Die deutschen Polar-Expeditionen 1882 und 1883
Die deutschen Polar-Expeditionen 1882 und 1883.
Von den internationalen Stationen, mit denen im Laufe dieses und des nächsten Jahres die Polargegenden unserer Erde umgürtet werden sollen[1], wird Deutschland die drei Punkte: Cumberland-Sund, Süd-Georgien und Labrador-Küste besetzen. Wohl wird Mancher beim Lesen dieser drei Namen eine leise Verwunderung nicht unterdrücken können, daß das mächtige deutsche Reich mit seiner hervorragenden wissenschaftlichen Stellung sich damit begnügt, in so relativ niedrigen Breiten zu bleiben, während andere Nationen, wie z. B. die Vereinigten Staaten von Nordamerika, fast um zehn Breitegrade – also etwa um die Entfernung zwischen Kopenhagen und Venedig – dem Pole näher gerückt sind. In der That ist der langgewohnte frühere Begriff der Polarforschung uns so tief in Fleisch und Blut gedrungen, daß wir das jetzige internationale Unternehmen noch häufig genug vom früheren Standpunkte aus betrachten, während es doch durchaus davon verschieden ist. Diese Auffassung wird namentlich dadurch genährt, daß einzelne Staaten, unter ihnen wieder in erster Linie Nordamerika, bei ihren Stationen ein combinirtes System in Anwendung bringen und neben der neuen, programmmäßigen wissenschaftlichen Beobachtung auf festem Posten noch das alte System der Polarforschung, das Vordringen in höchste Breiten, betreiben. Für Deutschland aber und Oesterreich, von wo aus die neue Aera der Polarforschung ihren Ursprung genommen hat, ziemt es sich, innerhalb des auf den internationalen Polarconferenzen sattsam berathenen Programms zu bleiben und der Welt zu zeigen, warum gerade diese Einschränkung das Richtige ist.
Als die deutsche Polarcommission zu Beginn dieses Jahres behufs Organisation der deutschen Expeditionen aus Reichsmitteln die Summe von 300,000 Mark angewiesen erhielt, fiel der Blick zunächst auf Ostgrönland, wo auf Pendulum-Insel der Schauplatz zahlreicher früherer wissenschaftlicher Arbeiten einen genügenden Anknüpfungspunkt für neue Untersuchungen bot. Somit wurde es in Aussicht genommen, hier eine Station anzulegen. Aber die Anfragen, die bei deutschen und außerdeutschen Rhedern, welche Schiffe auf den Walfischfang entsenden, betreffs Ueberführung der Expeditionsmitglieder gehalten wurden, hatte so exorbitante Preisforderungen zur Folge, daß hierdurch allein die zur Verfügung stehenden Mittel fast aufgewendet worden wären. Hierzu kam noch als zweiter Uebelstand, daß Niemand die absolute Garantie dafür übernehmen wollte, die Expeditionsmitglieder im Herbste nächsten Jahres abzuholen, da die gefürchteten Eisverhältnisse an der Ostküste Grönlands, der tragische Untergang der „Hansa“ und die schaurige Schollenfahrt der „Hansa“-Männer noch in Jedermanns Gedächtniß standen. Somit erschien es geboten, von der Ostküste Grönlands vorläufig abzusehen.
Es mag dahingestellt sein, ob nicht vielleicht dennoch die Ostküste von Grönland, wenigstens in ihrem südlichen Theile, in Betracht gekommen wäre, wenn damals schon die Details über die ausgezeichnet erfolgreiche Untersuchungsfahrt nach der Ostküste Grönlands, welche der Missionär der Brüdergemeinde, J. Brodbeck, vom 2. bis 12. August 1881 unternommen hat, bekannt gewesen wären. Wenn er auch nur wenige Meilen nördlich vom Cap Farewell auf der Ostküste vordrang, so constatirte er daselbst doch eine von zahlreichen heidnischen Eskimos bewohnte Küstenregion, die verhältnismäßig leicht von seiner bekannten Missionsstation Friedrichsthal aus zu erreichen war und auf der er unter Anderem eine Normannenruine entdeckte. In meteorologischer Beziehung würde gerade dieser Theil der Küste von großer Bedeutung gewesen sein.
Ursprünglich, noch ehe die Betheiligung des deutschen Reiches an der internationalen Polarforschung überhaupt officiell feststand, war von deutscher Seite die Insel Jan Mayen als Stationsort in Aussicht genommen worden, aber als Deutschland wegen ablehnender Haltung seiner obersten Behörden von der vorjährigen internationalen Polarconferenz zu St. Petersburg fern bleiben mußte, nahm Graf Wilczek, der generöse Freund des verstorbenen Weyprecht, die Insel Mayen für Oesterreich-Ungarn in Aussicht, und jetzt befindet sich die österreichische Polarexpedition unter Führung des Lieutenant Wohlgemuth voraussichtlich bereits auf dieser Insel.
Deutschland mußte sich also nach einer anderen leicht erreichbaren Localität umsehen, und so fiel der Blick der Commission zunächst auf die Davisstraße; man wählte hier den Cumberland-Sund, welcher in das Baffinsland bis über den nördlichen Polarkreis eindringt, zur Anlage der nördlichen Station. Es vereinigten sich manche Umstände, um gerade diese Wahl herbeizuführen. Wenn der Cumberland-Sund auch nicht in hervorragender Weise für die meteorologischen Verhältnisse Europas von derselben Wichtigkeit ist, wie die Ostküste Grönlands oder wie noch näher liegende Punkte, beispielsweise die Insel Island, so hat er doch wegen seiner großen Nähe zum magnetischen Pol eine andere, sehr hohe Bedeutung und ist somit für einen der wesentlichsten Theile des internationalen Programms der neuen wissenschaftlichen Polarforschung wie geschaffen. Ferner ist Cumberland-Sund auch noch nicht so genau bekannt und in allen seinen Theilen erforscht, daß es dort in geographischer Beziehung gar nichts mehr zu erforschen gäbe; im Gegentheil, es kann dort durch kleinere Schlittenexpeditionen noch manches Neue entdeckt werden. Endlich aber ist Cumberland-Sund auch gerade nicht so unbekannt, daß er nicht von Walfischfängern fast alljährlich besucht würde.
Es hatte nun der bekannte Kaufmann Albert Rosenthal in Bremerhaven, dieser leider am 20. Mai dieses Jahres verstorbene eifrige und opferwillige Förderer der deutschen Polarforschung, der seit mehr als einem Jahrzehnt dem deutschen Walfischfang neue Jagdgründe zu erringen trachtete, das vielgenannte Nordpolschiff „Germania“, das schon 1870 bis 1871 unter Capitain Koldewey die zweite deutsche Polarfahrt nach Ost-Grönland ausgeführt hatte, der deutschen Polarcommission für einen sehr billigen Preis zum Kauf angeboten. Dieses auf der J. C. Tecklenborgischen Werft in Bremerhaven erbaute Schiff hatte seitdem mit dem Afrikareisenden Th. von Heuglin eine Polarfahrt nach den Eingängen des Karischen Meeres gemacht, war dann in den Dienst des Walfischfanges zurückgetreten, aus einem Dampfschiff in einen Schooner verwandelt worden und hatte bereits als solcher eine glückliche Fahrt nach Cumberland-Sund bestanden. Dieses Schiff kaufte also die deutsche Polarcommission.
Als Südstation des deutschen Reiches wurde Süd-Georgien, welches östlich vom Cap Horn einsam im weiten Ocean liegt, in Aussicht genommen. Diese Insel ist namentlich in Bezug auf die meteorologischen Verhältnisse jenes gewaltigen Gebietes auf der Südhälfte unserer Erde vom höchsten Interesse. Sie ist noch fast ganz unbekannt, wenngleich sie wiederholt von Robbenschlägern besucht worden ist.
Die neueste und vollständigste Beschreibung von Süd-Georgien nebst Karte verdanken wir dem österreichischen Zeichner und Geometer Heinrich W. Klutschak, welcher in allen Polarmeeren zu Hause ist. Er hat seine interessante Publication in der „Deutschen Rundschau für Geographie und Statistik“ (Wien, Hartleben’s Verlag) [380] veröffentlicht. Die Insel ist erst seit dem Jahre 1797 bekannt, wurde durch den Capitain Cook gelegentlich seiner Weltumsegelung entdeckt und seither von mehreren Entdeckungsreisenden nur flüchtig besucht. Die Küstenstriche sind durch Franzosen, Engländer und Amerikaner, von letzteren freilich erst seit nicht langer Zeit, erforscht und bekannt geworden. Das Innere derselben ist aber noch immer unbekannt und mit Ausnahme einer sehr engen Stelle am westlichen Ende der Insel noch von Niemand bereist worden.
Seinen Höhenverhältnissen nach ist Süd-Georgien ein Gebirgsland von vier- bis fünftausend Fuß Höhe, eine Reihe einst mächtiger, jetzt todter Vulcane, die nur noch in den spitzen Kegelformen und den großen Lavabecken ihre einstige Thätigkeit bekunden. Zwischen dem südwestlichen und nordöstlichen Theil der Insel besteht ein großer klimatischer Unterschied. Der Höhenrücken von Süd-Georgien steigt, einer Felswand gleichend, am südwestlichen Theil der Insel nahe der Seeküste auf und bricht wie ein Schutzwall die mächtigen Wogen, welche die Südweststürme auf ihn werfen. Die Meeresströmung, die Luftströmung, der Zug des Masseneises, alles kommt von Südwesten her, läßt seine Elementarkräfte gegen diesen Theil der Insel spielen, und die natürliche Folge dieser Vorgänge ist, daß der niedere nördliche Theil ein viel freundlicheres und milderes Klima aufzuweisen hat. Zahlreiche Gletscher steigen von dem hoch mit Eis überdeckten Gebirgsrücken des unerforschten Innern auf allen Seiten der Insel bis direct in’s Meer hinab; der Wind heult fast ununterbrochen durch die Schluchten der Felsen; jeden halbwegs schönen Tag bezahlt der Reisende hier mit einer ganzen widrigen Woche. Plumpe See-Elephanten, die Walrosse des südlichen Polarmeeres, See-Leoparden, Albatrosse, Pinguine, Cap Horn-Tauben und Ratten sind die einzigen Bewohner der Insel.
Hier wird die zweite deutsche Polarstation errichtet werden. Da das Meer bis Süd-Georgien eisfrei ist, so bedarf es keines besonderen Expeditionsschiffes, welches sich unter Gefahren bis zu seinem arktischen Ziele hindurcharbeiten müßte; es können vielmehr die ganze Hin- und Rückreise der Expeditionsmitglieder und der Transport der Sachen auf beliebige Weise erfolgen, und in Bezug hierauf hat die deutsche Polarcommission die Unterstützung der kaiserlich deutschen Admiralität sowie der Hamburg-Süd-Amerikanischen Dampfschiffs-Gesellschaft gefunden. Die letztgenannte wird in diesen Tagen, Anfangs Juni, die gesammte Expedition nebst Ausrüstung bis nach Montevideo schaffen, wo die Corvette „Moltke“ den Transport bis Süd-Georgien weiterführen und, am Ziele angelangt, den Expeditionsmitgliedern noch kurze Zeit bei Errichtung der Station behülflich sein wird, um alsdann wieder abzufahren.[2]
Außer diesen beiden Stationen wird noch an der Labrador-Küste eine dritte errichtet werden, welche jedoch nicht den Charakter einer vollen Station im Sinne des Programms der internationalen Polarforschung besitzen, sondern ausschließlich meteorologischen Forschungen dienen wird. Diese Station soll eine der Hauptfragen der Wetterkunde von Europa der Lösung nahe führen.
Es ist allgemein bekannt, daß unser Erdtheil sein Wetter meist vom atlantischen Ocean her empfängt, und in gewisser Beziehung könnte man die Insel Island geradezu für die „Sturm- und Wetterfabrik von Europa“ halten; denn von hier aus werden jene Wirbelstürme entsendet, welche die Küsten Großbritanniens so oft verheerend heimsuchen, welche die Nordsee zu einem nicht ungefährlichen Meere machen und das Wasser der Elbe oft viele Fuß hoch in Hamburg aufstauen. Dieser Stürme wegen drängt sich an unseren deutschen Küsten Rettungsstation an Rettungsstation; sie sind es auch, welche vor der Nordseeküste ein Eiland nach dem andern mit gierigen Wellen überfluthen und das Bestehen unserer ohnehin bescheidenen Inselwelt gefährden.
Durch sorgfältige meteorologische Beobachtungen an der Küste von Labrador hofft man nun, eine Erklärung für das Entstehen dieser Wirbelstürme zu finden.
Die Nebenstation an der Labrador-Küste wird nur durch eine einzige Person versehen werden (und zwar durch den Privatdocenten Dr. Koch aus Freiburg im Breisgau), welche sich, dank der von der Herrnhuter Brüdergemeinde freundlichst gewährten Unterstützung, auf einem der Schiffe dieser Gemeinde mit einer größeren Anzahl vortrefflicher meteorologischer Instrumente zunächst nach der Missionsstation Nain in Labrador begeben und dort längs der Küste an die Missionäre, deren gütige Mithülfe erwartet wird, die Beobachtungsinstrumente und kurze Instructionen vertheilen wird. Es gehört zum Beobachten nämlich keineswegs ein fachwissenschaftlicher Meteorologe, sondern nur ein gewissenhafter Ableser der Instrumente.
So genau sich nun auch die beiden Hauptstationen Cumberland-Sund und Süd-Georgien an das Programm der internationalen Polarconferenzen anschließen, so werden sie doch bezüglich ihres Arbeitsgebietes jede für sich noch ein besonderes charakteristisches Gepräge erhalten. Cumberland-Sund wird vorwiegend eine magnetische, Süd-Georgien hauptsächlich eine meteorologische Station sein. Zu diesem Zwecke wird die nördliche Station auch mit einer vollständigen Einrichtung zur Beobachtung der ganz neuerdings in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses getretenen sogenannten (magnetischen) „Erdströme“ versehen werden. Zum Studium dieser Frage war aus dem Elektrotechnischen Verein im vorigen Jahre ein „Erdstrom-Comité“ zusammengetreten, welches die so häufig durch sogenannte Erdströme hervorgerufenen Störungserscheinungen in elektrischen Drahtleitungen (Telegraphen etc.) zu untersuchen bestrebt ist, und auf dessen Anordnung die nördliche Polarstation zweckentsprechend ausgerüstet werden wird. Außerdem werden natürlich die Polarlichter einen sehr bedeutenden Gegenstand der Untersuchung bilden, namentlich wird die neueste geistvolle Hypothese A. E. von Nordenskiöld’s geprüft werden, laut welcher unsere Erdkugel fast beständig von einem geschlossenen Nordlichtring umkränzt ist, der einfach, doppelt oder vielfach sein kann.
Aber nicht nur diese Hypothese wird die Polarstation Cumberland-Sund zu prüfen haben, sondern auch die Richtigkeit der überraschenden, erst vor Kurzem vom Ingenieur Fritz gemachten Angaben über die Höhe, in welcher die Erscheinung des Nordlichtes stattfinden soll. Fritz berichtete nämlich im Gegensatze zu den bisher bekannten Beobachtungen an die internationale Polar-Commission, daß am 15. März 1872 zu Toigtat in Süd-Grönland – also in der Nähe von Cumberland-Sund – ein Nordlicht nur 650 Fuß über dem Wasserspiegel und 1700 Fuß vom Beobachter entfernt stand; ein anderes Mal fand er die Höhe eines Nordlichtes gar nur 170 Fuß über dem Wasserspiegel und seine Entfernung vom Beobachter nur 350 Fuß.
Die Südstation wird ihr Augenmerk natürlich auf die Südlichter zu richten haben; denn für letztere gilt Alles, was über die Nordlichter gesagt ist. Die Gleichzeitigkeit der Beobachtungen wird zugleich eine sehr gute Controlle über die Gleichzeitigkeit beider populären Phänomene geben. Auch wird auf der Südstation der diesjährige Venusdurchgang beobachtet werden. Ueberhaupt ist unserer guten Mutter Erde noch niemals mit solcher Gründlichkeit an den Puls gefühlt worden, wie dies in der bevorstehenden internationalen Polarcampagne der Fall sein wird.
Natürlich ist die Ausrüstung unserer beiden Hauptpolarstationen eine den großen wissenschaftlichen Aufgaben, zu deren Lösung sie beitragen sollen, entsprechende, und es ist an den ausgezeichnetsten Instrumenten, wie sie mit Hülfe unserer hervorragendsten Präcisionsmechaniker hergestellt werden können, nichts gespart worden. Somit dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß derjenige Theil der Polarforschung, welcher innerhalb der meteorologischen und magnetischen Gebiete fällt, in ausgezeichneter Weise erledigt werden wird. Ganz anders sieht es dagegen mit den übrigen naturwissenschaftlichen Disciplinen aus; denn es verlautet noch nichts darüber, ob für die Forschungszwecke derselben genügende Vorkehrungen getroffen worden sind. Hoffen wir indessen, daß es gelingen wird, diesmal unserer Mutter Erde mehr als eines ihrer Geheimnisse abzulauschen!
- ↑ Vergl. Nr. 9 „Die neue Aera der Polarforschung“.
- ↑ Das Personal dieser Stationen ist aus den wissenschaftlichen Kreisen verschiedener Theile Deutschlands gewählt worden. Es setzt sich folgendermaßen zusammen: Für die nördliche Station in Cumberland-Sund: Chef der Expedition Dr. Giese aus Colberg, ferner Astronom Leopold Ambronn aus Meiningen, Astronom Dr. Ludwig Rösch aus Oettingen, Dr. Abbes aus Bremen als Physiker und Mathematiker, Dr. Böckler aus Eßlingen als Ingenieur, Dr. Schliephacke aus Wiesbaden als Naturforscher, K. Seemann aus Hamburg als Mechaniker. Für die südliche Station auf Süd-Georgien: Chef der Expedition Dr. Schrader aus Braunschweig, Assistent an der kaiserlichen Sternwarte in Hamburg, ferner Studienlehrer Dr. Vogel aus Uehlfeld in Franken, Lehrer der Physik Dr. Will aus Erlangen, Lehrer der Physik Dr. Klauß aus Mannheim, Ingenieur Eugen Mosthof aus München, Dr. med. von den Steinen aus Berlin als Arzt und Naturforscher, Adolf Zschau aus Dresden als Mechaniker. Außerdem wird noch jede der beiden Stationen je vier gediente Leute der Marine zur Bedienung erhalten.