Die Sage/Bildung und Entstehung der Sage

Die Ethik der Sage Die Sage (1908) von Karl Wehrhan
Bildung und Entstehung der Sage
Die Wanderung der Sage und der Sagenzüge


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IV. Bildung und Entstehung der Sage.

„Um alles menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, was die Natur eines Landstrichs besitzt, oder wessen ihn die Geschichte gemahnt, sammelt sich ein Duft von Sage und Lied, wie sich die Ferne des Himmels blau anläßt und zarter, seiner Staub um Obst und Blumen setzt. Aus dem Zusammenleben und Zusammenwohnen mit Felsen, Seen, Trümmern, Bäumen, Pflanzen, entspringt bald eine Art von Verbindung, die sich auf die Eigentümlichkeit jedes dieser Gegenstände gründet und zu gewissen Stunden ihre Wunder zu vermehren berechtigt ist. Wie mächtig das dadurch entstehende Band sei, zeigt an natürlichen Menschen jenes herzzerreißende Heimweh.“ So heißt es in der Vorrede zu den Grimmschen Sagen. Wir haben da ein Doppeltes zu unterscheiden. Wird der Sagenstoff ungewöhnlichen Formen oder Vorgängen in der Natur (eigenartige Felsen, erratische Blöcke, Irrlichter, Gewitter usw.) und den allgemein menschlichen Zufällen entlehnt, so entsteht die mythische Sage, wird er aber den ganze Völker oder einzelne Volksgruppen berührenden geschichtlichen Ereignissen, in denen sich dann eine Kulturepoche widerspiegelt, entlehnt, so spricht man von der geschichtlichen Sage.

Nur bei diesen letzteren ist also der Ursprung in der Geschichte zu suchen. Das ist auch von allen übrigen Sagen behauptet und dann angenommen, alle persönlichen Wesen der Sage seien wirkliche Personen gewesen und im Laufe der Zeit seien [25] nur die Tatsachen entstellt worden. Nun sind gewiß viele Gedanken erst später zu den alten Sagenzügen hinzugefügt, gleichsam der Kunstdichtung entstammend. Die ursprünglichen Sagenzüge sind aber zweifelsohne auf Einwirkungen der Natur zurückzuführen, denen nachher die dichterische Phantasie oder auch die ethische Überzeugung der Menschen eine bestimmte Gestaltung gab, und je mehr ein Volk sich von seiner ursprünglichen Auffassung (Religion) entfernte, je mehr es sich an Bildung, Wissen, Erkenntnis aneignete, desto mehr leistete es sich Veränderungen, Ausschmückungen der Sagen.

Welche Naturvorgänge liegen nun den Sagen zu Grunde? Das ist nicht einheitlich festzustellen, da die Auffassung des Volkes nicht überall dieselbe und auch die Natur nach der Eigentümlichkeit des Landschaftsbildes und des Klimas eine verschiedene war.

Nicht nur die Sagen verschiedener Völker und Volksstämme, sondern auch die einzelner Landschaften zeigen wesentliche Verschiedenheiten, erklärbar durch die Eigenart der betreffenden Bewohner sowohl als auch der Landesnatur. So sind die Sagen vom wilden Jäger fast ausschließlich oder doch vorzüglich in waldigen und bergigen Gegenden anzutreffen. Natürlich kennt man auch nur hier die Berggeister, wie z. B. Rübezahl im Riesengebirge. Riesen kennt ebenfalls vor allem nur die Sage der Gegenden, in denen Berge und Felsen reichlicher sich finden. Müllenhoffs[1] Bemerkung stimmt damit überein, wenn er sagt: „vor dem Landbau weichen die Riesen, denn sie stellen die untergeordneten, ungezähmten und verderblichen Naturkräfte dar“ – je mehr eine Gegend Ackerbau treibt, je weniger gebirgig ist sie. Daß Wasserdämonen in erster Linie nur in solchen Gegenden häufiger auftreten, in denen die natürlichen Grundlagen dafür gegeben sind, das Wasser, braucht nicht weiter erwähnt zu werden. Meiche führt noch einige Beispiele für das Königreich Sachsen an. Für die Gegend von Rochlitz hat Pfau den Zusammenhang zwischen Gespenstersagen und prähistorischen Fundorten erwiesen. Der Südwesten Sachsens ist besonders reich an romantischen Sagen, was in der Gemütsart der Bewohner seinen Grund haben [26] kann. Der Osten Sachsens ist dagegen reich an Drachensagen, wobei vielleicht der Einfluß der Slaven wirksam[WS 1] gewesen ist. Irrlichtersagen findet man vorzüglich im Meißner und Leipziger Kreise, erklärlich jedenfalls aus der eigenartigen Landesnatur. Das Erzgebirge übertrifft endlich alle anderen sächsischen Landschaften an Gespenstersagen, was möglicherweise mit dem Bergbau zusammenhängt und somit einen Zusammenhang zwischen der Sagenart einerseits und dem Beruf der Bewohner andererseits andeutet.

Um noch mit einem Wort zu erwähnen, wie sich Sagen aus Ortsbenennungen gebildet haben, sei nur an den Pilatus, jenen bekannten Schweizerberg, erinnert, der mit der historischen Person nichts zu tun hat. Aus Mißverständnis des Namens Pileatus, d. h. der mit einem Filzhute (dem Nebel) Versehene, ist der geläufigere Name Pilatus und daraufhin die Sage entstanden, nach der der irrende Geist des römischen Landpflegers Pilatus in die Schweiz gewandert sei. Die Sage vom Mäuseturm ist aus Mißverständnis von Mauthturm (Zollturm) entstanden; die Sage von der Lorelei erst um 1800 von Brentano erfunden. Hier sehen wir zugleich ein Stück Entwicklung, wie es Simrock andeutet.

„In der Jugend aller Völker“, sagt Simrock, „vertreten Sagenlieder die Stelle der Geschichtsschreibung, eine mythische Zeit geht der historischen voraus, die eigentliche Geschichte beginnt erst im männlichen Alter der Völker. Wenn aber auch das Volk als Gesamtheit sein männliches Alter schon erreicht, vielleicht bereits überschritten hat, wird das junge Geschlecht der geschichtlichen Sagenpoesie noch hold und zugetan bleiben, in ihr, wie einst das ganze Volk, seine erste zuträglichste geistige Nahrung finden, die Liebe des Vaterlands aus ihr in das zarte Gemüt aufnehmen und durch diese mythische Vorhalle ahnungsvoll in den Tempel der Geschichte eintreten.“

So gibt es verschiedene Gründe, die eine Sage erzeugen können, aber derartige Sagen haben noch keine mythische Bedeutung an sich, sie brauchen sich gar nicht vom Boden des Möglichen oder auch Wirklichen zu entfernen und sind doch Sagen – wozu unten noch einige Beispiele –, sie bekommen sie erst, wenn die hineinspielenden Wesen und Dinge oder Vorgänge mythisch sind, d. h. der Wunderwelt angehören, an welche die Menschheit vor ihrer historisch-kritischen [27] Entwicklung geglaubt hat. In dieser vorhistorischen, sozusagen ursprünglichen Zeit glaubte man allgemein voll und ganz an den Inhalt der Sagen, denn diese waren der Ausdruck des Denkens und Gemüts des Volkes, sie stimmten also mit der menschlichen Logik jener Zeit überein. Natürlich können sie mit unseren Gesetzen der Logik nicht mehr gemessen werden, sie sind jetzt freie Kinder künstlerischer und dichterischer Phantasie. Aber bloße Erfindungen sind doch nur die wenigsten. Durch wissenschaftliche Untersuchung können sie auf ihren wahren Kern zurückgeführt werden. „Ihrem Wesen nach aber fordert besonders die mythische Sage unbedingten Glauben, der über den jeweils herrschenden Glauben, nicht nur der Kirche, hinausgeht. So verquicken sich Sage und Aberglaube, ja man möchte die Sage in vielen Fällen gerade als den durch Beispiele gestützten und erwiesenen Volksglauben bezeichnen, als einen dramatisierten Aberglauben. Umgekehrt können natürlich auch Sagen verblassen und abergläubische Vorstellungen als Rückstand verbleiben.“

Wie Sagen noch jetzt entstehen können, davon ein Beispiel aus meiner Erfahrung, von meinem Vater erzählt. Dieser fuhr in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts abends von Bielefeld durch den Teutoburger Wald nach Heidenoldendorf bei Detmold. Jenseit des Waldes, zwischen Örlinghausen und Pivitsheide, war ein tiefer Hohlweg, dessen hohe Böschungen mit alten Hecken bestanden waren. Inzwischen war es stichdunkel geworden, und in dem Hohlwege angekommen, wollte das Pferd plötzlich nicht mehr weiter, bäumte sich, schnaubte und gab alle Zeichen einer großen Angst zu erkennen. Aufmerksam geworden, gewahrte mein Vater auf dem hohen Uferrande des Hohlweges einen ungeheuren Hund mit einem einzigen, aber riesig großen Auge auf der Stirn des dicken Kopfes. Ihn gruselte selber, das Pferd wollte trotz starken Zügelns und trotz des Gebrauchs der Peitsche nicht vorbei. Was machen? Er stieg vom Wagen, nahm sich ein Herz und ging in weitem Bogen dem Untier langsam näher. Was war es? Ein alter krummer Weidenstumpf, in dessen dickem Kopfe sich ein großes Loch befand, durch das die infolge Verwesung fluoreszierende Moderschicht des Bauminnerns hindurch leuchtete. Das Gespenst war erkannt; aber nur mit Mühe konnte der [28] Gaul, dem mein Vater das eine Auge zuhielt, an ihm vorbei gebracht werden. In dem nächsten Dorfe, wo er in einem Wirtshaus einkehrte, wurde er aber schon mit Fragen bestürmt, ob er denn richtig an dem großen Hunde vorbeigekommen sei, der in letzter Zeit sich dort habe blicken lassen. Im ganzen Dorfe war die Sage von dem schwarzen Hund schon bekannt, nach den Angaben einiger Leute von Mund zu Mund weiter erzählt.

Nun ist aber dabei zu bedenken, daß eigentlich nur die Lokalisierung der Sage das Neue an der Sache war, der Sageninhalt, der schwarze Hund, die feurigen Augen und dergleichen schon Gemeingut des Volkes waren, in der Gegend vielleicht nur einer gewissen Anzahl von Leuten von andersher bekannt, aber hier durch ein natürliches Vorkommnis belebt und übertragen. In das Gebiet der historischen Sage führen uns folgende Beispiele.

In Küstrin geht die Sage[2], nach den unglücklichen Kriegsjahren 1806 ff. habe die preußische Königsfamilie, veranlaßt durch die Treulosigkeit der Bewohner Küstrins in jenen Jahren, die Stadt eine lange Reihe von Jahren gemieden; die Hohenzollern hätten, wenn unumgängliche Reisen sie doch über Küstrin geführt hätten, ohne Aufenthalt zu nehmen, einen Weg um die Festung herum gewählt. Nach anderer Sage soll die Königsfamilie der Stadt auf dieselbe Weise gezürnt haben, weil die Schützengilde bei der allgemeinen und opferwilligen Erhebung aller Stände in Preußen zu Beginn der Freiheitskriege nicht auch ihre goldene Kette auf dem Altare des Vaterlands geopfert habe.

Tatsache ist folgendes: Nach der unglücklichen Schlacht von Jena und Auerstädt am 14. Oktober 1806 kam der König auf seiner Flucht am 19. Oktober nach Küstrin, erwartete hier seine Gemahlin und seine Kinder und flüchtete am 24. desselben Monats weiter. Eine Menge Silbergerät, Porzellan und Leinenzeug konnte nicht mehr fortgeschafft werden – der Kommandant übergab schon am 1. November ohne Schwertstreich die Festung in die Hände der Feinde – und zwei Maurer wurden beauftragt, die Sachen einzumauern. Während der achtjährigen Besetzung durch die [29] Franzosen sind sie aber doch in deren Hände gefallen, wahrscheinlich durch Verrat jener Maurer, und an diese Treulosigkeit knüpfte sich eben die Sage, deren Inhalt aber insofern den tatsächlichen Verhältnissen nicht entspricht, als – wenigstens von 1824 an, wenn nicht schon früher – bis in die neueste Zeit alle preußischen Könige und noch öfter hohenzollernsche Prinzen sich in der Stadt selbst aufgehalten haben.

Noch ein Fall aus derselben Stadt[3].

Im Jahre 1880 wurde im Auftrage des preußischen Kronprinzen die dort unter dem Altare der Marienkirche sich befindende Gruft durch einen Regierungsbauführer aufgesucht und aufgefunden und dann neu und würdig wieder hergestellt. Nach kurzer Zeit jedoch hörte man schon die folgende Sage, daß nämlich Ende der siebziger Jahre ein gewaltiger Blitz in die Kirche eingeschlagen und eine Gruft mit mehreren Särgen, darunter auch den des Markgrafen Hans, freigelegt habe.

Auch in neuerer Zeit, und da vielleicht erst recht, können literarische Einflüsse die Bildung von Sagen bewirken. So ist z. B. außer Herders aus dem Dänischen 1779 übersetzten Ballade „Erlkönigs Tochter“ keine andere direkte Quelle für das bekannte Goethesche Gedicht „Erlkönig“ (1782) bekannt. Nun begegnet man aber neuerdings in Kapellen in der Provinz Antwerpen folgender Sage[4] „vom Ritter mit seinem Kinde und dem Könige des Erlengebüsches“: Ein mächtiger Ritter bewohnte ein schönes, prächtiges Schloß. Er hatte ein fünfjähriges Söhnchen, das er zärtlich liebte. Einst stieg der Ritter zu Pferde, er wollte durch seine Felder und Wälder reiten. „Vater, laß mich mitgehn“, schmeichelte der Kleine. Und weil er seine blauen Guckaugen so hübsch zum Vater emporhob, nahm ihn der Ritter und setzte ihn mit auf den Sattel. Wie froh war der Junge! Er schwatzte, lachte und jauchzte beständig. Nach langem Reiten kamen sie an den Rand eines Erlengehölzes, wovon ein Ast ihnen mit seinen Zweigen den Weg versperrte. Der Vater brach einen Zweig ab und ritt langsam weiter. Bald darauf [30] erschien der Erlenkönig dem Sohne. „Kind“, sagte er, „dein Vater hat meinen Sohn getötet; nun mußt du mit, um mein Sohn zu sein, sonst töte ich dich.“ Der Junge barg sich am Herzen des Vaters. „Vater“, rief er, „der Erlenkönig muß mich haben oder er tötet mich!“ – Der Kleine schlummert und träumt, dachte der Vater und antwortete nicht. Er ritt weiter. Alsbald stand der Erlenkönig wieder vor dem Knaben. „Liebes Kind“, sprach er, „komm mit mir! Du darfst auf meinem Throne sitzen. Willst du nicht, dann töte ich dich, weil dein Vater meinen Sohn getötet hat.“ Der Kleine war noch ängstlicher und klammerte sich an den Vater. „Vater“, stöhnte er, „der Erlenkönig will mich töten.“ „Fürchte dich nicht“, antwortete der Ritter, „ich bin stark und will dich schützen.“ Und er drückte den Sohn an seine Brust. Wieder kam der Erlenkönig; er war zornig und wollte das Kind aus des Vaters Armen reißen. Der Kleine war zu Tode erschrocken. „Vater, Vater“, wimmerte er, „der Erlenkönig will mich töten!“ Der Ritter zog sein Schwert und schlug. Hatte er den Feind getroffen? Er sah ihn nicht. Und der Knabe wimmerte immer weiter. Der Ritter gab seinem Pferde die Sporen und jagte eilig nach seinem Schlosse. Schon erblickte er die Mauern und Türme und meinte, frei zu sein, als das Kind auf einmal einen schrecklichen Schrei ausstieß. Der Vater sah hin. Ach, er hielt nur noch eine Leiche in seinen Armen! – Seitdem scheuen sich die Kinder im flachen Lande, einen Erlenzweig abzubrechen; der Erlenkönig könnte sie, wie des Ritters Söhnchen, töten.

Soweit die Sage. Sie enthält alle Züge des Goetheschen Gedichts, sucht darüber hinaus auch noch den Zorn des Erlenkönigs durch das Abbrechen des Erlenzweiges zu erklären. Einmal ist nun aber die Sage in weiteren Kreisen der Provinz Antwerpen nicht bekannt und zum anderen enthält sie auch einen Fehler, den genau so das Goethesche Gedicht enthält. Herder hatte nämlich irrtümlich den dänischen „Ellerkonge“ = „Elverkonge“ = „Elfenkönig“ mit Erlkönig übersetzt und Goethe nahm diesen Ausdruck unbesehen herüber. Schon dadurch wird bewiesen, daß der vlämische „Elzenkoning“ oder „Koning van het Elzenhout“ nicht auf eine vorgoethesche Überlieferung zurückgeht, sondern daß er eine Nachahmung des Goetheschen Erlkönig ist.


  1. Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg. Kiel 1845. S. IL.
  2. Nach Berg, G., Schriften des Vereins für Geschichte der Neumark. VII. 1898. S. 201–203.
  3. Berg, G., a. a. O. S. 203.
  4. Amaat Joos, Vertelsels van het vlaamsche volk. II, 20 Thielt 1890, hier nach der Wiedergabe von Joh Volte im Goethe-Jahrbuch. XIX. 1898. S. 305–307.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wirsam


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