Ein Arbeiterkinderheim
Man steigt von Elgersburg eine kleine halbe Stunde hinauf, den Blick ständig über den herrlichen Waldeshöhen, die, Goethes Spazierwege, nach Ilmenau und weiter führen. Dort, mitten im Thüringer Wald, liegen die beiden hübschen Häuser des Kinderheims Mopr. Dort, in gesündester Höhenluft, zwischen Nadel- und Laubholz, finden die Kinder Erholung, deren Väter um ihrer Überzeugung willen in den Gefängnissen und Zuchthäusern der deutschen Republik geschunden werden, und die Kinder der Opfer des Noske.
Als ich, in den letzte April-Tagen, das Heim besuchte, war es von 33 Kindern bevölkert, von 5 Jahren aufwärts; das älteste war knapp 15. Der größte Teil kam aus München, lauter Waisen erschlagener und standrechtlich erschossener Rotgardisten der Räte-Republik. Ein Dutzend ostpreußischer Buben und Mädel von Genossen im Gefängnis zu Insterburg und drei Rheinländer, die Väter mit 10, 11 und 15 Jahren im Zuchthaus, darunter der achtjährige Rudi Margies, ein lieber, aufgeweckter, kleiner Kerl.
Die Rote Hilfe Deutschlands hat hier – und in Worpswede, wo sie ein zweites Kinderheim unterhält – ein prachtvolles Werk geschaffen. Die Kinder werden ausgezeichnet verpflegt, haben vorzügliche Bade- und Spieleinrichtungen, geräumige, helle Schlafräume, stehen unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle, singen, schreien, kugeln um einander, sind vergnügt und glücklich. Der jugendliche Lehrer Willy und die Helferinnen Liesbeth, Emmy, Erna und Eva sind die ältern Geschwister; sie leiten an, ohne zu kommandieren, werden als Gleiche, nicht als Autoritäten angesehen. Der Geist der Kameradschaft, der das Heim geschaffen, waltet in ihm und erhält es. Eines Jeden Erleben ist das Erleben Aller. Bei der gemeinsamen Mahlzeit liest jedes Kind, das Post bekommen hat, den Gefährten vor, was die Mutter, die Geschwister, Freund oder Freundin geschrieben haben, und die kleinen Gesichter werden ernst und feierlich, wenn der Gruß eines Vaters aus seiner einsamen Zelle dabei ist. Sie haben tiefe Ehrfurcht vor dem Schicksal der Verurteilten; die Toten der Revolution und sie, ihre Märtyrer, sind den Kindern Vorbild und mahnendes Gewissen. Wüßte die herrschende Klasse, wüßten ihre Staatsanwälte und Richter, welchen heiligen Eifer für die Sache, die sie ersticken wollen, sie in den Herzen der heranwachsenden Generation entzünden: sie wären nicht so üppig im Dienst ihrer politischen Rachejustiz. Wer als Revolutionär in die reinen Augen der Kinder in Elgersburg blickt, wenn sie in ihren kleidsamen blauen Kitteln mit den breiten roten Tüchern hellstimmig ihr „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ singen, der weiß voll großem Trost: die Väter sind nicht umsonst in den Tod, in den Kerker gegangen – die Zukunft keimt in gutem Boden.
Alle acht Wochen wechselt die Belegschaft im Heim; dann wird für drei Dutzend andrer Kinder von den Schulen Urlaub nachgesucht, und der Eifer der deutschen Gerichte und die Eigenartigkeit der deutschen politischen Amnestien sorgen ja leider dafür, daß es lange währt, bis [232] das gleiche Kind zum zweiten Mal von der Liebe proletarischer Solidarität Gebrauch machen kann, die es in Elgersburg umgibt. Die Frauen der Heimarbeiter von Elgersburg haben die Kittel und die Wäsche genäht, die Porzellanarbeiter von Geraberg haben das schöne symbolisch bemalte Tafelgeschirr geliefert – an Einrichtungs- und Gebrauchsgegenständen hängt der Schmelz brüderlichen Opfersinns. Noch fehlt es an manchem. Wer etwas stiften will – Bücher, Spielzeug oder was sein Herz ihm eingibt –, wird Kinder erfreuen, die mehr vom Leide erfahren haben in ihrem jungen Leben als von Freude.
Zwei Tage dauerte mein Besuch in Elgersburg. Zum Abschied begleiteten mich die Kinder an die Bahn. Sie sangen, winkten und riefen dem abfahrenden Zuge nach. Im jungen Frühling lag das thüringische Land, besonnt und leuchtend. Ich war reicher als zuvor.