Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Die beiden Höflichs
Untertitel:
aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 181-184
Herausgeber:
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Schaubühne, 16. April 1914 UB Michigan und Die Stimme der Höflich, 18. September 1913 UB Michigan
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Die beiden Höflichs

Das ist in Amsterdam, zwischen dem westlichen Dock und dem Holzhafen – da liegt in einer hohlen Twiete eine Matrosenkneipe, deren unübersetzbarer Name so etwas wie „Zur lütten Laus“ bedeutet. Wenn der wiegende Schritt urlaubernder Seeleute unregelmäßig wird, wenn die wilde Kraft, alles, alles bis aufs Hemd zu versaufen, hurra! im besten Brausen ist, dann wogt in den zwei niedrigen Stuben ein Meer von Betrunkenheit. Der Wirt, ein Witwer, ist so dick, daß ihn noch niemand vom Schanktisch hat weggehen sehen. Er gießt bedächtig ein, kassiert und wirft dem Getümmel ab und zu ein fettes Witzwort hin, das brüllend akzeptiert wird.

Aber wer bedient die Gäste? Wer stellt vor jeden sein Glas, läßt sich von den Maats in die Backen kneifen, wird, hochrot und blond, auf den Tisch gehoben, kreischend wie ein Huhn? Matje Fehrs. Vom Wirt das Schwesterkind: flink, anstellig, und bei den Mannsleuten gut angeschrieben.

Man hört sein eigenes Wort nicht. Das tost und spektakelt und gröhlt, und Matje muß springen, daß auch alle ihren Grog haben. Da öffnet sich die Tür, und unisono brüllt der Chor: „Der Elefant! Muuh!“ Ein Koloß nähert sich gleichmütig dem Schanktisch, reicht dem dicken Wirt mitfühlend die Hand und kracht auf einen Stuhl. Es ist der dickste Kapitän der Welt. Er blinzelt träge vor sich hin und kriegt seine Mischung. Matjes Lachen dringt von der anderen Stube herüber. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt, die Gäste und Matje: eine Dummheit ist auszuhecken – und plötzlich fällt Matje wie eine Bombe auf eine Bank und lacht und lacht. Sie ist am Ersticken, sie piept, sie japst nach Luft, ihre Augen tränen, und sie zieht den Atem in einem hohen Ton singend ein. Die Arme sinken, sie kann nicht mehr, der Kopf [182] fällt vornüber auf die Tischplatte. Dann steht sie auf, und während die beiden Dicken sich anschweigen, pirscht Matje den Elefanten an und pickt ihm ein kleines Täfelchen auf den Rücken. „Hier ist hinten“ steht drauf. Ihr Gesicht ist knallrot, sie bläst die Backen auf, um nicht loszuplatzen, das wundervoll blonde Haar hängt büschlig in die heiße Stirn. Da – der Wirt ruft sie an! Das ganze Lokal sieht gespannt hin, wie sich Matje aus der Affäre ziehen wird. Sie würgt das Lachen herunter, kneift links einen Matrosen ins Bein, nur um etwas zu tun, und dann spricht sie. Die einzige Stimmlage, die ihr noch zur Verfügung steht, ist ein quietschiger Sopran. „W… wa… was soll ich?“ Ob ihr etwas fehle? „N–nichts!“ Und da ist es aus, und sie explodiert aufs neue und mit ihr die ganze Kneipe, und man reicht sie herum, und sie muß Püffe austeilen, weil jeder sie küssen will, und muß doch lachen, lachen. Und einer von den Seeleuten, ein schmaler, braungebrannter junger Mann, der gerade aus der Südsee gekommen ist, sieht ihr bewundernd nach, als sich das Nebenzimmer ihrer bemächtigt, und sagt langsam: „Da möchte man die Zähne hineinschlagen, in dieses blonde Stück Fleisch –;“

Und nachher ist Nacht, und nur die Unentwegten druseln noch an den Wänden, auf den Bänken, schnarchen und gähnen und rauchen verglimmende Pfeifen. Der Elefant ist fort, der Wirt macht ein Nickerchen. Die Lampen flackern und blaken. Wo ist Matje?

Sie steht hinten an der offenen Hoftür und sieht zum Nachthimmel auf. Ein durch hohe Mauern ausgeschnittenes dunkelblaues Viereck, mit ein paar Sternen. Aus dem geöffneten Flur fällt gelbes Licht. Sie ist still und erschreckend bleich. Schritte. Sie rührt sich kaum. Die Hände umklammern hart eine mörtelige Kante. Sie dreht sich nicht herum: sie fühlt, wer kommt. Und sie läßt ganz, ganz langsam den [183] blonden Kopf nach hinten sinken, damit ihn der da in seine Hände nehme, und beißt sich die Lippen blutig. Und empfängt unter Schauern einen Kuß, von dem sie bestimmt weiß, daß er das Ende ist, das Unglück, das Verderben. Tut nichts: sie schließt die Augen und atmet sehr tief. Matje! Matje Fehrs!

*

Das sind die beiden Höflichs: die eine ist neuern Datums, und wir konnten in „Was ihr wollt“ bewundern, was da im Entstehen ist. Sie spielt alle Skalen des Gelächters, vom ersten Jubelschrei bis zur völligen Erschöpfung. Es war ein Genuß, diese wundervolle Frau lachen zu hören. Und man durfte es schon mit dem jungen Seemann halten, der gerade aus der Südsee kam.

Die andre ist deutsch, deutsch bis in die Knochen. Nicht Thumann – sondern Schumann, und vielleicht noch Brahms. Und wenn das deutsch ist: der verbissene Trotz – nicht weinen, und ob ich draufgehe, nicht weinen! – wenn das deutsch ist, dieser leicht verzogene Mund, die Innerlichkeit, die Stille und das tiefbewegte Meer: dann ist die Höflich ein Stück Deutschland, wo es am besten ist.

Coda: Die Stimme der Höflich

Wenn einem das Einteilen Vergnügen macht, kann man die Schauspieler in zwei Gruppen teilen: die einen sind immer dann gut, wenn sie siegen und die Oberhand haben – die andern dann, wenn sie unterliegen. Jene sind die Komiker, dieses ist die Höflich.

Sie konnte einen so traurig machen. Daß es einmal schief gehen würde, war sicher – es fragte sich nur, wann. Und kam das Unglück: sie schrie nicht. Sie nahm das geduldig hin; aber [184] es wurde nie wieder etwas Rechtes mit ihr. Sie konnte schwach die Hände heben – und eine war abgestorben für ihr ganzes Leben; sie konnte lächeln, lächeln in all der Schmerzlichkeit – und das Herz zog sich dir zusammen; es war viel, viel schlimmer, als wenn sie laut geklagt hätte.

Selbst wenn sie einmal fröhlich ist, ein stilles Glück hat, wenn sie strahlt – immer ist ein unterdrücktes Weinen in ihrer Stimme. Ist es die Vorstellung ihres Haares, daß ich ihre Stimme gelb empfinde? Ich weiß nicht. Aber die Stimme kann klagen, ein heller Ton der Trauer, und sie kann so weinen, daß man versteht, was das heißt: „Weinen ist mehr als Sterben.“

Und sie scheint mir am rührendsten zu sein, wenn sie vor der Katastrophe steht, wenn sie noch das Glück in Händen hält – aber schon naht etwas. Dann ist die Stimme sanft und furchtsam und verklingt.

Da war im „Bürger Schippel“ eine Stelle, da hatte sie zum Fürsten zu sagen, der sie aus dem Dunkel eines Liebeswinkels hervorholen wollte: „Ich scheue Gegend, Licht und Atmosphäre. Daß diese Nacht nie endigte!“ In diesem Augenblick war der Satz von Shakespeare. Da sie ihn sprach.

Als Junge sah ich sie in einer der ersten Vorstellungen der „Minna von Barnhelm“, in der Soubrettenrolle der Franziska.

„Minna von Barnhelm“ ist ein Lustspiel. Ich heulte wie ein Kind, das seine Milch nicht bekommen hat, die ganze Nacht.