Die wandelnde Leiche um Mitternacht

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Titel: Die wandelnde Leiche um Mitternacht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 164
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[164] Die wandelnde Leiche um Mitternacht. (Klopfgeistergeschichte.) Gewiß hat der Leser schon von Madame Haydn aus Amerika gehört, die unlängst nach London kam, um die nüchternen Engländer mit jener Welt des Jenseits, wo man nicht mehr „Geld macht“, etwas näher bekannt zu machen, als ihre Hochkirche es vermag. Mad. Haydn nimmt gegen Bezahlung von 10 Guineen (70 Thaler) Einladungen zu Familienthees an und dafür trinkt sie nicht nur Thee, sondern läßt auch Geister erscheinen, wenn auch nicht erscheinen, so doch „höhere“ Buchstabirübungen machen. Der Witz ist so. Mad. Haydn vertheilt ABCBücher d. h. Blätter, worauf die Buchstaben stehen. Nun fragt sie: Wer nun gefälligst einem Verstorbenen etwas sagen will, gehe langsam mit einem Griffel über die Buchstaben weg. Der geehrte Verstorbene wird auf die Art antworten, daß er jedesmal klopft: klapp tapp tapp, wenn der Griffel einen Buchstaben berührt, der das Wort bilden helfen soll, welches er antworten will. Bisher hat sie ziemlich gut geklopft, namentlich viele schöne Male 10 Guineen aus gläubigen Taschen. Auch hat sie schon von ihren Geistern Tische und andere Meubels im Zimmer herum rücken lassen und so den Meubelfuhrherren bange gemacht, daß die Todten ihnen Concurrenz machen würden. Dieses unerklärliche Auftreten von Klopfgeistern hat in unserer nüchternen Zeit allerdings etwas sehr Angenehmes und schauerlich Romantisches, wie man es jetzt gerade brauchen kann. Aber was hilft’s? „Das Klopfen hört man wohl, allein es fehlt der Glaube.“ Sehen muß man’s. Sprechen müssen sie, nicht blos auf eine langweilige Weise buchstabiren. Deshalb ist folgende Geistergeschichte mit Fleisch und Bein und Hand und Fuß gewiß interessanter, als alle Klopffechterei der hagern Amerikanerin.

Auf einem ganz fashionablen Platze Londons, in Soho-Square, wo täglich und immer viele Equipagen halten, miethet einer der feinsten „Gentlemen“ herrlich ausmeublirte Zimmer bei einem reichen Rentier. Rentier und Gentlemen haben beide nichts zu thun und so schließen sie bald Freundschaft, um sich die Zeit gegenseitig zu vertreiben. Der Miether ist bald wie ein Kind im Hause und hat Zutritt zu allen Zimmern und Schätzen. Er ist ein ganz feiner, stets vornehm gekleideter Herr mit weißester Wäsche und Glanzlackstiefeln, wofür der Engländer durchweg eine wahre Hochachtung hegt. Ohne sehr weiße Wäsche kommt nur der Millionär vorwärts. Sehr weiße Wäsche kann sogar baares Geld ersetzen, zumal wenn glanzlackirte Stiefeln dazu kommen. Der Herr Miether ist auch immer sehr fidel. Plötzlich wird er traurig und trauriger. Sein geliebter Bruder in einem andern Stadttheile ist erkrankt und zwar bedenklich. Boten und Briefe werden häufiger. Endlich bleibt der Miether einige Nächte ganz aus, und bei seiner Rückkehr theilt er mit gebrochener Stimme mit, daß der Bruder hinüber geschlummert sei in der Blüthe seiner Jahre. Er findet herzliche Theilnahme, will sich aber gar nicht trösten lassen. Es liegt ihm noch etwas Schweres auf dem Herzen. Der Verstorbene hat ihn, schon mit gebrochenen Augen, gebeten: „Laß mich in unserer Familiengruft ruhen!“ Nun sei aber die Familiengruft in Westminster, und da er nicht in dem betreffenden Sprengel gestorben sei, verlange die Hochkirche mit ihrem bekannten guten Magen eine ungeheure Summe, um ihre Erlaubniß zu geben, Soso-Square gehöre zu dem Sprengel. Ob er, der Hauswirth, nicht erlauben wolle, die Leiche heimlich hierher zu bringen. So beweise man, daß der Bruder hier gestorben und erspare über ein halbes Tausend Thaler.

Die Erlaubniß wird bereitwillig gegeben und die Leiche unter Schluchzen und Weinen des Bruders in eins seiner Zimmer gebracht. Mit schmerzlicher Theilnahme wirft der Portier einen furchtsamen Blick in den geöffneten Sarg, wo die edle Gestalt des Bruders der Verwesung pflegt, und eilt schaudernd davon.

Nach englischer Sitte wacht immer Jemand in dem Hause, wo ein Todter der Beerdigung harrt. Der Portier und ein Kutscher haben das Ihrige schon gethan, so daß sich für die dritte Nacht das Dienstmädchen bequemen muß, aufzubleiben. Sie sitzt furchtsam am Kaminfeuer und stört, um die Stille fleißig zu stören, sehr oft in den glühenden Kohlen. Auf einmal hört sie’s zwölf schlagen, und rauschen und knistern im Sarge. Die Leiche erhebt sich und setzt sich neben sie an’s Feuer, einen stieren hohlen Blick auf sie heftend. Vor Schreck ganz gelähmt, sitzt sie eine Weile still, ohne schreien zu können. Endlich läuft sie davon, die Treppe hinauf und gerade in das Schlafzimmer des Portiers und seiner (hoffentlich) bessern Hälfte. Die Leiche stahkt[1] feierlich, wie es Leichen geziemt, hinterher in dasselbe Schlafzimmer, schließt die Thür, stellt sich davor und bindet die Drei mit ihrem hohlen, stieren Blick danieder, so daß sie weder zu schreien, noch überhaupt sich zu bewegen wagen. Alle Drei thun weiter nichts, als schwitzen Angst, wozu sie auch große Ursache hatten. Nach einer Viertelstunde schien sich die Leiche zu langweilen und ging deshalb feierlich und langsam ab. Portier, Portiece und Dienstmädchen schwitzen Angst fort, bis die Morgenröthe (so weit sie überhaupt in London in Betracht kommen kann) hereinleuchtet und hernach sogar etwas Sonne, welche denn ohne besondere Beleuchtung zeigte, daß nicht nur Leiche und Miether, sondern auch alles Geld und alle Pretiosen (für mehr als 120,000 Thaler) spurlos verschwunden waren.




  1. „Stahken“ ist hier ein unersetzlicher Ausdruck für langsames Gehen, so daß es scheint, als wollte der Gehende nach jedem Schritte stehen bleiben.