Die Themsemündung. Das Hospital zu Greenwich bei London

CCCXCVI. Windsor-Castle Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCXCVII. Die Themsemündung. CCCXCVIII. Das Hospital zu Greenwich bei London
CCCXCIX. Die Gegend um Baar und der Pilatus in der Schweiz
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DIE MÜNDUNG DER THEMSE

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GREENWICH-HOSPITAL

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CCCXCVII. Die Themsemündung.
CCCXCVIII. Das Hospital zu Greenwich bei London.




Ist London das Emporium der Welt, wie es schon Pitt geheißen, so ist der Zugang zu demselben, die Themse, der Kanal, in welchen die Reichthümer der Erde ab- und zuströmen, ebbend und fluthend im unaufhörlichen Wechsel. Von der Themse aus streckt England seine Polypenarme über alle Gürtel des Planeten hin; von ihr aus ist’s, daß das strebende, rüstige Inselvolk Wurzeln durch alle Meere getrieben hat, die in alle Continente sich eingeschlagen und so die ganze Erde mit jenem tausendfältigen Geäder seines Handels und seiner Industrie umstrickt haben, welches den Nahrungssaft aller Länder dem kleinen Eilande zuführt, das auf der Weltkarte [70] kaum ein Punkt ist. An der Themse hat der Geist der Neuzeit seine gefeierten Sitze: jener kunstreiche Geist, der das wunderbare Maschinenwesen geschaffen, durch welches der Mensch der Gegenwart die Naturkräfte bändigt und sie zwingt, ihm Helotendienste zu leisten; dort ist der Ort, wo die wilden Elementargeister zuerst Zaum und Gebiß empfingen und ihnen gelehrt ward, für den Menschen willig in’s Rad zu gehen; wo des Wassers glühender Schwaden, in engen Verschluß gebracht, zuerst gezwungen wurde, unwillig, aber fügsam, wie Herkules am Spinnrocken, dünne Fäden zu ziehen, der Rosse schwere Arbeit zu verrichten und an die Räder des Wagens und an den Kiel des Schiffes die Schnelligkeit des Fluges zu knüpfen; von der Themse aus schleudert England die neue Bildung auf seines Dreizacks Spitzen in alle Völker und in alle Zonen. Immerfort gebend und empfangend, aufnehmend und wieder ausstoßend, ist gleichsam die Themse eine Hauptarterie für den Kreislauf des Erdenlebens, und, obschon verhältnismäßig so klein, der Strom, mit dem sich kein anderer der Welt an Wichtigkeit messen darf.

Heutzutage, seit der Einführung der Dampfschifffahrt, ist die Themse der gewöhnlichste Weg für den Reisenden vom Continente nach London, und nur auf diesem Wege kann er zu einem recht anschaulichen Begriff von der Unermeßlichkeit des neuen Babylons, von seinem Reichthum und Verkehr gelangen. Von der Mündung bis zur Weltstadt herauf sind es vierzehn deutsche Meilen. Auf dieser Strecke entgeht dem Reisenden nicht jene angenehme Steigerung, welche dem Anschauen höhern Reiz verleiht, während Derjenige, der zu Lande, zumal auf der Eisenbahn herkommt, für seine Gefühle keinen Uebergang findet; denn der Eindruck Londons überfällt ihn gleichsam; er hat nicht Zeit, ihn zu fassen, und Ueberraschung und Verwirrung mischen bald dem höchsten Lustgefühl das Wehe der Abspannung bei. Nicht so bei der Themse-Fahrt. Allmählig und mit Ruhe wird man da auf den Hauptanblick vorbereitet, welchem das Herz voller Erwartung entgegen schlägt.

Zuerst gewahrt man, an der Einfahrt aus der Nordsee, eine niedrige flache Landschaft, die sich kaum von der Wasserfläche abhebt. Sie ist eintönig und wird durch nichts belebt, als durch Schwärme von Seevögeln und die eilig und geschäftig vorüberziehenden Segel der Fahrzeuge. Bald darauf erscheint mitten in der fast 2 engl. Weilen breiten Strommündung ein gewaltiger Schiffrumpf mit hohem Bord; er ist segellos: aber auf thurmhohem Maste trägt er eine riesengroße Laterne – das Leuchtfeuer von Norelight, um die Schiffe vor Untiefen und Sandbänken zu warnen. Es gehört helles Wetter und ein gutes Gesicht dazu, um die beiden Ufer zu erkennen, so weit ist hier der Strommund. Southend hieß das äußerste Land an der Essexseite und auf demselben ragt wieder ein Leuchtthurm. Etwas weiter hinauf wird Sea-Reach erreicht, und obgleich noch weit von London, ist man doch am Bereiche der Jurisdiktion der Hafenpolizei der Hauptstadt, deren Grenze ein Stein am Ufer [71] bezeichnet. Das Fahrwasser nähert sich nun der Kentseite und der durch einen Kanal vom Lande geschiedenen Insel Grain; gegenüber, auf der Essexseite, liegt ein anderes Eiland, Conway; beide sind mit haushohem Schilfe bewachsen und mit unzähligen Wasservögeln belebt. Das Land ist noch immer flach, niedrig, sumpfig; nur im Flusse ist Menschenleben rührig, alle Augenblicke kommen Fahrzeuge segelnd vorbei, oder die Fischer legen ihre Netze an den öden Ufern aus. In der That sind die Sümpfe der Themse der Kultur ganz unzugänglich, und erst hinter denselben erheben sich Dörfer, Flecken und Städte. So geht es fort bis an Tilbury-Fort vorbei, eine alte Citadelle auf der Kentseite, berühmt durch den Sieg, welchen (1558) die heldenmüthige Elisabeth über des spanischen Philipp’s Armada hier erfocht. Der Sieg war zugleich der Sieg der bürgerlichen und religiösen Freiheit über Aberglauben und Sclaverei.

Schräg gegenüber, auf dem sich allmählich verschönernden Ufer, glänzt das freundliche Milton, ein aufblühender Kurort, und hinter einer reizenden, mit Landhäusern besetzten Landschaft ragen die Thürme von Gravesend, einer bedeutenden und schönen Stadt. Es ist das Sanssouci vieler Londoner, zumal Rheder, Schiffer und Schiffsmakler, welche sich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen haben, oder die den Sommer hier verleben. Gravesend ist deshalb in ununterbrochener, ja stündlicher Verbindung mit London durch eine Menge Dampfboote, die hin und hergehen. An dem hiesigen Zollhause müssen auch alle Schiffe von und nach London klariren, und die ankommenden empfangen einen Zollbeamten am Bord zur Verhütung des Schmuggels, der demungeachtet an keinem Orte Englands in größerem Maßstabe getrieben wird. – Fortan reihet sich Landhaus an Landhaus und Park an Garten: je näher der Hauptstadt, je mehr wird in den Anlagen und Gebäuden auch der Luxus sichtbar, und der Reichthum legt sich immer breiter und stolzer zur Schau. Die schönsten Punkte sind Northfleet, Greys-Thurrock, West-Thurrock und das reizende Belmont-Castle. Doch verflacht sich die Landschaft noch einmal, sobald man St. Clements-Reach erreicht hat; die Hügel sind verschwunden, die Bäume entfernen sich von den Ufern und das Schilf tritt an deren Stelle. Erst auf der Kentseite gewinnt die Landschaft neuen Reiz – Hügel mit Landhäusern besetzt treten wieder an den Strom, Dörfer und Flecken ziehen vorüber, und von einer Waldhöhe schaut Lord Say’s berühmte Besitzung, Belvedere, mit den glänzenden Augen seiner großen Spiegelfenster herab. Die Einförmigkeit des niedrigen linken Ufers dauert hingegen fort bis nach Woolwich, dem Arsenale, wo ganze Pyramiden von Kanonen, Geschützkugeln, Bomben etc. etc., die auf den Quayen liegen, schon von weitem erkennen lassen, daß hier der Kriegsgott seine Wohnung aufgeschlagen hat. Daneben sind die berühmten Dock-Yards, die Werfte für den Bau der größten britischen Kriegsschiffe, welche mit ihren Magazinen einen Raum von einer halben engl. Quadratmeile bedecken. Aus ihnen ist das Pochen und Hämmern von ein paar tausend Arbeitern weithin hörbar. Die Woolwicher Baracken für die Marine und Artillerie zeigen Fronten [72] von 1000 Fuß und darüber; die Cadettenschule hat eine Façade von mehr als 600 Fuß und ist im gothischen Style. Alles, was hier der Staat geschaffen hat, ist großartig, und verkündigt mit stolzem Selbstgefühl Britannien als Beherrscherin einer halben Welt. Oberhalb Woolwich wird das Leben und Gewühl auf dem Strome und am Ufer immer geräuschvoller und der Reisende ist nun im Bereich des eigentlichen Londoner Hafens. Bald ragt rechts hinter festen Wasserthoren und Mauern ein Wald von Masten und Wimpeln heraus: man fährt an den ostindischen Docks vorbei, während die Szenerie auf der entgegengesetzten Stromseite die Aufmerksamkeit gebieterisch fesselt. Bei Shootershill nämlich öffnet sich plötzlich die ununterbrochene Doppelreihe von Schiffen, welche am Ufer ankert, und der Glanzpunkt des gesammten Stromufers von der Mündung an bis zur Hauptstadt tritt urplötzlich in die Scene, wie ein Heros in die Weltgeschichte. Das herrliche Greenwich liegt vor Dir – „Greenwich, die hohe Pforte des Abendlandes,“ nach Byron’s Ausdruck. Wie eine lang geschlossene, endlich aufbrechende Knospe die ganze Fülle der Natur aufthut mit einem Male, so offenbart Greenwich vor der trunkenen Seele des Beschauers die Herrlichkeit, Macht und Humanität Britanniens. „Esto perpetua!“ ruft ihm jeder Menschenfreund entgegen.

Emporsteigend vom Quay am Flusse bis auf die Höhe des Parks, welche das berühmte Observatorium krönt, gruppiren sich eine Reihe von Prachtgebäuden zu dem grandiosesten Ganzen, welches die Baukunst in England hervorgebracht hat. Und dieser Cyklus von Palästen, wie kein Kaiser sie besitzt, ist nicht die Wohnung von Fürsten: – er ist was Besseres: es ist ein Waisenhaus und ein Spital. Hier pflegt das mütterliche England seine greisen Söhne, die ausgedienten Vertheidiger seiner hölzernen Wälle, bis zur letzten Stunde, und hier erzieht es die Waisen, deren Väter den Ruhm und die Größe des Vaterlands mit ihrem Leben bezahlt haben. Ehre und Würdigkeit in Geber und Empfänger gehen hier Hand in Hand.

Greenwich Hospital besteht aus vier abgesonderten Gebäuden, von denen zwei ihre Hauptfronten dem Strome zukehren. Diese haben eine Gesammtlänge von fast 900 Fuß. Mitten auf dem, zwischen ihnen befindlichen Raume steht die Colossalstatue Georg II. Doch nicht dieser – König Wilhelm der Oranier, und Königin Maria waren die Gründer, und Englands berühmteste Baumeister: Inicho Jones und Christoph Wren errichteten sie in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die beiden landeinwärts stehenden Paläste haben von Pilastern getragene Kuppeln; aber Säulenreihen, dorischer Ordnung, schmücken die Façaden am Strome. Im Hospitale selbst werden 2800 Invaliden von 163 Wärterinnen sorgfältig verpflegt. Jene sind die sogenannten Impensioners. Der Outpensioners, derjenigen invaliden Matrosen nämlich, welche für Rechnung des Spitalfonds außerhalb der Anstalt Verpflegung bekommen, sind an 30,000! Der invalide Schiffsjunge erhält jährlich 60 Gulden bis an seinen Tod und dem langgedienten Matrosen werden bis zu 300 Gulden jährlich vergütet. England scheucht nicht, wie [73] so viele andere Reiche es thun, vor der Bürde einer heiligen Verpflichtung feig und ehrlos zurück. Daß ein Invalide und ein Bettler in einer Person vereinigt seyn können, kann der Brite nicht begreifen. –

Gegen den Park gerichtet erheben sich die neuern Gebäude des Matrosen-Waisenhauses, der Waisenschule und des Krankenhauses nicht minder herrlich, als jene. Im erstern werden über 3000 Knaben und Mädchen bis zum 14. Jahre trefflich erzogen. Im Schulgebäude wohnen die Lehrer und in jedem Saale finden 200 Zöglinge Raum. In dem ganzen Gebäudecyklus, das Hospital hinzugerechnet, haben über 8000 Menschen geräumig und bequem Platz. Eintracht, Ordnung, und ein seltenes Maß Zufriedenheit sind in allen diesen Anstalten zu Hause, Anstalten, welche für die Ehre und den Adel des englischen Volks mehr zeugen, als Trophäen und Monumente.

Einsicht in die innere Einrichtung ist jedem Fremden gestattet, und Tausende kommen und gehen täglich, weil nicht leicht Jemand London besucht, ohne auch Greenwich zu sehen, wohin von London und über einen Theil der Hauptstadt weg die in einem früheren Bande dieses Werkes beschriebene Eisenbahn führt. Der Haupt-Sammelplatz der Fremden ist vorzugsweise die Gemäldehalle des Spitals, in welcher die Kunst die Helden- und Siegesthaten der britischen Marine feiert. In dieser Nationalgallerie ist alles vereinigt worden, was früher in den verschiedenen königlichen Schlössern zerstreut war, und die Lücken wurden von den berühmtesten neuern Meistern ergänzt. Sie ist eine Stiftung Königs Georg IV. In der Vestibule sind die Bildnisse der Helden und Entdecker der britischen Marine seit den Tagen der Elisabeth vereinigt. An der Decke hängen die eroberten Flaggen ber Admiralschiffe der Holländer, der Spanier, Portugiesen, Franzosen, Russen, Schweden, Danen, Türken etc. etc., kurz aller Seemächte der Erde, als die rechten Urkunden der britischen Herrschaft auf allen Meeren.