag hielt über die Belagerung von Metz und dann schloß. „So saßen die Franzosen in die Falle wie eene Maus und wir saßen wie eene Katze drum herum“, so mußten sie alle miteinander verstummen; dergleichen Leistungen hatten sie von Anno dazumal ja doch nicht aufzuweisen.

Rührend ist der Anblick der Blinden, von denen einer seit 50 Jahren die Sehkraft verloren und kürzlich sein elfjähriges Jubelfest als Hausinsasse gefeiert hat. Einzeln oder zu zweien, mit den Stöcken vortastend, suchen sie ihren Weg in den Garten. Die Strecke zwischen der Gartenterrasse und dem Kanal ist ihr Gebiet, dort können sie gefahrlos auf und ab wandeln und bequeme Bänke bieten ihnen wohlbekannte Ruheplätze, auf denen sie dem Sang der Vögel lauschen.

An beide Enden des Hauptgebäudes schließen sich je eine evangelische und eine katholische Kirche an, deren Geistliche ebenfalls im Hause wohnen. Unter den früheren lutherischen Feldpredigern des Invalidenhauses befand sich auch Friedrich Wilhelm Schmidt, bekannt als der Dichter „Schmidt von Werneuchen“, dem wir folgende hausbackene und doch so anspruchslos behagliche Schilderung eines Juniabends im Invalidenhause – es war, wie der Dichter gewissenhaft vermerkt, um 11 Uhr – verdanken:

„Hinter diesen Lack- und Rosenbäumchen
Hier am kleinen offnen Fenster ruht
Sich’s beim Abendsange lieber Heimchen
Und der Frösche Quaken noch so gut.
Längst schon schläft mein Zeisig; ein paar Mücken
Wachen mit mir in der Stube nur,
Alles ist so stille, daß ich picken
Deutlich hör’ meine Taschenuhr.“ –

Aus dem Reliquienschrank.
Stern des Schwarzen Adlerordens vom Rock Friedrichs des Großen.     Blüchers Mütze.     Bechergläser aus Fridericianischer Zeit.     Medaillen auf Siege Friedrichs d. Gr.     Napoleons Feldbecher.     Schwerins Tabaksdose.

Auf der Nordseite des Hauses breitet sich der Invalidenkirchhof aus, einer der schönsten Friedhöfe Berlins. Ehrwürdige Bäume beschatten ihn, überall rankt dichter Epheu üppig an den Erinnerungsmälern alter berühmter Geschlechter empor. Hier ist die Grabstätte Scharnhorsts und seiner Familie, mit dem sterbenden Löwen auf reliefgeschmücktem Unterbau. Dicht daneben flankieren zwei von Siegesgöttinnen gekrönte Säulen die Ruhestätte der Familie von Boyen. Hervorragend ist auch das Denkmal des Generals Winterfeldt, dessen Gebeine hierher übergeführt wurden; es trägt als Inschrift Friedrichs des Großen Worte: „Er war ein guter Mensch! Er war ein Seelenmensch! Er war mein Freund!“

Noch manches andere schöne Grabmal wäre zu nennen, aber es fehlt uns der Raum, sie alle aufzuzählen. Hart an der Kanalböschung steht die Königslinde „zur Erinnerung an Friedrich II.“ In seltsamem Widerspruch stößt hier die feierliche Kirchhofsruhe zusammen mit dem unruhigen Lärm des jenseit des Kanals liegenden Güterbahnhofs der Hamburger Bahn – Vergangenheit und Gegenwart!

*      *      *

Ein wohlthuendes Gefühl des Geborgenseins, so denken wir uns, muß die Grundstimmung sein, welche die kleine Schar im Berliner Invalidenhause durchströmt, trotz mancher Einschränkung, welche das gemeinsame Leben auferlegt. Wie steht es aber mit der großen Menge derer, welche, an Gesundheit und Erwerbskraft geschwächt, draußen im Reiche von ihrer Pension leben müssen, wie steht es mit den Hinterbliebenen solcher, die in den Kampf fürs [12] Vaterland hinausgezogen sind, um nie mehr wiederzukehren, oder die den Keim des Todes vom Felde der Ehre mit nach Hause gebracht haben? Dürfen auch sie jenem glücklichen Gefühl sich hingeben?

Die Antwort auf diese Frage lautet leider: „Nein!“ So tönt es aus den zahlreichen Eingaben der Kriegervereine, die dringend um Aufbesserung der Invalidenpensionen vorstellig werden, so spricht es aus tausend Fällen offener und versteckter Not in den Familien der Betroffenen, und wir verstehen dieses schmerzliche Nein, wenn wir z. B. vernehmen, daß die Witwen der vor dem Feinde Gefallenen oder an Wunden und Krankheiten verstorbenen Gemeinen nicht mehr als 180 Mark jährlich erhalten, die Kinder als einfache Waisen 126 Mark, als Doppelwaisen 180 Mark, unterstützungsbedürftige Eltern 126 Mark. Wohl hat die Abänderung des Militärpensionsgesetzes, welche noch im vorigen Winter beschlossen wurde, für die Invaliden selbst einige Verbesserungen gebracht, indem sie insbesondere die Kriegszulage von 3 auf 6 Mark monatlich erhöhte; aber das bedeutet denn doch kaum einen Ausgleich für die allgemeine Lebensverteuerung, die in den letzten zwanzig Jahren eingetreten ist, geschweige denn einen Ausgleich dafür, daß die Invaliden von jetzt allmählich beginnen, alt zu werden, und den Rest von Arbeitskraft, der ihnen vielleicht noch geblieben, vollends entschwinden sehen müssen! Und an der wundesten Stelle des alten Gesetzes, an der kärglichen Fürsorge für die Hinterbliebenen, hat jene Abänderung nichts gebessert! Noch immer ist es so, daß Frankreich, das besiegte Frankreich, für seine Invaliden und ihre Angehörigen besser sorgt als das siegreiche Deutschland!

Und bei alledem ist heute der Ertrag des aus der Kriegsentschädigung zurückgestellter Reichsinvalidenfonds erheblich größer als der Aufwand, den die Pensionen nach den bisherigen Bestimmungen erfordern. Anstatt nun diese Bestimmungen zu ändern, anstatt die Bezüge der armen Invaliden nach Maßgabe des verfügbaren Ueberschusses zu erhöhen, will man jenem mit dem Herzblut unserer Krieger erstrittenen Fonds 67 Millionen Mark zur Verstärkung der Betriebskasse des Reichs entnehmen! Warum das? Warum die Quelle verstopfen, aus der die Mittel zur Linderung so vieler Gebrechen, zur Stillung so beweglicher Klagen entströmen? Wahrhaftig, wir können und wollen nicht glauben, daß jene Gelder wirklich dem hohen Zwecke entfremdet werden, dem begeisterte Dankbarkeit sie einst geweiht, wir können und wollen die Hoffnung nicht aufgeben daß man die nicht ferner darben lassen werde, die für des Vaterlandes Schutz und Ehre freudig ihr Leben eingesetzt oder ihren Ernährer dahingegeben haben. Die Redaktion.