Textdaten
<<< >>>
Autor: D. e. t.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Seebäder in Ostende
Untertitel:
aus: Die Grenzboten (1841/1842), 1. Jg., Band 1, S. 11–18
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1841
Verlag: Herbig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Band 1: SUUB Bremen = Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


Die Seebäder in Ostende.


An dem äußersten Ende Flanderns, da wo die alten germanischen Laute, dem modernen Deutschland kaum mehr verständlich, mit dem Murmeln der Nordsee sich vermischen, da wo das schmale Meer den Angelsachsen von den Niedersachsen, England von Belgien scheidet – da erhebt sich die freundliche Hafenstadt Ostende mit ihrem schlanken Leuchtthurme, mit ihrem gefährlichen Hafen, mit ihren weißen Festungsmauern und wimmelnden Fischerbooten. Den größten Theil des Jahres über sitzt diese Stadt, wie eine trauernde Wittwe, einsam und stille in die nebeligen Wolken gehüllt, die aus dem Meere steigen, als dächte sie an frühere Zeiten und an die harten Schicksale, die sie erlebt; aber kaum daß die Julisonne ihre heißen Strahlen auf ihr Antlitz wirft, beginnt sie die Augen lächelnd aufzuschlagen und ein freundlicher Reiz lagert sich auf ihren Zügen. In ihren öden Straßen, in welchen des Winters über nur der hallende Schritt klirrender Schildwachen und das eintönige Commandowort der Festungsmannschaft sich hören läßt, beginnt es lebendig zu werden, lange Wagenzüge, dampfende Locomotive, rollen geschäftig durch die Thore; in dem Hafen landen die eiligen Dampfboote und heraus steigt eine neue zauberhafte Welt: fremde Gesichter, fremde Sprache, fremde Trachten bevölkern plötzlich die Straßen und Marktplätze. Die Räume, Hallen und Häuser sind vollgedrängt von weitkommenden Gästen, und die naiven Töne der flamändischen Ortssprache werden erstickt von russischen, englischen, deutschen und französischen Lauten.

Das Seebad von Ostende – eines der vorzüglichsten in Europa – ist doch erst seit fünf Jahren im Aufschwunge. Früher waren Scheveningen, Helgoland und Norderney namentlich den deutschen Badereisenden viel bekannter. Aber Städte haben ihre Schicksale wie Menschen, und das Glück küßt jeden Morgen einen andern auf die Stirne. Man pflegt gewöhnlich die Ursache des in der neuesten Zeit mit jedem Jahre immer mehr und mehr anwachsenden Besuchs von Ostende, einzig und allein der Eisenbahn zuzuschreiben, die in wenigen Stunden die Reisenden von Deutschland und Frankreich bequem und lustig an den Ort bringt, an welchem sie Stärke und Heilung suchen. Das regelmäßige Dampfschiff welches in 12–14 Stunden die Ueberfahrt von London hierher macht, ist auch ein tüchtiger Karavanenführer. Nichtsdestoweniger dürfte die Ursache noch anderswo zu suchen sein, und zwar in der neuen Wendung, welche die medizinische Wissenschaft an und für sich genommen und in dem weit ausgedehnteren Gebrauche, den sie von den Seebädern überhaupt macht. Die neuere Medizin hat das große Verdienst, daß sie sich den Naturwissenschaften immer enger und enger anschließt. Nachdem sie, wie der verlorene Sohn, auf unzähligen Abwegen sich herumgejagt und ermüdet hat, ist sie endlich wieder zu ihrem väterlichen Hause – der Natur – zurückgekehrt, und reuig wirft sie sich ihr zu Füßen und horcht auf ihre einfachsten Lehren und Worte. Die Wassercuren, wie verschrieen und vornehm belächelt sie auch von solchen Aerzten werden, welche in jedem dem Laien zugänglichen Heilmittel, eine gefährliche Concurrenz der wissenschaftlichen Erfahrung erblicken, und aus Vorurtheil und Handwerkerängstlichkeit ihm den Krieg machen, diese Wassercuren sind nichtsdestoweniger ein bedeutender Fortschritt und eine glückliche Wendung in der Geschichte unserer Zeit. Jenem Prießnitz gebührt ein würdiger Platz in dem Pantheon der größten Aerzte. Die alten deutschen Chroniken erzählen, wie einst der Kaiser Max auf einer Jagd in Steyermark sich verstiegen habe, und wie er endlich von Felsen und Abgründen umgeben, den Fuß weder vor noch zurück zu setzen wagte, und vergebens nach einem Rückwege den Blick umherspähen ließ. Plötzlich spaltete sich der Felsen und aus dem Berge trat ein Mann in schlichtem Bauernkleide, der dem erstarrten Kaiser einen Fußweg zeigte, welcher dicht vor seinen Augen lag, und der ihn glücklich ins grüne, lachende Thal hinabführte. Wahrlich, die Medizin war auf nicht minder gefährliche Abwege gerathen, als der alte Kaiser Max; sie hatte auf ihrer Jagd nach großen Entdeckungen sich gar zu weit von dem geraden Wege verirrt – da plötzlich trat ein schlichter Bauer aus seinen Bergen hervor und zeigte ihr den Weg zur Natur, zur Einfachheit zurück. Fürwahr, dieser Prießnitz verdient kaiserlich belohnt zu werden, und die Männer der Wissenschaft haben wenig Recht, auf den Bauersmann, der in seinem Gräfenberg einen neuen Welttheil der Heilkunde entdeckt und angebaut hat, so stolz herab zu sehen. Denn dieser Bauer kann vor die Männer von Fach hintreten und fragen: Könnt Ihr läugnen, daß es mir, dem schlichten, ungelehrten Manne, gelungen ist, Krankheiten zu heben, die Ihr mit all’ Eurem Forschen und Wissen für unheilbar erachtet habt? Könnt Ihr es läugnen, daß der Gebrauch des kalten Wassers eine verjüngende Kraft ausübt? Daß die Lebensfunktionen dadurch gesteigert und aufgeregt werden? Daß die Haut sich ausdehnt, die Wangen sich röthen, der Körper elastischer sich aufrichtet? Könnt ihr es läugnen, daß die Kälte, indem sie die Haut erfaßt, alle Flüssigkeiten nach Innen zurückdrängt, die inneren Gefäße zu einer höheren Thätigkeit steigert, alle Lebensäußerung aus ihrer Stumpfheit rüttelt? Ihr könnt nicht umhin, mir dieß alles zugestehen zu müssen und meine aus der Praxis und der Erfahrung abgeleitete Verfahrungsart zu billigen. Aber nun will ich Mann der Praxis, an Euch, Ihr Männer der Theorie, eine Frage richten, die Ihr beantworten sollt. Wie kommt es, daß alle diese Wirkungen der Kälte gerade an das Wasser gebunden sind? Wie kommt es, daß die Kälte, an und für sich, in ihrem freien Zustande, nicht dieselben Resultate hervorbringt? Warum sind diese Heilkräfte des kalten Wassers so nothwendig an die Form des Flüssigen gebunden? Hierauf könnt Ihr nur in Ausflüchten antworten; die eigentliche Auflösung dieses Naturräthsels habt Ihr trotz Eurer vielgepriesenen Theorieen doch noch nicht gefunden. – Somit habt Ihr auch gar keine Ursache, in den theoretischen Mantel Eurer Vornehmheit Euch zu wickeln und so stolz an dem practisch beweisenden Laien, an dem Manne der That, vorüberzugehen.

Wenn nun aber die medizinische Wissenschaft über die Kräfte des Süßwassers und deren Gränzen, noch nicht ins Reine gekommen ist, so hat sie dagegen um desto bestimmter die Einwirkungen der See-Elemente zu berechnen gewußt. Es gibt kein zweites Heilmittel, welches Körper und Seele mit gleicher Kraft erfaßt, wie das Meerbad. Hier tritt die Arznei aus ihrer beschränkten, nur auf den Leib sich erstreckenden Macht heraus, sie wird Poesie; sie ergreift das Gefühl, die Phantasie des Kranken und zwingt sie, ihren Zwecken zu dienen. Gibt es eine erschütterndere Empfindung als die eines Menschen, der nie das Meer gesehen und nun plötzlich in seine Mitte versetzt wird, seine Wellen an seine Brust schlagen läßt, den weiten, unermeßlichen Horizont über seinem Haupte, die räthselhafte, dunkle Brandung zu seinen Füßen, und er in der Mitte des Elementes, nackt, im Naturzustande, und doch sicher wie ein Geschöpf dieses Meeres, wie ein Baum, den man aus dem nebeligen Boden des Nordens entwurzelt und in ein üppiges Thal des Orients, in eine ganz neue Welt mit fremden Gesetzen gepflanzt hat.

Ich habe Ostende eines der vorzüglichsten Seebäder genannt; es ist hier nicht der Ort, dieses auf wissenschaftlichem Wege zu beweisen, und auf eine Angabe der chemischen Mischung der verschiedenen Salze, des stärkeren oder schwächeren Wellenschlages und dessen Wirkungen detaillirt einzugehen. Wir erwarten in dieser Beziehung eine Schrift von dem vortrefflichen Doctor Rieken, der in der medizinischen Literatur durch sein beachtungswerthes Werk über die Mineralquellen zu Hambach und Schwollen bekannt ist. Wir begnügen uns, den Beweis auf practischem Wege zu führen.

Schon daß die Ankunft in Ostende nicht auf dem ermüdenden Wege des Postwagens oder der Messagerie geschieht, ist eine moralisch wie physisch günstige Einleitung. Der Badegast hat den ganzen Weg von Brüssel hieher auf der Eisenbahn in 4 Stunden zurückgelegt. Gewöhnlich pflegt der Reisende einen Tag in Brüssel zuzubringen; jedenfalls übernachtet man dort, man mag kommen, woher man will. Gestärkt und erfrischt tritt man somit die Fahrt hieher, als eine reizende Lustparthie an. Ohne Aufregung, ohne Abmattung steigt man von dem bequemen Sitze und schreitet gleich und ohne Aufenthalt zu dem Gebrauche des Bades. Das Meer bietet hier einen eigenthümlichen Anblick. Während es bei anderen Hafenstädten, von lang sich hinstreckenden Küstenufern, meilenweit eingerahmt ist, springt es hier plötzlich in voller Breite von dem Lande ab. Der Damm von Ostende scheidet See und Land in scharfem Schnitt von einander. Kein grünes Plätzchen ringsherum, nichts als Himmel und Meer.

Zwischen der Eisenbahn und dem Damm liegt die Stadt; nachdem man in einem der freundlichen, mehr bequemen als eleganten, Gasthöfe die Kleider gewechselt hat, begibt sich der Reisende gewöhnlich sogleich nach der Digue (Damm), wo er die Bekanntschaft des Meeres und der ganzen Badegesellschaft zu gleicher Zeit macht. Die Digue erstreckt sich viele hundert Schritte längs der Küste hin; hier versammelt sich bei nur halbweg günstigem Wetter alles, was in Ostende bade- und lebenslustig ist. Regelmäßig pflegt der König und die Königin von Belgien hier einen längeren Sommeraufenthalt zu nehmen, und dieses bringt allerdings Bewegung und elegantes Leben unter die Promeneurs auf der Digue. Sonst zeichnet sich aber die Badegesellschaft von Ostende durch einen gewissen Zug aus, der namentlich der Mittelklasse sehr wohl thut; es ist dieß eine gewisse deutsche Bürgerlichkeit, ein freundlicher, keineswegs hochgestimmter Ton, in Mode, Gespräch und Umgangsweise. Den Grundstamm der Ostender Badegäste bilden die Deutschen, und hierdurch unterscheidet sich der Platz vorzüglich von seinem Rivale Boulogue sur mer. In Boulogne besteht bekanntlich die Hauptzahl der Fremden aus Engländern. Abgesehen von dem langweiligen Miasma, das Freund John überall verbreitet, wohin er kömmt, ist noch dazu der Schlag Engländer, die in Boulogne sich aufhalten, eben nicht von der edelsten Race der vereinigten drei Königreiche. Boulogne ist eine englische Colonie, wo alle zahlungsunfähigen Schuldner, alle zweideutigen Mütter und compromittirten Väter, alle etwas gar zu lustigen Brüder und allzu leichtsinnigen Schwestern Altenglands, eine neue Welt suchen. Hier badet sich mancher Kurgast, nicht um sich Gesundheit zu erwerben, sondern um seine Sünden abzuwaschen. Der unschuldige Deutsche oder sonstige Fremde, der in die Mitte dieser sonderbaren Colonie geräth, findet sich nichts weniger als behaglich.

In Ostende sind die Engländer nicht häufig, daher weniger Langeweile und weniger Kosten. Man kann in Ostende für eine weit mäßigere Summe, als selbst in manchen kleinen deutschen Badeörtern, leben. Dieß ist wahrscheinlich auch eine der vielen Ursachen, warum dieser Badeplatz jetzt so häufig dem früher viel mehr besuchten Boulogne und Scheveningen vorgezogen wird. Zwei freundliche Zimmer übersteigen kaum den Preis von 3 Franken per Tag, und es gibt deren die noch wohlfeiler sind. Das Frühstück wird von der Hausfrau für eine geringe Vergütung besorgt. Der Mittagstisch an der Table d’Hote gleichfalls zwei bis drei Franken. Bei einem Abonnement für die Hälfte. Die Bäder selbst sind beispiellos billig. Ein Abonnement für 12 Karten 6 Franken. Dafür erhält man den Wagen der hinein ins Bad fährt, und die gehörige Badewäsche. Diese Badewägen sind ganz praktisch und bequem. Sie sind gewöhnlich für eine Person eingerichtet, obgleich zwei bis drei darin Raum haben. Das Innere derselben ist zu einem freundlichen Stübchen gestaltet, worin Bänke, Spiegel, Tisch und alles was der Badende zu seiner Bequemlichkeit braucht, sich vorfindet. Ein starkes Pferd führt den Wagen tief in die See. Hier hält der Führer in Mitte der Brandung an und der Badegast steigt auf einem Treppchen in das schäumende, freie Element hinab. Frauen lassen sich gewöhnlich von der Bademeisterin führen, die Herren sind sich selbst genug. Das Interessante eines solchen Seebades ist, daß Männer und Frauen wie im Paradiese, zu einer Zeit, die noch nicht so raffinirt und verderbt war, im Zustande der Natürlichkeit unter einander baden. Die hübschesten Mädchen zeigen ihre Formen, in noch weniger als griechischem Costüm, unter Gottes freiem Himmel, und die Herren begnügen sich nicht immer ausschließlich mit dem großartigen Anblick des Meeres.

Ich erinnere hier an eine satyrische Bemerkung der Guepes. In Paris – sagt Karr – gibt es an der Seine kalte Bäder, die seit einigen Jahren sehr in die Mode bei den Frauen gekommen sind und noch mehr bei den jungen Mädchen, die daselbst schwimmen lernen. Ihr Costüm ist genau dasselbe, wie man es beim Baden im Meere trägt. Nun wohl, unter keinem Vorwande würde man dort gestatten, daß ein Vater seine Tochter, oder ein Mann seine Frau ins Bad begleitete. Ein Mann, dessen Fuß ein solches Badzimmer beträte, würde ein Zetergeschrei hervorlocken von allen Frauen, die daselbst plätschern. Wie ganz anders, welche großartige Freiheit auf dem Meere! In Havre, in Boulogne, in Ostende, da baden die Frauen öffentlich vor den Augen aller Welt, die am Hafendamm spaziert, im bunten Gemisch mit den Herren, die von einer einzigen Schwimmhose bedeckt sind. Kein Mensch entsetzt sich darüber; es muß somit gewiß eine doppelte Art von Schamhaftigkeit geben: eine Süßwasser-Schamhaftigkeit und eine Salzwasser-Schamhaftigkeit. Doch man muß jedes Ding von zwei Seiten betrachten. Wenn es auch beim ersten Anblick scheint, daß diese Schamhaftigkeit, die so wüthend in der Seine sich zeigt, etwas Aehnliches mit den Flußfischen hat, welche im Meere ihr Leben aufgeben, so muß man doch bemerken, daß die Frauen in den Seebadern der Keuschheit das größte Opfer bringen, welches je einer Tugend gebracht wurde: sie opfern ihr ihre Schönheit. Man kennt die Geschichte jener christlichen Jungfrau, welche sich die Nase abschnitt, um der Leidenschaft eines römischen Prokonsuls zu entgehen. Nun wohl, ihr seht in Havre, in Dieppe, in Ostende, dreihundert Frauen, welche tagtäglich diesen vielgerühmten christlichen Zug wiederholen. In ihrem wollenen Costüm, in ihrem Lamisol, in ihrem Beinkleid und ihrer Haube aus Wachsleinwand gleichen sie einem Haufen räudiger Aeffchen, welche am Gestade ihre Luftsprünge machen. Genöthigt, sich in Mitte der Männer zu baden, versuchen sie es schlauerweise, sich mit einem Schleier von Häßlichkeit zu umgeben. –

Ein Umstand erhebt Ostende über alle seine Rivale, es sind dieß seine Umgebungen. Man pflegt gewöhnlich, wenn man von Umgebungen einer Stadt spricht, Naturschönheiten zu verstehen, hievon kann nun freilich nicht die Rede sein. In der Nähe des Meeres, gewissermaßen erschreckt und eingeschüchtert durch seine gewaltige Schönheit, hat die Erde sich hier alles Schmucks begeben. Flandern ist ein fruchtbarer Garten, aber ein Küchengarten ohne Ziergewächse und abwechselnde Perspectiven. Doch in Mitte dieser reichen und nährenden Fruchtbarkeit hat der Mensch die reichsten Mittel gefunden, sich anzubauen, und was die Natur an Schönheit ihm versagt hat, das trachtete er durch Kunst zu ersetzen. Von Ostende nach dem herrlichen Brügge braucht man nur eine halbe Stunde. Brügge, das Herculanum des Mittelalters, das Pompeji des fünfzehnten Jahrhunderts! Hier, wo wie durch einen Zauberspruch, alles so stehen und liegen geblieben ist, wie zur Zeit, als der Theuerdank hier gefangen saß, und sein treuer Kunz von der Rosen, seine rührenden Schalksstreiche ihm vormachte! Hier, wo der Reisende plötzlich aus dem modernen Leben des neunzehnten Jahrhunderts herausgerissen wird, und mit einem Ruck die Blätter der Zeit um drei Jahrhunderte zurückgemischt glaubt, und Sitten und Trachten, und Gebäude und Plätze, um sich sieht, deren Dasein er bisher nur in alten Chroniken glaubte, und deren Gestalten er auf alten Bildern mährchenhaft erblickte. Dort öffnet sich die Thüre des wunderlich altspanisch geformten Hauses, eine Gestalt tritt heraus; ist dieses wohl Johann van Eyk, der alte Maler, der zuerst mit Oelfarben zu malen verstand und die menschlichen Figuren mit grauen Landschaften und blauem Himmel umgab? Und dort das graue Hospiz — eine Nonne öffnet das Pförtchen; im Garten wimmelt es von bleichen Genesenden. Sind dieses Pilger, die hier Zuflucht gefunden? Und wandelt in ihrer Mitte nicht Memling, der malende Soldat, der kranke Krieger, der zum Danke für Pflege und Wartung, den Klosterfrauen seinen Farbenkasten aufschließt und unschätzbare Wunderthaten mit seinem sanften Pinsel schafft? Wie ein Blitz durchschießt die Phantasie die öden, ehrwürdigen und phantastischen Räume dieser Stadt, überall neu sich entzündend, ein jeder Stein bietet ihr Stoff und Anziehung.

Und anderthalb Stunden weiter Gent, die Mutterstadt des goldnen Vließordens, die Geburtsstadt Karl des Fünften, der uralte Heerd steter Unruhen, kühner Aufstände und gährender Bürgerkraft, Gent, eine der wunderbarsten und reichsten Städte des Festlandes, mit ihrem prächtigen Stadthause, mit ihrem colossalen Belfried, mit ihrem unvergleichlichen Dome, mit ihren zahlreichen Denkmalen alter und moderner Kunst.

Und Courtrai, und Antwerpen und Brüssel selbst. Welche Ausflüge innerhalb eines Umkreises weniger Stunden, in Gesellschaft einer ewig wandernden Karavane, in Mitte der Hunderte von Reisenden, die der schäumende Dampfwagen von einem Ende des Landes zum andern in fröhlichem Fluge führt! Man vergleiche die mühseligen Spazierfahrten von Carlsbad und Teplitz, die traurigen Lustparthieen von Scheveningen und Helgoland, wo der Genuß eine Arbeit ist und das Vergnügen im Schweiße des Angesichts erkauft werden muß[1].

Bei allem dem wollen wir nicht zu weit gehen. Nicht jeder Tag bescheinet sonnig die Straßen, welche in die nahen Städte führen, nicht jeder Badegast hat die Lust und Befähigung, täglich einen Ausflug zu machen. Es gibt in jedem Badeorte immer einen guten Theil Gäste, die wie Enten sich nicht von der Quelle wegrühren und häuslich und schwerfällig den Ort nie verlassen, auf den sie angewiesen sind. Für solche Gäste ist in Ostende ziemlich stiefmütterlich gesorgt. Der tägliche Spaziergang auf dem Damme und die abendliche Zusammenkunft auf dem Casino sind so ziemlich alles, was die Stadt selbst als Zerstreuung bietet. Wenn Ostende in vielfacher Beziehung andere große Badeplätze überflügelt, so steht es in der Einen sogar hinter den meisten kleinen zurück.

Von den mannichfaltigen pikanten Mitteln und Spielereien, womit man anderswo den Aufenthalt der Kurgäste zu verschönern sucht: Theater, Morgen- und Abendmusiken, Gartenbelustigungen, Bewillkommungsfanfaren u. s. w., ist hier wenig zu finden. Wir begreifen nicht, wie sich die Verwaltung der Stadt solche einfache, zur Anziehung und zur Aufenthaltsverlängerung viel beitragende Mittel entgehen läßt. Das Casino, mit seinen freundlichen Räumen, mit seinen heitern Abendgesellschaften, Bällen, und kleinen Concerten, ist gewiß aller Ehren werth, und der Fremde hat eben nicht Ursache, sich über Mangel an Bequemlichkeit und Zuvorkommenheit zu beklagen. Aber ein, jeden Tag sich wiederholendes, Vergnügen, hört am Ende auf, eins zu sein. Wie leicht wäre es, hier ein gutes Theater zu errichten, hier, wo die Seelust die Abendspaziergänge abkürzt, und die Gäste von selbst zu einer gesellschaftlichen Vereinigung unter Dach und Mauern zwingt. Wie leicht wäre es, durch Bootspiele, Fischerstechen etc. von Zeit zu Zeit ein angenehmes Schauspiel zu bieten. Ostende hat eine große Zukunft, und je weiter die Eisenbahnen nach Deutschland und Frankreich sich ausdehnen, je mehr Fremde werden diesem Bade mit jedem Jahre zuströmen. Aber es ist nicht genug, Gäste zu empfangen, man muß sie auch bewirthen. Dieses sollte sich die Stadt zu Herzen nehmen, und die Gunst der Natur und der Verhältnisse durch ihre eigenen Bemühungen zu erhöhen trachten.

Med. Dr. D.e.t.     



Anmerkungen

  1. Der Abstecher nach Sas van Slijkens, verdient doch auch wohl einer Erwähnung. Wir möchten keinem Fremden rathen, den ohngefähr eine Viertelstunde von Ostende gelegenen, freundlichen Flecken unbesucht zu lassen. Es findet sich daselbst ein allerliebstes, kleines Naturalienkabinet, das manches merkwürdige Exemplar besitzt, wofür die größten Museen es beneiden dürfen, eine treffliche Sammlung seltener Thiere und Vögel. Der Eigenthümer, der diese schöne Collection mit Eifer, Geduld und Mühe zusammengebracht, ist ein schlichter Gastwirth, ein Flamänder, der an der Seeküste zum Naturforscher sich heranbildete, ein Autodidakt, der, vom Hause aus ohne Unterricht und Erziehung, sich auf praktischem Wege Kenntnisse erworben hat, die manchen Gelehrten beschämen könnten. Der Name dieses Mannes ist Franz Paret, und seine Gefälligkeit gegen Fremde ist eben so rühmenswerth, als sein Talent.