Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Die Waldenser
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aus: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung) S. 126–130
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Google und Commons
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Die Waldenser.


A. Was, glaubst du, sei die Ursache, daß da alle Religionen auf Heiligkeit des Lebens und Frömmigkeit dringen, sie doch so selten diesen Zweck erreichen?

B. Vielleicht macht das die Verschiedenheit der Menschen; Ein Volk ist lenksamer, ein andres wilder.

A. Die Ursache ist mir nicht zureichend, da offenbar ist, daß Menschen aus den verschiedensten Nationen, bei dem Bekenntniß Einer Religion, auch in Sitten und Bestrebungen sehr nahe zusammentreffen. Irre ich nicht, so bringt jede Religion ihre Lebensweise mit sich.

B. Bei Papisten und Widertäufern ist die Ursache offenbar: ihre Frömmigkeit ist ein Lohndienst.

A. So giebst du doch zu, daß in der Religion etwas seyn könne, das die Menschen zur Rechtschaffenheit leichter führe und reize?

B. Das ist offenbar.

A. Was glaubst du denn, das unsrer Religion fehle, die die Pietät so gewaltig anräth, und sie doch wenig oder gar nicht bewirket?

B. Darf ich rathen, so möchte es seyn, weil Religion und Staat bei uns zu verschiedene, einander fremdartige Wesen sind; jedes derselben begünstigt gleichsam eine verschiedene Parthei, jedes hat seine verschiedene Lebensweise. Glauben wir den Geistlichen, so sollen wir beten; glauben wir den Vornehmen, so sollen wir lästern; dem Pöbel, so sollen wir blind seyn; wie wenn der Eine einen schwarzen, der Andre einen gestickten Rock, der Dritte gar einen Sack Standesmäßig trägt, und tragen müßte. Wenn wir also etwas Gott zu thun haben, so wird das ein Mischwerk, wovon nur die äußere Seite mit Religion geschminkt ist. Nimm ein einziges Exempel. Den Lästerern gegen die Religion giebt man einen gelinden Verweis; Diebe, die drei Pfennige gestohlen haben, henkt man; über Trunkenbolde scherzt man; und wer etwas frei über den Staat spricht, wird der Stadt verwiesen. Offenbar sieht man also, daß die Obrigkeit für Staat und Moral nicht gleiche Sorge trage, daß die Geistlichen keinen andern Eifer haben, als gewöhnlicher maaßen zu predigen u. f. Die Obrigkeit gebraucht der Religion als eines Mittels, den Pöbel im Zaum zu halten; die Geistlichen, reich zu werden und hinaufzukommen –

A. Das Hinderte indeß die Guten nicht; und es wundert mich nur, daß bei uns deren weniger und diese Wenigen viel ungelehriger sind, als anderswo, wo die ganze Secte sich durch Känntniß und Uebung der Rechtschaffenheit auszeichnet.

Ich will dir aus einem uralten Codex etwas von den Waldensern vorlesen. „Alle, (sagt der Päpstler, der da schreibt,) alle, Männer und Weiber, Große und Kleine, lassen Tag und Nacht nicht ab, zu lernen und zu lehren. Der Handwerker, der Tagüber arbeitet, lernt und lehret des Nachts; sie beten also auch wenig, weil sie studiren. Selbst die Schüler lehren ohne Bücher; auch in den Häusern der Aussätzigen lehren sie. Wer eine Woche gelernt hat, lehrt weiter, so daß ein Eisen das andere ziehet. Wer sich entschuldigt, daß er nicht lernen könne, dem sagen sie: „lerne täglich nur ein Wort, in Jahresfrist weißt du die Sprüche, und kommst weiter.“ Ich hörte von einem Rechtgläubigen, daß ein Ketzer, den ich kenne, Nachts in bösem Wetter durch den Fluß geschwommen sei, nur um ihn von unserm Glauben zu dem Seinigen zu verführen. Deßgleichen sah und hörte ich einen ungelehrten Bauer, der das ganze Buch Hiob von Wort zu Wort hersagte, und viele kenne ich, die das neue Testament auswendig wissen vom Anfange bis zum Ende. Sehen sie, daß jemand übel lebt, so sagen sie: „so lebten die Apostel nicht! so müssen auch wir nicht leben, die Nachfolger der Apostel.“ Dies erzählt mein päpstlicher Scribent, der sonst ihr ärgster Feind ist.

A. Du hast mir fast Thränen ausgepreßt; was sind wir dagegen beim hellen Lichte des Evangeliums?

B. O daß wir Lehre und Leben verbänden! Jetzt, wenn jenen die Lehre, diesen sein Leben verdammt, wer wird je selig?