Dienstboten-Ehen in Rußland

Textdaten
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Titel: Dienstboten-Ehen in Rußland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 547-548
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[547] Dienstboten-Ehen in Rußland. Was würde wohl eine unserer deutschen Hausfrauen dazu sagen, wenn eines schönen Tages das naseweise Dienstmädchen Wilhelmine vor sie mit den Worten träte: „Gnädige Frau! Nächsten Sonntag heirathe ich, und zwar den Kutscher Wilhelm vom Herrn Doktor drüben. Sie werden mir gewiß die Ehre anthun, an der Hochzeit theilzunehmen. Montag früh bin ich wieder da.“ Unsere „Gnädige“, wäre sie in den Ueberraschungen der Dienstmädchenstreiche noch so erfahren, würde gewiß denken, sie sei plöslich aus den Wolken gefallen, und nach einiger Erholung von dem grenzenlosesten Staunen würde der unerwarteten Hochzeitseinladung mindestens eine Fluth von Auseinandersetzungen über vierwöchentliche Kündigung und andere im Gesindebuche abgedruckte Paragraphen folgen. Heute heirathen und morgen weiter als Dienstmädchen dienen, das ist in Deutschland undenkbar, wo Ehe und eigener Hausstand zwei unzertrennliche Begriffe bilden.

Aber – andere Länder, andere Sitten – sagt das Sprichwort, und in Rußland befremdet es in einigen Städten keineswegs, wenn der gute Iwan vor seinem Herrn oder seiner Herrin mit einem mächtigen Kniefall niedersinkt und die Bitte an sie richtet: nächsten Sonntag bei der Hochzeit mit seiner Tanja von drüben oder seiner Gruscha aus der Vorstadt die Rolle des Trauvaters oder der Traumutter zu übernehmen. Die also angeredete Herrschaft weiß wohl, daß Iwan und Tanja wegen der Heirath ihren Dienst nicht verlassen und das Versprechen des gemeinsamen Tragens [548] von Freud und Leid, das sie sich fürs ganze Leben zuschwören werden, nur für Sonn- und Feiertage als bindend erachten.

Und so wird hier der feierliche Akt wirklich vollbracht. Die Herrschaft stiftet das unumgänglich nöthige Heiligenbild, und nach vollzogenem Ehebündniß und nach vollendetem Hochzeitsmahl kehrt jedes der „jungen Eheleute“ auf seinen Posten zurück und dient weiter in verschiedenen Häusern.

Ein sonderbares Familienleben! An Werkeltagen sehen sich die Gatten höchstens im Fluge, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegnen; nur an Feiertagen, die, nebenbei gesagt, in Rußland häufiger im Kalender auftreten als bei uns, suchen sie redlich den Spruch zu bewahrheiten:

„Die Hand, die Samstags ihren Besen führt,
Dich Sonntags wird am besten karessiren.“

Selbst der Kindersegen kann diese eheliche „Zwei-Häuser-Theorie“ nicht erschüttern, denn es finden sich stets Basen und Tanten, welche die Kleinen gegen billiges Entgelt in Erziehung nehmen. Die Gatten aber arbeiten unverdrossen fort und sparen fleißig, nicht um ihre längst geschwundenen Flitterwochen zu genießen, sondern um gemeinsam ihren Lebensabend zu verbringen. Ist nach Jahren das nöthige Sümmchen voll, so wird ein kleiner Handel begonnen oder auf dem Lande ein kleiner Hof gekauft, und die „erfahrenen Eheleute“ leben alsdann unter den Bauern in nicht geringem Ansehen. Und sonderbar, diese Ehen sind zumeist gut und glücklich. Ein Spötter sagte allerdings: sie wären es darum, weil sich die Gatten nur selten sähen.