Die neue evangelische Kirche in Weingarten

Textdaten
Autor: Christoph Heinrich Klein
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Titel: Die neue evangelische Kirche in Weingarten
Untertitel:
aus: Blätter des Gustav-Adolf-Vereins für das Evangelische Württemberg, 11. Jahrgang, Nr. 3/4, 1883
Herausgeber: Pfarrer a. D. Schmidt-Sonneck, Stuttgart
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Gustav-Adolf-Verein für das Evangelische Württemberg
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Originalherkunft:
Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Ludwigsburg, E 258 VI Bü 3177 (Permalink); via Commons
Kurzbeschreibung: Bericht von Bau, Finanzierung und Einweihung der Evangelischen Stadtkirche in Weingarten (Württemberg)
Der Autor des mit „H. Kl.“ bezeichneten Artikels ist wohl Christoph Heinrich Klein (1839–1888), evangelischer Lehrer in Weingarten 1868–1888.
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[33] 9. Die neue evangelische Kirche in Weingarten

Auf der linken Seite des schönen Schussenthales erheben sich die großartigen, das ganze Thal beherrschenden Gebäude der ehemaligen reichsunmittelbaren Benediktiner-Abtei Weingarten, welche im Jahre 1803 säkularisirt und 1806 zugleich mit dem um den Klosterhügel gelagerten Marktflecken Altdorf, der bis dahin Hauptort der früheren österreichischen Landvogtei gleichen Namens gewesen war, mit dem Königreich Württemberg vereinigt wurde. Im Jahr 1865 wurde der Ort unter dem Namen Weingarten zur Stadt erhoben. Nach der Aufhebung des Klosters standen die ausgedehnten Gebäulichkeiten lange Zeit leer, bis endlich im Jahr 1825 das durch Herzog Karl Alexander 1737 gestiftete Waisenhaus nach Weingarten verlegt wurde. Diese Anstalt war bekanntlich paritätisch; und für die evangelischen Angehörigen derselben wurde der ehemalige Audienzsaal des Fürst-Abtes mit seinen obern Nebenräumen (im nordöstlichen Pavillon des Schloßgebäudes gelegen) zum Betsaal eingerichtet, der Gottesdienst wurde vom jeweiligen Oberinspektor des Waisenhauses gehalten. Obgleich nun der Betsaal nur den Angehörigen dieser Anstalt dienen sollte, so wurden die Gottesdienste doch auch von den Evangelischen, die sich in und um Weingarten nach und nach niederließen, besucht. Dieselben hatten sich bis zum Jahr 1848 so vermehrt, daß eine eigene Confessionsschule errichtet werden mußte, deren Gründung und Erhaltung ein Werk des Gustav-Adolf-Vereins ist. In derselben werden gegenwärtig von zwei Lehreren 120 Kinder unterrichtet. Schon im Jahr 1847 hatte das K. Waisenhaus einen katholischen Oberinspektor bekommen, und es wurde daher ein eigener [34] evangelischer Anstaltsgeistlicher in der Person des jetzigen Pfarrers Eichenhofer in Neidlingen bestellt, eines Mannes, welcher sich während seiner 3½jährigen Wirksamkeit in Weingarten um die Entwicklung der evangelischen Gemeinde und ihrer Schule große Verdienste erworben hat. Von großer Wichtigkeit für die Gemeinde war die Verlegung des zweiten Infanterie-Regiments (nun Infanterie-Regiment „Kaiser Wilhelm, König von Preußen“ No. 120) nach Weingarten im Herbst 1868. Nicht nur gehört ein beträchtlicher Theil der Offiziere und Militärbeamten, sowie viele Unteroffiziere und Mannschaften der evangelischen Kirche an, sondern es ließen sich von jetzt an auch viele evangelische Geschäftsleute in Weingarten nieder. Hiezu kamen in den letzten Jahren noch viele Bauern, welche sich in der Nähe ankauften. Infolge all dieser Erscheinungen stieg die Zahl der Evangelischen in der Stadt auf über 800; und mit Hinzurechnung der Filialisten mag die Gemeinde jetzt 1300 Seelen zählen.

So war denn die Zeit herangekommen, in welcher der bisherige Betsaal für die Kirchenbesucher nicht mehr ausreichte an gewöhnlichen Sonntagen, geschweige denn an den Festtagen, welche besonders auch die weiter entfernt wohnenden Genossen der Gemeinde zum Gottesdienst führen. Während der untere Raum des Betsaals mit 220 Personen gefüllt wurde, hatten allerdings in den übrigen Räumen auch ca. 200 Kirchenbesucher Platz. Aber von den letzteren stand während des Gottesdienstes ein großer Theil außerhalb derjenigen Aufsicht, welche eine vom Auge des Predigers beherrschte Gemeinde auf sich selbst, auf alle Anwesende ausübt; es mangelte an der nothwendigen Disciplin. Selbst nicht alle Schüler übersah zu gleicher Zeit das Auge des Lehrers. Alte wie Junge waren durch die mächtigen Mauerpfeiler verdeckt oder so weit nach hinten gerückt, daß sie nichts sehen und nicht gesehen werden konnten. Für dieselben lag daher sehr nahe die Versuchung, Dinge zu treiben, welche nicht zur Andacht gehören. Rechnet man hiezu noch den Umstand, daß der Betsaal im dritten und vierten Stock des Schloßgebäudes liegt, daß zu ihm 64 Treppenstufen führen, daß die Bewohner der untern Stadt noch vorher den Klosterberg auf 70 Treppenstufen ersteigen mußten, so konnte man sich gewiß über den unbequemen Zugang zum gottesdienstlichen Lokal mit Recht beschweren, und manches alte Mütterlein mußte auf den Besuch des Gottesdienstes geradezu verzichten. Vergesse man auch nicht, daß der Betsaal noch von Klosterzeiten her im Innern derart ausgestattet war, daß ein evangelischer Christenmensch durch diesen Anblick unmöglich erbaut werden konnte, während neben dieser Pracht die Einrichtungen [35] für den evangelischen Gottesdienst äußerst ärmlich und unpraktisch gehalten waren. Es hat nicht an Leuten gefehlt, welche unsern Kirchbau als einen Luxus erklärten und von diesem Standtpunkt aus gegen denselben eiferten. Darum ist hier absichtlich in ausführlicher Weise auf die Uebelstände hingewiesen, die der bisherige Betsaal der Gemeinde brachte und denen noch beigefügt sein soll, daß seine Lage in der Kaserne Wochen-Gottesdienste geradezu unmöglich machte, daß wir keine Glocken hatten, und was dergleichen Uebelstände mehr sind.

So mußte denn der Wunsch nach einer eigenen Kirche immer mehr laut werden; und als am 2. Oktober 1877 auf den Antrag des Fabrikanten C. F. Autenrieth hier der Gemeinderath den einstimmigen Beschluß gefaßt hatte, der evangelischen Gemeinde einen Bauplatz für die neue Kirche zu schenken, da war auch der erste Anfang mit dem Kirchenbau gemacht. Dieser Bauplatz wurde später auf Grund des vom Architekten gefertigten Situationsplans auf 42 ar abgegrenzt, so daß sich des Geschenkes Werth auf 5–6000 M. berechnet. Nach mancherlei vorbereitenden Schritten kam am 24. Februar 1878 eine Gemeindeversammlung zustande, welche ein Kirchenbau-Comité wählte und den großen Beschluß faßte: „Wir bauen eine Kirche.“ An den Haufen von Sorgen, welchen die Ausführung dieses Wortes in sich schließen sollte, an die mancherlei trüben und betrübenden Erscheinungen, welche zwischen diesem Tag und dem 5. Aug. 1883 liegen, dachte damals in vollem Umfang wohl niemand. Noch war ja kein Pfennig zum Bau vorhanden; und daß die Gemeinde selber aus eigener Kraft die nöthigen Geldmittel aufbringen könnte, mußte als eine Unmöglichkeit angesehen werden. Denn wie in allen Diasporagemeinden, so herrschen der Zahl nach auch in Weingarten diejenigen vor, welche mit irdischen Glücksgütern wenig gesegnet sind. Die Gemeindegenossen haben aber bis zum Ende des Baues zu demselben etwa 7000 M. beigesteuert; gewiß eine schöne Summe. Und mit der Kirche sind die Verpflichtungen der Gemeinde noch lange nicht beendigt. Wir haben freilich durch ein vielleicht allzufrühzeitiges Beginnen mit dem Bau viel Muth gezeigt. Wir wollen aber nicht sagen Muth, sondern Vertrauen: Vertrauen auf die guten Herzen unserer Glaubensgenossen und auf den, der diese Herzen lenkt. Und so sind wir allerdings rascher, als wir kaum es ahnten und hofften, zum schönen Ziele gelangt, das wesentlich gefördert wurde durch die rastlosten Bemühungen des früheren Vorstandes vom Kirchenbau-Comité, Fabrikant Autenrieth und durch den Feuereifer des Herrn Stadtpfarrers Breuninger.

[36] Doch wir sind vorausgeeilt. Nachdem der Kirchenbau beschlossen war, handelte es sich zunächst um Aufstellung eines Bauplans und des Kostenvoranschlags. Diese Aufgabe übernahm durch Vermittlung des christlichen Kunstvereins Oberbaurath Dr. von Leins in Stuttgart. Das nun vollendete Werk lobt den Meister besser, als je eine Feder es versuchen kann.

Der von Herrn von Leins gefertigte Bauplan nahm einen Bau im frühgothischen Stil mit 500 Sitzplätzen in Aussicht, welcher einen Aufwand von ca. 82000 M. in Anspruch nahm. Das war freilich eine schrecklich hohe Summe; und sie wurde leider durch unvorhergesehene Arbeiten wesentlich überschritten, so daß wir die Summe von annähernd 100000 M. aufbringen müssen. Vielleicht wirft man uns vor, daß wir zu luxuriös gebaut haben. Wer aber unsere neue Kirche in ihrer edlen Einfachheit beschaut, wird uns das Zeugniß geben müssen, daß wir, der Würde der evangelischen Gemeinde Rechnung tragend, nicht zu weit gegangen sind, daß wir kaum einfacher bauen konnten.

Am 2. September 1879 wurde mit dem Bau begonnen, und am 11. Juli des nächsten Jahres konnte unter der allgemeinsten Theilname nicht nur der evangelischen Gemeinde, sondern auch der katholischen Mitbürger unter Anwesenheit einer Menge von fremden Gästen der Grundstein gelegt werden. Derselbe fand seine Stelle unter dem Altar. Weil es häufig an den nöthigen Geldmitteln fehlte, so schritt der Bau nur langsam vor; doch konnte er im Herbst 1881 unter Dach gebracht werden, und im vorigen Jahr wurde der äußere Bau fertig. Der heurige Sommer war dem inneren Ausbau und der Herrichtung des Kirchplatzes gewidmet. Mit Dank gegen Gott sei auch hier mitgetheilt, daß der ganze Bau ohne jeglichen Unfall verlief. Die Kirche ist aufgeführt theils aus Weinsberger Werkstein, theils aus gelben Ziegelsteinen. Der Helm des 40 Meter hohen Thurmes besteht aus Werkstein, der Sockel aus Neckarthailfinger Sandstein. Das Dach ist mit Schiefer gedeckt. Der Bau gewinnt durch das Querschiff ein massiges Aussehen. Die Altarnische, an welche sich die Sakristei anschließt, ist wie bei allen neuen evangelischen Kirchen etwas klein, aber um so zierlicher ausgestattet. Die gewölbte Decke zeigt auf blauem Grund goldene Sterne; die Wände sind reich bemalt, und als besonderer Schmuck prangt im gemalten Chorfenster der segnende Christus, eine unvergleichlich schöne Figur, gemalt nach einem Karton von Professor Grünewald in Stuttgart, von Glasmaler Annemüller. Auch der Altar, [37] gehauen in Weinsberger Werkstein, ist ein Kunstwerk. Zu der in Eichenholz ausgeführten Kanzel gelangt der Prediger unmittelbar von der Sakristei aus. Die aus der Werkstätte von Gebr. Link in Giengen stammende Orgel, ein Meisterwerk nach dem Urtheil der Sachverständigen, hat 16 Register. Die drei Glocken, von denen die große ein Kreuz, die mittlere das Lutherbild, die kleine das Bild von Gustav Adolf und jede eine passende Umschrift trägt, wurden von C. Kirchdörfer in Hall gegossen. Zwei große Oefen heizen den Kirchenraum.

Wer die Kirche zum erstenmal besucht, wird überrascht sein von der Fülle und Mannigfaltigkeit der Farben, in welchen das Gotteshaus prangt und welche man für gewöhnlich in evangelischen Kirchen nicht sucht. Abgesehen von der Altarnische, zeigen auch die einfache Bestuhlung, die dreischiffige Holzdecke, welche mit ihren leichten Spitzbogen die gothische Bauart gar wunderschön vorführt, ebenso die Brüstung an der Orgelempore eine solch eigenartige Farbenzusammenstellung, daß ein evangelisches Auge sich erst an die neue Erscheinung gewöhnen muß. Zu der inneren Ausstattung der Kirche passen auch das matte Kathedralglas der Spitzbogenfenster und die etwas grelleren Farben der großen Rosetten des Querschiffes und des Thurmfensters. Zur weiteren inneren Ausschmückung der Kirche gehören die prächtigen Decken für Altar, Taufstein und Kanzel. Die schwarze und grüne Garnitur wurde von Frauen und Jungfrauen aus der Gemeinde ausgeführt, während das mit reicher und feiner Stickerei geschmückte rothe Festgewand, eine Stiftung des christlichen Kunstvereins, aus dem Paramentengeschäft der Fräulein Bihler-Uhl in Reutlingen hervorging. Auch schöne Teppiche, für den Raum um Altar und Taufstein bestimmt, wurden von Frauen aus der Gemeinde gestiftet. Die für Alter und Taufstein bestimmten Gefässe, würdig des neuen Gotteshauses, sind Geschenke von Frauenvereinen des württembergischen Gustav-Adolf-Vereins und vom christlichen Kunstverein. Letzterer stiftete auch eine Prachtbibel für den Altar, eine ebensolche auch die vaterländische Bibelanstalt. Aus dem alten Betsaal haben wir in die neue Kirche das einfache schöne Kruzifix (das Kreuz aus Ebenholz, das Christusbild aus versilbertem Kupfer) mitgenommen. Der Platz um die Kirche ist zu einem schönen Garten umgeschaffen und mit einem eisernen Zaun abgeschlossen.

Wir haben versucht, ein schwaches Bild der neuen Kirche zu geben. Und nun wird mancher Leser fragen: Woher habt ihr Weingartener das Geld zum Bauen bekommen?

[38] Wir beantworten diese Fragen mit folgenden Notizen. Unsere Einnahmen betragen bis heute (in abgerundeten Zahlen): Von Gustav-Adolf-Vereinen 30 000 M., Kirchen-Kollekte 8 600 M., vom K. Kultministerium 6 000 M., vom K. Finanzministerium aus den Mitteln des Hochbaufonds 10 000 M., Beiträge von den Gemeindegenossen 7 000 M., aus der Diözese 1 950 M., von seiner Majestät dem deutschen Kaiser 1 000 M., von Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Marie von Württemberg 200 M., ein Anlehen im vorigen Jahr 15 000 M. Rechnen wir zu diesen Summen noch den Rest des in sichere Aussicht gestellten Staatsbeitrages, so haben wir eine wirkliche Einnahme von ca. 67 000 M., und es bleibt also der Gemeinde die bedeutende Schuld von ca. 29 000 M. Wenn die Gemeinde Weingarten an ihrem Ehrentage, am 5. August, jubelnd und dankend ausrufen konnte: „Der Herr hat Großes an uns gethan!“ – so mußte sie noch mit besonderem Dank hinblicken auf die Werkzeuge Gottes, durch die er uns in solch reicher Weise geholfen hat. Steht nicht unsre Kirche da als ein stolzes Denkmal der segensreichen Wirksamkeit des Gustav-Adolf-Vereins, der gewiß auch ferner helfen wird, wenn die Gemeinde ihren Verbindlichkeiten nachkommen soll?

Doch gehen wir jetzt über zur fröhlichen Krönung des Werkes, zur schönen Kirchweihfeier am 5. August. Zwar kostete es viele Mühe, das Werk auf diesen Termin fertig zu bringen; und als am Vorabend des Festtages die ersten Gäste ankamen, waren noch viele fleißige Hände beschäftigt mit den letzten Arbeiten im Aeußern und Innern. Doch als am Festesmorgen die helle Sommersonne siegreich hervordrang, so war auch zur rechten Zeit alles Alltägliche aus den Kirchenräumen verschwunden; und im schönsten Festesschmucke stand sie bereit zur heiligen Weihe. Die ganze Stadt prangte im Flaggenschmuck, die katholischen Mitbürger wetteiferten mit den evangelischen Gemeindegenossen in dem Bestreben, den Tag zu einem allgemeinen Festtag zu machen. In den Gruß, mit dem die neuen Kirchenglocken den Freudentag in der Frühe verkündigten, mischten sich vom nahen Hügel aus die Böllersalven, welche von der Stadtbehörde angeordnet waren.

Die Morgenzüge brachten Hunderte von Festgästen, und scharenweise strömten solche von den benachbarten Gemeinden herbei. Wurden auch viele von bloßer Neugierde hiehergetrieben, so war doch bei vielen das Verlangen vorhanden, Zeuge des Ehrentages der evangelischen Gemeinde zu sein. In dem bisherigen Betsaal waren alle Räume zu klein. Leider [39] konnten nur die wenigsten Festgäste den Worten lauschen, welche Pfarrer Eichenhofer von Neidlingen sprach. Die Töne des Liedes:

Die Gnade sei mit allen,
die Gnade unsres Herrn,
Des Herrn, dem wir hier wallen
und seh'n sein Kommen gern“ –

waren verklungen, die Pfarrgemeinderäthe nahmen die Altar- und Taufgefässe, das Kruzifix und die Bibel in Empfang, und tief gerührt verließ die Gemeinde den bescheidenen Ort, an dem sie 58 Jahre lang Gottes Wort gehört und die Sakramente empfangen hatte.

Unter dem Choral: „Ein' feste Burg ist unser Gott,“, welchen die Regimentskapelle anstimmte, bewegte sich hierauf der Zug zur neuen Kirche, und als die Festgäste vor dem Hauptportal der Kirche Aufstellung genommen hatten, stimmte die Festgemeinde unter Begleitung der Regimentsmusik das Lied an: „Nun danket alle Gott!“ Hierauf übergab in Verbindung mit einer kurzen Ansprache Oberbaurath v. Leins den Kirchenschlüssel an den Ortsgeistlichen, Stadtpfarrer Breuninger, welcher nun die neue Kirche im Namen des dreieinigen Gottes öffnete. Bald füllten sich die schönen Räume derselben, und leider konnten auch hier lange nicht alle Platz finden, welche dem feierlichen Weiheakt beiwohnen wollten. Die gottesdienstliche Feier wurde eröffnet mit dem Chor: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!“ Derselbe war für diese Feier von Musikdirektor Braun in Biberach componirt. – Danke der freundlichen Beziehungen, welche in Weingarten zwischen beiden Confessionen bestehen, war es möglich, für die von Herrn Braun dirigirte Aufführung dieser schönen und großartigen Komposition einen Chor von ca. 100 Stimmen zusammenzubringen.

Den Weiheakt nahm in Vertretung des durch Krankheit am Erscheinen verhinderten Feldprobst Prälaten v. Müller Dekan v. Biberstein vor. Seine Ansprache gründete sich auf Psalm 84. Er erinnerte daran, wie wunderbar Gott der Herr und so schnell zu dieser Weihe geführt habe durch so manche Hindernisse und Sorgen hindurch. Es sei eines aufs andere gefolgt, die Ordnung des Gemeindelebens, die Bestellung eines eigenen Pfarramts, die Gründung einer evangelischen Schule und nun die Erbauung eines eigenen Gotteshauses. Er wies Kanzel und Altar, Taufstein und Orgel ihre Bestimmung zu und ermahnte die Gemeinde, daß sie je länger je mehr werde eine Behausung Gottes im Geiste. Unte den kraftvollen Tönen der neuen Orgel sang nun die Gemeinde [40] das Lied: Hallelujah! schöner Morgen; und es folge die Festpredigt des Ortsgeistlichen, Stadtpfarrer Breuninger. An der Hand desselben Pslams, der durch Musik, Weiherede und Predigt sich überall durchschlang, redete er zur Gemeinde davon, daß die neue Kirche eine liebliche Wohnung Gottes sei, indem sie 1. hinaufweise zu Gott, dem wir Dank schulden und von dem wir Leben empfangen, 2. hineinweise ins Leben mit seinen Sorgen und Mühen und uns Erquickung verheiße, und endlich 3. uns hinausweise aufs Ziel unserer himmlischen Berufung. Das apostolische Glaubensbekenntnis, welches der Festprediger in seine Ausführung verflocht, sollte den festen Bekenntnisgrund bezeichnen, auf welchem das neue Gotteshaus stehen muß. Nach dem Gesang des Verses: „Dreieiniger Gott, Lob, Dank und Preis,“ trat der Vorstand des württembergischen Gustav-Adolf-Vereins, Stadtpfarrer Lauxmann, an den Altar. Er richtete an die Gemeinde Grüße aus von der Gesamtgemeinde fern und nah, von dem Vereine, welcher Weingarten bisher reichlich gestützte hatte, und schloß seine Gedanken an das Wort an: „Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und freut sich hoch über das Bräutigams Stimme. Dieselbe meine Freude ist nun erfüllt.“ Der Verein sei wie Johannes ein Wegebereiter, und wo die Wege bereitet seien, freue er sich mit. Dann überbrachte er Grüße von der vaterländischen Bibelanstalt und überreichte in ihrem Namen eine schöne Altarbibel mit dem Wunsch, daß Gottes Wort allezeit der Gemeinde Freude und Trost sein möge.

Den Schluß des schönen Gottesdienstes machte Prälat von Lang, der Generalsuperintendent des oberschwäbischen Sprengels. Er überbrachte die Segenswünsche der Oberkirchenbehörde, erinnerte daran, daß ein noch so schönes Gotteshaus erst recht schön werde, wenn es viele heilsbegierige Seelen in sich schließe, und weihte das Ganze mit einem innigen Gebet, das wir hier folgen lassen:

Allmächtiger, gnadenreicher Gott! Wir danken dir von Grund unserer Herzen für den Tag der Freude, den du dieser Gemeinde bereitet hast; laß diese Freude immer neu werden in immer neuem Segen, der von diesem Hause ausgeht. Wir haben es dir geweiht, weihe auch du es durch dein Wort und deinen Geist; laß dein seliges Wort und deiner Sakramente Kraft nicht von dieser Stätte weichen. Gieb allezeit Prediger, die deinen Weg wohl lehren und dein Wort recht theilen; richte die Lehrer dieser Gemeinde durch deinen heiligen Geist, daß sie deine boten an die Kleinen seien, verleihe allen Vätern und Müttern dieser Gemeinde, daß sie in ihrem Werk dir dienen und dir rechte Werkzeuge an denen seien, die du ihnen befohlen hast, auf [41] daß also das Licht deines herrlichen Evangeliums von diesem Hause aus in die Häuser und Herzen dieser Stadt ohne Aufhören leuchte und Segen ausgehe über Hohe und Niedere, Arme und Reiche, Fröhliche und Traurige, Lebende und Sterbende. Ja Herr! laß deine Augen offen stehen über diesem Haus Tag und Nacht und deine selige Nähe kund werden allen, die hier dein Antlitz suchen, ob sie im Waffenrock oder im bürgerlichen Gewande vor dir erscheinen.

Laß auch die Verheißung an dieser Stätte sich erfüllen: „ich will Frieden geben an diesem Ort.“ Verbinde durch das Band des Friedens alle, welche hier zusammenkommen, erhalte und stärke den Frieden und die brüderliche Liebe auch unter denen, welche in dieser Stadt in verschiedenen Weisen und in getrennten Gotteshäuern dich anbeten und laß sie, wie heute so auch ferner über alle trennenden Schranken hinüber sich die Hände reichen in dem Glauben und Bekenntniß: Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Vater, der da ist über allen und durch uns alle und in uns allen.

Dir, dem ewigen Gott, sei Ehre und Preis hier im irdischen Gotteshaus und droben in deinem heiligen Tempel. Amen.

Der Segen und der Gesang: „Großer Gott, wir loben dich“ etc. schloßen die erhebende Feier, welche auf alle Anwesenden, auch auf die zahlreichen katholischen Festgäste, einen erhebenden Eindruck gemacht hatte.

Auf Nachmittag 1 Uhr war im Gasthof zum Schwanen ein Festmahl gerichtete, an dem 200 Personen theilnahmen. Die Reihe der Toaste eröffnete Herr Prälat von Lang, welcher an die allergnädigste Theilnahme unseres Königs für den Kirchenbau erinnerte und zu einem dreifachen Hoch auf denselben aufforderte, in welches die Versammlung mit Begeisterung einstimmte. Seiner Majestät wurde durch ein Telegramm noch besonders der Dank der Gemeinde ausgedrückt, und eine gnädige Antwort hierauf lief noch Abends ein. Auch in das von Herrn Oberst v. Grävenitz auf Kaiser Wilhelm ausgebrachte Hoch wurde mit Jubel eingestimmt. Weitere Toaste galten der Oberkirchenbehörde und deren Vertreter, Herrn Prälaten v. Lang, dem Feldprobst Herrn Prälaten v. Müller, den Staatsbehörden, welche den Kirchenbau förderten, dem Regiment und dessen Kommandeur, dem Gustav-Adolf-Verein und seinem Vorstand, dem Erbauer der Kirche, dem Bauführer (Stadtbaumeister Forster) und den Bauleuten u. s. w. Auch der Poet der oberschwäbischen Kirchweihen, Herr Pfarrer Griesinger a. D. fehlte nicht am Fest, und sein von gutem Humor gewürztes Gedicht fand allgemeinen Beifall. Die weiteren Tischreden erhielten ihren Abschluß durch ein wohlverdientes Hoch auf Herrn Stadtpfarrer Breuninger.

Abends um 6 Uhr luden die Kirchenglocken noch einmal zum Gottesdienst ein; und die Besucher desselben wurden durch die auf das Sonntagsevangelium [42] gegründete Ansprache des Herrn Stadtpfarrers Lauxmann tief ergriffen.

Die vielen Gäste, welche das Fest von auswärts hieher geführt hatte, und die meisten der hiesigen Bewohner fanden am Nachmittag des Festtages angenehme Unterhaltung auf dem städtischen Festplatz, wo die Regimentskapelle spielte. Dort entwickelte sich ein förmliches Volksfest. So wurde der 5. August 1883 für die ganze Stadt ein Festtag. Für die evangelische Gemeinde aber, die sich nun eines eigenen Gotteshauses erfreut, wird er, wie wir hoffen, reiche Früchte des Glaubens tragen. Das walte Gott!

H. Kl.