Die Residenz des chinesischen Kaisers in Peking

CCCCVII. Schloss Kronenburg im Sunde Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCCVIII. Die Residenz des chinesischen Kaisers in Peking
CCCCIX. Das Chelsea-Hospital bei London
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DER KAISER-PALLAST
in Peking

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CCCCVIII. Die Residenz des chinesischen Kaisers in Peking.




Drei große Ereignisse voller Weltbewegungskeime hat seit dem Pariser Frieden die Zeit geboren. Das erste ist die Juli-Befreiung der Revolution aus ihren Banden, in welche sie das Kaiserreich und die Restauration geschlagen; das andere ist der Tod von Ludwig Philipp’s Erstgebornen, durch welchen der Bestand seiner Dynastie zur Unmöglichkeit wird, aber der Neupakt Frankreichs mit der Revolution gleichsam Ratifikation erhält; das dritte, fast gleichzeitige, ist Englands Triumph in China und die Frucht desselben, der Friedenstraktat von Nanking. Welches Ereigniß das größere ist, wer wagt es zu errathen? – Denn solche Ereignisse sind die rechten Himmelszeichen, es sind die feurigen Schwerter, welche der alte Aberglaube am Firmament gesehen, die sichtbare Hand des allregierenden Gottes, die ordnend in das Getriebe der Erdgeschicke eingreift und sie zurecht stellt nach seinem Plane, nicht nach den vermessenen Wünschen und schlauen Anschlägen Derer, welche sagen, ihre Macht käme von Gott! Was Jahre lang vermeinte Weisheit listig ausgesponnen hat, das zerreißt so ein Griff von des Herrn Hand wie Spinnefäden, und was die politische Rechenkunst als ein Meisterstück hingestellt, das wird durchstrichen. So steht es da als falsch von Anfang bis zu Ende, und die Rechenmeister haben nur Spott für ihre Mühe.

Jene beiden erst genannten Ereignisse rauschen wie Sturmvögel über die Wogen der Zeit, und als nahender Ungewitter Boten erschrecken sie Viele. Andere begrüßen sie froh, denn das Wetter wird nach ihrer Meinung den lästigen Schutt des Alten, des Schlechten und des Nichtswürdigen nur schneller wegräumen, und in der Hoffnung auf die erfrischende Kühle, die in seinem Gefolge geht, söhnen sie sich mit der Möglichkeit aus, daß es ein Hagelwetter werden könne, welches des Friedens schöne Saat in weitem Kreise zerschlage; die Unzufriedenheit und ungestüme Ungeduld endlich, welche murrend und begehrlich jedem Throne gegenüber sitzen, oder auf Märkten, Straßen und in den Zeitblättern sich trotzig aussprechen, all die entrüsteten Volksgefühle, all die betrogenen Hoffnungen, all der Mißhandelten Stolz, all das gekränkte Rechtsbewußtseyn, all das von dem Mechanismus erstorbener Staatsformen und despotischer Regierungstendenzen gedrückte und geschundene Leben – das kann den Jubel des Herzens nicht lassen; der Sanscülottismus aber, der im allgemeinen Umsturz zügellos [98] nach den Gelüsten seiner Einbildungen und Leidenschaften zu jagen denkt, der preist sie als Unterlagen einer kommenden Weltzerrüttung, und singt dieser schon jetzt bacchantische Hymnen. Auch ich glaube an ihre Heilkraft für eine Zeit, die zwischen Uebermaß von Schwäche und Fülle von Kraft das Gleichgewicht nicht finden kann; aber ihre unheimlichen Zeichen und Beigaben betrachte ich mit Vertrauen auf eine gütige Vorsehung, welcher die dämonischen Mächte auch wider Willen dienen. –

Viel klarer hat sich des Herrn Weg in dem dritten Ereigniß geoffenbart. Der Friedenspakt von Nanking mit seinen Consequenzen ist der Zauberspruch, der den diabolischen Bann löst, in welchem ein Drittheil des ganzen Menschengeschlechts seit viertausend Jahren befangen war und in regungsloser Erstarrung lag. Welch eine Mission für England, wie glorreich und wie groß! Band für Band, Fessel für Fessel wird es abschlagen den viertehalbhundert Millionen Brüdern, welche der eiserne, herzlose Despotismus aus denkenden, kulturfrohen Völkern nach und nach zu Maschinen umwandelte, deren Thätigkeit, alles geistigen Impulses und Entzweckes ledig, keine höhere Beziehung mehr kannte, als die zum physischen Leben. Was man früher bei der hermetischen Verschlossenheit des Centralreichs nur vermuthete, das hat sich durch den Krieg mit England als wahr geoffenbart: – in China war die Menschheit ein Cadaver geworden, ein todter Klotz, ein bewegungsloses Ungeheuer, ohne andere Kraft und Widerstandsfähigkeit als die, welche die Masse verleiht. Wissen und Können war verknöchert, kein lebendiger Gotteshauch war mehr rege. Keine Entdeckung, keine Erfindung, keine einzige Zugabe zur menschlichen Wissenschaft, wäre sie auch nur ein Senfkorn groß, kam seit Jahrtausenden aus dem chinesischen Menschenmeer. Abgestorben stand der Völkerbaum und rankte über einen halben Welttheil seine versteinerten Aeste! Wie hätten es sonst zehn tausend Briten wagen dürfen, auszuziehen gegen ein Reich, das hundert Millionen wehrhafte Männer zählt, einer also gegen zehntausend? Wie konnte das verwegene Thun also enden? Wie sich das Reich für überwunden erklären und Bedingungen annehmen, welche ihm ein fremdes Häuflein diktirte? Hörten wir doch, daß britische Truppen Städte eroberten, die so viel tausend Bewohner zählen, als jene Einzelne, und vernahmen, daß Hunderte hinreichten, die Bevölkerungen von Millionen im Zaum zu halten. Noch staunt man und kann das Wunder nicht begreifen, das die Nachwelt gar nicht glauben wird. Doch ist’s keine Fabel, denn es ist geschehen vor unsern Augen.

Was ist die nächste Folge? Der Zauber der Allmacht des Himmelssohns ist gebrochen, der Gürtel, der das Centralreich zusammen gehalten, ist gesprungen, es fällt der Coloß unaufhaltsam aus einander. Ein paar Jahrzehnte werden hinreichen, den Auflösungsprozeß zu entwickeln und die Civilisations- und Bekehrungssäfte, welche die Briten aus tausend und aber tausend Quellen in die stagnirende Masse leiten werden, können die Zersetzung [99] nur beschleunigen. Es ist ganz gewiß, daß binnen einem halben Jahrhundert China, das zerfallene, eben so unter englischem Einflusse stehen wird, als jetzt Indien. Das Einströmen britischer Industrieerzeugnisse wird neue Bedürfnisse ohne Zahl in China’s Bevölkerung erwecken und diese die Abhängigkeit von England besiegeln.

Also werden, nachdem die britischen Kanonen die Thore des Centralreichs geöffnet, britische Sitten, helles, protestantisches Christenthum, britische Lebensansichten, britische Wissenschaft und Kunst an der starren Form chinesischer Civilisation ihre ätzende Kraft entwickeln, und indem sie China’s unermeßlichem Menschenmeer Leben und strömende Bewegung verleihen im Laufe der Zeiten, wird man wahrhaft sagen können: Britannien macht die künftige Weltgeschichte!

In diesem Momente hat die Betrachtung der Residenz des chinesischen Monarchen, des Punkts, auf welchem der Coloß seine Schwerkraft auf wunderbare Weise so lange balancirt hat, ein eigenthümliches Interesse. – Wie wird in hundert Jahren hier Alles verändert seyn! – Die Schicksale von Agra’s und Delhi’s Kaiserpalästen werden in Peking sich erneuern.


Absonderung, Isolirung von der übrigen Welt ist die Grundidee des chinesischen Staats, und sie macht sich in der Residenz seines Repräsentanten, des Kaisers, vollkommen geltend. Dieselbe ist mit keiner andern Fürstenwohnung zu vergleichen. Man stelle sich einen viereckigen Raum von 2¾ Stunden im Umkreise (etwa so groß als Berlin) vor, der mitten in dem, den Truppen und den Beamten zur Wohnung angewiesenen Tartarenviertel Pekings liegt, welches selbst stundenweit von den Gebäuden der Hauptstadt eingeschlossen ist. Jenen Platz umgibt eine 40 Fuß hohe Mauer, durch welche zwei geräumige Thore, welche zahlreiche Posten der Garden hüten, in die Vorhöfe führen. Nur speziell ermächtigte Personen und solche, welche unmittelbar zur kaiserlichen Hofhaltung gehören, oder Glieder der kaiserlichen Familie sind, dürfen es wagen, in diese Pforten einzugehen. In den Vorhöfen stehen die Paläste der Verwandten des Kaisers, der Minister und anderer, mit dem Monarchen in direktem Verkehr stehender vornehmen Mandarinen und Hofbeamten; sie liegen zerstreut und sind mit Gartenanlagen anmuthig umgeben. In der Mitte aber erhebt sich ein zweites Mauer-Viereck mit Thoren, eine Stunde im Umkreise. Das ist „die verbotene oder heilige Mauer,“ und sie birgt den [100] eigentlichen Aufenthalt des Monarchen: die vielen Privatpaläste des Kaisers und der Kaiserin. An ihnen hat die chinesische Architektur und Bildnerei ihre höchste Pracht und ihr größtes Geschick verschwendet. Sie haben dabei ein heiteres Ansehen; nicht den zurückstoßenden Ernst der meisten Königsschlösser in den europäischen Ländern. Hinter den Palästen strecken sich die kaiserlichen Lustgärten wohl eine Weile weit aus: Anlagen, die Alles übertreffen, was die englische Landschaftsgärtnerei Schönes hervorgebracht hat. Die reizendste Abwechselung von Berg und Thal, Schlucht und Felsen, Seen, fließenden und stürzenden Wassern, Stegen und Brücken, Wäldern, Obstpflanzungen und Wiesengründen bereiten dem Auge bei jedem Schritte ein anderes, schöneres Landschaftsbild. Geschmackvolle Sommerschlößchen, an deren schimmernden, weit überspringenden Dächern sorgfältig gestimmte Glöckchen, vom Winde bewegt, liebliche Weisen in endloser Mannichfaltigkeit spielen, Tempel, Thürmchen von Porzellan, kleine Meiereien, Lauben- und Schattengänge aller Formen, rauschende Springbrunnen und plätschernde Kaskaden, weidende Heerden und gezähmtes Wild bilden in diesem feenartigen Aufenthalt die passende Staffage. Aber zugänglich ist der Monarch keinem der vielen Millionen, die seinem Scepter gehorchen. Nur die Weiber und eine kleine Zahl vertrauter Genossen der Lust sind sein Umgang; er erfährt von dem, was in seinem Reiche vorgeht, nur so viel, als die Minister für unumgänglich nöthig erachten, und dies Wenige ist nie die Wahrheit. Es scheint in der That auch überflüssig; denn wo, wie in China, die Regierungskunst nichts weiter ist, als eine Maschine, welcher die Nothwendigkeit die unveränderliche Bewegung verleiht, kann jede eigenwillige Kraftäußerung des Monarchen nur störend auf ihr Getriebe wirken. Daher spart man auch des Kaisers eignes Regierungswirken nur für außerordentliche Gelegenheiten und Fälle auf. Ist Alles ruhig und geht der Mechanismus seinen Gang, dann hat der Vater des himmlischen Reichs nichts zu thun und seine Unterthanen hören von seinem Daseyn nur durch die Eingangsformel der Erlasse der Mandarinen; wenn aber Plagen, als: Seuchen, Dürre u. s. w. das Land geißeln, oder Empörung und äußerer Angriff den Sohn des Himmels und seine Völker beunruhigt, dann läßt er jene Edikte durch das Reich gehen, die uns Europäer in der letzten Zeit, während des Kriegs mit den „rothhaarigen Barbaren“ (den Engländern), öfters ergötzten. Sie übertreffen im Style sogar die Allokutionen des Papstes und sind die Ausgeburten der Heuchelei. Ein Fascikel solcher Edikte ist ein leidlicher Codex der Moral, denn der erhabene Monarch soll nach einem unveränderlichen Herrscherprinzipe niemals Leidenschaft zeigen, jeder seiner Verfügungen nur rein sittliche Beweggründe unterlegen und immer Vaterliebe und väterliche Sorgfalt für das Wohl der Millionen zur Schau stellen, um deren irdisches Heil er sich bei seinen Weibern und Lustgenossen so wenig bekümmert, als wie der Wolf um das Wohl der Schafe, die er frißt. Aehnliches haben wir zwar in allen Despotien, und [101] wir brauchen nicht weit darnach zu gehen; aber so Vollkommnes nirgends. Die absolutistischen Herrscher und ihre Satelliten sind, was die Heuchelei und das lügenhafte Prangen mit edlen, sittlichen Motiven ihrer Regierungshandlungen betrifft, bloße Stümper in Vergleich mit Sr. chinesischen Majestät. Wem wird einmal dieser Theil der chinesischen Erbschaft zukommen, wenn das Reich unter den rüstigen Fäusten des britischen Johns über kurz oder lang zusammen bricht? Gelüste darnach hatte wohl der eine Nachbar; aber die Intelligenz Westeuropa’s legt ihm Zaum und Gebiß an, jeder Vorschritt auf der Linie zum äußersten Ziel der absoluten Gewalt wäre bei ihm ein Vorschritt zur Schwäche und zum Verderben. Mag er denn dem finstern Urquell des Bösen zurückgegeben werden, aus dem er entsprungen, und die chinesische Regierungskunst, welche die Völker zu blos thierischen Verrichtungen reduziren will, recht bald nur noch in der Erinnerung fortleben, nicht zur Nachahmung, sondern zum Abscheu für alle Zukunft.