Dorothea Trudel, die Heilige von Männedorf

Textdaten
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Autor: R.
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Titel: Dorothea Trudel, die Heilige von Männedorf
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 360–362
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Dorothea Trudel, die Heilige von Männedorf.

Wer je auf einem der zahllosen Dampfboote, die den Zürchersee nach allen Seiten durchstreifen, eine Fahrt in der Richtung von Rappersweil angetreten, dem ist gewiß auch die Schaar von Wallfahrern zur berühmten Mutter Gottes von Einsiedeln aufgefallen. Das wunderthätige schwarze Gnadenbild jener Benedictiner-Abtei, die Notre Dame des Hermites, wird an Wirksamkeit von keiner Concurrenzmadonna übertreffen; sein Glanz strahlt so weit wie derjenige der päpstlichen Tiara, und Tausende und Tausende von Pilgern führen die Dampfer jedes Jahr von Zürich nach Richtersweil, von wo aus sie zu Fuß das Hochthal von Einsiedeln ersteigen. Es sind nicht Vertreter der höheren Stände, welche die Hauptmasse dieses Glaubensheeres bilden, und so finden wir sie denn auch regelmäßig auf dem zweiten Platze des Verdeckes, Kopf an Kopf gedrängt, meist ohne alles Gepäck, und als einzige Reisemitgabe mit einem großen Regenschirm ausgerüstet. Dabei sind sie gutmüthige, heitere Leute, welche die Neckereien des Schiffsvolkes gleichmüthig ertragen und nicht selten mit Zinsen heimzahlen.

Auf demselben Verdecke begegnen wir aber auch einer andern Sorte religiöser Reisenden, die sich von den Einsiedeln-Wallern strenge fern halten. Sie treten nur einzeln auf, ihre Mienen tragen den Stempel finstern Brütens oder religiöser Schwärmerei. Auch sie sind von Leibes- und Seelenleiden gemartert und hoffen, im eifrigen Gebete Heilung zu finden. Ihr Reiseziel ist aber nicht die Benedictiner-Abtei, sondern Männedorf am Zürchersee; ihr Gnadenbild ist keine hölzerne Madonna, ihr Zufluchtsort ist die Gebetheilanstalt von Dorothea Trudel.

Der Name dieser frommen Schwärmerin ist so berühmt geworden, ihr Leben ein psychologisch so bemerkenswerthes und der Zulauf zu der seltsamen Anstalt ein so auffallender, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, sie hier etwas näher zu beleuchten.

Dorothea Trudel war das Kind armer, schlichter Landleute. Ihr Vater gehörte nicht gerade zu den Frommen im Lande, und diese stellen ihm durchaus kein glänzendes Sittenzeugniß aus. Nach den vorhandenen Bildern war er ein Mann mit harten, knochigen Zügen, wie man sie unter den Landleuten des Cantons Zürich häufig trifft. Die Mutter dagegen wird als erleuchtete Frau geschildert und ihr Gedächtniß lebt in pietistischen Tractaten fort. Dorothea’s Erziehung war sehr einfach, die Schule besuchte sie nur vier Jahre; mit sechszehn Jahren wurde sie confirmirt und beschäftigte sich zuerst mit Seidenweberei, in späteren Jahren lernte sie das Blumenmachen. Als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, machte der plötzliche Tod einer Altersgenossin einen tiefen Eindruck auf ihre empfängliche Seele; sie wurde tiefsinnig, machte sich Vorwürfe über ihr bisheriges Leben und ängstigte sich über ihr Seelenheil. Ein tiefes Körperleiden gesellte sich hinzu, die Familie und die Aerzte sahen den Zustand bedenklich an und sollen sie endlich aufgegeben haben. Die Kranke sah aber der angeblichen Todesgefahr heiteren Angesichtes entgegen und bat um die einzige Vergünstigung, keine Arznei mehr nehmen zu dürfen. Ihre Leiden nahmen allmählich einen bestimmteren Charakter an; die Wirbelsäule wurde der ausschließliche Sitz derselben, eine sehr verunstaltende Verkrümmung des Rückens stellte sich ein. Mehr als fünfzehn Jahre dauerte diese Leidenszeit, während der aber Dorothea ihren Beruf ausüben konnte.

Krankheiten von so langer Dauer haben bei jugendlichen Naturen immer einen tief eingreifenden Einfluß auf das intellectuelle und psychische Leben. Die gezwungene Ruhe des Krankenlagers, das Abgeschiedensein von der Außenwelt und den Zerstreuungen des Jugendlebens drücken solchen Märtyrern einen charakteristischen Stempel auf. Für Verstandesmenschen und kräftige Naturen wird eine solche Leidenszeit zu einem Schleifsteine des Geistes, und früh gezeitigt, voll befruchtender Ideen, reich an Kenntnissen und mit schlagfertigem Urtheile treten sie nach ihrer Genesung in’s Leben zurück. Gefühlsmenschen dagegen wenden sich unter dem Einflüsse solcher Prüfungen mit vollen Segeln der religiösen Exaltation zu und werden Schwärmer und Schwärmerinnen. So auch Dorothea Trudel. Sie setzte sich in unmittelbaren Verkehr mit ihrem Heiland; ihm gab sie sich vollständig hin, bald hatte sie seine Führung, bald verlor sie dieselbe und war darüber voll Herzeleid. Sie bat ihn um Verzeihung und wußte bestimmt, wann sie dieselbe erhalten habe.

Die erste Gebetheilung, welche Dorothea gelang, war in der ersten Zeit ihrer Erleuchtung. Bei einem ihrer Verwandten wurden fünf Arbeiter schwer krank. Sie verpflegte dieselben eine Woche lang unausgesetzt bei Tag und Nacht. Die Krankheit wich aber nicht und schien (wie in den meisten Trudel’schen Fällen) aller Arzneien zu spotten.

„Da warf ich mich auf meine Kniee und rief in meinem Kämmerlein den Heiland an, wie wenn ich ihn lebendig vor Augen sähe. Er wisse ja, daß ich gläubig sei, mit mir solle er an das Krankenlager treten, sein Wort werde helfen.“

Gestärkt trat sie zu den Kranken zurück, betete inbrünstig mit ihnen und die Schmerzen waren verschwunden, die Krankheit gehoben. Im Canton Zürich, wo viele religiöse Secten vertreten sind und die Pietisten über einen starken Anhang verfügen, konnte das Ereigniß nicht unbekannt bleiben.

Dorothea wurde viel zu Kranken, oft in größere Entfernungen, gerufen, damit sie mit ihnen bete, sie erhebe und heile. Man stellte ihr vor, daß sie im Besitze einer wunderbaren Glaubens- und Gebetkraft sei, die sie zum Heile der Menschheit zu verwerthen verpflichtet sei. Schon brachte man ihr einzelne Kranke in’s Haus, damit sie dieselben in Pflege behalte und durch Gebet herstelle. Durch das Vermächtniß eines reichen Onkels waren ihre Vermögensverhältnisse besser geworden. So ließ sie sich denn von einer ihrer ehemaligen Kranken bestimmen, ein Haus zu kaufen, um Raum zur Aufnahme einer größeren Zahl Kranker zu gewinnen. Im Jahre 1857, als ihr Ruf bereits über die Grenzen der Schweiz gedrungen war, wurde sie vor die Behörden beschieden und wegen unbefugter Ausübung der Heilkunde zu einer Geldbuße von sechszig Franken verurtheilt. Sie zahlte dieselbe ohne Widerstreben, fuhr aber mit ihrer Thätigkeit unbeirrt fort. Kranke wurden außerhalb des Hauses besucht, andere in die Anstalt aufgenommen, die sich von Jahr zu Jahr erweiterte. Zu dem ursprünglichen Hause wurden zwei neue angekauft, Wartepersonal wurde beigezogen und so die Anstalt mehr und mehr einem Krankenhause ähnlich. So groß wurde der Zudrang zu derselben, daß Anfangs 1861 dieselbe gleichzeitig achtzig Kranke beherbergte. Die Behörden setzten Dorotheen keine Schwierigkeiten mehr entgegen; die Aerzte fanden es nicht zeitgemäß, durch weitere gerichtliche Schritte den Glanz der Märtyrerkrone über die Anstalt auszubreiten.

Die Bewohner des Dorfes endlich waren theils Anhänger der „Döde“ und besuchten die Gebetstunden des Hauses, theils zogen sie aus der Menge herbeiströmender Fremder Nutzen, oder sie verhielten sich diesem schwärmerischen Treiben gegenüber gleichgültig. Klagen wegen Ausschreitungen irgendwelcher Art lagen nicht vor. Selbst die Aerzte durften sich nicht über Mitbewerbung beschweren, da die „Heilige von Männedorf“ keinerlei Arzneimittel anwandte und nur durch Gebet, Auflegen der Hände, Umarmen, in seltenen Fällen durch Salben mit Baumöl ihre Curen vollzog. In diesem gemüthlichen Charakter spielte die Idylle von Männedorf fort, als plötzlich Anfangs 1861 eine Gewitterwolke sich über der Gebetheilanstalt erhob und deren Fortdauer ernst in Frage stellte.

Unter den verschiedenen Arten von Kranken, die dort Aufnahme und Verpflegung fanden, spielten von jeher die Geisteskrankheiten eine große Rolle. Vom ärztlichen Standpunkte aus muß dies als ein Mißgriff bezeichnet werden, da nur sehr wenige Formen dieser Störungen unter dem Einflüsse der apostolischen Behandlung eine Besserung finden, weitaus die größere Zahl in Folge dieser künstlichen Aufregung sich verschlimmern wird und im Allgemeinen derartige Leidende am besten solchen Anstalten anheimfallen, die für diesen Zweck gebaut und eingerichtet sind. Ein junges Mädchen aus N., eine Näherin, war als gemüthsleidend zu der Trudel gebracht worden. Sie behandelte sie mit Händeauflegen, Salböl und Gebet, wobei aber die Krankheit sich durchaus nicht besserte, sondern zur Raserei und Tobsucht steigerte, so daß man der Unglücklichen die Zwangsjacke anlegen mußte. Der herbeigerufene Arzt bestand auf der Entfernung derselben aus der Anstalt. Jungfer Trudel widersetzte sich anfänglich, gestaltete dann aber die Versetzung der Tobsüchtigen in eine eigentliche Irrenanstalt. Auf dem Wege dahin starb aber die Unglückliche. Ein zweiter Fall [361] betraf eine junge Bäuerin aus dem Canton Zürich, die einige Jahre an Trübsinn gelitten hatte und die ihr Mann in die Gebetheilanstalt brachte. Auch hier bewährte sich die Gebetbehandlung nicht. Sie nahm gewissenhaft an den dreimaligen Gebetstunden des Hauses Antheil, ihr Zustand verschlimmerte sich aber so, daß ihr Mann sie nach wenigen Monaten wieder nach Hause zu nehmen für gut fand. Einige Zeit nachher schnitt sich die Unglückliche die Gurgel ab. Auf Grund dieser zwei Vorfälle hielt es der Bezirksarzt von Männedorf für seine Pflicht, eine Anzeige an die Behörden zu machen. In Folge hiervon veranlaßte das Statthalteramt Meilen eine gerichtliche Erhebung; dieser und der nachfolgenden Verhandlung vor dem Obergerichte verdanken wir eine genaue Kenntniß über das Leben und Treiben der Anstalt, die Heilmethode ihrer Vorsteherin, die erzielten Heilergebnisse, die herrschenden religiösen Anschauungen und Zahl und Charakter der behandelten Kranken.

Die Zahl der Letzteren belief sich zur Zeit der gerichtlichen Untersuchung auf ungefähr achtzig Personen. Sie waren aus der Schweiz, Würtemberg, Baden, Baiern, Preußen und Frankreich. Ihre Leiden waren theils religiöse Bedenken, theils Geisteskrankheiten. Unter den leiblichen Gebrechen spielen chirurgische Krankheiten und Augenleiden eine nicht unerhebliche Rolle. Groß ist die Zahl der Patienten, die Dorothea außer dem Hause behandelt, die nur zu flüchtigen Besuchen kommen, die Treppen und Corridore anfüllen und sich an ihrem Glaubenseifer erheben oder auch ihre Neugierde befriedigen wollen. Selbst die höchsten Stände waren unter diesen zeitweiligen Besuchern vertreten und der süddeutsche Adel glänzte nicht selten unter dem bescheidenen Dache des Landmädchens von Männedorf.

Dorothea versicherte, daß sie nie sich um Kranke beworben habe, sondern fast wider Willen zu ihrer Thätigkeit gekommen sei. Nie habe sie ihren Beruf als Gewerbe betrieben, nie sich für ihre Krankenbesuche und Gebete bezahlen lassen. „Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebt es auch.“ Wohlhabende Kranke zahlten für vollständige Verpflegung mit reichlicher Nahrung im Durchschnitt wöchentlich fünf, im höchsten Falle zehn Franken.

Allen Kranken erklärte „die Magd des Herrn“ beim Eintritt in die Anstalt, daß sie dieselben nicht heilen könne und daß sie am unrechten Orte seien, wenn sie von ihr persönlich etwas erwarten. Christus sei der einzige Arzt und die Behandlung geschehe nach Gottes Willen. Nicht die Heilung des Leibes, sondern die der Seele sei der eigentliche Zweck der Anstalt. Wiederholt betheuerte sie, daß ihr keine magnetische Kraft innewohne, daß sie nicht einmal wisse, was dies bedeuten solle.[1]

An der Seite von Dorothea wirkten in der Anstalt ihre Schwester und vier Krankenwärterinnen, die früher selbst Pfleglinge der Anstalt gewesen waren und nun ohne Löhnung nur aus Begeisterung für die gute Sache neben ihr dienten. Ebenso wirkte Xaver Zeller aus dem Canton Aargau ohne Entschädigung eifrig neben ihr in dem Krankenhause. Ihn hatte sie zu ihrem Erben und Nachfolger ausersehen. Ursprünglich ein Schullehrer, war er im Jahre 1857 als leberkrank und gemüthsleidend in das „Haus des Segens“ gekommen und geheilt worden. Acht Monate nach seinem Austritt hatte ihn Jungfer Trudel wieder zurückgerufen und seit dieser Zeit diente er ohne Unterlaß in dem Hause. Er leitete die Beziehungen nach außen, führte den Briefwechsel, stand den Gebetstunden vor und begleitete die Gesänge derselben auf der Handorgel.

Ein Arzt wird grundsätzlich nur in den allerschlimmsten Fällen beigezogen in der Voraussicht des nur auf diese Weise zu beschaffenden Todtenscheines. Nie aber verweigert man einem Kranken den Arzt, wenn er dessen Hülfe verlangt.

Was nun die Heilergebnisse der Anstalt betrifft, so liegen mehr als neunzig schriftliche und eine Menge mündlicher Zeugnisse vor, aus denen wir nur das Augenfälligere hervorheben. Eine Frau G. aus Uster will im Jahre 1858 durch das Gebet der Trudel von einer langwierigen Unterleibskrankheit, eine junge Dame aus Stuttgart von einem Rückenmarksleiden befreit worden sein. Dem Jakob Dändliker hatten die Aerzte erklärt, daß sein brandiger Fuß abgesetzt werden müsse, sonst werde der Tod erfolgen; in der Trudl’schen Anstalt wurde er ohne Messer geheilt. Ein Herr W., der durch die Angeklagte in ihrem Hause „den Heiland fand“, wurde auf der Reise von einer heftigen Unterleibsentzündung befallen. Dorothea, brieflich befragt, rieth ihm, im Blick auf den Heiland sich selbst die heilende Hand aufzulegen. Er wurde dadurch hergestellt. Ein erfolglos vom Staar operirter und zur ewigen Blindheit verurtheilter Mann wurde zwar auch bei Dorothea nicht geheilt, aber „sein seelisches Auge wurde geöffnet und ersetzte ihm das Licht des leiblichen Auges“. Ein I. D. litt an Altersbrand der Zehen, war lange von den Aerzten erfolglos behandelt worden und litt furchtbare Schmerzen. Jungfer Trudel legte ihm öfters die Hand auf den kranken Fuß, salbte ihn mit Oel, die Schmerzen ließen nach, die eingetrockneten Zehen fielen ab und das Glied heilte. Einem anderen Manne wurde auf gleiche Art seine kranke Hand geheilt, Unzähligen durch Auflegen der Hand auf die Stirn ein quälendes Kopfweh, das ihnen das Leben zur Last gemacht hatte, beseitigt, oft wie weggeblasen. Ein Mädchen, das ein Knöchelchen verschluckt hatte und am Ersticken war, wurde durch Jungfer Trudel’s Gebet rasch hergestellt. Baron B. aus Baden-Baden bezeugt, daß er nicht mehr gehen gekonnt und in drei Monaten in der Anstalt geheilt worden sei; die Frau eines würtembergischen Fabrikanten, daß sie ebendaselbst von einer hartnäckigen Darmkrankheit befreit worden sei, die der Kunst der Aerzte getrotzt hatte.

Die „wunderbare Gebetkraft der Mutterli“ hatte ein Mädchen aus Aarau von unheilbar erachteten Nervenzufällen curirt. Unendlich mannigfaltig ist die Zahl der Krankheiten, die in der Anstalt behandelt und geheilt wurden, die berühmtesten Mineralquellen können den Vergleich nicht aushalten. Rheumatische und gichtische Schmerzen, Bleichsucht, Entzündungen, Schwermuth, in die der Teufel versetzt hatte, Selbstmordsgedanken, ja selbst Schönheitsfehler, wie z. B. Leberflecken, fanden rasch ihre Erledigung. Nur ein eingeklemmter Bruch erwies sich als störrisch und ungefällig; Dorothea hatte aber gleich beim Eintreten dieses Falles wenig Hoffnung auf das Gelingen der Cur. „Bei einem Bruche könne sie nicht helfen, wären es Drüsen, dann eher.“ Die betreffende Kranke wurde auch bald ungebessert entlassen.

Neben diesen glänzenden Ergebnissen der Heilanstalt liegen nicht minder günstige Zeugnisse über Charakter und Persönlichkeit der Vorsteherin vor. Ihr kindlicher Glaube, ihre Hingebung und Aufopferung für die Kranken, ihre Geduld mit Geisteskranken, die sich selbst persönlich an ihr vergriffen, der Geist der Liebe, der in dem Segenshause herrsche, wird von verschiedenen Zeugen hervorgehoben. Nur deutet sowohl das Zeugniß des Statthalteramts als der bezirksärztliche Bericht an, daß ein etwas süßlicher Zärtlichkeitston in der Anstalt herrsche, daß viel brüderlich und schwesterlich geküßt und umarmt werde etc.

Obwohl somit die Ergebnisse der Untersuchung zugunsten der Angeklagten ausfielen, so fand doch sowohl der Vorstand der öffentlichen Gesundheitspflege des Cantons Zürich, als das Statthalteramt und das Bezirksgericht Meilen, daß Dorothea Trudel strafbar sei. Das Medicinalgesetz des Cantons erlaubt Niemandem, sich mit der Heilung von Kranken zu befassen, der nicht die gehörige gesetzliche Berechtigung dazu erlangt hat (§. 1), und die Einrichtung von Privatkrankenhäusern und namentlich Irrenanstalten ist der Erlaubniß und Genehmigung der Medicinaldirectoren (§, 40) unterstellt. Das Statthalteramt verurtheilte aus diesem Gründe die Angeklagte zu einer Geldstrafe von einhundertundfünfzig Franken, befahl ihr binnen Monatsfrist die Anstalt zu schließen und untersagte ihr, unter Androhung neuer gerichtlicher Schritte, die Aufnahme neuer Kranken. Gegen dieses Urtheil erklärte Dorothea Berufung an die Criminalkammer des Zürcherischen Obergerichtes, welche die Verhandlung über den Trudelproeeß auf die Sitzung vom 13. November 1861 ansetzte.

In der Anstalt zu Männedorf herrschte in der Zwischenzeit eine bange, gedrückte Stimmung. „Jungfer Trudel aber,“ sagt Herr Zeller in seinem genannten Tractat, „ging in ihr Kämmerlein und sagte zum Herrn: ,Siehe, das Medicinalgericht und H. Statthalter befehlen mir, die Kranken fortzuschicken; ich aber weiß, daß nur das gilt, was Du befiehlst; sage mir aus Deinem Wort, was Du befiehlst? Sie zog im Glauben ein Loos: Daniel 6, 26 und 27.“ Herr Advocat Spöndlin in Zürich hatte freiwillig die Vertheidigung der Angeklagten vor dem Obergericht übernommen und sein [362] Vortrag eröffnete die denkwürdige Sitzung. Er fußte dabei namentlich auf dem Grundsatze, daß es sich hier um eine religiöse, nicht eine ärztliche Frage handle. Seine Schutzbefohlene verspreche den Kranken nie Heilung, sondern weise auf das gläubige Gebet hin, welches allein Heilung bringen könne. Die Verfassung gewähre nun Glaubensfreiheit, und wenn man der einen Partei die Abschaffung jeden religiösen Zwanges gestatte, so dürfe man der andern nicht verbieten, das zu thun, was in der Bibel stehe. Was die Fälle betreffe, welche sich der Behandlung von Jungfer Trudel übergeben, so seien es meist enfants perdus, Kranke, die von den Aerzten aufgegeben seien und denen man es anheim geben müsse, so oder so leiblich und geistig gesund zu werden. Solchen Fällen und den vielen Armen gegenüber, die zu Männedorf unentgeltlich Pflege und liebevolle Aufnahme finden, müssen alle Eifersüchtelei von Aerzten und Pastoren aufhören. Auch seien durchaus nicht alle Aerzte gegen die Trudel’sche Anstalt eingenommen. Zürcher und fremde Doctoren haben ihr wiederholt Kranke zugewiesen, wie aus zahlreichen Briefen dargelegt wird. Auch das Zeugniß des Prälaten Dr. von Kapff[2] aus Stuttgart wird verlesen, der die Gebetheilung einer Frau R. von dort durch die Jungfer Trudel bestätigt und selbst einem ihrer Gebetvorträge beigewohnt hat. Er nennt die Angeklagte „eine ganz redliche und wahrhaft fromme Person“, die offenbar in der Verachtung der Arzneimittel zu weit gehe, die man aber doch nicht verhindern dürfe, durch Gebet und Handauflegen dem Wohle der Menschheit zu dienen. Der in ähnlichem Sinne wirkende Pfarrer Blumhard führe in Würtemberg ungehindert seine Heilungen aus und man werde doch in einem Freistaate nicht engere Schranken ziehen wollen, als in einer Monarchie. Der Vertheidiger macht zum Schlüsse darauf aufmerksam, daß eine Verurtheilung der Jungfer Trudel keinen thatsächlichen Nutzen bringen werde. Man könne die Anstalt schließen, aber die Angeklagte nicht hindern, Hausbesuche zu machen und dort mit Kranken zu beten, so daß also eine Verurtheilung durch das Gericht nur die zahlreichen Armen treffe, die jetzt Unterkunft zu Männedorf finden. Auch stehe noch der Ausweg offen, das Gesetz in der Art zu umgehen, daß man einen Arzt an die Spitze der Anstalt stelle, der seinen Namen leihe, während nach wie vor Jungfer Trudel die eigentliche Vorsteherin wäre. Daher der Antrag auf vollständige Freisprechung, im allerungünstigsten Falle die Verfügung, in Zukunft keine Geisteskranken mehr aufzunehmen.

Nachdem noch der Staatsanwalt gesprochen, der auf den Buchstaben des Gesetzes hinwies, nach welchem die Trudel ohne Zweifel strafbar war, berieth sich der Gerichtshof und verkündigte nach einer Abwesenheit von anderthalb Stunden den Spruch. Er lautete einstimmig und unbedingt freisprechend, die Gerichtskosten der Gerichtscasse überbürdend.

Der Eindruck dieses Urtheilspruches auf das Publicum war ein gemischter. Nur wenige mochten eine so glänzende Freisprechung gehofft oder gefürchtet haben. Vielen war weniger die Trudel, als ihr Anhang und der Hokuspokus, der mit ihrem Namen getrieben wurde, ein Dorn im Auge und sie hatten vom obersten Gerichtshof eher eine Verschärfung des Urtheils erwartet.

In der Anstalt von Männedorf herrschte großer Jubel beim Bekanntwerden des Urtheilspruches. „Lob- und Danklieder erschallten im Hause“ und der günstige Erfolg wurde als ein neuer Beweis der Gebetkraft der Magd des Herrn betrachtet. Denn sie hatte während der Zeit viel und eifrig gebetet, daß die Richter durch Verurtheilung nicht eine schwere Sünde auf ihr Gewissen laden. Mit neuem Eifer ging Döde an ihr Werk. Die Gerichtsverhandlungen, die acht Monate gedauert, hatten den Ruf der Anstalt womöglich noch erhöht. Die Zahl der Besuche, die Anfragen um Aufnahme nahmen so zu, daß nur ein kleiner Theil derselben berücksichtigt werden konnte. Sie lud sich mehr Arbeit auf, als der kleine gebrechliche Körper ertragen konnte. Oft nahm sie sich nicht einmal die Zeit zu den nöthigen Mahlzeiten und erinnerte sich erst Abends spät, daß sie seit dem Frühstück nichts mehr genossen hatte. Bauliche Veränderungen in dem Hause und die Einrichtung eines neuen geräumigeren Betsaales kamen hinzu. Sie fühlte ihre Kräfte abnehmen und besorgt um das Fortbestehen der Anstalt, führte sie einen längst gefaßten Entschluß aus, indem sie mit ihrer Schwester ihr sämmtliches Vermögen und die Anstalt dem vielgenannten Herrn Zeller durch eine gerichtliche Schenkungsurkunde übertrug: „Er bleibe Hausvater, Arzt und Priester, Ein und Alles in diesem Hause.“ Der Typhus brach um diese Zeit in Männedorf und Umgebung aus, Jungfer Trudel leistete das unmöglich Scheinende. Allein die anhaltende Überanstrengung untergrub den ohnehin geschwächten Körper. Eine fieberhafte Krankheit warf sie auf’s Krankenlager und am 6. September 1862 verschied sie, neunundvierzig Jahre alt, viel bedauert, beweint und besungen. – Die Fortdauer ihrer Anstalt war durch ihre Schenkungsverfügung und den Eifer des in ihrem Sinne fortwirkenden Herrn Zeller gesichert und es steht dieselbe in der schönsten Blüthe. Die niedrigen Preise, die Wohlthätigkeit gegen die Armen, die vielen Betstunden sind dieselben geblieben und auch die Heilkraft des Gebetes soll nicht abgenommen haben. Zahlreiche Touristen landen während der schönen Jahreszeit in Männedorf und sehen sich die kleinen Häuser an, um welche düstere Kranke, mit Psalmenbüchern und Tractätchen auf den Knieen, herumsitzen. Unwillkürlich wird man bei ihrem Anblick an das Wort Thekla’s erinnert: „Es geht ein finstrer Geist durch dieses Haus.“ Bei einer Anstalt, die lediglich das Werk einer opferfreudigen weiblichen Natur mit geringen irdischen Gütern ist, die keine Staatsbeiträge erhält und nur auf die bescheidenen Einkünfte durch die Kostgelder der zahlenden Kranken angewiesen ist, wird Niemand große äußere Pracht und Bequemlichkeit der Einrichtung erwarten. Eine puritanische Einrichtung herrscht wirklich in den Zimmern, den Speise. und Betsälen. Die Erinnerung an die Gründerin aber lebt auf dem Schauplatz ihrer eifrigen Thätigkeit ungetrübt fort, und wie sehr wir auch von ihren religiösen Anschauungen und ihren Lebensgrundsätzen abweichen, so muß man doch ihrem uneigennützigen Streben und Wirken Gerechtigkeit widerfahren lassen.

N.



  1. In seiner Schrift „Leben und Heimgang der Dorothea Trudel von Männedorf“ führt Herr Zeller auch folgenden baroken Beweis hierfür an: „Ein Magnetiseur, der mit seiner Ruthe Wasser gesucht hatte, veranlaßte die Jungfer Trudel, dieselbe auch in die Hand zu nehmen. Wie erstaunt er aber, als er sah, daß die Ruthe, statt sich abwärts zu beugen, wie bei ihm, sich in entgegengesetzter Richtung bewegte!!“
  2. Derselbe protestantische Geistliche, welcher in jüngster Zeit seine Kanzel zu Predigten gegen die Gartenlaube benutzt haben soll.