Ein „Ritualmord“-Prozeß

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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Ein „Ritualmord“-Prozeß
Untertitel: Eine Verhandlung vor dem Schwurgericht zu Danzig. (April 1885)
aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 7, S. 65–123
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Ein „Ritualmord‘‘- Prozeß.
Eine Verhandlung vor dem Schwurgericht zu Danzig.
(April 1885.)

Der Aberglaube, daß Blut von unschuldigen Kindern und Jungfrauen zur Heilung hartnäckiger Krankheiten eine große Wirksamkeit habe, war bereits im grauen Altertum verbreite. Schon Plinius und andere Forscher behaupten, daß der Auszug der Juden aus Ägypten erfolgt sei, weil König Pharao zur Heilung des Aussatzes, an dem er litt, das Blut von 150 Judenkindern verlangt habe. Im alten Rom wurden die Christen des Ritualmordes beschuldigt. So sehr auch Kirchenväter und hervorragende christliche Schriftsteller sich bemühten, diese ungeheuerliche Beschuldigung zu widerlegen, so folgte doch jeder derartigen Anklage fast immer eine blutige Christenverfolgung, bis das Christentum Staatsreligion wurde. War es hier die mißverstandene Abendmahlsfeier, die den Verdacht erregte, so scheint eine mittelalterliche jüdische Zeremonie, bei welcher dem Andenken der von Pharao ermordeten Judenkinder vier Becher Wein gewidmet wurden, den ersten Anlaß zu der Beschuldigung gegeben zu haben, daß die Juden alljährlich bei ihrem Passahfest ein Christenkind ermordeten, um sich bei der Feier des Blutes zu bedienen, oder auch um es den Mazzes beizumischen. Diese Beschuldigung soll zuerst bei der großen Judenaustreibung aus Frankreich unter Philipp II (1180—1220) aufgetaucht sein. Seitdem ist diese Beschuldigung in den verschiedensten Gegenden der Welt bis in die heutige Zeit immer wieder erhoben worden, wenn irgendwo um die Osterzeit ein Kind verschwand oder ermordet gefunden wurde. Mehrere solcher angeblich von Juden geschlachteter Christenkinder wurden heilig gesprochen, wie der heilige Simon von Trient (1475) und der heilige Werner, dem am Rhein mehrere Kapellen gewidmet wurden. Eine große Judenverfolgung war und ist noch heute die unausbleibliche Folge dieser törichten Beschuldigung, die um so unsinniger ist, da den Juden von Moses sogar der Genuß von Tierblut aufs strengste untersagt ist. Einen neuen Charakter gewann der Blutaberglaube, als nach Anerkennung der Transsubstantiationslehre wiederholt blutige Flecke auf Hostien als wunderbare Bestätigung der neuen Lehre betrachtet worden waren. Das schon im Altertum häufig beobachtete Auftreten blutiger Flecke sowohl auf Hostien als an Gebäck und Speisen mag die erste Veranlassung zu dieser Art von Blutbeschuldigung gegeben haben. Es traten von dieser Zeit ab häufige Beschuldigungen auf, die Juden hätten sich durch Bestechung der Kirchendiener geweihte Hostien zu verschaffen gewußt, um zu sehen, was an dem christlichen Dogma Wahres sei und hätten so lange mit Nadeln oder Pfriemen hineingestochen, bis reichlich Blut geflossen sei. Die verdächtigen Juden wurden eingekerkert, durch Anwendung der Folter zu Geständnissen gebracht und alsdann hingerichtet. Eine große blutige Judenverfolgung bildete gewöhnlich das Nachspiel solcher Prozesse. Im Jahre 1570 wurden allein in Berlin 34 Juden wegen blutender Hostien hingerichtet. Vergeblich erhoben selbst Päpste, wie Benedikt XII. und Ganganelli, ja selbst jüdische Renegaten wie Pfefferkorn gegen diese wahnwitzige Beschuldigungen ihre Stimme. Immer und immer wieder mußte das ganze Mittelalter hindurch das Blutmärchen den Anlaß zu den ärgsten Judenverfolgungen geben. Ende des achtzehnten Jahrhunderts soll zu Frankfurt a. d. O. eine Anzahl Juden wegen Schlachtens eines Christenkindes angeklagt gewesen sein und auch, selbstverständlich unter Anwendung der Folter, ein Geständnis abgelegt haben. Die von Heinrich Heine im „Rabbi von Bacharach‘, aus Anlaß der Beschuldigung eines Ritualmordes geschilderte Judenabschlachtung ist allbekannt. In früheren Jahrhunderten waren am Abend vor dem Passahfest, wenn die Juden, nachdem sie aus der Synagoge gekommen waren und sich zwecks Vorlesung der Hagadah zu Tisch setzten, gewaltsame Überfälle, unter der Beschuldigung: es sei ein Christenkind geschlachtet worden, keine Seltenheit. Da an diesem Festabend Wein getrunken wird, so wurde, um die Blutbeschuldigung zu widerlegen, überall Weißwein getrunken. Im neunzehnten Jahrhundert hatte man viele, viele Jahre nichts von Ritualmordbeschuldigungen gehört. Man glaubte, dieses Märchen gehöre nur noch der Geschichte an. Im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts brach jedoch mit der Herrschaft des Sozialistengesetzes (Oktober 1878), eine furchtbare Reaktion über Deutschland herein, die auch sehr bald auf andere Staaten übergriff. Nach Erlaß des Sozialistengesetzes, Verhängung des sogenannten kleinen Belagerungszustandes über alle größeren Städte und Industrieorte, herrschte in Deutschland gewissermaßen politische Kirchhofsruhe. Diese Stille, die man zweifellos unangenehm empfand, wurde sehr bald durch eine furchtbare Judenhetze abgelöst. Zunächst machte sich in der deutschen Reichshauptstadt, Ende 1880, eine Judenhetze breit, die stark an die finsteren Zeiten des Mittelalters erinnerte. Es herrschte anscheinend der Glaube: es werde durch die Judenhetze gelingen, der Reaktion ein volkstümliches Mäntelchen umzuhängen und die Arbeiter, die sich gewissermaßen instinktiv zur Sozialdemokratie be- kennen, ins reaktionäre Lager zu führen. Zwei ehemaligen sozialdemokratischen Führern, den auf Grund des „Kleinen Belagerungszustandes‘‘ aus Berlin ausgewiesenen Zimmerer Karl Finn und Maurer Wilhelm Körner, die plötzlich in ihrem Altonaer Exil ihr antisemitisches Herz entdeckt deckt hatten, wurde die Rückkehr nach Berlin gestattet. Man hoffte, was den antisemitischen Geistlichen, Lehrern, ehemaligen Offizieren, Hilfsarbeitern in den Ministerien und ähnlichen Leuten nicht gelingen wollte, werde sicherlich den ehemaligen beliebten Führern der Sozialdemokratie gelingen. Die Arbeiter, soweit sie nicht ausgewiesen sind, würden, wenn Körner und Finn zu ihnen sprechen, sofort sich zum Antisemitismus bekehren. Als aber Körner und Finn im Februar 1881 eine Arbeiterversammlung nach einem großen Saale im Norden Berlins beriefen, wurden sie von den Arbeitern nicht nur furchtbar ausgepfiffen, sondern auch derartig behandelt, daß sie es für geraten hielten, durch eine Hintertür zu verschwinden. Sie sind bisher niemals mehr an die Oberfläche gekommen. Allein der Antisemitismus nahm, einmal durch den Niedergang der wirtschaftlichen Verhältnisse, andererseits aber auch durch hohe maßgebende Kreise begünstigt, eine ungeheure Verbreitung. Man begnügte sich in gewissen Kreisen Deutschlands nicht mit Ausnahmegesetzen gegen die Katholiken und Sozialdemokraten, man verlangte auch, allerdings vergeblich, Ausnahmegesetze gegen die Juden. Selbst in Berlin waren antisemitische Anrempelungen in vornehmen Restaurants und Cafes, ja sogar auf offener Straße und in Straßenbahnwagen keine Seltenheiten. In den antisemitischen Versammlungen wurde geradezu das Faustrecht proklamiert. Es war keine Seltenheit, daß Christen antisemitischer Gesinnung, die jedoch ein brünettes Äußere hatten, von ihren Gesinnungsgenossen, lediglich ihres „verdächtigen" Aussehens wegen, stark verbläut wurden. Im November 1880 erschien von notablen Christen ein öffentlicher Aufruf, in dem die Judenhetze als kulturwidrig bezeichnet wurde. Der damalige Kronprinz, spätere Kaiser Friedrich nahm Veranlassung, die antisemitische Bewegung öffentlich als Schmach des Jahrhunderts zu bezeichnen. In Pommern, Ost- und Westpreußen kam es zu offenen Krawallen. In Rußland begannen blutige Judenverfolgungen, die sich sehr bald auf Österreich-Ungarn ausdehnten. — Anfang: April 1882 verschwand in dem ungarischen Dorfe Tisza-Eszlar ein vierzehnjähriges christliches Dienstmädchen, namens Esther Solymosi. Es wurde sehr bald die Beschuldigung laut: Die Juden haben das Mädchen zu rituellen Zwecken geschlachtet. Die Beschuldigung wurde ganz besonders von dem Gutsherrn des Dorfes, dem antisemitischen Reichsratsabgeordneten v. Onody, geschürt. Eine regelrechte Judenverfolgung setzte ein, zumal eine Anzahl Leute die Beobachtung gemacht haben wollten, daß des Nachts in der Nähe der Synagoge ein blutiger Schatten husche, der der Gestalt des verschwundenen Mädchens ähnlich sehe. Der Untersuchungsrichter des zuständigen Kreisgerichts Nyiregyhäza sandte den zweiundzwanzigjährigen Referendar Josef Bary nach Tisza Eszlar. Dieser lauerte dem vierjährigen Söhnchen des Tempeldieners Scharf auf. Aus dem Geplapper dieses armseligen Kindes glaubte der „Hüter des Rechts" zu entnehmen, daß der Tempeldiener Scharf und eine Anzahl anderer Juden das Mädchen in der Synagoge geschlachtet haben. Der Referendar verfügte die Verhaftung der verdächtigen Juden. Allein auf Grund der Aussagen eines vier jährigen Kindes war eine Verurteilung wegen Mordes nicht zu erzielen. Der Referendar hatte aber auch erfahren, daß der Tempeldiener bereits einen dreizehnjährigen Sohn, mit Vornamen Moritz habe. Wenn dieser, der zur damaligen Zeit in Ungarn eidesmündig war, eidlich bekunden würde, daß er die Abschlachtung des Mädchens in der Synagoge beobachtet habe, dann war eine Verurteilung zu erzielen. Referendar Bary ließ kurzerhand Moritz Scharf verhaften, in Ketten legen und nach Nyregyhäza transportieren. Dort wurde der arme Junge aufgefordert, ein Geständnis abzulegen. Da er aber fortdauernd beteuerte: er habe nicht gesehen, daß Esther Solymosi ermordet worden sei, so befahl der Referendar den Panduren, den Knaben zu schlagen, bis er ein Geständnis ablege. Außerdem befahl dieser jugendliche Untersuchungsrichter, dem Knaben weder Speise noch Trank zu reichen. Der Knabe schlief vor Ermüdung schließlich ein, er wurde jedoch wiederholt in geradezu mörderischer Weise aus dem Schlafe geprügelt. Da aber selbst diese Folter keinen Erfolg hatte, so versuchte es das junge Ungeheuer, in Gestalt eines Referendars, in anderer Weise zum Ziele zu kommen. Er versprach dem Knaben: er werde nicht mehr geprügelt werden, dagegen gut und reichlich zu essen und zu trinken erhalten, und es werde außerdem in bester Weise für seine Zukunft gesorgt werden, wenn er sagen wolle, daß die Juden in der Synagoge zu Tisza-Eszlar die Esther Solymosi geschlachtet haben. Wenn er aber weiter leugne, dann werde er in einen Graben geworfen, in dem er elendiglich zugrunde gehen müsse. Dies Mittel half. Moritz Scharf gab zu: Er habe durchs Schlüsselloch der Synagoge gesehen, daß 15 Juden, zu denen auch sein Vater gehörte, die Esther Solymosi geschlachtet haben. Diese Aussage hielt Moritz Scharf, ein kleiner, unansehnlicher Knabe, auch in der von Anfang Mai bis Anfang Juli 1883 vor dem Kreisgericht zu Nyiregyhäza stattgefundenen Verhandlung vor dem Kreisgericht aufrecht. Schließlich wurde auf Antrag des Vertreters der Oberstaatsanwaltschaft, Oberstaatsanwalts-Substituts Szeyfferth (Budapest) und der Verteidiger beschlossen: eine örtliche Augenscheinnahme vorzunehmen. Sämtliche Prozeßbeteiligten fuhren mit den Angeklagten und Moritz Scharf nach Tisza-Eszlar. Moritz Scharf mußte in der Synagoge die Stelle angeben, auf der die Abschlachtung vollzogen worden sei. Er wurde alsdann hinausgeschickt, und es wurde an derselben Stelle das Abschlachten einer Puppe markiert. Moritz Scharf, der aufgefordert war, durch das Schlüsselloch zu sehen — die Synagogentür war in keiner Weise verändert — konnte nicht sagen, was in der Synagoge geschehen war. Nun überzeugte man sich, daß man durch das Schlüsselloch überhaupt nicht in das Innere der Synagoge sehen konnte. „Hiermit hätten wir anfangen sollen," sagte ein beisitzender Richter, „dann hätten wir uns viel Arbeit gespart." Nach diesem Ergebnis wurden die Angeklagten, die 11/4 Jahr in Untersuchung gesessen hatten, sämtlich freigesprochen. — Dieser angebliche Ritualmord bot aber trotzdem sehr lange Zeit, auch nach geschehener Freisprechung den Antisemiten allerwärts einen willkommenen Agitationsstoff. In einer großen Anzahl ungarischer Städte fanden aus Anlaß des Freispruchs blutige Judenverfolgungen statt, die erst mit militärischer Hilfe unterdrückt werden konnten. — Im September 1883 fand in Dresden der erste und letzte „Internationale Antisemitenkongreß" statt. Zu diesem brachten die ungarischen Antisemiten das angebliche Bild der Esther Solymosi mit und stellten es gegen ein Eintrittsgeld von fünfzig Pfennigen zur öffentlichen Ansicht aus. Es soll in Wahrheit das Bild einer Prostituierten gewesen sein. Das Bild wurde nach Beendigung des Kongresses nach Berlin gebracht und hier, ebenfalls gegen ein Eintrittsgeld von fünfzig Pfennig, in einem Saale der Bockbrauerei zur öffentlichen Schau gestellt. Die Esther Solymosi ist, meiner Erinnerung nach, später in der Theiß als Leiche gefunden worden. Seit dieser Zeit sind leider die Ritualmordmärchen immer wieder aufgetaucht. (Siehe Kriminalprozesse Bd. I: der Xantener Knabenmordprozeß und Band III: der Konitzer Gymnasiasten-Mordprozeß.) — Im April 1885 gelangte vor dem Schwurgericht zu Danzig ein Mordprozeß zur Verhandlung, in dem ebenfalls im Hintergrunde das Ritualmordmärchen auftauchte. Am Morgen des 22. Januar 1884 ging der Bauerssohn Dobiella über eine kurz vor dem Dorfe Skurcz bei Preuß. Stargard belegene Wiese, die von einem Abzugsgraben des Skurczer Sees durchschnitten wird. Beim Passieren der Brücke dieses Grabens sah er in letzterem zwei nackte menschliche Unterschenkel liegen. Erschreckt eilte er dem Dorfe zu; er kehrte bald mit einem Manne zurück und machte in Gemeinschaft mit diesem weitere Nachforschungen. Sie fanden nun außer den erwähnten Unterschenkeln, unter der Brücke selbst einen nackten, furchtbar zugerichteten menschlichen Rumpf. Dobiella rief eiligst den Amtsvorsteher herbei, der die Leichenteile ans Land schaffen und außerdem weitere Nachforschungen vornehmen ließ. Allein weder die fehlenden Oberschenkel, noch die Kleider der Leiche waren zu finden. Auch ergab die örtliche Untersuchung weder irgendwelche Spuren eines Kampfes, noch Blutflecken. Wie sich sehr bald herausstellte, war der Ermordete der vierzehnjährige Onophrius Cybulla aus Skurcz. Die Leichenöffnung ergab, daß der Tod durch Verblutung erfolgt war. An der Vorderseite des Halses zeigte der fast vollständig blutleere Leichnam eine weit klaffende glatträndrige Wunde, die bis zum Halswirbel sich erstreckte, so daß die Speiseröhre und die Hauptblutgefäße oberhalb des Kehlkopfes durchtrennt waren. Außer noch mehreren anderen erheblichen Verletzungen waren auf der Kopfhaut sieben parallel laufende tiefe Einschnitte zu sehen. Die fehlenden Oberschenkel waren aus dem Hüftgelenk mit kräftigem Schnitte vollständig kunstgerecht ausgelöst; in ebenso kunstfertiger Weise waren die vorgefundenen Unterschenkel abgetrennt. Der Ermordete war von dem Gasthofsbesitzer Gappa in Skurcz mit Flaschenspülen beschäftigt worden. Am Abende des 21. Januar 1884, etwa gegen halb neun Uhr, ist er von Gappa fortgegangen, um sich, wie er angab, nach Hause zu begeben; der Mord muß deshalb in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 geschehen sein. Die Sachverständigen behaupteten, daß die künstliche Zerstückelung der Leiche eine mehrstündige Operation erfordert habe. Da nun in jener dunklen Januarnacht ein sehr stürmisches Wetter getobt und andererseits am Fundorte der Leiche weder Spuren eines Kampfes, noch Blutflecken vorhanden gewesen, so behaupteten die Sachverständigen, daß die Tat im Dorfe selbst, und zwar in einer Behausung, verübt worden sei, und daß der Mörder die Leiche erst nach vollbrachter Tat an den Fundort geschafft habe. Der törichte Aberglaube, es existiere bei den Israeliten das Bedürfnis nach rituellen Morden, und es handle sich in diesem Falle um einen solchen, wurde auch wiederum lebendig, um so mehr, als die Umstände einen Lust- oder Raubmord vollständig auszuschließen schienen und man auch nicht annehmen konnte, daß der vierzehnjährige Knabe das Opfer von Haß oder Rachsucht geworden sei. Es fand infolgedessen auch im Dorfe Skurcz ein regelrechter Krawall, der sich gegen die dort lebenden Juden richtete, statt. Der Verdacht, den Mord verübt zu haben, lenkte sich auf verschiedene Personen, und zwar zunächst infolge der Aussage eines Mannes, namens Sprada, auf den Kaufmann Boß. Dieser Sprada erzählte: Am Abende des 21. Januar 1884 habe er von Gappa einen Knaben herauskommen sehen. An dem Hause des jüdischen Kaufmanns Boß sei der Knabe auf Anrufen des Boß in dessen Haus gegangen. — Da jedoch der Mörder zweifellos ein im Sezieren sehr gewandter Mann gewesen sein muß, so lenkte sich der Verdacht auch auf den Schächter Blumenheim in Skurcz. Dieser vermochte aber den Nachweis zu führen, daß er in der Mordnacht verreist war. Es lenkte sich der Verdacht wiederum auf den Kaufmann Boß und dessen Vater, und infolge einer Aussage eines Arbeiters, namens Mankowski, auch auf den in Skurcz wohnenden Handelsmann Hermann Josephsohn. Mankowski bekundete nämlich: Am 22, Januar des Morgens sei er von seiner Heimat Skorczewo über Skurcz nach Pr. Stargard gegangen. Kurz vor sechs Uhr habe er am Thies- senschen Gasthof einen Menschen getroffen, der einen schweren Sack auf dem Rücken trug, und den Ossieker Weg gegangen sei. Er habe geglaubt, der Mann trage ein Kalb, an der unteren Ecke sei jedoch ein runder Gegenstand, der wie ein Menschenkopf aussah, zu sehen gewesen. In dem Träger des Sackes habe er den Hermann Josephsohn erkannt. Anläßlich dessen wurde Josephsohn und einige Zeit darauf auch Boß (Vater und Sohn) in Haft genommen. Die Untersuchung gegen diese drei Personen ergab jedoch keinerlei Anhaltspunkte. Dagegen erklärte Mankowski einige Monate später, und zwar nach eindringlichen Ermahnungen des Kriminalkommissars Höft aus Berlin: Er habe nicht den Josephsohn, sondern den Fleischermeister Behrendt aus Skurcz mit voller Bestimmtheit als den Träger des Sackes erkannt. Von dem Morde habe er erst am 23. Januar durch seine Mutter Nachricht erhalten. Einige Tage später habe ihm seine Mutter mitgeteilt, Fleischermeister Behrendt habe ihn sprechen wollen. Er habe infolgedessen sofort zu seiner Mutter gesagt: der Träger des genannten Sackes sei Behrendt gewesen, dieser habe jedenfalls die Leiche im Sacke getragen. Am 27. Januar habe ihm sein Nachbar Zilinski ebenfalls gesagt: Behrendt wolle ihn sprechen. Behrendt soll dabei geäußert haben: er (Mankowski) solle zum Amtsvorsteher kommen und dort bekunden, daß er nicht den Behrendt, sondern den Josephsohn am 22. Januar früh mit dem Sacke auf dem Rücken getroffen habe. Einige Tage später sei er mit Zilinski nach Skurcz gegangen. Am Eingange des Dorfes habe sie Behrendt schon erwartet und gesagt: er (Mankowski) solle nur stramm gegen Josephsohn aussagen: er werde dafür gut bezahlt erhalten, es werden Gelder zu diesem Zwecke gesammelt werden. In dieser Weise habe Behrendt unablässig auf sein Zeugnis einzuwirken gesucht. Die Mutter des Mankowski bestätigte in vieler Beziehung diese Bekundungen ihres Sohnes. Behrendt hatte sich angeblich außerdem bei der gerichtlichen Obduktion der Leiche und bei noch mehreren anderen Gelegenheiten durch Redensarten sehr verdächtig gemacht. Bei der gerichtlichen Leichenobduktion sagte der Besitzer Hoffmann zu Behrendt: „Die wissenschaftlichen Fortschritte sind jetzt derartig, daß man durch das Photographieren des Auges des Ermordeten die Person des Mörders erkennen kann." Behrendt soll infolge dieser Erzählung leichenblaß geworden sein, gezittert und laut gestöhnt haben. Da Behrendt außerdem über seinen Aufenthalt am Abende des 21. Januar widersprechende Angaben machte, er auch der erste war, der die Beschuldigung erhob, daß nur Juden den Mord begangen haben können, und als dieselbe Beschuldigung gegen ihn laut wurde, er sehr niedergeschlagen war und auch nicht, wie er mehrfach gedroht, diese Beschuldiger wegen Verleumdung verklagte, so wurde er am 10. Mai 1884 wegen Verdachts des Mordes verhaftet, Josephsohn und die beiden Boß dagegen in Freiheit gesetzt. Da noch eine Reihe anderer ..Verdachtsmomente gegen Behrendt sprachen, so wurde die Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Er hatte sich vom 22. bis 27. April 1885 vor den Geschworenen des Danziger Landgerichts zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Landgerichtsrat Arndt. Die Staatsanwaltschaft vertrat Gerichtsassessor Dr. Preuß. Die Verteidigung führte Rechtsanwalt Thurau (Pr. Stargard). Der Angeklagte bestritt mit großer Entschiedenheit, den Mord begangen zu haben. Er äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin wohl wegen Körperverletzung und wegen Notzucht in Untersuchung verwickelt gewesen, ich war jedoch vollständig unschuldig, deshalb wurde auch die Anklage gegen mich niedergeschlagen. Ich trinke wohl gern einmal einen Schnaps, aber ich betrinke mich nicht. Ich besuche die Kirche sehr oft, wie es meine Religion mir vorschreibt. — Vors.: Kannten Sie den Knaben Cybulla? — Angekl.: Jawohl. — Vors.: Betrieb Cybulla einen Handel? — Angekl.: Er war bloß bei seinem Vater. — Vors.: Er soll mit Ziegenfellen gehandelt haben. — Angekl.: Das kann sein. — Vors.: Ist Ihnen der Knabe vielleicht einmal beim Handel in die Quere gekommen ? — Angekl.: Nein. — Vors.: Handelten Sie nicht auch mit Ziegenfellen? — Angekl.: Nein. — Vors.: Schlachteten Sie nicht bisweilen eine Ziege? — Angekl.: Wenn ich eine Ziege billig kaufen kann, dann allerdings. — Vors.: Wann haben Sie den Knaben Cybulla zum letzten Male gesehen? — Angekl.: Am Sonnabend vor dem Morde. — Vors.: Sie werden nun beschuldigt, den Knaben Cybulla ermordet zu haben. — Angekl.: Ich sitze hier ganz unschuldig. — Vors.: Sie behaupten also, Ihr Gewissen ist rein, Sie sind nicht der Mörder. — Angekl.: Ich bin unschuldig. — Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte der Angeklagte: Am 21. Januar 1884 fuhr ich mit dem Altsitzer Rzanicki über Land, um ein Rind zu kaufen. Gegen Sonnenuntergang kamen wir nach Skurcz und gingen in das Stenzelsche Gastlokal. Dort tranken wir mehrere Schnäpse und tranken so lange, daß ich betrunken wurde. Ich war schließlich so sehr angetrunken, daß ich meine Besinnung verlor. Ich weiß deshalb nicht, wann wir nach Hause gegangen sind, ich weiß nicht einmal, ob ich mich an jenem Abend beim Schlafengehen selbst entkleidet habe. Rzanicki übernachtete bei mir. Am folgenden Morgen hörte ich von der Auffindung der Leiche des Cybulla. — Vors.: Haben Sie sich die Leiche angesehen ? — Angekl.: Nein, ich kann überhaupt keine Leiche sehen. — Vors.: Sie sollen direkt aufgefordert worden sein, sich auch einmal die Leiche anzusehen? — Angekl.: Das ist richtig, ich bin aber zu weich, ich kann keine Leiche sehen. — Vors.: Es wurde Ihnen noch gesagt: ein Fleischer, der Tiere schlachtet, muß auch menschliche Leichen sehen können? — Angekl.: Ich kann keine Leichen sehen, ich könnte mir nicht einmal die Leichen meiner Kinder ansehen. — Vors.: Nun, Sie sollen einmal jemandem ein großes Schlachtmesser gezeigt und dabei geäußert haben: damit könnte ich mit ruhigem Blute einen Menschen schlachten und sogar sein Blut trinken. — Angekl.: Das ist nicht wahr. — Vors.: Das werden aber hier mehrere Zeugen bekunden! — Angekl.: Wenn ich es gesagt haben sollte, dann kann ich es nur im Scherz gesagt haben. — Vors.: Ein sittlicher Mensch macht derartige Äußerungen auch nicht im Scherz. — Angeklagter zuckte die Achseln. — Vors.: Haben Sie eine Ahnung, wer wohl der Mörder sein könnte? — Angekl.: Nein. — Vors.: Richtete sich nicht der Verdacht gegen bestimmte Personen oder gegen eine gewisse Bevölkerungsklasse? — Angekl.: Ja, man sagte im allgemeinen, die Juden sind es gewesen. — Vors.: Sie sollen diesen Verdacht zuerst ausgesprochen und sich in dieser Beziehung sehr rührig gezeigt haben. — Angekl.: Das ist nicht wahr, ich habe bloß gesagt, die Juden werden es wohl gewesen sein, weil die allgemeine Volksstimmung den Juden die Schuld zuschob. — Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bestritt der Angeklagte, bei der Obduktion der Leiche erschrocken zu sein, als ihm der Besitzer Hoffmann sagte: durch das Photographieren des Auges des Ermordeten, könne man die Persönlichkeit des Mörders feststellen. Ebensowenig sei er erschrocken, als sich die Meinung verbreitete: der Mord könne den Umständen nach nur von einem Arzte oder einem Fleischer verübt sein. — Vors.: Sie sollen nun am Morgen des 21. Januar 1884 von einem Arbeiter Mankowski mit einem Sack auf dem Rücken auf dem Wege nach Ossiek getroffen worden sein. Mankowski habe zunächst geglaubt, es befinde sich ein Kalb in dem Sacke, er habe aber einen Menschenkopf hervorschauen gesehen. — Angekl.: Das ist eine Lüge, ich kenne den Mankowski überhaupt nicht, ich habe ihn zum ersten Male gesehen, als er mir auf dem Amtsgericht zu Culmsee vorgestellt wurde. — Auf weiteres Befragen stellte der Angeklagte auch in Abrede, bei der Mutter des Mankowski gewesen zu sein oder in irgendeiner Weise versucht zu haben, auf sein Zeugnis Einfluß auszuüben. Den Zilinski kenne er wohl, er sei jedoch schon lange vor dem 22. Januar 1884 nicht mehr mit ihm zusammengekommen. — Amtsvorsteher Ernst (Skurcz) bekundete: Das Dorf Skurcz zähle etwa 2000 Einwohner, darunter etwa 50 Juden. Die übrige Bevölkerung sei fast ausschließlich katholisch. Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich zunächst auf die Juden, und zwar speziell auf den Handelsmann Hermann Josephsohn; er habe jedoch keinerlei Verdachtsmomente gegen Josephsohn oder gegen irgendeine andere Person wahrnehmen können. Behrendt habe sich seines Wissens nach immer gut geführt; nur wenn Behrendt angetrunken gewesen, und das sei nicht selten vorgekommen, habe er im Dorfe Skandal gemacht und alle ihm Begegnenden mit Gewalttätigkeiten bedroht. — Der Vater des Ermordeten, Schneidermeister Cybulla aus Skurcz, bekundete, wie die meisten Zeugen, mittels Dolmetscher: Sein ermordeter Sohn sei 14½ Jahre alt und ein körperlich sehr entwickelter, im übrigen sehr guter Junge gewesen. Der Knabe sei teils bei einem Bäcker, teils bei einem Gastwirt, bei letzterem mit Flaschenspülen beschäftigt gewesen. Wenn er (Zeuge) eine Ziege geschlachtet, habe sein Sohn Onophrius das Fell verkauft. Ob sein Sohn mit dem Boß oder Hermann Josephsohn verkehrt, wisse er nicht. Am 21. Januar 1884, nachmittags gegen vier Uhr, sei sein Sohn von Hause weggegangen und nicht mehr lebend zurückgekehrt. Er habe nicht gewußt, wohin sich sein Sohn begeben habe. Am Morgen des 22. Januar habe er von der Auffindung der Leiche gehört und in dieser seinen Sohn erkannt. Wer der Mörder sein könne, wisse er nicht: Er habe gehört, sein Sohn soll bis gegen acht Uhr abends bei dem Gasthofbesitzer Gappa Flaschen gespült haben. Am 22. Januar 1884 habe ihm ein Mann, namens Sprada erzählt: Erhabe am 21. Januar abends einen Knaben von Gappa herauskommen und bei Boß vorübergehen sehen. Aus dem Boßschen Hause habe er (Sprada) den Ruf gehört: „Onophri! Onophri!“ Ob sein Sohn am 21. Januar Geld bei sich gehabt, wisse er nicht. Die Kleidungsstücke des Knaben waren von geringem Werte, — Arbeiter Sprada: Er habe am Abend des 21. Januar einen Knaben bei dem Boßschen Hause vorübergehen sehen und dabei den Ruf: „Onophri! Onophri!“ gehört; ob diese Worte in polnisch-jüdischem Jargon gesprochen wurden, wisse er nicht mehr. — Der Vorsitzende bedeutete dem Zeugen, daß er früher mit voller Bestimmtheit behauptet, die Worte seien in jüdisch-polnischem Jargon gesprochen worden. — Der Zeuge erklärte: Er habe von dieser seiner Wahrnehmung am 22, Januar abends Mitteilung gemacht, Cybulla erwiderte jedoch, daß dies mehrere Tage später gewesen sei. — Der zunächst verhaftet gewesene Kaufmann Heim. Boß jun. bekundete: Der Knabe Cybulla habe ihm häufig Semmel gebracht; das letztemal sei er am 21. Januar 1884 des Morgens bei ihm gewesen. Daß er am Abende des 21. Januar den Knaben angerufen, sei unwahr; daß in der Nacht vom 21. bis 22. Januar in seinem Hause große Unruhe geherrscht, bestreite er ebenfalls. Gleich nach Auffindung der Leiche habe Behrendt laut gerufen: „Das haben die Juden getan!“ Am 23, Januar sei er (Zeuge) vernommen worden. Die bei ihm vorgefundenen Blutflecken, Blutklumpen usw. erklären sich aus dem Umstande, daß er bisweilen in seiner Behausung Vieh geschlachtet habe. In seinem Ziegenstalle sei in der Nacht vom 21. zum 22. Januar allerdings der Ständer umgeworfen gewesen; diesen bereits etwas morschen Ständer haben jedenfalls die Ziegen umgeworfen. Mit Josephson sei er nicht befreundet gewesen. — Staatsanwalt: Es ist die Behauptung aufgestellt worden, Herr Zeuge, daß am 21. Januar 1884, abends, viele Juden bei Ihnen gewesen sind. — Zeuge: Das ist nicht wahr, nur mein Schwager Mendelssohn aus Neukirch ist an jenem Abende bei mir gewesen. — Handlungsgehilfe Cohn, der zurzeit bei Boß konditioniert hatte, bestätigte vollständig die Bekundung des Zeugen Boß. Als bei Boß Haussuchung gehalten wurde, war in der Bevölkerung von Skurcz gegen die Juden große Erregung. Einer der Vorlautesten, der die Juden als die Mörder bezichtigte, war der Angeklagte Behrendt, der sich auch bei der bei Boß vorgenommenen Haussuchung beteiligte. Sattler Bobilinski bestätigte im wesentlichen die Angaben der beiden Vorzeugen; er behauptete nur, im Widerspruch mit den ersteren, daß die am Abende des 21. Januar 1884 bei Boß vorgenommene Warenauspackung bis etwa gegen acht Uhr gedauert habe, während die Vorzeugen bekundeten, diese Warenauspackung habe bis nach neun Uhr gedauert. — Frau Boß bekundete ebenfalls, daß die Warenauspackung bis nach neun Uhr gedauert habe. — Auch Kaufmann Boß sen. (73 Jahre alt), der ebenfalls vom 22. März bis 12. April 1884 wegen Verdachtes des Mordes verhaftet gewesen, bestätigte die Bekundungen der Vorzeugen. Er habe in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 keinerlei Unruhe in seinem Hause wahrgenommen. — Töpfermeister Keckermann, der zu jener Zeit bei Boß gewohnt, bekundete: Er sei in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 angetrunken nach Hause gekommen und habe unter Poltern sein Schlafzimmer aufgesucht. Ob sonst Lärm im Hause gewesen, wisse er nicht; er habe jedenfalls keinen Lärm wahrgenommen. Am 23. Januar 1884 sei er mit dem jungen Boß nach Pr. Stargard gefahren und in einem Kruge, dessen Besitzer ein Jude war, eingekehrt. Boß habe mit diesem Kruginhaber längere Zeit in so leiser Weise sich unterhalten, daß er von der Unterhaltung nichts verstehen konnte. Als bald darauf der Verdacht des Mordes sich auf die Juden lenkte, sei ihm das leise Gespräch aufgefallen. — Dienstmädchen Kowalewska: Sie sei am Morgen des 22. Januar 1884 gegen vier Uhr von einer Hochzeit nach Hause gekommen, und da sie in ihre Schlafkammer nicht hineinkonnte, habe sie bei der in demselben Hause wohnenden Frau Reimann geschlafen. Kaum hatte sie sich zu Bett begeben, da hörte sie heftig poltern und einen schweren Gegenstand tief hinunterfallen. Am Donnerstag darauf habe sie den Dienst bei Boß verlassen. Sie habe sich gefürchtet, da die Dorfbewohner sämtlich behaupteten: die Juden haben den Knaben Cybulla geschlachtet; sie wollte deshalb nicht mehr bei Juden dienen. Verdachtsmomente habe sie nicht wahrgenommen. Nur in dem Ziegenstalle waren die Latten umgefallen; auf dem kurz vorher von ihr gereinigten Boden waren viele kleine Papierstückchen zerstreut, und die Waschschüssel, die stets in ihrer Schlafkammer gestanden, befand sich am Morgen des 22, Januar in der Boßschen Wohnung. Außerdem sei vor dem Ziegenstalle Blut gefunden worden. Allerdings sei bei Boß einige Zeit vorher ein Rind geschlachtet worden. — Witwe Reimann: Sie habe viele Jahre bei Boß gewohnt und hatte gegen die Familie Boß bis zu dem Cybullaschen Morde nichts auszusetzen; die Boß waren durchaus anständige Leute. In der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 gegen zwei Uhr sei plötzlich die Tür aufgegangen und es habe eine Stimme: „Buh“‘ hineingerufen. Sie habe sich nebst ihren beiden Töchtern sehr erschreckt und habe geglaubt, daß Diebe bei ihr eindringen wollten. Etwa eine Stunde später sei das Dienstmädchen Kowalewska gekommen und gegen vier Uhr habe sie ein ganz eigentümliches Geräusch gehört. Die Latten im Ziegenstalle können unmöglich von den Ziegen umgeworfen worden sein. Als Herr Boß in den Ziegenstall trat, sei ihr sein Benehmen sehr aufgefallen. Boß habe gesagt: Es müsse ihm jemand einen Schabernack gespielt haben. — Amtsvorsteher Ernst: Auf ihn habe es auch den Eindruck gemacht, als wären die Ziegen nicht imstande gewesen, die Latten umzuwerfen. — Fräulein Reimann, Tochter der Vorzeugin: Sie habe in der in Rede stehenden Nacht ebenfalls ein Geräusch wahrgenommen. Daß das Geräusch durch den in jener Nacht herrschenden Sturm verursacht worden, glaube sie nicht. — Vors.: Ich habe dabei den Keckermann im Verdacht, der in jener Nacht angetrunken nach Hause gekommen und dabei ein großes Geräusch verursacht hat. — Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bekundete die Zeugin: Einige Tage nach dem Morde habe die Schwester des Hermann Josephsohn zu ihr gesagt: Möchte man nur lieber bei dem Rechten und nicht bei dem Unrechten nach der Spur des Mörders suchen. — Handelsmann Hermann Josephsohn, der vom 31. Januar bis 11. Mai 1884 wegen Verdachts des Mordes verhaftet war, bekundete: Er handle mit Produkten, Fellen usw., mit dem Knaben Cybulla sei er niemals zusammengetroffen. Der Vorsitzende ließ den Angeklagten neben den Zeugen treten, um festzustellen, daß dieser dem Zeugen an Figur gleiche. — Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte der Zeuge: Er sei am 21. Januar 1884 gegen Abend bei dem Bilderhändler Przybilski gewesen und etwa gegen halb acht Uhr, es könne auch später gewesen sein, nach Hause gegangen. Er habe sich in jener Nacht nicht ausgekleidet, da bis spät nachts eine Schneiderin in der Stube arbeitete. Als diese schon fort war, habe er so fest geschlafen, daß er das Ausziehen vergessen habe. Jedenfalls sei er in jener Nacht zu Hause gewesen. Am 18. Januar sei er vom Wagen gefallen und habe sich arg den Daumen verletzt. — Zeuge Boß bestätigte, daß Josephsohn am 18. Januar jedenfalls in etwas angetrunkenem Zustande vom Wagen gefallen sei. — Auf Befragen des Staatsanwalts bekundete der Zeuge: der Finger habe sehr geblutet, daher sei sein Pelz mit Blut befleckt worden. — Simon Josephsohn, Friederike und Johanna Josephsohn, Geschwister des Vorzeugen, bestätigten vollständig des Letzteren Bekundungen. — Frau Reimann: Sie habe im vergangenen Jahre vielfach in der Familie Josephsohn verkehrt. Am 21. Januar 1884 sei sie nachmittags gegen fünf Uhr zu Josephsohn gekommen. Gegen sieben Uhr abends seien Hermann und Simon Josephsohn fortgegangen. Gegen neun Uhr abends sei Simon, nicht aber Hermann wiedergekommen. Hermann habe weder ihr bei dem Abendbrot gegenübergesessen, noch sei er überhaupt, nachdem er gegen sieben Uhr abends fortgegangen, an jenem Abende wiedergekommen. Sie sei bis elf Uhr abends bei Josephsohn gewesen und könne mit Bestimmtheit behaupten, daß Hermann nicht dagewesen sei. Hermann sei sehr lebhaften Temperaments, sie hätte ihn infolgedessen sehen müssen. Die Minna Koschiella sei ebenfalls an jenem Abende bei Josephsohn gewesen. — Vors.: Das wird aber doch auch von mehreren anderen Zeugen bestritten? — Zeugin: Es ist auch möglich, daß die Koschiella an einem anderen Abende bei Josephsohn gewesen ist. — Vors.: Soeben haben Sie aber mit voller Bestimmtheit behauptet: die Koschiella sei am 21. Januar abends bei Josephsohn gewesen? — Zeugin: Ich habe nicht gewußt, daß es sich um den 21. Januar gehandelt hat. — Vors.: Ein anderer Tag kommt doch aber gar nicht in Frage. Irren Sie sich vielleicht auch bezüglich des Hermann Josephsohn? — Zeugin: Nein, ich weiß mit voller Bestimmtheit, daß Hermann, nachdem er gegen sieben Uhr abends fortgegangen, bis elf Uhr, zu welcher Zeit ich fortging, nicht wiedergekommen war. — Die vernommenen Geschwister des Hermann Josephsohn blieben bei ihren Behauptungen; eine Gegenüberstellung mit der Zeugin Reimann führte zu keinem Ergebnis. — Am zweiten Verhandlungstage wurde zunächst in eingehender Weise über den Aufenthalt des Hermann Josephsohn am Abende des 21. Juli 1884 verhandelt. Simon Josephsohn: Er sei am 21. Januar 1884 abends zu Przybilski gegangen. Einige Zeit darauf sei auch sein Bruder Hermann gekommen. Gegen halb neun Uhr sei er mit seinem Bruder Hermann nach Hause gegangen und habe auf dem Wege einen Handlungsgehilfen, namens Kramer, und einen gewissen Guericke getroffen. Als sie nach Hause kamen, waren, außer den Familiengliedern, noch Frau Reimann und die unverehelichte Koschiella anwesend. — Handelsmann Bernhard Josephsohn (Vater des Vorzeugen): Sein Sohn Hermann trinke bisweilen einen Schnaps, wie es das Geschäft so mit sich bringe, im übrigen sei er ein sehr ordentlicher Mensch. Im weiteren bestätigte der Zeuge bezüglich der Vorgänge am Abende des 21. Januar die Bekundungen seiner Söhne. — Vors.: Wenn nun behauptet wird, daß Ihr Sohn Hermann den Cybulla ermordet hat, was sagen Sie dazu? — Zeuge: Gott bewahre, das kann nicht sein. — Frau Josephsohn (Gattin des Vorzeugen): Ihr Sohn Hermann trinke bisweilen einen Schnaps, im übrigen sei er guten Charakters. Im weiteren bestätigte die Zeugin die Bekundungen der Vorzeugen. Dasselbe taten die beiden Schwestern des Josephsohn. — Bilderhändler Stanislaus Przybilski: Am 21. Januar 1884 abends waren Hermann und Simon Josephsohn etwa von sieben bis acht Uhr bei ihm. Zunächst ging Simon, etwa 15 Minuten später auch Hermann fort. Gegen zwölf Uhr nachts sei er zu Josephsohn gegangen, um sich ein Pferd zu leihen. Hermann Josephsohn habe angekleidet auf dem Bett gelegen. Er habe eine schlimme Hand gehabt; er (Zeuge) wisse aber nicht, ob Hermann Josephsohn diese schlimme Hand schon vor dem Morde gehabt. — Handlungsgehilfe Kramer: Am Abend des 21. Januar 1884, etwa gegen zehn Uhr, sei er dem Hermann Josephsohn begegnet. Letzterer kam augenscheinlich von Hause. Hermann Josephsohn gab zu, dem Kramer an jenem Abende begegnet zu sein, allein er sei nicht von Hause gekommen, sondern nach Hause gegangen. — Konditor Gehricke: Er sei an dem in Rede stehenden Abende, etwa gegen zehn Uhr, zunächst dem Simon, etwa dreihundert Schritt weiter auch dem Hermann Josephsohn begegnet. — Franziska Koschiella: Sie sei am 21. Januar 1884 abends zweimal bei Josephsohn gewesen, zu welcher Zeit, wisse sie nicht. Das zweitemal sei sie gekommen, als die Familie Josephsohn Abendbrot aß. Ob Hermann Josephsohn anwesend gewesen, wisse sie nicht. — Minna Koschiella: Sie sei am fraglichen Abende zwischen sechs und sieben Uhr bei Josephsohn gewesen und habe Hermann zu Hause getroffen. Am folgenden Morgen gegen halb sieben Uhr sei sie wieder zu Josephsohn gekommen und habe Hermann schlafend, aber angekleidet auf einem Strohsack liegen sehen. — Bilderhändler Wesotzki: Am 21. Janunar 1884, nachts gegen zwölf Uhr, sei er in Gemeinschaft mit Przybilski bei Josephsohn gewesen, um sich ein Pferd zu leihen. Hermann Josephsohn habe angekleidet auf der Erde gelegen und geschlafen; etwas Auffälliges habe er nicht wahrgenommen. Es wurde nunmehr nochmals Frau Reimann vernommen. — Vors.: Ich habe Sie gestern schon gefragt, ob am 21. Januar 1884, abends, Hermann Josephsohn zu Hause gewesen ist. — Zeugin: Ich habe ihn nicht gesehen. — Vors.: Damit kommen wir nicht weiter. Frau Reimann, Sie gehören doch den gebildeten Ständen an, halten Sie doch auseinander, hätten Sie den Hermann Josephsohn sehen müssen, oder sind Sie der Meinung: Sie haben ihn nicht gesehen, er kann aber doch zu Hause gewesen sein? — Zeugin: Er ist nicht zu Hause gewesen, ich hätte ihn sehen müssen. — Bilderhändler Wladislaus Przybilski: Etwa einen Tag nach dem Morde sei er bei Josephsohn gewesen. Hermann Josephsohn habe den Kopf in die Hand gestützt und nachdenkend dagesessen. Da habe Simon Josephsohn zu ihm gesagt: Weshalb bist du denn so traurig? Hermann habe erwidert: Ich habe Kummer. Gleich darauf habe Simon ihm ein Messer gezeigt und gesagt: Siehst du, mit diesem Messer ist Cybulla geschlachtet worden. Ob vorher von dem Morde die Rede gewesen sei, wisse er nicht. Er wisse wohl, daß man die Juden des Mordes bezichtigte, daß man aber speziell Hermann Josephsohn in Verdacht hatte, habe er nicht gewußt. Er wisse nicht, ob Simon die bekundeten Worte im Scherz oder Ernst gesagt habe. — Simon Josephsohn: Er habe dem Zeugen ein altes Messer, das zum Abkratzen der Stiefel gebraucht wurde, gezeigt und gesagt: Mit einem solchen Messer wird wohl der Knabe geschlachtet worden sein. — Przybilski: Simon hat genau gesagt: Mit diesem Messer ist der Knabe geschlachtet worden; der alte Josephsohn hat dieser Redensart wegen Simon zur Rede gestellt und ihm das Messer fortgenommen. — Simon und Josephsohn (Vater) stellten die letztere Bekundung entschieden in Abrede; Josephsohn (Vater) sei bei jenem Vorgange gar nicht zugegen gewesen. — Der Vorsitzende teilte mit: das betreffende Messer liege bei den Akten; es sei untersucht worden, ob an ihm Blutflecken vorhanden seien. — Hermann Josephsohn beteuerte wiederholt: Er sei am 18. Januar in Gemeinschaft seines Vaters und des Kaufmanns Roth jun. von Pr. Stargard nach Skurcz gefahren und unterwegs vom Wagen gefallen. Er habe sich dadurch derartig die linke Hand verletzt, daß sie stark blutete. Ganz besonders habe er sich den Daumen verletzt. Er sei unterwegs in einem Wirtshaus eingekehrt und habe sich von dessen Besitzerin, Frau v. Calbe, etwas zur Blutstillung geben lassen. — Frau v. Calbe bestätigte das. Sie erinnere sich aber nicht speziell, ob auch der Daumen verletzt gewesen, die Möglichkeit gebe sie zu. — Frau Reimann: Am Sonnabend vor dem Morde habe sie bemerkt, daß Hermann Josephsohn eine schlimme Hand gehabt, Letzterer erzählte, er sei vom Wagen gefallen. — Vors.: War der Daumen auch verletzt? — Zeugin: Nein, bloß die sogenannte Maus der linken Hand. — Vors.: Bei dem Untersuchungsrichter haben Sie ganz bestimmt gesagt: der Daumen von der unteren Seite war verletzt. — Zeugin: Ich erinnere mich nicht, daß auch der Daumen verletzt war. — Dr. med. Lindenau (Skurcz): Ich habe einige Zeit nach dem Morde die Hand des Hermann Josephsohn untersucht; mir schien die Art der Verletzung, wie er sie angegeben, nicht plausibel, vielmehr hielt ich die Verletzung durch Einwirkung von Schneidezähnen verursacht. — Vors.: Die letztere Ursache hielten Sie für wahrscheinlicher? — Sachverständiger: Für wahrscheinlich halte ich gar nichts. Ich muß bemerken, wenn man in Betracht zog, daß Hermann Josephsohn unter dem Verdacht des Cybullaschen Mordes stand, man sehr wohl annehmen konnte, Hermann Josephsohn habe von hinten jemandem den Mund zuhalten wollen und sei dabei von dem Überfallenen mit den Schneidezähnen gebissen worden. Ausgeschlossen ist jedoch nicht, daß die Verletzung durch den Fall vom Wagen entstanden ist. — Sanitätsrat Dr. Merner (Pr. Stargard): Die Möglichkeit, daß die Verletzung des Daumens durch einen Biß verursacht worden, ist nicht ausgeschlossen; daß der Biß aber von dem ermordeten Cybulla, der einen vollen Unterkiefer gehabt, herrührt, ist nicht gut denkbar. Die Verletzung kann sehr wohl durch den Fall vom Wagen verursacht sein. Ich habe die Leiche des ermordeten Cybulla obduziert. Der Kopf, der Hals und die Finger des Ermordeten waren arg verletzt und derartig zerkratzt, daß der Ermordete mit seinem Mörder zweifellos furchtbar gekämpft hat. Fest steht, daß die erwähnten Verletzungen dem Ermordeten lebend beigebracht worden sind. Da nicht festgestellt ist, daß der Ermordete vor dem Morde derartige Verletzungen sich zugezogen hat, so ist anzunehmen, daß sie ihm im Ringen mit seinem Mörder beigebracht worden sind. Zweitens zeigten sich auf der Kopfhaut sieben tiefe unregelmäßige Einschnitte. Der ganze Kopf war derartig mit Blut unterlaufen, daß der Mörder in furchtbarer Weise sein Opfer bearbeitet haben muß. Cybulla muß auch, nach den Verletzungen zu schliessen, sehr schnell gestorben, zum mindesten sehr bald bewußtlos geworden sein. Außerdem war dem Knaben der Hals bis auf die Wirbelsäule durchschnitten, und zwar in höchst kunstfertiger Weise. Eigentümlich war auch auf dem rechten Oberarm eine klaffende Wunde sichtbar. Wenn man jemanden töten will, dann verwundet man ihn gewöhnlich nicht am Arme. Diese Armverwundung ist um so merkwürdiger, als sie auch glatträndrig und in höchst kunstfertiger Weise ausgeführt war. Ich muß bemerken, daß nur der Rumpf und die beiden Unterschenkel aufgefunden wurden. Die Oberschenkel waren derartig kunstgemäß ausgelöst, daß dazu eine große Übung gehörte. Ebenso war der linke Unterschenkel höchst kunstfertig abgetrennt, ungeschickt war dagegen der rechte Unterschenkel abgeschnitten. Außerdem war merkwürdigerweise dem Ermordeten der Bauch aufgeschlitz. Vom Bauchaufschlitzen stirbt man aber unter Umständen erst nach mehreren Tagen. Ich nehme jedoch an, daß sowohl das Bauchaufschlitzen, als auch die Verwundung am Arm erst nach erfolgten Ableben des Ermordeten geschehen ist. Mein Gutachten geht also dahin: 1. Es muß ein harter Kampf zwischen dem Mörder und dem Ermordeten stattgefunden haben; 2. der Ermordete muß derartig am Kopfe traktiert worden sein, daß er nach wenigen Minuten die Besinnung verloren hat; 3. der Tod ist durch Aufschneiden des Halses, und zwar durch Verblutung erfolgt; 4. die ganze Operation muß mit einem langen, scharfen Messer ausgeführt sein. Ich habe schon gesagt: die Verwundung am Arm und die Bauchaufschlitzung ist mir ganz unerklärlich. Erklärlicher dagegen ist mir, daß der Mörder dem Ermordeten die Oberschenkel abgeschnitten hat; der Ermordete war ein sehr hochaufgeschossener Knabe, der Mörder hat also jedenfalls die Oberschenkel abgeschnitten, um das ermordete Opfer besser verbergen zu können. — Vors.: Sie haben schon gesagt, die ganze Operation war eine solche, daß sie so mancher Arzt nicht ausführen kann; wäre es möglich, daß ein Fleischer die Operation ausgeführt hat? — Sachverständiger: Möglich ist das wohl. — Vors.: Wie lange kann die ganze Operation gedauert haben ? — Sachverständiger: Etwa zwanzig Minuten. — Vors.: Ist es möglich, daß die Operation im Freien und in dunkler Nacht geschehen ist? — Sachverständiger: Jawohl. — Vors.: Ein Lustmord ist ausgeschlossen? — Sachverständiger: Wir haben in dieser Beziehung sehr genaue Untersuchungen angestellt, aber nicht den geringsten Anhalt dafür gewonnen. — Vors.: Nun, Angeklagter, Sie sind dem Gutachten des Herrn Sanitätsrats sehr genau gefolgt, sind Sie vielleicht der Mörder gewesen? — Angekl.: Nein. — Vors.: Ist Ihr Gewissen auch in der Tat rein? — Angekl.: Jawohl. — Vors.: Sie haben gehört, daß ein solcher Mord von einem Fleischer verübt sein kann? — Angekl.: Aber ich bin es nicht gewesen. — Vors.: Wären Sie aber imstande, eine solche Operation auszuführen? — Angekl.: Nein, das könnte ich gar nicht, dazu bin ich schon gar nicht geboren. — Vors.: Geboren brauchen Sie dazu nicht zu sein, Sie können sich aber eine solche Fertigkeit angeeignet haben. — Angekl.: Nein, das kann ich nicht. — Dr. med. Mazurka (Pr. Stargardt), der dem ersten Sachverständigen bei der Obduktion der ermordeten Leiche assistiertt hatte, schloß sich dem erstatteten Gutachten vollständig an. Er sei der Meinung, daß die Operation auch länger als 20 Minuten gedauert haben könne. — Verteidiger: Kann den Mord ein einzelner Mensch vollführt haben, oder ist anzunehmen, daß zwei Menschen dabei tätig gewesen sind? — Sachverständiger: Die Möglichkeit, daß zwei Menschen den Mord vollführt haben, ist nicht ausgeschlossen, es kann ihn aber auch sehr gut ein einzelner begangen haben. — Gerichtlicher Chemiker Dr. Bischoff (Berlin): Von dem Amtsvorsteher zu Skurcz und dem Untersuchungsrichter zu Pr. Stargardt seien ihm einige Flaschen mit rötlicher Flüssigkeit und verschiedene Kleidungsstücke, Säcke, Pferdedecken zur Untersuchung geschickt worden. In den Flaschen sei oxydierter Essig enthalten gewesen. Auf den Säcken haben sich wohl zumeist Blutflecken, die aber alle von Tierblut herrührten, befunden. Auf einem (der Frau Boß gehörenden) Kleide habe er Blutflecken, die von Menschenblut herrühren, entdeckt, diese seien aber augenscheinlich dadurch entstanden, daß sich die Trägerin des Kleides mit einer Nähnadel am Finger verletzt hatte. Auf einem (dem Hermann Josephsohn gehörenden) Tuchjackett habe er am Ende des Ärmels Blutflecken von Menschenblut herrührend, gefunden; diese waren augenscheinlich durch das Bluten des Fingers entstanden. — Frau Josephsohn gab zu, daß sie sich einmal sehr mißbilligend geäußert, weil der ermordete Cybulla ihr alle Ziegenfelle wegkaufte. Gedroht habe sie ihm nicht. Eine Anzahl Zeugen bestätigten das, bekundeten jedoch: Frau Josephsohn habe einmal gesagt: Sie werde es dem Cybulla schon besorgen. Ähnlich habe sich auch Simon Josephsohn einmal geäußert. Er habe den Ermordeten, der kein Gewerbe hatte, wegen Gewerbekontravention denunzieren wollen. — Fräulein Berta Josephsohn: Sie habe sich einmal mit dem Schuhmacher Lange über den Mord unterhalten. Bei dieser Gelegenheit habe Lange zu ihr gesagt: der Jude mit den roten Augen, der dort am Wasser wohnt, ist der Mörder. Wen Lange damit meinte, wisse sie nicht. — Schuhmacher Lange: Berta Josephsohn klagte mir einmal, daß ihr Bruder Hermann schon seit so langer Zeit verhaftet sei. Darauf antwortete ich: Hermann wird es wohl auch gewesen sein. — Vors.: Wie kamen Sie zu dieser Äußerung? — Zeuge: Ein Junge hat einmal erzählt: Am 22. Januar 1884 früh sei er drei Juden begegnet, die den ermordeten Cybulla getragen haben. Er habe außerdem gehört: der Jude mit den roten Augen, der am Wasser wohnt, habe eine Flasche; wenn man aus dieser nur zwei Schluck trinkt, dann muß man sterben. — Vors.: Derartige Räubergeschichten werden noch mehr vorkommen. (Heiterkeit.) — Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden, Berta Josephson habe zu ihm gesagt: Wenn Hermann den Mord begangen hat, dann hat er es jedenfalls nicht umsonst getan. — Berta Josephson bestritt entschieden, die letzterwähnte Äußerung getan zu haben. — Bäckermeister Schablewski: Ich habe kurz nach dem Morde mit Hermann Josephsohn über den Mord gesprochen und dabei geäußert: Du wirst wohl auch dabeigewesen sein. Hermann antwortete: Ich bin nicht dabei gewesen, ich weiß aber, wo der Mord passiert ist. — Vors.: Sagte er Ihnen nun, wo der Mord passiert ist? — Zeuge: Ja, hinter Gappa soll er passiert sein. — Vors.: Wußten Sie damals, daß sich der Verdacht der Täterschaft auf Josephsohn lenkte? — Zeuge: Nein. — Vors.: Wie kamen Sie dazu, einen unbescholtenen Menschen ohne weiteres und ohne jeden Anhaltspunkt eines solch schweren Verbrechens zu beschuldigen? — Zeuge: Ich war mit Josephsohn befreundet. — Vors.: Schöne Freundschaft das. (Heiterkeit.) — Im weiteren bekundete der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Josephsohn (Vater) nebst Frau seien eines Abends spät bei dem Thiessenschen Gasthof vorübergegangen. Da habe die Frau gesagt: „Wenn Hermann sich nur nicht ‚ausgeben‘ wollte." „Red’ nicht," habe der Mann eingewendet, „er wird sich nicht ausgeben, sondern sehr bald freikommen." — Josephsohn sen. nebst Frau bezeichneten diese Bekundung als unwahr. Dasselbe tat Hermann Josephsohn bezüglich der vorherigen Bekundungen des Schablewski. — Frau Kommissionär Hoffmann: Hermann Josephsohn habe einmal geäußert: den Onophrius Cybulla solle der Teufel holen. Im weiteren habe Hermann Josephsohn ihr einmal unsittliche Anträge gemacht und durchblicken lassen, als sollte sie oder wollte er ihren Mann beiseite schaffen. Sie habe ferner einmal gesehen, wie Hermann Josephsohn in sehr roher Weise ein Pferd geschlachtet und abgeledert habe, Hermann Josephsohn bestritt das. — Am dritten Verhandlungstage bekundete Dienstmädchen Czechelowska: Am 21. Januar 1884 sei sie auf einer Hochzeit gewesen und von dieser erst am folgenden Morgen gegen 5 Uhr zurückgekehrt. Gegen 61/, Uhr sei sie zur Mietsfrau gegangen und habe unterwegs den Briefträger Stürmer getroffen. In dessen Gesellschaft sei sie die nach Czerwinsk führende Chaussee entlang gegangen. In der Nähe der Wiese, unter deren Brücke die Leiche des Cybulla gefunden wurde, sei sie einem mittelgroßen starken Manne begegnet, den sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Es habe ihr geschienen, als hätte der Mann hohe Stiefeln angehabt und wäre mit einem grauen Pelz bekleidet gewesen. Die Hosen waren in die Stiefeln gesteckt. Der Mann habe eine Mütze getragen, von welcher Beschaffenheit die Mütze gewesen sei, wisse sie nicht. Das Gesicht des Mannes habe sie nicht sehen können, da er mit dem Kopfe gebückt ging, denn er habe auf dem Rücken etwas in einem Laken getragen. Was in dem Laken enthalten gewesen, wisse sie nicht; sie habe den Briefträger gefragt: was mag wohl der Mann dort schleppen? Der Briefträger habe geantwortet: Laß ihn schleppen, was er wolle. Der Mann sei größer als Hermann Josephsohn gewesen, dagegen habe er dem Behrendt an Figur geglichen. — Vors.: Bei der Vernehmung vor dem Amtsvorsteher Ernst haben Sie gesagt: es kann Hermann Josephsohn gewesen sein. — Zeugin: Damals habe ich das geglaubt, jetzt, nachdem ich mir Josephsohn genau angesehen, behaupte ich: Er ist es nicht gewesen. — Vors.: Zu dem Briefträger Stürmer haben Sie gesagt, Sie hätten mit Bestimmtheit sofort Hermann Josephsohn erkannt. — Zeugin: Das habe ich nicht gesagt. Am Nachmittage, nachdem der Mord allgemein im Dorfe bekannt wurde, habe ich meine Wahrnehmung der Gastwirtin Lau erzählt und gesagt: Es ist möglich, daß es Hermann Josephsohn gewesen ist. Als ich mir jedoch letzteren und Behrendt genau angesehen, bin ich zu der Meinung gelangt, daß es nicht Josephsohn, dagegen eher Behrendt gewesen sein könnte. Der Vorsitzende ließ die Zeugin hinaustreten, den Angeklagten in ein Nebenzimmer führen und rief Hermann Josephsohn in den Saal, der sich den grauen Kniepelz und die Stiefel, die er damals angehabt, anziehen und die Mütze, die er damals getragen, aufsetzen mußte. Alsdann wurde die Zeugin in den Saal gerufen. — Zeugin: So stark und groß kann wohl der Mann gewesen sein, wiedererkennen kann ich ihn nicht. Der Vorsitzende befahl, daß Behrendt neben Josephsohn trete. Es ergab sich, daß beide gleich groß waren, nur die Schultern des Behrendt waren etwas höher als die des Josephsohn, infolgedessen sah Behrendt größer aus. — Verteidiger Rechtsanwalt Thurau: Ich muß feststellen, daß Josephsohn stärker als Behrendt ist. — Staatsanwalt: Ich kann den Beweis führen, daß Behrendt in der nunmehr fast einjährigen Untersuchungshaft magerer geworden ist. — Vert.: Es geht mir soeben ein Brief von einem Arbeiter Grzona aus Kantschenken bei Skurcz zu. In diesem teilt mir Grzona mit: Er habe mit Mankowski zusammen gearbeitet. Letzterer habe einmal von seiner Mutter einen Brief erhalten, den er ihm vorlesen mußte. In diesem schrieb die Mutter: „Sage nur im Termine genau so, wie wir uns besprochen; Josephsohn läßt grüßen." (Bewegung im Zuhörerraum.) Ich beantrage, den Grzona als Zeugen zu laden. — Der Gerichtshof entsprach diesem Antrage. Briefträger Stürmer bestätigte die Bekundungen der Vorzeugin; den Mann, dem er in Gesellschaft mit der Czechelowska begegnet, habe er sich aber gar nicht angesehen, er könne daher auch nicht annähernd eine Beschreibung davon geben. Hermann Josephsohn habe ihn einige Tage später mit Zigarren und Schnaps traktieren wollen, er habe jedoch nur eine Zigarre angenommen. Etwas Auffälliges habe er in dieser Handlungsweise des Josephsohn nicht erblickt, denn es sei nichts Seltenes, daß ihm in seiner Eigenschaft als Briefträger Zigarren und Schnaps angeboten werden. — Amtsvorsteher Ernst: Der Zeuge Stürmer habe ihm, als er ihn vernommen, gesagt: es sei ihm aufgefallen, daß Hermann Josephsohn ihn habe traktieren wollen. — Konditor Gehricke: Vor etwa 4 Jahren habe Behrendt gegen eine unverehelichte Flischeck ein unsittliches Attentat verüben wollen; einige Zeit darauf sei Behrendt nach Amerika gegangen. — Staatsanwalt: Ich muß bemerken, daß der Zeuge sich der Beihilfe an der versuchten Notzucht schuldig gemacht hat; die Aussage dieses Zeugen wird daher mit größter Vorsicht aufzunehmen sein. Amtsvorsteher Ernst, dem von dem Mädchen wegen der versuchten Notzucht Anzeige gemacht worden, hat es nicht für nötig erachtet, der zuständigen Staatsanwaltschaft davon Anzeige zu machen, da Behrendt inzwischen nach Amerika gegangen war. Das betreffende Protokoll ist bei den Akten des Amtsvorstehers Ernst liegen geblieben und erst wieder zum Vorschein gekommen, als die gegenwärtige Untersuchung gegen Behrendt eingeleitet wurde. Das Verfahren ist jedoch niedergeschlagen worden, da inzwischen die Flischeck nach Amerika ausgewandert war. — Amtsvorsteher Ernst bestätigte die Ausführungen des Staatsanwalts. — Fleischermeister Soletzki (Skurcz): Ich habe des Brotneides wegen unaufhörlich mit Behrendt in Feindschaft gelebt und deshalb wechselseitige Beleidigungsklagen mit ihm gehabt. Bei einem Streite hat der Bruder des Behrendt das Messer gezogen. Behrendt sagte: „Stich doch zu!“ In einem Kruge, wo wir einmal zusammentrafen, hat Behrendt gedroht, mir die Kaldaunen aufzuschlitzen. Über den Mord selbst oder über das Verhältnis des Angeklagten zu dem Ermordeten kann ich nichts bekunden. Der Ermordete hat mit Ziegenfellen gehandel. — Frau Ribinska: Behrendt habe ihr einmal ein amerikanisches Messer gezeigt und dabei mit den Worten auf den Tisch geschlagen: „Mit diesem Messer wäre ich imstande, einen Menschen von oben nach unten aufzuschlitzen und das Blut wie Wasser zu trinken; eine solche Natur habe ich." — Der Angeklagte bestritt entschieden diesen Vorgang; er habe mit der Familie Ribinskas viele Prozesse geführt, die sämtlich zu seinen Gunsten ausfielen. Aus diesem Grunde haben ihm die Rinbinskis Rache geschworen. — Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte die Zeugin: Als ich eines Tages vom Termine aus Pr. Stargard kam, ging ich zu Josephsohn. Ich sagte: wie lange mag sich wohl der arme Cybulla gequält haben? Vier Stunden hat Cybulla noch gelebt, sagte Friederike Josephsohn, er hat einen Knäuel Wolle im Munde gehabt. Die Josephsohn sagte noch: die Sache wird schon noch herauskommen; letzteres hat auch eine Kartenlegerin behauptet. — Frau Knopf: Die Ribinska habe ihr zurzeit die bekundete Redensart des Behrendt erzählt. — Frau Papke: Im Jahre 1883 hat Behrendt bei mir einmal drei Schweine geschlachtet. Ich äußerte meine Bewunderung, daß er eine solch große Fertigkeit im Abschlachten der Schweine habe; ich könnte überhaupt kein Tier schlachten, bemerkte ich. Behrendt erwiderte: Sie sind ein Weib, wenn Sie mir befehlen, Ihre Kinder zu schlachten, dann tue ich es mit derselben Geschwindigkeit. Ob diese Äußerung im Scherz geschehen ist, weiß ich nicht. — Angekl.: Diese Äußerung habe ich jedenfalls nicht getan ; möglich ist es schon, daß ein ähnliches Gespräch geführt wurde und die Frau gefragt hat: Könnten Sie auch Menschen schlachten ? — Vors.: Daß eine solche Äußerung eine Frau tun wird, bezweifle ich. — Handlungsgehilfe Elblum: Ich habe im Thiessenschen Gastlokale konditioniert. Behrendt war im nüchternen Zustande ein sehr ruhiger Mensch, in trunkenem Zustande dagegen ein großer Krakehler. Da er in unserm Lokale einmal großen Lärm machte, wies ich ihn zur Ruhe; infolgedessen versetzte er mir einen heftigen Schlag ins Auge. Behrendt hat einmal in unserm Lokale Spielkarten an die Umsitzenden verteilt und gesagt: Nun wollen wir einmal „dawnen‘ (jüdisch beten). — Amtsdiener Glietschke: Gastwirt Gappa habe ihm einmal erzählt: Behrendt habe ihn eines Tages niedergeschlagen und den Versuch gemacht, ihn zu berauben ; letzteres sei ihm jedoch nicht gelungen. Schon lange vor dem Morde seien in Skurcz antisemitische Schriften verbreitet worden, wer sie besessen, wisse er jedoch nicht. Der Vorsitzende forderte nun den Angeklagten auf, noch einmal genau zu sagen, wo er sich am 21. Januar 1884 aufgehalten habe. Der Angeklagte erzählte wie am ersten Verhandlungstage. Am Abend sei er zuletzt in dem Gastlokal von Stentzel in Skurcz gewesen; schon als er dort hinkam, hatte er so viel getrunken, daß er gar nicht wisse, wie er nach Hause gekommen sei. Am 22. Januar des Morgens, etwa gegen 6½ Uhr, es war schon Tag, sei er zu dem jüdischen Schächter Blumenheim gegangen, um diesen zu ersuchen, ihm ein am Tage vorher gekauftes Rind „koscher" zu schlachten; Blumenheim sei jedoch verreist gewesen. — Der Vorsitzende stellte fest, daß Blumenheim am äußersten Ende des Dorfes, und zwar auf dem Wege nach Pr. Stargardt, entgegengesetzt von dem Fundort des Ermordeten, gewohnt habe. — Vors.: Sie wissen, daß eine Zeugin hier bekundet hat, sie habe am 22. Januar des Morgens einen Mann, der Ihnen an Figur gleicht, in der Nähe des Fundorts gesehen; ein anderer Zeuge behauptet, daß er sie mit einem Sack auf dem Rücken auf jenem Wege getroffen habe. — Angekl.: Das ist alles Lüge. — Fleischermeister Daniel (Mirotke): Am 21. Januar 1884 nachmittags war ich mit dem Angeklagten in Mirotke zusammen, um mit ihm gemeinschaftlich ein Rind zu kaufen. Wir haben viel, wohl zwölf Liter Braunbier mit Rum getrunken. Als wir uns gegen 4 Uhr nachmittags trennten, war Behrendt keineswegs betrunken. Wie ich später hörte, ist Behrendt alsdann in das Gasthaus zu Nötzel gegangen und hat dort drei Glas Rum getrunken. — Gastwirt Nötzel (Mirotke): Am. 21. Januar gegen Mittag sei der Angeklagte mit seinem Schwiegervater Czarnicki angefahren gekommen. Nachdem er sich einige Zeit in meiner Gaststube aufgehalten, ist er fortgegangen und etwa gegen 4 Uhr nachmittags wiedergekommen. Er hat längere Zeit mit Czarnicki bei mir gegessen und ist etwa gegen 7 Uhr mit diesem nach Skurcz gefahren. Betrunken ist Behrendt an jenem Abende nicht gewesen. — Angekl. Ich bin doch betrunken gewesen. — Zeuge: Der Angeklagte hat mit mir längere Zeit sehr vernünftig gesprochen, ich weiß ganz genau, daß er nicht betrunken war. — Auf Befragen des Vorsitzenden sagte der Zeuge noch: Gleich nachdem Behrendt verhaftet worden, kam dessen Bruder zu mir und sagte: Na, Nötzel, Sie müssen doch auch wissen, daß mein Bruder an jenem Montag abend total betrunken gewesen ist? Ich antwortete: Ich weiß sehr genau, daß Ihr Bruder nicht betrunken war. — Angekl.: Ich bleibe dabei, daß ich an jenem Abende total betrunken war, andere Zeugen werden dies bestätigen. — Altsitzer Czarnicki (Stiefvater der Ehefrau des Angeklagten) bestätigte die Angaben des Daniel. Der Angeklagte sei so betrunken gewesen, daß er, als sie nach Skurcz fuhren, ihm die Leine abnahm, da er befürchtete, Behrendt werde infolge seiner großen Trunkenheit vom Wagen fallen. Gegen 8 Uhr abends seien sie nach Skurcz gekommen; Behrendt sei in das Stenzelsche Gasthaus gegangen, während er Pferd und Wagen nach Hause gebracht habe. Sehr bald sei auch Behrendt nach Hause gekommen, worauf sie sich sämtlich schlafen legten. Am folgenden Morgen seien sie etwa gegen 7 Uhr aufgestanden; Behrendt sei sehr bald zu dem Schächter Blumenheim gegangen. — Nötzel behauptete wiederholt, daß Behrendt nicht angetrunken gewesen; er habe sich sogar, als er fortfuhr, noch eine Laterne von ihm geliehen. — Der Zeuge Czarnicki bekundete ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Wenn Behrendt in jener Nacht die Wohnung verlassen hätte, dann würde er (Zeuge) dies gehört haben, denn er habe einen 'sehr leisen Schlaf. — Gastwirt Stenzel (Skurcz): Als Behrendt am 21. Januar 1884 abends zu mir kam, war er betrunken, meiner Meinung nach aber nicht sinnlos, denn er erzählte ganz genau, wo er gewesen und wieviel er getrunken hatte. Er hielt sich an jenem Abend nur etwa zehn Minuten bei mir auf, ohne etwas zu verzehren. — Vors.: Es ist von einem der Herren Geschworenen in Anregung gebracht worden, einen praktischen Fleischermeister zu fragen, ob ein Fleischer imstande sei, eine Operation, wie sie an dem Ermordeten vorgenommen worden, auszuführen. — Staatsanwalt: Ich billige diese Anregung und beantrage, den Fleischermeister Annacker von hier, ferner nochmals den Sanitätsrat Dr. Merner (Pr. Stargardt) und den Departements-Tierarzt Dr. Hertel von hier zu laden. — Der Gerichtshof beschloß dem Antrage entsprechend. — Schneider Karau: Behrendt ist mit dem Onkel des Ermordeten, dem Fleischer Cybulla, verfeindet gewesen. — Frau Knopf: Ich bin einmal bei Frau Behrendt gewesen, um von ihr Fleisch zu kaufen. Da sagte Frau Behrendt: Was meinen Sie, Frau Knopf, jetzt wollen sie den Cybullaschen Mord meinem Manne aufhalsen, obwohl er schon um 9 Uhr abends zu Hause und total betrunken war. Einige Zeit darauf begegnete ich der Schwägerin des Angeklagten, der Frau Michael Behrendt. Diese sagte: Meine Schwägerin weiß ja selbst nicht, wann ihr Mann nach Hause gekommen ist. — Die Ehefrau des Angeklagten bekundete: Sie habe sehr geschimpft, als ihr Mann am Abende vor dem Morde erst gegen 9 Uhr abends und total betrunken nach Hause kam. Im weiteren bestätigte die Zeugin die Behauptungen ihres Mannes. — Frau Brendel bejahte auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie mit Behrendt verfeindet sei, sie werde aber die Wahrheit sagen. Sie habe eines Abends gehört, wie die Tochter des Angeklagten zu ihrer Mutter sagte: Mutter, weshalb weinst du, Essen bekommst du ja vom Onkel. Frau Behrendt erwiderte: Was habe ich vom Essen? Als eine Weile darauf das Kind wieder sagte: Mutter, weine doch nicht; wenn du Geld brauchst, dann hast du ja nur nötig, zum Priester zu gehen, dann bekommst du ja wieder Geld, erwiderte Frau Behrend: Ja, das Geld hat mich und den Vater ins Unglück gebracht. Der Onkel weiß ebensogut alles wie der Vater, aber jetzt sitzt er zu Hause und lacht uns aus. Sie (Zeugin) habe zunächst nicht gewußt, was diese Äußerung für eine Bedeutung habe. — Vors.: Sie hielten es aber für wichtig genug, um das Gespräch zur Anzeige zu bringen? — Zeugin: Ich habe nichts angezeigt; ich habe das Gespräch der Frau Knopf erzählt, diese wird es wohl angezeigt haben. — Vert.: Weiß die Zeugin, daß in Skurcz das Gerücht verbreitet war: der katholische Geistliche Kiepert zu Skurcz und dessen Bruder, ein Rentier, haben dem Behrendt Geld gegeben, um den Cybulla zu schlachten und das Verbrechen den Juden in die Schuhe zu schieben? — Zeugin: Davon weiß ich nichts. — Angekl.: Ich habe gegen den Gatten der Zeugin einen Prozeß gewonnen, seit dieser Zeit hat letzterer einen großen Haß gegen mich. — Vors.: Der Angeklagte ist am 10. Mai 1884 verhaftet worden, und die Äußerung will die Zeugin am 22. Oktober 1884 gehört haben; wenn sie einen Haß gegen den Angeklagten gehabt hat, dann hätte sie schon früher diesem Haß Ausdruck geben können. — Arbeiter Mankowski, ein zwanzigjähriger Mensch, war ebenfalls, wie die meisten anderen Zeugen, nur der polnischen Sprache mächtig, es mußte deshalb auch mit diesem mittels Dolmetschers verhandelt werden. Er bekundete: Ich kenne Behrendt schon seit langer Zeit von Sehen, gesprochen habe ich niemals mit ihm. Am 22. Januar 1884 hatte ich in Pr. Stargardt Termin. Ich ging deshalb schon frühzeitig von meinem Heimatsdorfe Czerwinsk weg. In Skurcz vor dem Thiessenschen Gasthof, es war kurz nach 6 Uhr, traf ich einen ziemlich großen, starken Mann mit grauem Rock und starkem Schnurrbart. Der Mann trug einen Sack auf dem Rücken und ging den Weg nach Czerwinsk zu. Es war noch etwas dunkel, ich konnte deshalb nicht genau erkennen, was der Sack enthielt; es schien mir jedoch, als hätte ein Kopf aus dem Sacke hervorgeschaut. Blut habe ich an dem Sacke nicht wahrgenommen. Es war mir so, als wäre der Träger des Sackes Behrendt gewesen, genau kann ich es nicht sagen. — Vors.: Wodurch kamen Sie darauf, zu glauben, daß der Mann Behrendt gewesen ist? — Zeuge: Ich glaubte, ihn an seiner Figur und an seinem Gange zu erkennen. — Vors.: Sind Sie jetzt auch noch der Meinung, daß es Behrendt gewesen ist? — Zeuge: Jawohl. — Vors.: Bestimmt wissen Sie es aber nicht? — Zeuge: Nein. — Vors.: Sie wurden erst am 31. Januar 1884 in Skurcz vernommen, dort haben Sie gesagt: Sie haben mit Bestimmtheit in dem Träger des Sackes Herman Josephsohn erkannt? — Zeuge: Ein gewisser Zilinski hat mir gesagt: ich solle nur sagen, daß es Hermann Josephsohn gewesen ist, denn das haben nur die Juden getan. — Vors.: Sie sind alsdann später in Pr. Stargardt vernommen worden, dort haben Sie wieder gesagt: es ist Hermann Josephsohn gewesen, dann sind Sie zum dritten Male von dem Berliner Kriminalkommissar Höft in Culmsee vernommen worden, und diesem haben Sie gesagt: Sie haben Behrendt mit voller Bestimmtheit als den Träger des Sackes erkannt. — Zeuge: Heute sage ich die Wahrheit, ich glaube, es ist Behrendt gewesen, bestimmt kann ich es aber nicht sagen. — Vors.: Hat vielleicht jemand versucht, auf Ihr Zeugnis Einfluß auszuüben? — Zeuge: Nein. — Vors.: Alsdann wurden Sie gerichtlich in Culmsee vernommen. Da haben Sie zunächst gesagt: Der Träger des Sackes ist Behrendt oder Hermann Josephsohn gewesen, genau weiß ich es nicht. Nach einer Pause sind Sie wieder vernommen worden, inzwischen sind Sie mit Zilinski zusammengekommen, und was hat dieser Ihnen gesagt? — Zeuge: Zilinski sagte zu mir, ich solle nur sagen, daß ich Hermann Josephsohn begegnet sei, dann würden die Juden vertrieben werden; nur die Juden könnten den Mord verübt haben. — Vors.: Und als Sie nach einer Pause nochmals vernommen wurden, sagten Sie: Hermann Josephsohn ist es gewesen. — Zeuge: Ich wußte in Culmsee auf dem Gericht schon gar nicht, was ich spreche, ich wurde durch das Anschreien ganz verrückt gemacht. Es wurde mir gesagt: ich komme ins Loch; außerdem sah ich Leute mit vielen Schlüsseln, deshalb bekam ich Angst; heute sage ich aber die Wahrheit. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bekundete der Zeuge: Am Nachmittage des 22. Januar 1884 sei er mit seiner Mutter im Walde gewesen; bei dieser Gelegenheit habe ihm diese von dem Morde Mitteilung gemacht; darauf habe er bemerkt: er habe am Morgen einen Mann mit einem Sacke gehen sehen, das könnte der Mörder gewesen sein. — Vors.: Sagten Sie Ihrer Mutter, wem Sie begegnet sind? — Zeuge: Nein. — Vors.: Ist jemand bei Ihrer Mutter gewesen, der gesagt hat, Sie sollen gegen die Juden aussagen? — Zeuge: Ja, der Beschreibung nach ist es Behrendt gewesen. — Vors.: Sie haben gesagt, der Mann trug eine Mütze, etwas ins Gesicht gedrückt? — Zeuge: Jawohl. — Der Vorsitzende zeigte dem Zeugen zunächst die Mütze des Angeklagten. Diese ist es nicht gewesen, sagte der Zeuge, denn die Mütze, die der Mann getragen, hatte einen Schirm. Als dem Zeugen nun die Mütze des Josephsohn gezeigt wurde, die einen Schirm hatte, sagte er: So kann die Mütze ausgesehen haben. — Altsitzer Grucha: Am Sonnabend nach dem Morde sei er mit Mankowski in Pr. Stargardt zusammengetroffen. Dort habe Mankowski ihm gesagt: der Mann mit dem Sacke, den er getroffen, sei Hermann Josephsohn gewesen. — Mankowski: Das habe ich allerdings gesagt, es wurde eben allgemein gesagt, die Juden haben den Mord begangen, deshalb nahm ich damals an: Hermann Josephsohn ist es gewesen; da alle sagten: sie sagen die Wahrheit, da sagte ich es auch. — Vors.: Sagen Sie denn heute die Wahrheit? — Zeuge: Ja, was ich heute sage, ist wahr. — Arbeiterfrau Mankowski (die Mutter des Vorzeugen): Ich weiß nicht mehr genau, wann ich meinem Sohne von dem Morde Mitteilung machte. Als ich ihm davon erzählte, sagte mein Sohn sofort: Ich bin an demselben Morgen einem Manne begegnet, den ich mit Bestimmtheit als den Behrendt erkannt habe. Dieser trug einen Sack auf dem Rücken, aus dem ein Kopf herausgeschaut hat, das wird wohl der Mörder sein. Einige Tage später ist ein Mann zu mir gekommen, der meinen Sohn sprechen wollte, ich erkenne in dem Mann mit Bestimmtheit den Angeklagten wieder. — Vors.: Auf dem Amtsgericht zu Culmsee wurde Ihnen Behrendt vorgeführt, da sagten Sie: Sie können den Mann nicht genau wieder erkennen. — Zeugin: Heute erkenne ich aber den Angeklagten mit Bestimmtheit wieder. — Vors.: Ich muß allerdings bemerken, daß die Zeugin auf dem Gericht zu Culmsee ohnmächtig wurde und vom Stuhle fiel. Ihre Aussage wurde deshalb auch bloß registriert. — Der Ehemann Mankowski hatte wohl von den Erzählungen seiner Frau etwas gehört, Genaues vermochte er aber nicht zu bekunden. — Auf Befragen des Verteidigers bekundete Oruscha: Mankowski habe ihm erzählt: der Mann mit dem Sacke habe sich die Hand vors Gesicht gehalten, anscheinend, um nicht erkannt zu werden. — Auf weiteres Befragen bekundeten Mankowski und Czechelowska übereinstimmend: Der Mann habe den Sack so getragen, daß er zwei Enden in den Händen hatte. — Am vierten Verhandlungstage erschien nochmals die Gattin des Angeklagten als Zeugin. Sie bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Wir haben zwei Kinder; Vermögen besitzen wir nicht. Mein Mann hatte zwei Anzüge; den Anzug, den er jetzt trägt, und noch einen anderen, ferner einen langen Überzieher, ein Paar graue Hosen, eine Pelzmütze und eine Seidenmütze, ein Paar Stiefeln, die er jetzt trägt, und ein Paar zerrissene, die auf dem Boden liegen. Säcke zum Fleischtragen haben wir nicht. — Fleischermeister Daniel: Er trage nur kurze Stiefel; Behrendt habe seines Wissens auch immer, auch am Tage vor dem Morde, das wisse er ganz genau, kurze Stiefel getragen. Vor etwa sechs Jahren habe Behrendt einmal lange Stiefel gehabt. Altsitzer Czarnicki beschrieb die Kleidung des Angeklagten ebenso wie Frau Behrendt, nur bemerkte er, daß Behrendt einen langen, grauen Pelz und zwei Paar Stiefel, ein Paar lange und ein Paar kurze, gehabt habe. Wenn er lange Stiefel anhatte, dann trug er die Hosen in die Stiefel gesteckt. Am Abende vor dem Morde habe der Angeklagte lange Stiefel getragen. — Alsdann wurde Kriminalkommissar HöftHöft (Berlin) vernommen: Ich wurde von dem Minister des Innern beauftragt, in der Skurczer Mordaffäre Recherchen anzustellen. Ich fuhr zunächst zur Staatsanwaltschaft nach Danzig; alsdann fuhr ich nach Pr. Stargardt und suchte mich dort aus den Akten zu orientieren. Hierauf fuhr ich nach Skurcz, um zunächst die Schuld von Josephsohn und Genossen festzustellen. Ich ermittelte, daß gegen letztere nichts weiter vorlag, als was in den Akten stand, ja, daß vieles davon übertrieben war. Ich erfuhr, daß der Verdacht sich auf Behrendt lenkte. Ich ermittelte, daß Behrendt nicht, wie er behauptete, an jenem Abend zu Hause, sondern bei Stenzel gewesen sei und daß er der erste gewesen, der aussprach: „Den Mord können nur die Juden begangen haben.“Vors.: Das waren bloß Gerüchte? — Zeuge: Ja. Den Arbeiter Mankowski konnte ich zunächst nicht vernehmen, da dieser auf Außenarbeit war. Inzwischen erzählte mir der Besitzer Hoffmann, er habe dem Angeklagten bei Gelegenheit der Obduktion des Ermordeten gesagt: Man hat in Berlin einen Apparat, wonach man das Auge des Ermordeten photographieren und dadurch die Person des Mörders erkennen könne. Behrendt sei infolgedessen furchtbar erschrocken, sei leichenblaß geworden und habe laut gestöhnt. Einige Zeit darauf habe Behrendt in Czerwinsk ein Schwein gekauft und gesagt: das Schwein wird sich hoffentlich gut schlachten. Darauf habe der betreffende Schweineverkäufer gesagt: Behrendt, ich möchte Ihnen raten, schlachten Sie nur immer Schweine, aber nicht Menschen. Behrendt sei infolgedessen leichenblaß geworden. Am Abende vor dem Morde soll Behrendt ein Rind gekauft, aber erst einige Tage später abgeholt haben. Ursprünglich habe Behrendt gesagt: er wolle das Rind „koscher‘ schlachten; als ihn jedoch die Frau des Gutsbesitzers Kegler, von dem er das Rind gekauft, bei der Abholung des Rindes fragte: Nun, werden Sie das Rind „koscher‘‘ schlachten? habe Behrendt in großer Erregung geantwortet: Nein, ich schlachte nicht mehr koscher, ich will mit den Juden absolut nichts mehr zu tun haben. Behrendt sei außerdem so sehr niedergeschlagen gewesen, daß Frau Kegler zu ihrem Manne sagte: Niemand anders als Behrendt ist der Mörder. Ich ließ mir nun Zilinski kommen; dieser sagte mir: Mankowski habe gelogen. Ich fuhr alsdann nach Culmsee und ließ mir Mankowski kommen. Dieser sagte mir zunächst: er habe am fraglichen Morgen Hermann Josephsohn getroffen. Als ich ihn hierauf fragte, ob er schon zur Osterbeichte gewesen, rief er aus: „O mein Gott, o mein Gott, ich habe gelogen!" Ich forderte nun den Mankowski auf, doch die Wahrheit zu sagen. Mankowski sagte: Ich habe nicht Hermann Josephsohn, sondern Behrendt an jenem Morgen mit einem Sacke auf dem Rücken gesehen. Behrendt hatte einen grauen, kurzen Pelz an. In dem; Sacke schien Behrendt ein Kalb zu tragen, am untern Ende glaubte er (Mankowski) aber einen Menschenkopf gesehen zu haben. Als ich ihn nun fragte, weshalb er den Josephsohn bezichtigte, antwortete er mir: Zilinski habe ihm gesagt: er solle nur sagen, Hermann Josephsohn ist es gewesen, denn das könnten nur die Juden tun. Als er nach Skurcz zum Termin geladen wurde, habe ihn Zilinski und Behrendt am Eingange des Dorfes erwartet. Zilinski habe ihm gesagt, er solle nur bekunden, daß er den Josephsohn getroffen. Als er erwiderte, das kann ich doch nicht sagen, habe Zilinski ihm bedeutet: Sage nur stramm, daß du Josephsohn getroffen hast. Wenn du so sagst, dann werden die Juden vertrieben und du bekommst viel Geld. Es wird schon für dich gesammelt; die reichen Herren haben alle gegeben, Schwarz und Kiepert sogar je zwanzig Mark. Als er vom Termin kam, habe Zilinski und Behrendt ihn wieder erwartet und ihn gefragt, wie er ausgesagt habe. Er habe geantwortet: er habe den Josephsohn als den ihm begegneten Mann bezeichnet. Daraufhin habe Behrendt ihn mit Wurst, Brot und Bier traktiert. Im weiteren sagte mir Mankowski: Einen Tag nach dem Morde sei Behrendt bei seiner Mutter gewesen und habe ihn sprechen wollen. Als die Vernehmung mit Mankowski beendet war, rief dieser aus: Gott sei Dank, jetzt ist mein Gewissen rein. — Vors.: Haben Sie dem Mankowski irgendwie gedroht oder ihn angeschrien? — Zeuge: Keineswegs, ich habe ihn, wie mir das stets eigen ist, in aller Ruhe vernommen. Auf dem Gericht zu Culmsee hat Mankowski seine mir gemachte Aussage wiederholt, und als ihm Behrendt vorgeführt wurde, sofort gesagt: Jawohl, das ist der Mann, den ich an jenem Morgen getroffen habe. Als Behrendt der Mutter des Mankowski vorgeführt wurde, sagte diese: ich erkenne den Mann mit voller Bestimmtheit wieder, das ist der Mann, der bei mir gewesen und nach meinem Sohne gefragt hat. Ich erfuhr außerdem, daß Frau Hoffmann und eine Frau Kaufmann Jacobi öffentlich die Behauptung aufstellten: Behrendt hat den Mord begangen. Behrendt wollte deshalb die Frauen verklagen, er hat es jedoch nicht getan. Die Art der künstlichen Operation der Leiche war mir außerdem ein Verdachtsmoment gegen Behrendt. Endlich sagte mir Behrendt, daß er den Zilinski gar nicht kenne und daß er nicht bei Mankowski, überhaupt niemals in Skarzewo gewesen sei. Als ich ihm nun vorhielt: Skarzewo ist nur wenige Stunden von Skurcz entfernt, Sie, die Sie fast täglich über Land fahren, müssen doch schon in Skarzewo gewesen sein, gab er diese Möglichkeit zu. . Ich beantragte nun seine Verhaftung, die am 10. Mai vorigen Jahres erfolgte. — Vert.: Hat der Herr Zeuge festgestellt, welche Beziehungen Zilinski mit dem Angeklagten hat? — Zeuge: Nein. — Polizei-Sergeant Bartke: Ich war zur Zeit Polizei-Sergeant in Culmsee und diente bei der Vernehmung des Mankowski dem Herrn Kriminalkommissar Höft als Dolmetscher. Angeschrien oder gedroht habe ich den Mankowski in keiner Weise. Als ich dem Mankowski sagte: er könne sich doch wohl irren, vielleicht sei es doch Josephsohn gewesen, den er am fraglichen Morgen getroffen, antwortete er: Nein, ich irre mich nicht, Hermann Josephsohn ist fast bartlos, während Behrendt einen dicken Schnurrbart hat. Mankowski bezeichnete mit voller Bestimmtheit den Behrendt als den Mann, den er getroffen habe. In dem Sacke habe oben ein Kopf, der wie ein Menschenkopf aussah, hervorgeschaut und am unteren Ende glaube er ein paar Füße gesehen zu haben. Der Zeuge bestätigte im weiteren die Bekundungen des Kriminalkommissars Höft. — Letzterer bemerkte noch: Ich sagte zu Mankowski: Konnten Sie denn das Gesicht des Behrendt genau erkennen, im Monat Januar gegen 6 Uhr morgens ist es doch noch sehr dunkel? Darauf antwortete er mir: Ich war schon mehrere Stunden gegangen, mein Auge hatte sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. — Der hierauf in den Saal gerufene Mankowski bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Angeschrien oder gedroht haben ihm die zwei Polizeibeamten nicht, er könne aber nicht genau sagen, ob es Behrendt gewesen ist. Der Zeuge gab im übrigen die Aussage der Polizeibeamten als richtig zu, allein genau wisse er dennoch nicht, ob er Behrendt gesehen habe. — Vors.: Sie haben doch aber, als Sie von dem Herrn Kriminalkommissar vernommen wurden, ausgerufen: „O Gott, o Gott, ich habe gelogen"; wenn Sie Gott anrufen, sagen Sie dann die Wahrheit? — Zeuge: Ja. — Vert: Hat der Zeuge den Brief, bezüglich dessen ich gestern die Ladung des Grzona beantragte, vor seiner Vernehmung bei dem Kriminal-Kommissar Höft erhalten? — Zeuge: Ja. — Vors.: Sind Sie mit Josephsohn befreundet? — Zeuge: Nein. — Vors.: Nun, was dachten Sie sich, als Ihnen Ihre Mutter schrieb: „Josephsohn läßt grüßen"? — Zeuge: Ich habe gelacht, im übrigen das nicht geglaubt. — Vors.: Hatten Sie sich denn mit Ihrer Mutter besprochen, was Sie aussagen wollen? — Zeuge: Nein. — Vors.: Sie sagten früher, der Mann hatte im Rücken seines Pelzes einen Schlitz. — Zeuge: Ja, das habe ich damals wohl gesagt, ich erinnere mich aber nicht mehr, ob ich dies in der Tat wahrgenommen habe. — Arbeiter Grzona bestätigte die gestern mitgeteilte Behauptung des Verteidigers; in dem Briefe habe nicht gestanden: „Josephsohn", sondern „Sohn läßt grüBen“. — Es wurde festgestellt, daß es in Skurcz üblich ist, anstatt „Josephsohn" auch „Sohn“ zu sagen. — Frau Mankowski wußte über den Brief keine Auskunft zu geben. — Schächter Blumenheim: Als ich kurze Zeit vor dem Morde nach Skurcz kam, bin ich einmal bei Behrendt vorübergegangen, als letzterer gerade vor der Tür stand. Da rief Behrendt: „Nun ist schon wieder ein neuer Jude in Skurcz; anstatt daß die Juden weniger werden, werden sie immer mehr." Der Angeklagte hat außerdem antisemitische Schriften im Dorfe verbreitet, auch im Wirtshause öffentlich vorgelesen. Zilinski hat einmal gesagt: „Mankowski ist ein sehr beredter Zeuge; wenn ich will, wird morgen Hermann Josephsohn aus der Haft entlassen. Wenn ich aber nicht will, muß er im Gefängnis verfaulen." Ich bin am Montag Morgen vor dem Morde nach Pr. Stargardt gegangen und erst am Dienstag zurückgekehrt. Ich hörte, daß Behrendt schon einige Tage vorher bei mir gewesen sei und gesagt hat: ich solle nur zu Hause bleiben, er wolle in den nächsten Tagen ein Rind „koscher" schlachten lassen. Am Morgen des 22. Januar 1884 ist Behrendt in meiner Abwesenheit wiederum bei mir gewesen und hat mich zu sich bestellt, bei ihm ein Rind zu schlachten, er hat das Rind aber nicht bei mir schlachten lassen. — Sanitätsrat Dr. Merner (Pr.-Stargardt) gab noch einmal eine genaue Schilderung von der Art, wie der Ermordete zugerichtet gewesen ist. — Departementstierarzt Dr. Hertel (Danzig): Wenn der Angeklagte schon seit 16 Jahren in der Fleischerei tätig und seit 10 Jahren selbständig ist, dann kann er sehr wohl die geschilderte Operation ausgeführt haben. — Fleischermeister Annacker (Danzig): Möglich ist wohl, daß ein Fleischer die geschilderte Operation ausgeführt hat, aber das kann nur ein Zufall sein, im allgemeinen kann ein Fleischer eine solche Geschicklichkeit nicht entwickeln. — Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Sanitätsrat Dr. Merner: Die Operation konnte nicht in der Dunkelheit ausgeführt werden. — Departementstierarzt Dr. Hertel hielt es für möglich, daß die Operation auch im Dunkeln ausgeführt worden sei. —Hermann Josephsohn : Er habe vor etwa 15 Jahren, also bis zu seinem 14. Lebensjahre, bei seinem Großvater, der Fleischer gewesen, in der Fleischerei geholfen, seit dieser Zeit sei er niemals in irgendeiner Weise als Fleischer tätig gewesen. — Tierarzt Dr. Hertel: Die Möglichkeit, daß dieser Zeuge die Operation vollführt haben kann, erachte ich auch nicht für ausgeschlossen. — Bauersmann Zilinski: Ich kenne den Behrendt seit etwa sechs Jahren; soviel ich mich erinnere, habe ich ihn höchstens ein einziges Mal gesprochen. Die Familie Mankowski kenne ich wohl, ich komme mit dieser aber gar nicht zusammen. Ich habe den Mankowski nicht beeinflussen wollen. Ich habe das erste Mal mit Johann Mankowski auf dem Amtsgericht zu Culmsee gesprochen, aber nur zu ihm gesagt: „Wenn du meinst, du hast Josephsohn getroffen, dann mußt du es sagen.“ Blumenheim ist einmal bei mir gewesen und hat mich aushorchen wollen, da wollte ich aber sehen, ob ich aus dem Juden etwas herausbekomme. Es ist unwahr, daß ich gesagt, ich könne bewirken, daß Hermann Josephsohn schon morgen aus der Haft entlassen werde oder im Gefängnis verfaulen müsse. Ich habe allerdings dem Kriminalkommissar Höft gesagt: „Mankowski hat gelogen!“ weil ich nicht wußte, daß Höft Polizeikommissar ist. Letzterer forderte mich auf, mit ihm nach Culmsee zu fahren, er werde mir die Reise bezahlen. Ich sagte zu dem Kommissar: „Sie wollen doch nicht, daß ich ein falsches Zeugnis abgebe. 1 Mark gab mir Höft und 2 Mark gaben mir die Juden zur Reise. Unterwegs sagte mir Höft: „Sagen Sie nicht fortwährend auf die Juden, die sind es nicht gewesen, sondern sagen Sie auf Behrendt.‘“ — Kriminalkommissar Höft (in großer Erregung): Ich versichere auf meinen Eid, daß diese Angaben des Zeugen vollständig erdichtet sind. Ich habe zunächst dem Zeugen gesagt: Ich bin der Kriminalkommissar Höft aus Berlin und bin von dem Herrn Minister des Innern nach Skurcz geschickt worden, um den Mörder festzustellen; zweitens ist die Reise des Zilinski nach Culmsee selbstverständlich aus Staatsmitteln bezahlt worden und drittens habe ich mit dem Zeugen auf der Reise nach Culmsee über den Mord überhaupt nicht gesprochen. — Höft.: Ich bin von der Richtigkeit dieser Ihrer Bekundung überzeugt: es steht im übrigen aktenmäßig fest, daß die erwähnte Reise nach Culmsee aus Staatsmitteln bezahlt wurde. Zilinski, Ihre Angaben erscheinen wenig glaubhaft, es ist nicht anzunehmen, daß ein Beamter so pflichtvergessen handein wird. — Zeuge: Ich bleibe bei meiner Behauptung. — Im weiteren erzählte Zilinski: Mankowski habe einmal zu seiner (des Zeugen) Frau gesagt: er sei an jenem Morgen dem Hermann Josephsohn begegnet. Außerdem habe einmal seine Frau geträumt: der ermordete Cybulla sei weiß gekleidet zu ihr gekommen und habe gesagt: Hermann Josephsohn hat mich im Sacke getragen. — Frau Zilinski bestätigte diese Bekundungen. — Amtsrichter Petersen (Culmsee): Mankowski hat anfänglich mit Bestimmtheit den Behrendt, als er nach einer Pause wieder vernommen wurde aber den Hermann Josephsohn als Träger des Sackes bezeichnet. Ich habe allerdings gesehen, daß Mankowski während der Pause mit Zilinski gesprochen, möglich, daß dieser ihn beeinflußt hat. Im allgemeinen war Mankowski sehr unsicher bei seiner Zeugnisabgabe. — Gerichtssekretär Kuntz bestätigte die Bekundungen der Vorzeugen. — Die Gendarmen Meltzer und Träger, die gleich nach Bekanntwerden des Mordes bei Boß Haussuchung hielten, bekundeten: es sei in Surcz allgemein behauptet worden, die Juden haben den Mord begangen. Behrendt habe sich sehr hervorragend bei der Haussuchung beteiligt und mehrfach die Äußerung getan: Die Juden müssen den Mord begangen haben. Meltzer bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe wohl gehört, wie jemand bei der bei Boß vorgenommenen Haussuchung gerufen: „Das ist Menschenblut, das muß ich als Fleischer wissen“, ob dieser Rufer aber Behrendt gewesen ist, wisse er nicht. — Träger bekundete: Er habe einen solchen Ruf überhaupt nicht gehört. — Schankwirt Schoblewski, bei dem Behrendt am Nachmittags vor dem Morde in Gemeinschaft mit Czamicki das viele Bier getrunken haben will, bekundete: Die Beiden haben etwa 10 Liter Braunbier mit Rum vermischt, bei ihm getrunken, es könne aber auch weniger oder mehr gewesen sein. Behrendt sei, als er von ihm weggegangen, wohl etwas angetrunken, aber keineswegs betrunken gewesen. Behrendt habe an jenem Tage lange Stiefel getragen. — Handlungsgehilfe Cohn, der zur Zeit bei Boß konditionierte, bekundete: Behrendt habe sich ganz hervorragend an der Haussuchung bei Boß beteiligt und mehrfach ausgerufen: „Ein solches Verbrechen können bloß Juden getan haben.“ — Gastwirt Thiessen und sein Kommis Eliblum bekundeten übereinstimmend: Behrendt habe vielfach bei ihnen verkehrt und gleich nach dem Morde ein auffallend stilles Wesen an den Tag gelegt. — Besitzer Hoffmann, von dem der Angeklagte zunächst sagte, daß dieser mit ihm verfeindet sei, bekundete: Behrendt ist der erste gewesen, der die Behauptung aufstellte, nur die Juden können den Mord vollführt haben. Gleich nach geschehener Obduktion der Leiche kamen wir bei dem Gastwirt Gappa zusammen. Da erzählte ich: mein Sohn hat mir heute, als er aus der Schule kam, mitgeteilt: die Augen des Ermordeten werden photographiert werden und alsdann werde es gelingen, aus der Pupille die Person des Mörders festzustellen; in Berlin sei ein derartiger Apparat erfunden. Behrendt zuckte infolge dieser Erzählung an allen Gliedern zusammen und rief aus: „Ach wo!" Als Behrendt gefragt wurde: ob er sich ebenfalls die Leiche angesehen habe, antwortete er: Nein, ich kann so etwas nicht sehen. — Als ihm bedeutet wurde: Sie als Fleischer müssen doch zu allererst so etwas sehen können, antwortete er: Nein, ich kann so etwas nicht sehen, ich könnte nicht einmal meine Kinder als Leichen sehen. — Lehrer Weichler: Da Hoffmann mich auf Behrendt aufmerksam machte, so beobachtete ich ihn sehr genau. Er kam mir in seinem Wesen ganz auffällig verändert vor. Am Tage, an dem die Leiche obduziert wurde, saß ich in Gesellschaft mit Behrendt und noch mehreren anderen Leuten in dem Stenzelschen Gasthof. Behrendt blickte unaufhörlich unstät an die Ausgangstür und erschrak jedesmal, sobald die Tür geöffnet wurde. Als ich ihn aufforderte, sich mit mir gemeinschaftlich die Leiche anzusehen, antwortete er: Nein, so etwas kann ich nicht sehen. Ganz besonders erschrak auch Behrendt, als gesagt wurde, die Ärzte hätten behauptet: der Mord sei ein derartiger, daß nur ein Arzt oder ein Fleischer ihn begangen haben könne. — Amtsdiener Glitsch: Auch auf ihn habe es den Eindruck gemacht, als hätte Behrendt nach dem Morde ein ganz verändertes Wesen zur Schau getragen. Auch habe er wahrgenommen, daß Behrendt sehr erschrak, als erzählt wurde: die Ärzte hätten gesagt, den Mord könne nur ein Arzt oder ein Fleischer begangen haben. Bei Stenzel habe man sich unterhalten, wo wohl die Oberschenkel geblieben sein können. Dabei wurde gesagt: Die Oberschenkel brauchen die Juden, um ihre Sünden abzubüßen. — Frau Gutsbesitzer Kegel: Als ich den Behrendt einige Tage nach dem Morde fragte, ob er das von mir gekaufte Rind koscher schlachten lassen werde, fuhr er in solcher Wut auf, daß ich erschrak, und rief laut: „Nein, ich lasse niemals mehr koscher schlachten, ich will mit Juden nichts mehr zu tun haben.‘“ — Brennereibesitzer Bennerwitz: Behrendt kaufte bei mir einige Zeit nach dem Morde ein Schwein. Als Behrendt sagte: Das Schwein wird sich gut schlachten lassen, sagte ich ihm: „Schlachten Sie nur immer Schweine, aber nicht Menschen.“ Ich wußte, daß Behrendt damals bereits unter dem Verdacht des Mordes stand. Behrendt erschrak und wurde leichenblaß, ohne irgend etwas zu antworten. — Ölgasbrenner Wohlgemuth, der bekundet hatte: ein nicht zu ermittelnder Arbeiter, namens Salewski, habe ihm erzählt: er (Salewski) habe am fraglichen Morgen den Behrendt mit einem Sacke auf dem Rücken getroffen, aus dem ein Menschenkopf hervorgeschaut, bemerkte heute: es sei möglich, daß er eine derartige Aussage gemacht, er leide jedoch an Gedächtnisschwäche und wisse sich heute auf nichts mehr zu erinnern. — Der Vorsitzende stellte fest, daß der Zeuge früher die erwähnte Bekundung vollständig in Abrede gestellt habe, während er heute die Möglichkeit zugebe, die Bekundung getan zu haben. — Frau Jacoby (Skurcz): Wohlgemuth hat mir zurzeit diese seine hier erwähnten Bekundungen erzählt. Im weiteren erzählte Frau Jacoby: Ganz besonders nach dem Morde ist in Skurcz gegen die Juden eine große Erregung gewesen. Eine Frau v. Orabowska sagte eines Tages zu mir: Frau Jacoby, was würden Sie wohl zum besten geben, wenn die Sache klar wäre? Ich antwortete: ich weiß, daß Sie gerne Schokolade trinken, Frau von Grabowska; wenn die Sache herauskommt, dann gebe ich eine Tasse Schokolade zum besten. Als nun Behrendt verhaftet wurde, da sagte Frau v. Grabowska: Frau Jacoby, nun müssen Sie die Schokolade geben. Ich antwortete: es muß dem Behrendt doch erst bewiesen werden. — Vors.: Also so vorsichtig sind Sie doch gewesen? (Heiterkeit.) — Böttchermeister Fahle: Dem Behrendt wurde es bekannt, daß ich ihn des Mordes bezichtigt hatte. Behrendt kam deshalb aufgeregt zu mir und sagte: Wenn ich es gewesen bin, dann bin ich es gewesen, erst werde ich aber Sie und dann mich totstechen. — Fleischermeister Soletzki, der diese Äußerung des Behrendt mit angehört haben sollte, wußte sich auf einen solchen Vorgang nicht zu erinnern. — Auf Befragen des Staatsanwalts bekundete Kriminalkommissar Höft: Den Beweggrund, der den Behrendt zu der ihm zur Last gelegten Tat veranlaßt haben könnte, habe ich nicht feststellen können. Ich habe bloß festzustellen vermocht, daß Behrendt einer der größten Judenfeinde gewesen, daß er antisemitische Schriften verbreitete und geäußert hat: wenn die Juden nicht von selbst von Skurcz fortgehen, dann werde er alle jüdischen Wohnungen in Skurcz mieten, damit die Juden daselbst kein Unterkommen mehr haben. — HertelVors.: Das dürfte doch aber kaum möglich sein. — Höft: Es wohnten in Skurcz im ganzen sieben jüdische Familien. — Angekl.: Das kann ich schon deshalb nicht gesagt haben, da die meisten Juden in Skurcz eigene Häuser haben. — Amtsvorsteher Ernst: Er könne nicht behaupten, daß Behrendt in hervorragender Weise Judenfeind gewesen sei. Ob antisemitische Schriften vor oder nach dem Morde in Skurcz verbreitet worden seien, wisse er nicht. — Staatsanwalt: Ist es wahr, daß die Kirchenbehörde von Skurcz zu jener Zeit öffentlich aufgefordert hat, dahin zu wirken, daß christliche Dienstmädchen nicht mehr bei Juden dienen sollen?Zeuge: Jawohl. —Gasthofbesitzer Stenzel: Er habe niemals bemerkt, daß der Angeklagte hohe Stiefeln getragen habe. Der Angeklagte sei am Abende vor dem Morde wohl etwas angetrunken, aber keineswegs sinnlos betrunken gewesen. — Darauf war die Beweisaufnahme beendet. — Der Staatsanwalt beantragte: den Mankowski und Zilinski nicht zu vereidigen, der Verteidiger hatte gegen diesen Antrag nichts zu erinnern und beanstandete die Vereidigung der gesamten Familie Josephsohn. — Der Gerichtshof beschloß nach längerer Beratung: sämtliche Zeugen, mit Ausnahme der Gattin des Angeklagten, zu vereidigen. Der Vorsitzende ermahnte ganz besonders noch einmal den Hermann Josephsohn. Sie wissen, so sagte der Vorsitzende zu Hermann Josephsohn, in welch schrecklicher Weise der Knabe Cybulla ermordet worden ist. Sie haben lange Zeit unter dem Verdacht des Mordes gestanden, sind Sie vielleicht der Mörder, oder wissen Sie etwas von dem Morde? Wenn Sie jetzt noch einen Meineid leisteten, dann würden Sie ein zweites schweres Verbrechen begehen. — Hermann Josephsohn: Ich bin unschuldig. — Während dieser Worte des Vorsitzenden brachen die übrigen Familienmitglieder Josephsohn in lautes Weinen aus. Nachdem alle Zeugen vereidigt waren, beantragte der Staatsanwalt, die Zeugen Mankowski und Zilinski wegen Verdachts des Meineids zu Vorsverhaften. Weitere Schritte gegen noch andere Zeugen behalte er (Staatsanwalt) sich vor. Der Staatsanwalt begründete seine Anträge dahin: Mankowski habe bereits eine entgegengesetzte Aussage als die hier beeidigte beschworen und Zilinski habe, im Gegensatz zu der Bekundung des Kriminalkommissars Höft, beschworen: Letzterer habe ihn unter Geldversprechungen veranlassen wollen, für die Juden und gegen Behrendt Zeugnis abzulegen. Der Gerichtshof beschloß : In Erwägung, daß die Zeugen Mankowski und Zilinski, in Berücksichtigung ihres geringen Bildungsgrades sich des wissentlichen Meineides nicht schuldig gemacht haben, den Antrag auf Verhaftung dieser Zeugen abzulehnen. —

Am fünften Verhandlungstage formulierte der Vorsitzende folgende, den Geschworenen vorzulegende Schuld- fragen: Ist der Angeklagte, Fleischermeister Joseph Behrendt aus Skurcz schuldig, in der Nacht vom 21. zum 22. Januar 1884 den Knaben Onophrius Cybulla vorsätzlich getötet zu haben und zwar indem er die Tötung mit Überlegung ausführte? — Alsdann nahm das Wort zur Schuldfrage der Vertreter der kgl. Staatsanwaltschaft, Gerichtsassessor Dr. Preuß: Meine Herren Geschworenen! Wenn ein Stein in einen See geworfen wird, dann wird in dem See immer eine gewisse Aufregung hervorgerufen. Die größte Aufregung herrscht selbstverständlich immer in dem Teile des Sees, in den der Stein direkt geworfen ist. Dies Beispiel paßt auch auf den Vorgang, der uns hier beschäftigt. Es ist ja nur zu natürlich, daß, als das Verbrechen entdeckt wurde, die größte Aufregung in der Gegend, wo es geschehen war, herrschte. Jeder Mensch hat in solcher Gegend das lebhafteste Interesse an der Entdeckung des Verbrechers, schon, um den eventuellen Verdacht von sich selbst abzulenken. Bei solcher Gelegenheit ist es ja zu natürlich, daß der Verdacht auf gewisse Personen, ja auf eine ganze Bevölkerungsklasse fällt. Aus diesem Grunde ist es um so mehr unsere Pflicht, in objektivster Weise die Sache zu prüfen. Sie haben gehört, in welch schrecklich verstümmelter Weise am Morgen des 22. Januar 1884 die Leiche des Knaben Onophrius Cybulla gefunden wurde. Daß ein Raubmord vorliegt, ist vollständig ausgeschlossen, denn der Knabe besaß kein Geld, es war auch nicht zu vermuten, daß er im Besitz von Geld gewesen wäre; seine Kleider waren vollständig wertlos. Ebenso ist aber auch nach ärztlichem Befund ein Lustmord vollständig ausgeschlossen. Der Mord kann den Umständen nach nur in einer Behausung geschehen sein, denn es fanden sich weder am Fundort noch in dem Dorfe Skurcz irgendwelche Spuren eines begangenen Mordes. Aber auch ein Mord aus Haß ist nicht denkbar; wir haben gehört, der ermordete Knabe war höchst friedfertigen, ja gutmütigen Charakters, er hat noch am 21. Januar abends einem Knecht bei Gappa aus Gefälligkeit beim Flaschenspülen Hilfe geleistet. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn man auf den Gedanken kam, der Mord ist aus Aberglauben geschehen. Allein, wenn der Verdacht sich auf gewisse Personen lenkte, so geschah dies hauptsächlich, weil in der Tat Verdachtsmomente vorlagen. Daß ein ritueller Mord hier nicht vorliegt, davon, meine Herren, werden wir wohl alle vollständig überzeugt sein. Daß ein gewöhnlicher Aberglaube nicht vorliegt, habe ich auch nicht weiter zu betonen. Es gibt ja einen Aberglauben, wonach man mit Lichtern, die aus dem Fett eines Ermordeten fabriziert werden, einen Dieb unsichtbar machen kann. Vor ungefähr 10 Jahren ist in unserer Gegend ein Verbrechen passiert, das heute noch nicht aufgedeckt ist und das, den Umständen nach, auch nur aus Aberglauben geschehen war. Es entsteht nun die Frage, wer ist der Mörder. Sie wissen, der Verdacht lenkte sich zunächst auf Boß (Vater und Sohn) und Hermann Josephsohn. Es ist gegen die Boß ins Feld geführt worden, daß in jener Mordnacht in ihrem Hause Unruhe geherrscht hat. Dieser Vorgang ist durch die Aussage des Maurers Kekermann, der in jener Nacht angetrunken nach Hause kam und infolgedessen ein großes Gepolter im Hause verursacht hat und andererseits durch den heftigen Sturm, der in jener Nacht getobt hat, zu erklären. Es ist außerdem der Nachweis geführt worden, daß Boß an jenem Abende bis etwa gegen 10 Uhr mit Warenauspacken beschäftigt war. Die Bekundung des Zeugen Sprada, daß am Abende des 21. Januar ein von Gappa herausgekommener Knabe aus dem Boßschen Hause mit polnisch-jüdischem Dialekt: „Onophri, Onophri!“ angerufen wurde, hat sich als erfunden erwiesen. Das Umfallen des Zaunes im Ziegenstalle bei Boß kann doch etwa keinen Anhalt für die Schuld der Boß ergeben. Ebensowenig ist aber Hermann Josephsohn der Täter gewesen. Wenn auch die Zeugin Reimann den Josephsohn nicht zu Hause getroffen hat, so steht doch fest, daß ihn gegen 10 Uhr abends verschiedene Personen auf dem Nachhausewege getroffen haben. Er hatte nicht nötig, sich sehen zu lassen, denn die Leute, denen er begegnete, hatten es sämtlich eilig, er hat sie aber angerufen. Einen Mensch, der soeben ein so fürchterliches Verbrechen begangen, drängt es nicht danach, mit ihm begegnenden Leuten zu sprechen. Er geht auch nicht ruhig nach Hause, legt sich ruhig zu Bett, ohne seinen Angehörigen irgend etwas zu sagen. Es ist auch nicht anzunehmen, daß Josephsohn in solch kurzer Zeit ein Verbrechen dieser Art ausgeführt hat. Fest steht, daß Josephsohn um 12 Uhr und um 1 Uhr nachts zu Hause gewesen ist; daß er angekleidet auf dem Bette gelegen, erklärte sich aus dem Umstande, daß er sich genierte, in Gegenwart der Reimann sich zu entkleiden. Daß Josephsohn nach 1 Uhr nachts den Mord vollführte, ist nicht denkbar, denn es ist nicht möglich, daß der ermordete Knabe sich bis nach 1 Uhr umhergetrieben hat. Fest steht außerdem, daß Josephsohn am 22. Januar um 7 Uhr morgens ebenfalls zu Hause gewesen ist. Nun ist zweifellos, daß der Mörder sein Opfer nach 6 Uhr morgens an den Fundort geschafft hat, auch aus diesem Grunde kann Josephsohn den Mord nicht begangen haben. Aber auch physische Gründe sprechen gegen die Schuld des Josephsohn. Dieser hatte schon einige Tage vor dem Morde eine böse Hand, so daß er nicht arbeiten konnte; er war mithin nicht in der Lage, eine solche Operation auszuführen. Es ist aber auch absolut unmöglich, daß Josephsohn, der bis zu seinem 14. Lebensjahre in der Fleischerei tätig gewesen und nun seit 5 Jahren sich in keiner Weise mehr mit der Fleischerei beschäftigte, eine solch geschickte Operation vornehmen konnte. Ich glaube damit den Beweis geführt zu haben, daß die beiden Boß und Hermann Josephsohn den Mord nicht begangen haben. Ich will Ihnen nicht zumuten, dem Zeugen Mankowski Glauben zu schenken, allein es gibt gewisse Momente, in denen auch Leute wie Mankowski die Wahrheit sagen, und das geschieht aus Furcht vor der kirchlichen und ewigen Strafe. Sie haben gehört, daß, als Kriminalkommissar Höft den Zeugen fragte, ob er schon zur Osterbeichte gewesen, er ausrief: „O mein Gott, mein Gott, ich habe gelogen, ich habe nicht Hermann Josephsohn, sondern Behrendt mit dem Sacke getroffen.“ Man muß den Umständen nach doch annehmen, daß in diesem Momente Mankowski die Wahrheit gesagt hat. Fest steht, daß Zilinski den Mankowski vollständig in seiner Gewalt hatte. Einmal wußte er ihm dadurch zu imponieren, daß er ihm sagte: Sage nur gegen die Juden und zwar gegen Josephsohn aus, dann werden die Juden vertrieben werden, dann wirst du die für die Entdeckung des Mörders ausgesetzte Prämie und auch noch Geld erhalten, das bereits von den reichen Herren für dich gesammelt wird. Außerdem wußte Zilinski den Mankowski in seine Gewalt zu bekommen, indem er ihm drohte, ein von ihm begangenes Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Daß den Zilinski sein unendlicher Judenhaß bei seiner Handlungsweise geleitet hat, dürfte Ihnen klar geworden sein, denn daß Zilinski ein ganz entschiedener Judenfeind gewesen, hat die Verhandlung ergeben. Ich behaupte nun, daß niemand anders als der Angeklagte Behrendt den Mord begangen hat. Meine Herren! Jemand, der sich schuldlos fühlt, leugnet nicht selbst die gleichgültigsten Vorgänge ab. Für seine Schuld spricht weiter sein Verhalten nach dem Morde. Sie haben den Zeugen Hoffmann gehört, der doch jedenfalls einen vollständig glaubwürdigen Eindruck gemacht hat. Der Angeklagte war zunächst derjenige, der am lautesten schrie, die Juden waren die Mörder. Als aber Hoffmann erzählte: das Auge des Ermordeten wird photographiert werden und dadurch wird es gelingen die Person des Mörders festzustellen, da erschrak der Angeklagte ganz auffällig, begann zu zittern und wurde ganz bleich. Wenn wir nun auch keinen Zeugen haben, der die Mordtat mit angesehen, so haben wir doch einen stummen Zeugen, das ist der Leichnam des unglücklichen Cybulla selbst. Eine solche Operation, wie sie an dem Ermordeten vorgenommen, kann doch nur ein geübter Fleischer vollführt haben. Ich behaupte, viel eher kann ein Fleischer als ein Arzt eine solche Operation vollführen. Sanitätsrat Dr. Merner hat bekundet, daß er eine solche kunstfertige Sezierung noch niemals gesehen habe. Der Angeklagte war aber ein sehr geschickter Fleischer, der sich selbst rühmte und es auch durch die Tat bewies, daß er imstande war, innerhalb einer Stunde drei Ferkel, wie er sich ausdrückte, abzuschlachten. Der Angeklagte scheute sich selbst nicht, einer Frau, die seine Kunstfertigkeit rühmte, zu sagen: ich wäre sogar imstande, ihre Kinder mit derselben Schnelligkeit abzuschlachten. Ich erinnere Sie an den Ausspruch des Angeklagten, der ein Messer zeigte und sagte: „Mit diesem Messer kann ich einen Menschen von oben bis unten aufschlitzen und sein Blut wie Wasser trinken, eine solche Natur habe ich.“ Ich erinnere Sie ferner, daß, als ihm gesagt wurde, schlachten Sie nur immer Schweine, nicht aber Menschen, der Angeklagte ganz bleich wurde und nichts erwiderte. Nun wird man fragen, welches Motiv kann den Angeklagten bei seiner Tat geleitet haben. Es ist erwiesen, daß der Angeklagte einer der größten Judenfeinde im Dorfe gewesen ist, der sogar geäußert hat: er werde die Vertreibung der Juden aus dem Dorfe veranlassen. Meine Herren! Daß Verbrechen aus Judenhaß begangen werden, um sie den Juden zur Last zu legen, hat der bekannte Prozeß in Tiszla-Eßlar und die Affäre des Neustettiner Synagogenbrandes bewiesen. Es entsteht nun die Frage, hat der Angeklagte mit Überlegung gehandelt? — Fest steht, daß der Knabe zunächst von hinten einen Schlag auf den Kopf erhalten und daß alsdann die übrige Manipulation vollführt worden ist. Nehmen Sie an, daß der Angeklagte nicht mit Überlegung gehandelt hat, dann ist er wegen Totschlags zu bestrafen. Ich glaube jedoch, Sie werden mit mir der Überzeugung sein, der Angeklagte hat mit Überlegung gehandelt. Ich beantrage daher: en Angeklagten wegen Mordes event. aber wegen Totschlags für schuldig zu erklärend. — Verteidiger Rechtsanwalt HöftThurau (Pr.-Stargardt): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Staatsanwalt hat die Anklage in vollem Umfange aufrecht erhalten, obwohl er nicht den mindesten positiven Beweis für die Schuld des Angeklagten hat führen können. Der Angeklagte soll, um seinem Judenhaß Ausdruck zu verleihen, den Mord begangen haben. Nun, meine Herren, steht fest, daß zu jener Zeit in der Gegend von Skurcz ein großer Haß gegen die Juden geherrscht hat. Wenn ein solcher Mord passiert, ist es nicht zu verwundern, daß die niedere Bevölkerung die Juden des Verbrechens bezichtigt? Wenn Behrendt, ein Mann von so geringer Intelligenz, dieser Volksmeinung zustimmt, dann kann dies doch nicht wundernehmen. Daß Behrendt in hervorragender Weise die Juden des Mordes beschuldigt hat, ist nicht erwiesen worden. Die Gendarmen, die bei Boß Haussuchung gehalten, haben ein solches Hervortun des Angeklagten nicht wahrgenommen. Es ist ja wahr, in Neustettin haben die Juden zunächst die Christen und alsdann die Christen die Juden des Tempelbrandes beschuldigt, und zwar, so wurde behauptet, die Juden haben ihren Tempel angezündet, um das Verbrechen den Christen in die Schuhe zu schieben. Wer aber das Verbrechen begangen, ob Christen oder Juden, oder ob jene Feuersbrunst nicht aus Unvorsichtigkeit entstanden, ist in keiner Weise festgestellt worden. Als belastend wird gegen den Angeklagten ins Feld geführt, daß er zunächst von der Czechelowska am fraglichen Morgen mit einem Laken auf dem Rücken, in dem etwas enthalten gewesen, gesehen sein soll. Ganz abgesehen, daß die Czechelowska mit dem Briefträger Stürmer sich augenscheinlich in einer derartigen Fassung befanden, so daß Stürmer sogar erschrak, als er den ihnen begegnenden Mann erblickte, daß die Czechelowska sich den Mann mithin nur sehr oberflächlich angesehen haben wird, so hat sie auch nur an der Größe den Angeklagten als den ihr begegneten Mann erkannt. Nun ist aber, wie der Augenschein gelehrt hat, Josephsohn von derselben Figur, nur daß die Schultern des Angeklagten etwas höher sind als die des Josephsohn. Ich bin entfernt, die Schuld auf Josephsohn zu lenken, allein ein Irrtum der Czechelowska ist dabei nicht ausgeschlossen. Im übrigen stimmen die Angaben der Czechelowska mit denen des Mankowski selbst in der Zeitangabe keineswegs überein, ja letzterer bezeichnet ganz bestimmt die Mütze des Josephsohn als diejenige, die der ihm begegnende Mann getragen hat. Die königliche Staatsanwaltschaft will aus dem Umstande, daß der Angeklagte unwesentliche Dinge konsequent in Abrede stellt, und ferner aus seinem Verhalten nach dem Morde seine Schuld beweisen. Hätte der Angeklagte, gleich nachdem er verhaftet worden, einen Rechtsanwalt gehabt, dann wäre es ihm zweifellos möglich gewesen, mehr zu seiner Entlastung anzuführen. Übrigens ist es doch nicht wunderbar, daß ein Mann von dem Bildungsgrade des Angeklagten alles in Abrede zu stellen sucht, wodurch er befürchtet, sich verdächtig zu machen. Ich will die Glaubwürdigkeit des Zeugen Hoffmann nicht anfechten, allein erinnern muß ich Sie doch daran, daß Hoffmann mit dem Angeklagten arg verfeindet war. Einer Veränderung im Gesichtsausdruck können doch im übrigen die verschiedensten Ursachen zugrunde liegen. Vielleicht hat sich der Angeklagte aufgeregt, weil er so sehnlichst die Entdeckung des Mörders herbeiwünschte. Daß dem Angeklagten eine solche Tat zuzutrauen war, will ich ja gar nicht in Abrede stellen, allein alle uns in dieser Beziehung gemachten Bekundungen sprechen doch noch nicht für seine Schuld. Ich erinnere Sie, daß Hermann Josephsohn sogar einer Frau, der er unsittliche Anträge stellte, zumutete, ihren Mann umzubringen, oder sich selbst zu dieser Tat bereit erklärte. Bedenken Sie, wenn nun Josephsohn anstatt Behrendt hier auf der Anklagebank säße, würde dieses Moment nicht in hohem Maße für seine Schuld angeführt werden? Mit dieser Handlung ist doch aber noch keineswegs bewiesen, daß der Betreffende auch das vorliegende Verbrechen begangen hat. Obwohl es zunächst Sache der Staatsanwaltschaft ist, einem Angeklagten das Verbrechen nachzuweisen, obwohl dies nicht geschehen ist, so hat der Angeklagte eine ganze Kette von Alibibeweisen erbracht. Er hat den Nachweis geführt, daß er am Abende des 21. Januar 1884 gegen 9 Uhr bereits zu Hause und am folgenden Morgen gegen 7 Uhr bei Blumenheim gewesen ist. Wenn er nach 6 in der Tat von Mankowski getroffen worden ist, dann war er nicht in der Lage, schon um 7 Uhr bei Blumenheim zu sein, denn er muß erst einige Zeit nach der Begegnung mit Mankowski am Fundorte der Leiche angelangt sein und konnte mithin bis 7 Uhr nicht den Weg bis zu Blumenheim zurücklegen. Im weiteren ist es nicht denkbar, weshalb der Angeklagte sich einen solchen Umweg gemacht, während er einen viel kürzeren Weg wählen konnte. Wenn jemand das Opfer eines solch fürchterlichen Verbrechens fortschaffen will, dann nimmt er doch ganz naturgemäß den kürzesten Weg. Es ist ferner nicht erwiesen, daß die beiden Anzüge des Angeklagten irgendwie mit Blut befleckt waren, ja wir haben ganz direkt gehört, daß der Angeklagte weder einen Sack noch lange Stiefeln, die der Mann mit dem Sacke getragen haben soll, besitzt. Fest steht, daß die Operation nur in einer Behausung geschehen sein kann. Es entsteht doch dabei unwillkürlich die Frage: wo hat dies der Angeklagte getan? Seine Ehefrau und Czarnicki haben bekundet, daß er in jener Nacht von 9 Uhr ab zu Hause gewesen ist. Gastwirt Stenzel, in dessen Hause der Angeklagte wohnt, hat nicht das mindest Auffallende in jener Nacht wahrgenommen. Es kommt noch hinzu, daß die Ehefrau des Angeklagten 10 Tage vor ihrer Entbindung stand. Wenn auch der Angeklagte ein roher Mensch ist, so ist doch nicht anzunehmen, daß er sich gerade diese Zeit zur Vollführung eines solchen Verbrechens ausersehen wird und noch dazu an einem Abende, wo er, wenn auch nicht ganz sinnlos, aber doch zweifellos in hohem Grade angetrunken gewesen ist. Auch ist nicht einzusehen, weshalb er, wenn er den Mord, wie nach der Lage der Dinge anzunehmen ist und der Herr Staatsanwalt selbst zugibt, bereits gegen 9 Uhr abends begangen hat, bis zum anderen Morgen um 6 Uhr mit der Fortschaffung der Leiche wartet. Der Umstand, daß er gesagt, er könne keine Leichen sehen, spricht doch wahrlich ebenfalls nicht für seine Schuld. Dem Angeklagten sind 4 Kinder gestorben, ist es nicht möglich, daß dem Angeklagten dies so zu Herzen gegangen ist, daß er andere menschliche Leichen nicht mehr zu sehen vermag? Ich wage kaum den Gedanken auszusprechen, daß hier ein Totschlag vorliegen könnte. Wenn der Angeklagte das Verbrechen begangen hat, dann hat er sich zweifellos des Mordes schuldig gemacht, denn daß das Verbrechen von langer Hand vorbereitet war, kann keinem Bedenken unterliegen. Ich halte den Josephsohn für ebenso unschuldig wie meinen Klienten. Liegt denn nicht die Möglichkeit vor, daß ein Dritter das Verbrechen begangen hat? „In dubio pro reo“‘, ist ein alter juristischer Grundsatz, der mit anderen Worten besagt: Man soll lieber hundert Schuldige freisprechen, als einen Unschuldigen verurteilen. Dies gilt ganz besonders, wenn es sich um ein Urteil über Leben und Tod handelt. Meine Herren Geschworenen! Einen Beweis für die Schuld des Angeklagten hat die Verhandlung in keiner Weise erbracht. Wenn Sie aber nur die Möglichkeit annehmen, daß nicht der Angeklagte, sondern ein Dritter den Mord begangen haben kann, dann ist es Ihre Pflicht, den Angeklagten freizusprechen. — Nach noch längeren Auseinandersetzungen zwischen Staatsanwalt und Verteidiger gab der Vorsitzende den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung, worauf sich die Geschworenen zur Beratung zurückzogen. — Nach kaum halbstündiger Beratung verkündete der Obmann unter gespanntester Aufmerksamkeit des Publikums, daß die Geschworenen die ihnen vorgelegte Schuldfrage verneint haben. Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsrat Arndt: „Im Namen des Königs hat der Gerichtshof, dem Spruche der Geschworenen entsprechend, für Recht erkannt, daß der Angeklagte, Fleischermeister Behrendt, von der Anklage des Mordes freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen seien. Der Angeklagte ist sofort aus der Haft zu entlassen.

Der rätselhafte Mord hat bis heute noch keine Aufklärung gefunden.