Die deutsche Art in Luther
in Luther.
Als vor 90 Jahren unser deutsches Volk die Fesseln der fremden Tyrannei zerbrochen und sich wieder auf sich sebst zu besinnen begonnen hatte, war in dem Wiederaufwachen seines inneren Lebens und in der beglückten Freude an längst verloren geglaubten Heiligtümern und Gnaden des Volkslebens ganz unmittelbar die Erinnerung an seinen größten Sohn wach geworden. Man mag über die Begeisterung jener Jünglinge, die auf der Wartburg im Oktober 1817 Geistes- und Volksfreiheit in ihrer Weise feierten, als über eine unreife Schwärmerei mitleidig lächeln, der Gedanke war zweifellos richtig, daß, wo man der Freiheit gedenke, man des größten Befreiers nicht vergessen dürfte. Es war die Zeit, wo den ungehörigen Aufstellungen eines Brentano über Luthers Art und Wesen, wie sie die schwärmerisch ungesunde Katharina Emmerich ihm zugeraunt hatte, ein Josef von Görres mit seinem mannhaften, freilich jetzt oft unterdrückten Zeugnis über die Notwendigkeit und Bedeutung der Reformation antwortete und Goethe die Aufmerksamkeit des deutschen Volkes auf all das lenkte, was es – ohne es zu wissen – seinem Luther verdanke.
Wenn also mit dem Gedächtnis der politischen Befreiung die Erinnerung an die große religiöse Verneuerung unmittelbar sich verband, gleichsam zwei Blüten aus einem Stamme hervorsproßen, so ist in unseren Tagen, in denen die religiöse Seite der Arbeit Luthers und die theologische Bedeutung seines Auftretens in heißem Streit betont und gewürdigt werden, es wohl berechtigt, auch des nationalen Zuges des Mannes zu gedenken, der sein Volk intuitiv gleichsam| in sich aufnahm und von seinem Volke als der innerlichste und wesenhafte Ausdruck seines Sehnens, Denkens und Wollens begrüßt wurde und wird. Weil er mit dem Willen dachte und mit dem Verstande wollte, sich ganz dem ergab, wozu er sich berufen wußte und bekannte – ein ganz in sich geschlossener und auf sich geworfener Mann – darum hat der Volksgeist, so fern er der Ganzheit seiner Ausgestaltung an sich stehen mag – in ihm sich als in einer Verkörperung seines innersten Wesens wiedergefunden.Wenn ein Talent sich irgendwo zeigt, so wirkt es, wie es in der Stille sich ausgestaltet hat, auch nur im engen Kreise, vielleicht eine anmutig wärmende Flamme, ein gewinnender Anblick, aber weder ins Große ragend, noch auf das Große gerichtet – Stilleben, das sich vom Streit des Tages und dem großen Widerkampf der Meinungen in die Beschaulichkeit flüchtet, aus der heraus wohl ein am Waldessaum bescheiden hingelagertes Haus gebaut werden, nimmer aber eine Burg erstehen kann, welche trotzig ins Land hineinragt und treulich edelste Güter umschirmt und schützt. Wiederum hat das Genie, wo es sich weit über die Niederungen des Durchschnittsmaßes und die Forderungen des Tages erhebt, etwas Erkältendes und Fernendes: es hält sich für zu gut, alte Güter zu schützen und alte Wege zu gehen, bricht sich die Bahn, lediglich um sich in eigenem Glanz zu sonnen, sieht Andere darben und genießt sein selbst. Unser Volk ist seiner Genies nie froh geworden: sie haben es nicht verstanden, vielmehr mißkannt und verlassen. Wenn aber der Genius, der aus dem Volke geborene, aus der Fülle seiner Gedanken, seines Verlangens und seiner Sorge erwachsene Mann in die Erscheinung tritt, so zeigt er darin seine Größe, daß er nicht anstrebt, groß zu sein und weil er dem Volke in all seinen Schichten das zurückgibt, was diese ihm an Wunsch und Gabe, an Kraft und Erfahrung mitgaben, darum ist er mit ihm innig verbunden. Jahrhunderte gehen hin, bis wieder solch ein Mann, an dem die Nation ihre Kräfte ausgelebt hat, ersteht, Jahrhunderte aber reichen auch nicht hin, um die Vollart eines solchen Mannes auszubrauchen und zu erschöpfen.
| Was seit alters unserem Volke vorgeworfen wird, daß es als ein Träumer herkomme voller unpraktischer Gedanken und bei der Aufteilung der Welt stets zu spät sich einstelle, unreifen Neigungen nachgehe und dabei sein bestes Interesse versäume – ich denke nur an die unglückliche Liebe unseres Volkscharakters zu Italien –, das hat Luther ins rechte und heilige Maß gesetzt. Wäre er nur der gemeinen Deutlichkeit der Dinge erschlossen gewesen, so wäre er nicht fähig gewesen, den Herzschlag seines Volkes zu erlauschen und das heiße Sehnen zu ergründen, das eben über Berg und Tal zu Höhen hinflüchtet, deren Ersteigung nicht praktisch erscheinen mag, aber vor Banausentum, Materialismus und Selbstverlorenheit mächtig bewahrt. Der Idealist schafft sich eine Welt nicht aus eigenen Gedanken, wie es der Phantast wohl tut, wohnt nicht in Utopien, die nimmer zur Wirklichkeit werden dürfen, sondern flüchtet in ein weites, lichtes Reich, das der Vater aller Geister geschenkt hat, eignet sich an und erlebt, was vor ihm und über ihm war und wird da heimisch, wo traurige Nüchternheit nur fata morgana erblickt. Indem Luther zu den Bergen ewiger Hilfe aufblicken und in das lichte Gottesreich einkehren lernte, das in Christi Lehre und Leben ihm sich erschloß, hat er nicht einer weltfremden Mystik, die nur Auserwählten zugute kommen, für die Lösung der Weltfragen aber nichts austragen kann, gehuldigt, sondern aus transzendenten, überweltlichen Tatsachen die Kraft sich geholt, die ihn der Welt und Zeit, denen er angehörte, und ihren Folgerscheinungen von solchem Segen werden ließ.Und wie hat er die Sprache seines Volkes geliebt, „schwerfällig und mühsam mit Lehnwörtern, Hof- und Schloßreden durchsetzt“ schlich deutsches Sprachtum dahin. Nachdem der Minnegesang in der Not der Zeit verstummt und die Volkspredigt immer seltener geworden war, schien die deutsche Sprache hinzusterben, arm in ihren Ausdrücken, unzureichend in ihren Wortbildungen, ein unwertes Gefäß, nicht mehr fähig, das Geheimnis des Geistes aufzunehmen. Da hat Luther dem Volke die Zunge gelöst und ihm die Lippen gerührt und es sprechen lehren herrlicher wie je zuvor. Volkssprache, Volksbuch, Volkssang und Volkskunst hat seine Treue in einem geschenkt.
Es ist uns nicht unbekannt, daß – als auf der Wartburg zum zweiten Mal der deutschen Sprache ein Frühling erblühte und Moses und die Propheten, Christus und die Apostel deutsch zu sprechen sich freundlich herbeiließen – über 70 Bibelübersetzungen durch die Lande gingen, unhandlich, ungelenk, unberedt und unbestimmt, aber weil die Treue auch die arme Blume am Weg und den schlichten Sang des Waldvögleins achtet und ehrt, wurde Luthers Uebersetzung zu großen Dingen befähigt, sie durfte die herrlichsten Kränze edelster Blüten, herrlichster Blumen Christo und seinem Wort zu Füßen legen und den Hochgesang anstimmen, der seit Jahrhunderten in ununterbrochener Fülle und Folge durch deutsche Gaue rauschte. Seit Luther, „dem Aesop, Mosi und Christo die Hütten baute,“ ist die deutsche Sprache eine Königin geworden, reich in ihrer Schlichtheit, bezeichnend in ihrer Kürze, ahnungsvoll und doch durchsichtig klar. Wie gern läßt uns Luther in die Werkstätte des Geistes schauen, wo er seine Schrift vom Dolmetschern aussendet oder von seinen Bibelstudien| spricht. Er setzt sich wohl einen Tag lang ans Elstertor, damit er Johannes 4 recht deute, sucht die Juden in ihrer Schule, den Goldschmied in seiner Werkstätte, den Metzger in seinem Laden auf, damit sie Volkswörter ihm geben, die man auf der Gasse wohl verstehe, er sucht wochenlang nach einem deutschen Ausdruck für das ihm unanwendbare Wort „Person“, möchte das griechische Wörtlein „Kirche“ nicht in Deutschland haben und freut sich, daß Gott, aller Güte Fülle, von gut herkomme. Wie freut es ihn, in dem engelischen Gruß „Holdselige liebe Maria“ sagen zu können und welche Erquickung war’s ihm, als das ohne seinen Namen ausgegangene Neue Testament alsbald aufgekauft wurde, „weil nie kein Mensch so geredet habe, wie dieser Mensch.“ Schleiermacher sagt einmal, es gebe eine doppelte Art zu übersetzen, entweder der Schriftsteller neige sich zur Sprache, in die er übersetzt werden solle, oder diese passe ihm sich an. Luther hat in der königlichen Freiheit des Christenmenschen vielleicht nicht immer korrekt nach dem Wortlaute, aber immer tiefsinnig und innig nach dem Geist übersetzt und die hl. Schrift der deutschen Sprache dienstbar gemacht. Weil er seinem Volke dienen wollte, darum war er der Herr aller Dinge. Was er redete, dem jauchzte das Volk zu und wie er redete, so sprach die Mutter zum Kinde, der gemeine Mann auf dem Markte, der Gelehrte auf dem Katheder, der Prediger auf der Kanzel. „Vordem verstand ein Bayer den andern nicht und Ober- und Niederdeutsche waren einander herzlich feind“, jetzt schlingt das Gotteswort, wie es nach seinem Inhalt die Geister eint, nach seiner verklärten Außenseite das Bruderband um die deutschen Volksstämme, seine Gegner müssen denken mit seinen Gedanken und reden mit seinen Worten. Wie eine göttliche Ironie nimmt es sich aus, daß der Herzog Georg von Sachsen sagen mußte, „der Mönch hätte die Bibel voll übersetzen müssen und dann gehen“, und der Schrift Luthers „ob ein Kriegsmann in seligem Stande sterben könne,“ das Zeugnis auszustellen genötigt war, „es sei ein herrliches und liebliches Buch.“Wo das Wort zum Ton und wie die Reben um den Weinstock, so die Tongebilde zum Kreuz hinanrankend, erfunden werden, da ist die Volkskunst nicht weit. Vielleicht nicht die farbenfrohe, italienische Renaissance und die lüsterne prächtige französische Leichtigkeit, aber der ernste schwermütige und doch so trauliche, und sinnige Holzschnitt, die harten schweren Zeichnungen eines Albrecht Dürer, die scheinbar unschönen Zeichnungen eines Cranach bergen dem sinnigen Auge neue Welten, stille Herrlichkeiten, unergründbare Reichtümer. Wenn jetzt das deutsche Kind in Schnorrs Bilderbibel allen Heiligen in die Augen schaut und die Mutter ihm Richters Jahreszeiten mit ihrem feinen, stillen Duft erläutert, wenn der Mann an dem Ernst Rethel’scher Bilder sich erbaut, dann sollen sie Luthers denken, der da in der Kraft Christi, des Meisters, welcher die Geister heiligt, alle Künste singen, reden, schildern hieß.
Ein treuer Mann hat er, was der Deutschen Ehrenpreis war, sich keusch und rein erhalten und dem Weibe den ihm gebührenden Ehrenplatz im Vaterhaus wieder bereitet. Es liegt mir nicht an, gegen alte und neue sogenannte Lutherforschungen hier zu polemisieren. Man mag Luther in seinen Ausdrücken derb, man mag ihn nach den verfeinerten Begriffen der Moderne roh nennen, aber der Unzucht war er| herzlichst feind und der mit der Sünde spielenden Zweideutigkeit eines Enea Silvio durchaus abgeneigt. Der uns in der Auslegung zum sechsten Gebot keusch und züchtig sein heißt in Wort und Werk, hat sich geschämt, unreinen Gedanken Raum zu geben und Worte zu gönnen, geschweige denn verdächtige Werke zu vollbringen, um derentwillen Gott sein Antlitz von ihm und seinen Wesen gewißlich gewendet hätte.Dabei ist er – und das scheint mir in seiner Krone der herrlichste Juwel – demütig vor Gott und den Menschen. „Luther sterbe, Christus lebe.“ Er will nicht nach seinem Namen Religion und Kirche nennen, denn er ist Staub und Asche. Das Hochgefühl, das ihn zu Zeiten stärkt und über sich erhebt, wird geheiligt und geläutert durch die Sündenerkenntnis und die Sorge um seiner Seele Heil.
Er weiß, Gott kann tausend Martini erwecken und hat das Bekenntnis seines Lebens in das Vermächtnis gelegt, das man nach seinem Tode auf seinem Tische fand: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ – Was Wunder, daß deutsches Volk und deutsche Art in ihm seinen Meister fand? Denn es gab eine Zeit – wir bedauern, daß sie vergangen ist – in der edle fromme Priester sich freuten, äußerlich Luther zu gleichen und an seinen Liedern sich erquickten. Ich kenne fromme Katholiken, die seine Briefe als Meisterwerke der Sprache bewundern und denke an das Wort eines Vielgenannten „Luther sei der größte Deutsche seiner Zeit gewesen.“ Solche Männer, die Gott in einer besonderen Gnadenstunde der Welt bescheert, gehören nicht der Zeitenenge, die ihr Leben umspannt, noch den Volksschranken, in die es geformt ist, sie gehören allen Zeiten und allen Völkern, aber das deutsche Volk rühmt sich unter ihnen, Luther den seinen zu nennen, wo es denkt, braucht es seine Gedanken, wo es redet, bittet es um seine Worte. Der unweltläufige und ungewandte| Mann wird ihm zum Propheten, dessen weitschauendes Wort in der Wahrheit geheiligt ist.Im Jahre 1617 feierte Martin Rinkart Luther als den eques Islebiensis mit einer Schulkomödie am Gymnasium zu Eisleben. Wahrlich, gleich dem Ritter, den Albrecht Dürers Meisterhand uns gezeichnet hat, strebt er vom Tode bedroht und vom Feinde umschmeichelt der hochgelegenen heimatlichen Burg zu, ohne Furcht und Tadel im Kampfe sich bewahrend und im Kampf bewährt. Man hat uns wohl höhnend gefragt, ob wir Luther zum Nationalheiligen erheben wollen. Das käme uns nie zu Sinn. Er ist nicht eine auf Goldgrund gemalte Heiligenfigur, sondern ein armer Sünder, den die Gnade frei, froh und mannhaft gemacht hat. Aber ohne Herzklopfen dürfen wir ihn einen Heiligen nennen, denn Gott der Herr selber hat ihn frei und selig gesprochen. Am liebsten aber möchten wir ihn zu jenen großen Patriarchen zählen, die da gesegnet zum Segen werden sollen.
Trauernd fragen wir, ob unsere deutschen Brüder, die in Luther den Volksverderber und Zerstörer deutscher Einheit verachten, noch einmal zu einer geschichtlichen Würdigung seiner Person gelangen werden, erschüttert sorgen wir, ob der Undank, dem Luther nicht fromm oder nicht frei genug erscheint, nicht einmal von Gott übel gelohnt werde. Wir aber wollen recht protestantisch gegen alles Unrechte, Unwahre und Unreine zu Feld ziehen, am strengsten gegen uns, am mildesten gegen unsre Gegner sein, echt lutherisch in die Tiefe steigen, um zur Höhe zu gelangen, nichts menschliches uns entfremden, weil es des Göttlichen Ebenbild ist, vor allem aber echt evangelisch den im Herzen und Gewissen behalten, der Luther, so oft er betete, erschien, den Mann am Kreuz.
Verehrte Anwesende, ich gedenke nicht ohne Bewegung des 10. November 1884, da ich, ein junger Anfänger, in Ihrer schönen Dreieinigkeitskirche den Worten Ihres unvergeßlichen Rodde lauschte. Wie hat er mit Lukas 7, Vers 4 u. 5 Luthers Art, Werk und Wesen gezeichnet! Weil er unser Volk lieb hatte, gehört sein Bild nicht nur in die Walhalla,| von der er einst ferngehalten, auf Thiersch’s Betreiben aber aufgenommen wurde, sondern in unsere Herzen. die ihm entgegenschlagen, in unsere Häuser, die er schmücken soll, in unser Leben, das ihm nachfahren will. Der aber, dem Luther Willen, Wort und Werke zu Dienst bis in den Tod stellte, der alte Gott unseres Volkes und Vater seines Erbarmens lasse an der Art seines größten Sohnes das deutsche Volk genesen und spreche zu allem Wollen, Wirken, Wünschen und Beten ein freundliches Ja und Amen.