Textdaten
<<< >>>
Autor: Carl Vogt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Besuch im Kloster
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 203–207
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[203]

Ein Besuch im Kloster.[1]

Von Carl Vogt

„Sie haben wohl manche harte Tage in Ihrem Leben durchgemacht?“ sagte ein Genesender am Rheine zu seinem Pfleger, welcher dem Alexianer-Orden angehörte, der bekanntlich die besten Krankenwärter liefert, die überhaupt zu finden sind. „Ihr Beruf ist wahrlich kein leichter und die Aufopferung, die der Orden im Ganzen in den letzten Kriegen, in Schleswig-Holstein, in Böhmen und am Maine bethätigt hat, kann nicht hoch genug belobt werden. Bitte, erzählen Sie mir ein wenig aus Ihren Erlebnissen.“

„Was könnte ich Ihnen erzählen?“ antwortete der Alexianer. „Unsere Pflicht gebietet uns, den Leidenden beizustehen, die Verwundeten und Kranken zu pflegen – wir erlernen diesen Beruf, wie einen anderen, in unseren Stiftshäusern, wo wir besonders Idioten, Geisteskranke und unheilbare Kranke aufnehmen, und wenn wir ihn erlernt haben, suchen wir uns der Menschheit nützlich zu machen, so viel es in unseren schwachen Kräften steht. Davon ist weiter kein Aufhebens zu machen.“

„Aber Sie selbst, haben Sie nicht unendlich viel zu leiden gehabt in diesen Kriegen, wo Ihnen oft Alles fehlte, nur nicht der Muth und die Hoffnung auf Besserung?“

„Manche unserer Brüder sind unterlegen,“ antwortete der Alexianer, „und ich selber habe oft nicht geglaubt, die Mühen, Strapazen und entsetzlichen Eindrücke, die auf mich einstürmten, überwinden zu können. Aber was ich auch Schlimmes dort erduldet – es wird aufgewogen durch das, was mir während meines Noviziats auferlegt wurde. Ich mußte während achtzehn Monaten zwei Affen verpflegen.“

„Zwei Affen?“ fuhr der Kranke auf. „Wie in aller Welt kann man auf den Gedanken verfallen, Menschen dadurch zur Krankenpflege vorzubereiten, daß man sie in eine Menagerie steckt?“

„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erläuterte der Alexianer. „Es waren Kinder wohlgebildeter Eltern, Menschen der Geburt nach, aber Affen in ihrem Thun und Treiben, in ihrem ganzen Wesen – zwei Brüder – der ältere boshaft, tückisch, verschlagen und listig, der jüngere gutmüthig, sanft, aber jähzornig, wenn er geneckt wurde - Beide unfähig zu sprechen, unzugänglich jeglicher Erziehung und Dressur – körperlich Menschen bis auf den Kopf, geistig Affen in jeder Beziehung! Dieser Geschöpfe Pflege war mir im Stifte speciell übertragen, und das war eine härtere Probe, als das Wirken unter leidenden, aber doch denkenden Menschen.“

Während des Kriegsjahres 1866 hatte ich mich mit eingehenden Studien über die sogenannten Affenmenschen oder Mikrocephalen (Kleinköpfe) beschäftigt, deren Resultate ich im zweiten Bande des „Archivs für Anthropologie“ niedergelegt habe. Meine Wandervorlesungen benutzte ich zugleich zu Nachforschungen über noch lebende Wesen dieser Art. War es ein Wunder, daß ich aufhorchte, als mir dieses Gespräch erzählt wurde?

„Ich glaube,“ sagte ein anwesender Arzt aus der Gegend, „daß ich diese beiden Wesen einmal in dem Alexianerstifte gesehen habe. Wollen Sie mir sagen, worauf ich zu achten habe, damit ich Sie nicht auf eine falsche Spur führe? Ich werde mich dann in das Stift begeben, nachforschen und wenn die beiden Wesen wirklich in die Kategorie gehören, die Sie suchen, so benachrichtige ich Sie und führe Sie dort ein, damit Sie selbst untersuchen können.“

„,Der Himmel vergelte Ihnen Ihre Wohlthat im Ehestand auch ohne Vermehrung des Kindersegens,‘ pflegte mein Vater zu sagen, lieber Doctor. Was kann ich Ihnen sagen? Diese Wesen werden mit absolut zu kleinem Schädel und Gehirn geboren. Die Stirn ist höchstens zwei Finger breit und schief nach hinten abgeflacht; der Schädel hat wenig mehr, als die Größe einer Mannesfaust; die Augenbrauenbogen springen vor, noch mehr die von dicken Lippen bekleideten Kiefer, welche meist mit prächtigen großen Zähnen bewaffnet sind. Der Schädel ist so klein, so flach gewölbt, daß die Ohrmuscheln fast so hoch stehen, als der Scheitel. Der Ausdruck der Augen und des ganzen Gesichtes ist bald gutmüthig, bald boshaft, stets aber mehr demjenigen eines Thieres, als dem eines Menschen ähnlich. Sie sprechen nicht, sondern stoßen nur unarticulirte Laute und Gurgeltöne aus. Sie stehen und gehen mit vorhängendem Kopfe, gekrümmtem Rücken, einwärts gebogenen Armen und Beinen. Verwechseln Sie diese ,Idioten’ nicht mit Cretinen. Bei diesen letzteren haben Sie Stumpfheit, Muskelschwäche, langsame, plumpe Bewegungen, eingekniffene Nasenwurzel – bei den Affenmenschen lebhafte, blitzschnelle Bewegungen, ausdrucksvolle Mimik, Nachahmung der Bewegungen, Stellungen und Mienen Anderer, unruhiges Umherfahren der Aufmerksamkeit, schnelle Uebergänge von Fröhlichkeit zu Trauer und dabei ein entwickeltes Gesicht, welches an dasjenige der Azteken erinnert, die man vor wenigen Jahren zur Schau stellte und die nichts Anderes waren, als solche hirn- und schädelarme Mißgeburten, freilich aus anderer Race entsprungen.“

„Genug,“ antwortete der Doctor. „Damit kann ein Laie sich auf die Suche begeben. Wenn etwas vorhanden ist, soll mir’s nicht entgehen.“

Einige Tage darauf gab mir der Doctor Rendezvous am Bahnhofe.

„Ich habe gefunden!“ rief er mir entgegen. „Der ältere Bruder ist unterdessen gestorben, der jüngere lebt, und Sie sollen ihn sehen.“

Wir begaben uns auf den Weg.

„Haben Sie schon andere lebende Wesen dieser Art gesehen?“ fragte mich der Doctor, während wir durch aufgeweichten Schnee und Straßenkoth stapften.

„Freilich wohl,“ entgegnete ich, „ein jetzt siebenzehnjähriges Mädchen, Sophie Wyß, das sich gegenwärtig im Asyl von Hindelbank bei Bern befindet. Ich habe meinen Besuch dort im ,Archiv für Anthropologie’ beschrieben. Das Mädchen wurde in der Nähe von Ollon im Canton Waadt geboren, mußte aber auf Befehl der Regierung in die Anstalt gebracht werden. Es war der Schrecken der Hunde in seinem Orte, steht in geistiger Beziehung auf der Stufe eines wenig intelligenten Hausthieres, besitzt aber einen vorstechenden Nachahmungstrieb. Das täglich mehrmals wiederholte Gebet ahmt sie mit ausgezeichneter Mimik und vortrefflich im Tonfälle ihrer Gurgeltöne nach; jede Bewegung, jeder Gesichtsausdruck wird, wenn sie gut gelaunt ist, blitzschnell aufgefaßt und nachgeahmt; die articulirte Sprache fehlt durchaus; das einzige halb articulirte Wort, welches sie sich in der Anstalt angewöhnt hat, ist: Amen – aber auch dieses wird nicht vollständig ausgesprochen, es lautet fast: hamm – der vocal wird mit starker Aspiration hervorgestoßen und das m ist fast eine halb ausgeführte Niesbewegung. Ich werde nie den Eindruck vergessen, den mir eine Scene machte, die ich auf dem Hofe der Anstalt sah. Wir hatten bei unseren Messungen Haar und Kleider etwas in Unordnung gebracht, und als wir mit Sophie und der Wärterin den Hof durchschritten, kam eine alte triefäugige Halb-Cretine, die, wie die Töchter des Phorkys, nur einen Zahn im Munde hatte, auf Sophie zu und begann an ihrem Haar und ihren Kleidern zu nesteln. ,Sophie mag sie nicht leiden,’ sagte die Wärterin, und in der That fuhr plötzlich das Mädchen herum, wie ein gereizter Affe, krallte die Finger, bleckte die Zähne und pfauchte, daß man sich an den Käfig eines Panthers versetzt glauben konnte. Die Halb-Cretine fuhr zurück, sperrte den weiten Mund mit dem einzigen Hauzahne auf, pfauchte und spie ebenfalls – Callot hätte ohne Zweifel den Gegenstand eines unsterblichen Blattes gefunden, wenn er dieser Scene beigewohnt hätte. Aber in dem Augenblicke, wo es den Anschein [204] hatte, als sollten Thätlichkeiten den Demonstrationen folgen, erschien eine dritte Person auf dem Schauplatze – eine arme, kränklich aussehende, abgehärmte Person mit gutmüthigem Gesichtsausdruck. ‚Was hast Du, Sophie? Sei nicht bös! Sei brav!’ Und als das Mädchen den Ton dieser Stimme hörte, breitete sich ein Ausdruck unendlicher Freude über das eben noch zornige Gesicht; mit gefälligem Gurgeln und Grunzen lief es herzu, leckte der Alten das Gesicht, wie ein Hund thut, und legte die Wange an die ihrige.“

„Wir sind am Ziele!“ sagte der Doctor, indem wir unter eine kleine Vorhalle traten. „Seien wir vorsichtig. Ich habe Ihren Namen nicht genannt; wüßte man ihn, so könnte dies ein Hinderniß

Emil N. achtzehn Jahre alter Microcephale.

für unsere Absichten sein. Sie sind also nur ein Freund, der sich für Fälle dieser Art interessirt. Freilich, wenn Noth an den Mann geht und wir geradezu gefragt werden, wollen wir keinen falschen Namen angeben; bis dahin aber den Ihrigen verschweigen, ist wohl keine Sünde.“

Der Pater Rector gewährte unsere Bitte, ohne nach meinem Namen zu forschen, und ertheilte augenblicklich Befehl, den Jungen vorzuführen.

„Emil,“ erzählte er uns, „ist von wohlgebildeten Eltern. Der Vater ist gestorben, die Mutter lebt noch. Der stärker verbildete ältere Bruder, der mit ihm hier lebte, starb vor zwei Jahren; eine weniger verbildete, aber auch noch thierische Schwester lebt in einer andern Anstalt. Er hat hier noch einen Bruder, der ein hübscher, intelligenter Knabe ist. Wir halten den Jungen wie ein Hausthier. Man spielt und amusirt sich mit ihm, wie mit einem gutmüthigen, aber schlecht erzogenen Hunde. Der Bruder war bösartig und tückisch, biß gefährlich und ließ sich, einmal in Wuth, kaum von ein paar Männern bändigen; dieser würde Keinem etwas zu Leide thun, und so thut ihm auch Niemand etwas zu Leide.“

Das seltsame Wesen trat ein, in einen Kittel von grobem, braunem Wollstoff gehüllt, der ihm bis zu den Füßen reichte, einen Shawl nachlässig um den Hals geschlungen. Als ob ich den Zwillingsbruder von Sophie Wyß sähe! Dieselbe Haltung mit krummem Rücken, einwärts gebogenen Knieen, gebogenen und etwas nach innen gedrehten Armen, dasselbe freundliche Grinsen in dem stupiden Gesichte mit den dicken, beständig geifernden Lippen, den vorgewulsteten Augenbrauenbogen, hervorstehenden Backenknochen und der zurückweichenden niedrigen Stirn, über welcher damals ganz kurz geschnittene, struppige Haare den kaum faustgroßen Schädel deckten. Freund Richard Seel aus Elberfeld, der vielbewährte Meister, der später, mit vieler Mühe freilich, ein wunderbar gelungenes, lebensgroßes Portrait von Emil fertigte, dessen verkleinerte Nachbildung ich hier gebe, hat vielleicht etwas zu viel geistigen Ausdruck in diese Augen gelegt, die uns gutmüthig anstierten, jeder unserer Bewegungen hastig folgten und Fragen an uns zu stellen schienen, welche die Intelligenz des Wesens doch nicht zu formuliren im Stande war. Willig reichte er dem Einen und Andern die Hand, ließ sich mit Behagen an dem Kopfe krauen, betasten, messen. Es war leicht, zu constatiren, daß der knöcherne Schädel, die Gehirnkapsel, noch weit kleiner sei, als der Kopf auf den ersten Blick erschien, denn die Kopfhaut zeigte sich beim Betasten bedeutend verdickt, hie und da selbst wulstig, so daß sie den Raum zwischen den vortretenden Augenbrauen und dem Stirnknochen vollständig ausfüllte und ebnete, während in der That die knöcherne Stirn einen tiefen Eindruck bietet.

[205] Emil spricht einige Worte nach. Der Pater Rector deutet mit dem Zeigefinger nach oben und fragt mehrmals: „Wo ist Gott?“ Endlich hebt der Affenmensch ebenfalls den Finger und stößt dabei die Silbe „stah, stah“ aus. Wir hören, daß diese Silbe bedeuten soll: „Was ist das?“ und in der That wird dieselbe bei jeder Gelegenheit mit scharfer Betonung des durch die Zähne gezischten s hervorgebracht. Er soll außerdem das Wort „Muda“ (Mutter) aussprechen. Wir hören nur noch „Ah Diah! Ah Diah!“ von ihm, während er den Umschlag meines Pelzrockes streichelt. Er hält den Marderpelz an die Wange, nimmt die Hand eines Jeden, um diesen auch den Pelz streicheln zu lassen; offenbar will er sagen: „Ein Thier! Ein Thier!“ Eine wahre Glückseligkeit strahlt bei dieser Entdeckung aus seinen Zügen und stets kommt er wieder auf den Pelz und das vermeintliche Thier zurück.

Emil R. beim Anhören von Musik.


Die höchste Erregung und Spannung malt sich aber auf seinem Gesichte, wenn eine Drehorgel gebracht wird, die eine jämmerliche Melodie quiekt. Den Zeigefinger zum Himmel erhoben, „stah! stah!“ hervor pressend, wiegt er sich auf und ab auf den Füßen, während das weite Maul grinst und die Augen vor Entzücken strahlen. In dieser Stellung hat ihn Freund Seel aufgefaßt und mit wenigen markigen Strichen festgehalten. Die Erregung steigert sich, der Pater Rector muntert ihn auf, den Tact zu schlagen und sich tanzend zu wiegen; endlich stürzt er sich auf das Instrument, sucht die Handhabe zu fassen und mit rasender Energie zu drehen. Ließe man ihn gewähren, er würde drehen und tanzen, bis er erschöpft zu Boden fiele.

„Wie ist wohl die Entstehung eines solchen Wesens zu erklären?“ werde ich gefragt, nachdem der Junge wieder abgeführt ist. „Es ist mehr Affe, als Mensch – Affe seinem Betragen, seiner Intelligenz, seiner Sprachlosigkeit, dem Aussehen seines Kopfes nach – und doch von Körper nicht schlecht gebildet und von wohlgebildeten, intelligenten Eltern erzeugt!“

Ich suche die Ergebnisse meiner Forschungen in kurzen Umrissen darzustellen. „Der eigentliche Schädel, die knöcherne Kapsel mit den beiden darin eingeschlossenen Hälften des großen Gehirnes,“ sage ich, „sind dem Affentypus entsprechend gebildet und entwickeln sich nach denselben Wachsthumsgesetzen, welche für den Affen maßgebend sind. Das Großhirn, der Sitz der Denkthätigkeit, ist kaum so groß, wie beim Affen, seine einzelnen Theile sind wie beim Affen gebildet – die Function entspricht dem Organe – ein Affengehirn kann keine Menschengedanken erzeugen. Deshalb fehlen alle jene Eigenschaften, die den Menschen als höheres, denkendes Wesen charakterisiren: die articulirte Sprache, die Fähigkeit der Abstraction und was Alles noch Philosophen, wie Moralisten, ja selbst Naturforscher als specielle geistige Attribute der Menschengattung gegenüber dem Thiere angesprochen haben. Damit hört aber auch die Aehnlichkeit auf. Wie thierisch auch der Ausdruck des Gesichtes sein mag, seine naturgeschichtlichen Charaktere sind menschlich: die convexe Nase, der durch die Lippen hindurch fühlbare untere Nasenstachel, Anordnung und Gestalt der Zähne, das vorspringende Kinn – alles dies gehört dem Menschen, aber der niedersten Race, an. So schiefstehende Zähne, so vorgezogene Kiefer finden Sie kaum bei einem Australier, geschweige denn bei einem Menschen höherer Race, von welcher doch das Individuum stammt und der es auch seinem übrigen Körper nach angehört.

So haben Sie denn in dem Affenmenschen eine Zusammenschweißung dreier an und für sich verschiedener Typen, des Affen im Schädel und den höheren, denkenden Theilen des Gehirns, des Menschen niederster Race im Gesicht, des Menschen höherer Race im Körper. Das ganze, gewissermaßen unnatürliche Gemisch entwickelt sich langsam unter widerstrebenden Tendenzen; der Kleinkopf bildet sich nur langsam aus, ist vielleicht in der Jugend mehr schädlichen Einflüssen ausgesetzt und bleibt zuweilen zwergenhaft, oft aber wird er groß, mannbar, kräftig und erreicht ein tüchtiges Alter. Nach den Ergebnissen der Untersuchung, die freilich nicht durch die Erfahrung bestätigt sind, unterliegt es kaum einem Zweifel, daß diese Wesen fortpflanzungsfähig sind und vielleicht unter sich Kinder haben könnten.“

„Das Alles giebt aber noch keine Antwort auf meine Frage,“ sagte einer der Anwesenden. „Wir fragen nach der Entstehung solcher Bildungen, und Sie antworten mit einer Analyse ihrer Zusammensetzung.“

„Gemach, gemach! Erst, denke ich, muß man wissen, was ein Wesen ist; dann kann man fragen, wie es geworden ist. Packen wir jetzt die Sache bei der Wurzel an.

Zwei große Gesetze ziehen sich, wie die rothen Fäden durch alle Taue der englischen Kriegsmarine, durch die ganze organische Natur: das Gesetz der Vererbung und das Gesetz der Veränderlichkeit. Beide gehen Hand in Hand, beide können schlummern, nicht sichtbar in die Erscheinung treten während langer Zeit, einander gegenseitig beschränken, aber nie vollständig aufheben. Jeder Organismus trägt in sich die ganze Geschichte seines Aufbaues mittels der steten Concurrenz dieser beiden Kräfte – jeder Durchgangspunkt, bei welchem die Vorfahren stehen blieben, kennzeichnet sich in der Entwickelung des Nachkömmlings durch ein vorübergehendes Bildungsstadium. Daß die Eltern eine Summe von Charakteren auf ihre Nachkommen verpflanzen, brauche ich nicht nachzuweisen; Sie sehen dies alle Tage, sehen auch, daß diese Charaktere erst in bestimmtem Alter auftreten, bis dahin aber ruhen. Allein nicht minder deutlich ist die Veränderlichkeit. Kein Kind ist den Eltern absolut ähnlich. Jeder Organismus hat also in sich die Fähigkeit, sich zu ändern; aber in den meisten Fällen kommt diese Fähigkeit nur zur Production sehr unwesentlicher Resultate. Auch das kann nicht wundern. Jedes Ei, jeder Keim hat die Fähigkeit, sich zu entwickeln und ein selbständiges Wesen zu werden, – Suchen Sie aber einmal zu berechnen, wie viele Eier eines Bandwurms dazu kommen, wieder ein Bandwurm zu werden, und Sie werden zu dem Resultate gelangen, daß von einer Million Eier vielleicht nur ein einziges das ihm gesteckte Ziel erreicht, indem es den günstigen Boden, die zu seiner Existenz nöthigen Nebenbedingungen findet. Ganz so die Organismen. Jeder trägt den Keim der Veränderlichkeit in sich; unter Millionen findet vielleicht nur einer die nöthigen Nebenbedingungen zur Entfaltung dieses Keimes und das erreichte Resultat vererbt er auf Nachkommen.“

„Ich sehe noch immer nicht, wo das hinaus soll,“ warf Einer ein.

„Gleich sollen Sie bedient werden. Wenn Vererbung wie Veränderung ihre Resultate in die Geschichte des Organismus einschreiben, wenn beide während gewisser Zeiten und durch Generationen hindurch latent bleiben können, um beim Eintreten günstiger Bedingungen sich zu offenbaren, so können wir uns erklären, warum in den Generationsfolgen oft Erscheinungen auftreten, die außerhalb des gewöhnlichen Entwickelungsganges sich [206] stellen und die wir theilweise als Hemmungsbildungen, teilweise als Ahnenbildungen (Atavismen, von Atavus, der Ahn oder Aeltervater) bezeichnen. Beide Erscheinungen sind im Princip gleich, nur weisen uns die letzteren mehr auf nähere Charaktere zurück, die wir bei den Vorfahren in ausgebildetem Zustande auftreten sehen, während die Hemmungsbildungen durch Stehenbleiben eines Organs aus einer gewissen Entwickelungsphase uns nur diese repräsentiren. Erlauben Sie mir eine Erklärung. Wenn Menschen mit Hasenscharten, Wolfsrachen und ähnlichen Mißbildungen geboren werden, so werden wir dies eher eine Hemmungsbildung nennen, weil das Organ auf einer sehr früh von dem werdenden Individuum durchlaufenen Bildungsstufe stehen geblieben ist, welche, so weit wir bis jetzt wissen, von keinem ausgewachsenen normalen Typus dargestellt wurde. Wenn dagegen ein Pferdefüllen mit Streifen an den Füßen, wie ein Zebra, oder mit dreizehigen Füßen statt einer einzigen Mittelzehe geworfen wird, so nennen wir dies eher eine Ahnenbildung, einen Atavismus, weil wir mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit annehmen können, daß der Stammtypus der Pferde ähnlich gestreift war, wie die jetzigen wilden Pferde Afrikas, und weil ein Vorgänger des Pferdes der jetzigen Schöpfung, der in der jüngeren Tertiärzeit lebte und von den Versteinerungsforschern Hipparion genannt wurde, solche dreizehige Fuße besaß.

Das jetzige Pferdefüllen besitzt im Mutterleibe während einer früheren Periode in den stummelartigen Anlagen seiner Glieder ebenfalls Andeutungen von, nicht nur drei, sondern sogar fünf Zehen – dieselben schwinden aber wieder und zwar in der Weise, daß zuerst die äußeren, dann die beiden nächsten Zehen sich nicht entwickeln und nur die Mittelzehe sich ausbildet. Wenn statt dessen, wie es zuweilen vorkommt, auch zwei Seitenzehen sich ausbilden, die dann meistens, wie die sogenannten Afterklauen des Schweines, in einiger Höhe über dem Boden schweben, so daß das ausgewachsene Thier doch nur mit der Mittelzehe auftritt, so ist diese Bildung zugleich Hemmungsbildung – denn der Schwindungsproceß der beiden seitlichen Zehen wurde gehemmt – und zugleich Ahnenbildung, denn die ursprünglich nur in der Anlage vorhandenen und erst später weiter entwickelten Zehen, die Knochen, Bänder, Sehnen etc. haben, stellen die Füße des geologischen Ahnen vor, der in der Erdgeschichte dem Pferde vorausging.“

„Fiat applicatio – Nutzanwendung folge,“ sagte der Doctor, indem er eine Prise nahm.

„Sie haben Recht, Doctor,“ bestätigte ich; „die Nutzanwendung folgt gleich. Alle Anatomen sind jetzt, nach den genauesten Untersuchungen, darin einig, daß das Gehirn der Affen und der Menschen nach demselben Grundplane gebaut ist, gemeinsam selbst die feinsten Einzelheiten der Organtheile besitzt – daß beide nur durch die Ausarbeitung und die Proportion der einzelnen Theile, sowie durch die Massenentwickelung sich unterscheiden. Das Gehirn des menschenähnlichen Affen, selbst des Gorilla, dessen Körper doch wohl denjenigen des Menschen an Größe und Gewicht übertrifft, ist dennoch um zwei Dritttheile kleiner, als das Gehirn des Menschen, und diese Reduction betrifft wesentlich das sogenannte Großhirn, daß heißt diejenigen Theile, welche in der engsten Beziehung zu den geistigen Fähigkeiten stehen. Diese Ueberlegenheit des Menschengehirns ist zwar schon zum Theile vor der Geburt gegeben, denn das Kind kommt mit einem Gehirngewicht auf die Welt, welches dasjenige des neugeborenen Affen gewiß übertrifft, aber demjenigen des erwachsenen menschenähnlichen Affen nachsteht, freilich nicht in sehr hohem Grade; die Ueberlegenheit bildet sich aber wesentlich erst nach der Geburt und vorzugsweise im ersten Lebensjahre aus. Das Volumen des Gehirnes des neugeborenen Menschenkindes verhält sich zu demjenigen des erwachsenen menschenähnlichen Affen wie 4 zu 5; das des erwachsenen Menschen zu demjenigen des erwachsenen Affen wie 15 zu 5. Der Mensch erhält also sein Gehirnübergewicht hauptsächlich erst durch Wachsthum nach der Geburt, und dieser Umstand allein beweist schon, daß dieses Uebergewicht auch in der Geschichte der Gattung erst verhältnißmäßig spät erworben worden sei.

Nun stellen Sie sich ein Wesen vor, welches weder Mensch, noch Affe in des Wortes ganzer Bedeutung ist, dessen Gehirn nach dem allgemeinen Grundplane beider angelegt ist, das aber noch nach beiden Züchtungen hin sich entwickeln kann. Eine solche Bildung, welche eine Entwicklung nach beiden Richtungen hin gestaltet, besitzt das Gehirn der menschlichen Leibesfrucht in einer frühen Zeit. Die Gehirne aller Menschen ohne Ausnahme sind durch einen solchen Bildungspunkt hindurch gegangen. Stellen Sie sich vor, daß in diesem Zeitpunkte durch irgend einen Einfluß, den wir noch nicht weiter zu enträthseln vermögen, eine Bildungshemmung eintritt und ein Proceß sich entwickelt, ähnlich wie bei dem Füllen, welches dreizehige Füße zur Welt bringen wird. Das in seiner menschlichen Ausbildung gehemmte Gehirn wächst; – aber dieses Wachsthum schreitet nicht fort in der normalen Richtung, sondern es bleibt auf niederer Bildungsstufe theilweise stehen, theilweise folgt es der Richtung, welche der niederen Stufe angehört – es entwickelt sich in der Richtung des Affentypus. Das große Gehirn, besonders die Stirnlappen, die mit dem höheren Denken in engster Beziehung zu stehen scheinen, sowie diejenigen Theile der Stirnlappen, welche den neuesten chirurgischen Beobachtungen zufolge der Sitz der articulirten Sprache sind, bilden sich nach dem Gesetze der Affenentwickelung, nicht nach dem menschlichen Gesetze aus, wachsen auch nach der Geburt dem Affentypus nach, und die umgebenden Theile, die knöchernen Gehirnkapseln, modeln sich ebenfalls nach diesem Gesetze. Deshalb sehen wir auch bei Mikrocephalen, die ein mannbares Alter erreichen, dieselben Leisten und Kämme des Schädels sich ausbilden, welche bei dem alternden Affen sich entwickeln – kurz alle jene Zustände hervortreten, welche ich Ihnen vorher als charakteristisch für diese Mißbildungen darstellte.“

„Sie nehmen demnach an, daß diese Mißbildungen zugleich Hemmungsbildungen und Ahnenbildungen sind?“ sagte der Doctor.

„Gewiß,“ antwortete ich. „Sie führen uns hinsichtlich des Gehirns bis zu dem Punkte zurück, von welchem aus die beiden Zweige eines gemeinschaftlichen Stammes, Affe und Mensch, sich nach verschiedenen Richtungen hin entwickelt und mehr und mehr von einander entfernt haben, führen Sie sich einmal in Ihrer Vorstellung junge Affen und Kinder, alte Affen und erwachsene Menschen vor. Die Jungen sehen sich ähnlicher als die Alten – der Schädel eines jungen Affen ist demjenigen eines Kindes weit ähnlicher, als der Schädel eines erwachsenen Affen demjenigen eines Mannes. Im Wachsen entfernen sich die beiden Typen. Setzen Sie die auseinanderweichenden Linien, welche das beiderseitige Wachsthum darstellt, nach rückwärts fort, so werden sich dieselben in einem Punkte schneiden, und dieser ist, für das Gehirn, der Zeitpunkt, wo eine Bildungshemmung das Organ in die falsche Richtung hinüberleitet. Die letzte Schlußfolgerung aus diesen Prämissen ergiebt sich von selbst. Der Ursprung des Menschen kann nicht in einem jetzt lebenden Affen gesucht werden – die Affenmenschen führen uns zu einem Stamme, zu einem Ahnentypus zurück, der in früheren geologischen Perioden gesucht werden muß und von welchem aus die Typen sich spalteten. Aber so wie die menschenähnlichen großen Affen, Orang, Chimpanse und Gorilla, von verschiedenen Seiten her dem Menschen sich nähern – der erstere durch sein Gehirn, der zweite durch Schädel und Zähne, der dritte durch seine Gliedmaßen, und keiner von ihnen dem Menschen unbedingt näher steht als der andere, so zeigen sich auch bei den verschiedenen Menschenracen verschiedene Charaktere, wodurch dieselben ihren Ursprung und dadurch auch die Verwandtschaft mit dem Affen bekunden. Das haben die vortrefflichen, mit ebensoviel Umsicht wie Mühe ausgeführten Messungen der Herren Scherzer und Schwarz an Bord der Rovara, die neulich von Dr. Weißbach in Wien bearbeitet worden sind, deutlich nachgewiesen. Selbst die am höchsten stehenden Racen, die durch Maß und Ausbildung des Gehirnes über allen anderen stehen, sind noch, wie sich die Verfasser ausdrücken, mit solchen Erbstücken versehen, welche auf den gemeinschaftlichen Stammvater hinweisen.“

„Ich bescheide mich als Laie,“ sagte der Pater Rector, „und maße mir kein Urtheil über die von der Wissenschaft gewonnenen Resultate an, die schließlich doch meiner festen Ueberzeugung nach, mit dem zusammenstimmen werden, was uns Religion und Kirche lehren. Aber ein seltsames Geschöpf ist der Emil doch, und ich bin fest überzeugt, der Vogt würde viel darum geben, wenn er ihn haben könnte, um ihn den Aachenern in Person vorzustellen. Die würden Augen machen!“

„Das ließe sich vielleicht noch einrichten!“ antwortete ich, mit Mühe mein Lachen unterdrückend. „Wir könnten ja den Vogt, der noch in verschiedenen Städten hier am Rhein seine Vorlesungen hält, benachrichtigen, und ich bin überzeugt, er würde mit Vergnügen die Gelegenheit ergreifen. Würden Sie ihm den Emil [207] für den Fall leihen und ihm erlauben, ihn in Aachen und anderen Städten vorzustellen?“

„Ich?“ lachte der Pater. „Gewiß nicht! Abgesehen davon, daß unsere Regeln es nickt erlauben und meine Oberen mich mit Recht zur Verantwortung ziehen könnten, möchte ich mich um keinen Preis dem Zorne der Aachener aussetzen, indem ich dem Vogt solche Waffen in die Hände lieferte.“

„Ist schon geschehen,“ sagte ich, mich verneigend. „Ich habe die Ehre, Ihnen in meiner Person den Professor Carl Vogt von Genf vorzustellen.“

„Wahrhaftig!“ rief der Pater aus. „Nun, ich hätte mir es denken sollen! Aber es freut mich dennoch, Ihre Bekanntschaft gemacht und mich mit eigenen Augen überzeugt zu haben, daß Sie einem Affen nicht ähnlicher sehen, als der Doctor oder ich. Ohne diesen Augenschein hätte ich nach all’ dem Scandal, den man Ihrethalben gemacht, wohl das Gegentheil glauben können.“


  1. Die Vorlesungen, welche Carl Vogt seit dem vorigen Jahre in Frankfurt a. M., Offenbach und Saarbrücken, in Mainz, Bremen, Mannheim, Darmstadt, Nürnberg und Fürth und im Laufe des gegenwärtigen Winters in Köln, Aachen, Crefeld, Elberfeld und Essen, in Dresden, Leipzig, Hamburg, Braunschweig und Berlin gehalten, haben überall ein so außerordentliches Aufsehen erregt, daß wir sicher auf das Interesse aller unserer Leser zählen dürfen, wenn wir im obenstehenden, vom Verfasser eigens für die Gartenlaube ausgearbeiteten Artikel den denkwürdigsten Theil der Schlußvorlesung, in welcher der Inhalt des ganzen Cyklus gipfelt, in mehrfach erweiterter Form mittheilen. Bei diesem Anlaß bemerken wir noch auf die und von vielen Seiten gewordenen Anfragen, daß Carl Vogt stets mit Anträgen zu neuen Vorlesungen überhäuft ist, so daß nur diejenigen Städte, die sich im Laufe des kommenden Septembers schriftlich direct an ihn nach Genf wenden, darauf rechnen können, eine Reihe seiner Vorlesungen zu hören.
    Die Redaction.