Die Staatsraison
Im Staat sahe man Tag für Tag etwas ändern; man verwunderte sich, dorfte nicht tadeln, und doch blieb es schwer zu begreifen, wie unsrer Vorfahren Gesetze und Gewohnheiten so sehr in Miscredit geriethen, daß man an ihnen täglich meistern und bessern müße.
Endlich ergab es sich, daß eine neue Regierungsformel ins Land gekommen sei, die sich Staatsraison nenne; der stehe es frei, göttliche und menschliche Rechte zu brechen, weder auf Eid, noch Schaam, noch Gewissen Rücksicht zu nehmen, wenn nur der Staat, dem sie dienen solle, consolidirt werde.
Das Volk staunte zu dieser gehäßigen Frechheit, und wußte nicht mehr, was es thun solle? womit man an ihm zufrieden wäre? Jede Stunde gab es Sich selbst, das Seinige und die Seinigen den Beschlüssen einer billigen oder unbilligen Staatsraison Preis.
So trieb die Staatsraison ihr Werk fort; ein Tag vernichtete den andern, ein Gesetz, ein Decret das Andre, bis endlich ein des göttlichen Rechts Erfahrner seinen Mitbürgern Muth zusprach: „fasset Herz, ihr Brüder, sprach er, es giebt noch eine höhere Staarsraison in der Welt, deren Werk es ist, alle ungerechte, frevelnde Staatsraisons zu ihrer Zeit mit Schauder zu vernichten.“