Dresdner Nachrichten 14.12.1882 (Vor fünfzig Jahren)
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– Vor fünfzig Jahren. (Aus den Erinnerungen eines alten Dresdners.) Wenn an den Schaufenstern der Bäcker die Stollen zur Herrschaft gelangen und an denen der Kaufleute die großen und kleinen Rosinen und der Citronat; und wenn Gottschall am Dippoldiswaldaer Platze seinen „ledernen“ Pferdemarkt eröffnet für die reitlustige Jugend und erst bei Wischke auf der Wilsdruffer Straße die Großmutter nicht blos von außen das Schaufenster, von dem auch innen die Ladentafel belegen, um „bei Zeiten“ sich für die lieben Enkel zu versorgen; wenn bei Conradi auf der Seestraße sich viele fleißige Hände regen, um Hunderte und Tausende von Packeten Pfeffer- und Lebkuchen fertig zu stellen – so weiß man, daß Weihnachten vor der Thür ist, vorerst aber der Christmarkt oder „Strietzelmarkt“, der nach altem Brauch am 19. Dezember beginnt, wie vor fünfzig Jahren, wo er freilich eine andere Physiognomie hatte als jetzt. Damals, wo Dresden nur erst 69,000 Einwohner zählte, wo zwar die Gasbeleuchtung seit vier Jahren eingeführt war, aber nur eine sehr beschränkte Ausdehnung hatte, wo man noch nicht die großen Schaufenster mit Spiegelscheiben kannte, wo man von den Macht der Inserate nur wenig wußte, damals hatte der Weihnachtsmarkt noch einen sehr primitiven Charakter, aber er war volksthümlicher, man könnte sagen: poetischer, als jetzt, wo es sich vom offenen Markt- und Straßenverkehr mehr und mehr in die Gewölbe zurückgezogen hat und wo Glanz und Pracht in Licht und Farben sich einander Konkurrenz machen. Und der Handfleiß, den Alt und Jung in den ärmeren Ständen mit mehr oder weniger Erfolg übte (ohne daß es damals einen offiziellen Handfertigkeitskursus gab) präsentierte seine Produkte nicht blos in den Buden auf dem Altmarkt, sondern auch mit auf unzähligen offenen Verkaufsständen an den vier Seiten des Marktes und längs der nächsten Straßen, wobei die Schloßstraße für die Feuerrüppel und Wattmänner als die die beste Geschäftslage galt. Denn hier wurde mancher Gelegenheitskauf zu Stande gebracht, und so mancher Menschenfreund kaufte, um den jugendlichen Kauflauten wohlzuthun, und so mancher Griesgram suchte einige „Sechser“, um die Plagegeister loszuwerden. Vor meiner Seele steht ein längst gestorbener Advokat, einer Bankierfamilie entstammend, der, bevor der den gewohnten Gang zum Café antrat, die Tasche voll Kleinmünze steckte, dafür aber auch auf der Wilsdruffer- und Seestraße als „guter Kunde“ beliebt war. Eine hochadlige Dame ist mir noch erinnerlich, welcher Abends einige Dienstmädchen mit Tragkörben folgten und die nach der Reihe allen Schulkindern, welche feil hielten, abkaufte bis die Körbe voll waren. Und am nächsten Abende fing sie ihr Liebeswerk von Neuem an. Und wenn aus dem tgl. Schlosse die Hofheiducken kamen und die frierende Kinderwelt auf Befehl der nachmaligen Königin Marie in später Abendstunde mit Warmbier erquickten, so wurde der hohen Frau mancher laute Segenswunsch dafür zugerufen, wenn sie alltäglich in der Mittagsstunde im rothsammtnem Mantel am Arme ihres Gemahls des Prinzen Mitregenten (oder wie das Volk lieber sagte „Prinzen Friedrich“) den Christmakt besuchte. In mancher Familie war die Herstellung gewisser Erzeugnisse traditionell. Ich erinnere mich eines Markthelfers, der gleich nach Michaelis anfing Windmühlen zu bauen und zum Christmarkte eine ganze Bude voll darbot; aber obgleich der guten Absatz hatte, merkte man doch keine Abnahme der Mühlen; allmorgentlich wurden die leeren Stellen wieder besetzt. Denn zu Hause, d. h. im Waarenspeicher seines Herrn, hatte er mehrere Hundert auf Lager. Und so hatte er es schon über 30 Jahre gerieben und er wußte von guten und schlechten Zeiten zu erzählen. In einer anderen Familie wurden nur Kindertheater gefertigt, die Puppen von Papier auf Pappe gezogen. man hatte es schon bis zum „Wilhelm Tell“ und „Freischütz“ gebracht; auch „Aida“ wäre bei dieser Austattung nicht schwierig gewesen. Von den Meiningern wußste man ja damals noch Nichts. Am Rathhause, nach der Scheffelgasse zu, hatte ein alter Zimmermann gewissermaßen einen Erbplatz; er fertigte Vogelstangen und Abschießvögel in kleinen Dimensionen für den Zimmergebrauch; aber er hatte viel Kunden. Eine gr0ße Rolle spielte die Lichterbude. Zuerst wegen der Pfenniglichte weiß und bunt; sie waren zwar nur von Talg, aber den Stearin kannte man damals noch nicht in Dresden und Wachslichter waren nur für die „Vornehmen“. Sodann wegen der Wachsstöcke, von den kleinen Pyramiden an, welche pro Stück mit 3 Pfennigen verkauft wurden, bis zum dreifarbigen Türkenbund, der etwa die Frau Geheimräthin für ihren Ehegemahl erkieste. Vor allen aber ist der Bescheerungslichte zu gedenken, große Talglichte (man nannte sie gegossene Lichte zum Unterschied von den gezogenen) in drei Farben mit Arabseken bemalt; sie wurden insbesondere von den Ladleuten gekauft und kosteten pro Stück 6 Dreier. – Am meisten belagert waren in den Abendstunden die Radlerbuden und ein couranter Artikel waren die verschiedenen unechten Schmucksachen („Talmi“ doch war dies Wort noch nicht im Gebrauch). Die Radler waren am Weihnachtsabend am längsten auf dem Platze, oder vielmehr, sie gingen gewöhnlich erst beim Morgenläuten früh vier Uhr fort und machten den mahnenden Rathwächtern viel zu schaffen. Sie hatten dazu einen guten Grund. Denn vor fünfzig Jahren dienten auf den Bauerndörfern auf dem linken Elbufer viel mehr Wenden, als jetzt, selbst wohlhabender Herkunft (um die deutsche Sprache zu erlernen). Wenn nun am Weihnachtsabend diese jungen Leute daheim das Vieh beschickt hatten, kamen sie in zahlreichen Trupps in die Stadt gezogen, besuchten um Mitternacht die Christmesse in der kath. Hofkirche und machten dann allerhand Einkäufe. Als Leckerbissen galt bei ihnen ein „Hering“. Und noch erinnere ich mich am Wassertroge auf dem Altmarkt, wo die Stockfisch- und Heringsbuden standen, ganze Schaaren Wenden gesehen zu haben, die mit sichtlichem Wohlbehagen ihr Leibgericht an Ort und Stelle verzehrten. – Ein Glanzpunkt für die Kinder der Armenschulen war die große Christbescheerung auf dem Gewandhause. Der Saal ging damals durch die ganze Fronte hindurch. Freilich war er etwas niedrig, freilich gab es keine Gasbeleuchtung; aer der Duft der Tannenbäume, der Glanz der vielen Lichter und endlich die glücklichen Gesichter der Empfänger an den langen, kaum übersehbaren Tafeln, das Alles war auch für viele Erwachsene der wohlhabenden Stände alljährlich ein immer neuer Reiz und ich erinnere mich eines berühmten Künstlers, den ich wohl zehnmal bei dieser Bescherung angetroffen habe. – Jetzt ist Dresden eine Großstadt geworden, jetzt wird man von einem Lichtmeer geblendet, wenn man des Abends durch die Hauptstraßen geht, jetzt ist an manchen Stellen das Gewühl der Menschen so groß, daß Gutzkow ganz Recht hat, wenn er in den „Serapionsbrüdern“ eine gewisse Nervenkrankheit der Bewohner großer Städte „Trottoirfieber“ nennt, jetzt ladet das Kunstgewerbe zur „Weihnachtsmesse“ ein, jetzt ist Alles großartiger geworden. Aber glücklicherweise hat die Liebe nicht aufgehört und sie bethätigt sich nicht blos in dem Bestreben, im eigenen Hause Freude zu bereiten, sondern sie zündet auch gern in der Hütte der Armuth ein Weihnachtslicht an. Und es ist ein schöner Zug unseres lieben Dresdens, daß die Weihnachtsnähe auch die Sorge für die Hilfsbedüftigen in erhöhter Weise allerorts wachruft!