Die Religion, Sagen und Märchen der Aino

Textdaten
Autor: David August Brauns
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Titel: Die Religion, Sagen und Märchen der Aino
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aus: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, S. 217–224, 249–259
Herausgeber: Edmund Veckenstedt
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Alfred Dörffel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Google-USA*, Commons
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[217]
Die Religion, Sagen und Märchen der Aino.
Von
D. BRAUNS IN HALLE A/S.

Eine der interessantesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Völkerkunde — welche mich hauptsächlich im Jahre 1881 zu einer Reise nach dem Eilande Yeso veranlasste, das damals selbst von Japan aus kaum recht zugänglich war — ist ohne Frage die Bevölkerung des nördlichen Teiles des japanischen Reiches, der nördlich von der Meerenge von Tsugaru belegenen Insel Yeso oder, wie die Japaner sie heutzutage meist nennen, Hokkaido und der Kurilen. Erst seit dem Beginne unseres Jahrhunderts ist die Thatsache gehörig gewürdigt, dass in jenen Gegenden, übrigens auch im südlichen, neuerdings von Japan abgetretenen Teile der Insel Karafuto oder Sachalien und auf der Südspitze Kamtschatkas, wo bereits vor mehr als hundert Jahren Steller sie antraf, der eigentümliche Stamm der Aino oder Kurilen wohnt. Beide Namen sind der Sprache dieses Stammes selbst entnommen; der erste bedeutet einfach „Mensch“ und der zweite ist ebenfalls von dem einheimischen Worte Kuru abgeleitet, welches die nämliche Bedeutung hat.

Obgleich mit der Zeit sich eine ziemlich reiche Litteratur über die Aino entwickelt hat — ihre physische Beschaffenheit wurde von la Pérouse, Ph. v. Siebold, Busk, Barnard Davis, L. v. Schrenck, Kopernicki, Doenitz, H. v. Siebold, Baeltz, ihre Sprache von Krusenstern, Davidoff, Pfizmaier, Dobrotworski, Batchelor, ihre Sitten und Gebräuche wurden dagegen ausser von mehreren der Vorgenannten besonders von Scheube, Joest, Miss Isabella Bird dargestellt —, so war doch bis vor kurzem keineswegs eine Klärung der Ansichten über dieselben erzielt. Erst in letzter Zeit hat sich aus dem Wirrsal der Nachrichten so viel als sicher herausgestellt, dass die Aino weder zu den sogenannten Hyperboräern, den arktischen Stämmen und „Behringsvölkern“, noch zu den Malaien oder gar den schwarzen, krausköpfigen Bewohnern der Philippinen, den Aëta, noch auch zu den Völkern, denen man einen „mongolischen“ oder mongoloiden Typus in dem gewöhnlich mit diesem Namen verknüpften Sinne beilegt, eine nähere Verwandtschaft zeigen. Dies letztere gilt namentlich von den Japanern, und gerade im Gegensatz zu ihnen — wie nicht minder zu den Chinesen und zu manchen benachbarten Tungusenstämmen — ist von den Aino das ganz richtig, was ihnen die meisten der mit ihnen bekannt gewordenen [218] Forscher und Reisenden nachsagen, dass sie nämlich den Europäern entschieden ähnlicher sind als ihren Nachbarn. Ziemlich hell von Hautfarbe, haben sie reiches, schwarzes Haar, das sich kräuselt, und bei den Männern findet sich nicht nur ein stattlicher, lockiger Bart, sondern auch eine sonst nur bei Europäern und Westasiaten beobachtete kräftige Behaarung des Körpers, welche der glatten Haut der Japaner und anderer Nachbarnationen gegenüber um so stärker auffällt und deshalb auch die Fabel von den bärenartig mit dichtem Haar über den ganzen Leib bedeckten Kurilen veranlasst hat. Auch im Schädelbau uns Europäern ähnlicher, haben die Aino namentlich nicht die auffallend flachliegenden und geschlitzten Augen der Japaner, sondern vielmehr durchaus wohlgeformte und gehörig hinter das Stirnbein zurücktretende, ausdrucksvoll und zugleich sanft blickende, wenn auch sehr dunkle Augen.

Auf diese Weise nicht bloss ihren südlichen Nachbarn, sondern auch den nördlicheren Gruppen der hochnordischen Korjäken und Tschuktschen und den sich diesen anreihenden Völkern, den Giljaken oder Smerenkur und den eigentlichen Kamtschadalen gegenüber stehend, haben die Aino auch in der Sprache — trotz der mannigfachsten Berührungen und Wortaustausche — keine innere Verwandtschaft mit allen den genannten Nationen; das einzige ostasiatische Volk, welches in dieser Beziehung, wie auch in Hinsicht auf das Äussere, in Betracht kommen kann, sind die Koreaner oder Koraï, welche denn auch trotz ihres gänzlich verschiedenen Kulturzustandes doch manche Züge, z. B. ihre übergrosse Friedfertigkeit, mit den Aino gemein haben.

Dies Volk nun, dessen Ausnahmestellung unter den Ostasiaten nur dann einigermassen erklärlich wird, wenn wir in Betracht ziehen, dass es unbedingt vom Amurlande her allmählich abgedrängt und in seine gegenwärtige isolierte und der Fortentwickelung jeder Kultur wenig günstige Lage gebracht ist, befindet sich unstreitig nur anscheinend in so primitiver Lage, wie man es häufig hinzustellen versucht hat. Sogar seine Sprache pflegte man früher — wie sich namentlich in jüngster Zeit schlagend herausgestellt hat, mit grossem Unrecht — als eine der denkbar rohesten hinzustellen, und Reisende, welche sonst die grösste Sympathie fur diese friedlichen, harmlosen und treuherzigen Menschen hegen, nennen sie unzivilisierbare Wilde. Alle diese Anschauungen von den Aino bestätigen sich durchaus nicht, wenn man sie näher ins Auge fasst; alsdann erscheinen sie vielmehr als epigonenhaft, als ein allerdings schon vor grauer Zeit versprengter und selbst der damals von ihm gewonnenen Kultur vermöge des ungünstigen Einflusses ihrer Isolierung teilweise wieder verlustig gewordener Völkerrest, dessen eigentliche Heimat ohne Zweifel weiter westlich, mindestens wohl in der Nähe des schon erwähnten Stammes der Koraï, gesucht werden muss.

Man könnte allerdings versucht sein, angesichts des Handelsverkehrs, welchen die Chinesen und mehr noch die Japaner mit ihren nördlichen Nachbarn schon seit Jahrhunderten unterhalten haben, den Ausspruch anzuzweifeln, dass die Aino isoliert gewesen seien; allein wenn man bedenkt, dass die Verbindungen der Japaner mit ihnen bis in das gegenwärtige Jahrhundert der alleroberflächlichsten Art waren und nicht das mindeste [219] Bestreben eines Eingehens auf das Wesen der Aino bekundeten, ja dass eine bessere Bekanntschaft selbst jetzt noch von den Japanern kaum anders als auf Anregung von Europäern zu erfolgen pflegt, so wird man unbedingt zugeben müssen, dass dies Volk, das keineswegs unintelligent genannt werden darf, vereinsamt in seinem Urwalde — so muss man selbst heutzutage noch den grössten Teil der Insel Yeso nennen — in eine überaus ungünstige Lage versetzt werden konnte. Die Kultur, statt fortzuschreiten, ging daher in mancher Beziehung zurück, und die Aino waren in ihrem verkommenen Zustande durchaus unfähig, den an sich nicht gerade besser veranlagten, aber kriegerischen und in strammer Staatsgemeinschaft auftretenden Japanern gegenüber in irgend einer Weise ihre Selbständigkeit zu behaupten.

Dass dies vor alters wesentlich anders gewesen, dass die Aino in der Vorzeit einen grossen Teil der Hauptinsel Japans, wo nicht ganz Japan besessen, und dass sie dann durch Kämpfe, welche man unter unkritischer Benutzung und Auslegung japanischer Sagen in das erste Jahrtausend unserer Ära hat verlegen wollen, nach Norden zurückgedrängt seien, das ist gar oft behauptet, aber nie erwiesen. In Betracht der vielen Gegengründe, welche unter anderem aus den prähistorischen Funden in Japan, aus der Beschaffenheit der beiden Nationen und dem totalen Mangel irgend welcher Mischtypen im Norden Japans zu schöpfen sind, und auf welche ich selbst — z. B. in „Unsere Zeit“, 1883, Heft 8, S. 297 ff. — mehrfach hingewiesen habe, würde es kaum nötig sein, auf diesen Gegenstand zurückzukommen, wenn nicht neuerdings wieder ein namhafter Schriftsteller über die Aino, B. Chamberlain, in einem Memoire der Universität Tokio (Japan) die alte Legende aufgefrischt hätte. Die neuen Gründe, die er vorbringt, beschränken sich indessen auf Zusammenstellung japanischer Namen für Örtlichkeiten — Flüsse, Berge u. s. w. — welche er aus der Ainosprache erklärt, und da ihm trotz seiner gründlichen Kenntnisse der japanischen Sprache und derjenigen der Aino sehr viele entschieden falsche Deutungen dabei unterlaufen, so ist unbedingt auch diese Art der Beweisführung als verfehlt zu bezeichnen. An manchen Orten z. B. deutet er das japanische Wort yoko, dem wir u. a. in dem Worte Yokohama begegnen und das die Bedeutung „quer“ hat, ganz unnützerweise bei mehreren Ortschaften um und will es als eine Korruption des Ainowortes yuk, der Hirsch, auffassen. Statt des japanischen Wortes nitta, Norden, will er das Ainowort nitai, Wald, statt japanisch ina oder ine, Reis (Reisfeld), inao, die ainoische Bezeichnung für ein Weihgeschenk an die Götter, für yama (japanisch Berg) yam (bei den Ainos Kastanie) vorziehen; bei den Endigungen mori (japanisch Hain, Dickicht) und mura (japanisch Dorf), welche bei vielen japanischen Ortsbezeichnungen sich wiederholen, forscht er nach Ainoworten, welche doch eine bei weitem minder nahe liegende Bedeutung geben; manche echt japanische und in Japan sehr gebräuchliche Worte, wie yu, heisses Wasser, heisse Quelle, iwa, Fels, reklamiert er für die Ainosprache; für hira, Ebene, setzt er bei der Erklärung stets das Ainowort pira, Klippe u. dgl. m. Dass sein Verfahren, das in mancher Beziehung an die übertriebenen Bestrebungen einiger unserer „Keltomanen“ erinnert, bei der den beiden Sprachen trotz ihrer wesentlichen Verschiedenheit zu [220] kommenden Ähnlichkeit der Lautbildung und in Betracht des Umstandes, dass die eigentümlichen Wurzelworte beiderseits keineswegs von grosser Mannigfaltigkeit sind, wohl manche scheinbare Resultate zu Tage bringen konnte, ist begreiflich; sichergestellt sind dieselben trotz allen darauf verwandten Scharfsinns keineswegs und man kann sie höchstens zu einem so geringen, auf die Nachbarschaft Yesos beschränkten Bruchteile anerkennen, dass sie alle Beweiskraft verlieren. Und dies ist um so entschiedener festzuhalten, als Chamberlain die dritte Sprache, welche hier noch in Betracht kommen kann, die koreanische, überhaupt nicht berücksichtigt hat, und als manche Namen, die er aus der Ainosprache erklären will, besonders solche, welche in den westlicheren Gegenden Japans vorkommen, sich gerade aus dem Koreanischen, das ja dahin leicht wirken konnte, sehr wohl erklären lassen.

Unter diesen Verhältnissen erscheint es doppelt wichtig, die Religion und die volkstümlichen Überlieferungen dieses eigentümlichen Volkes der Aino kennen zu lernen. Ist es von den Japanern wirklich grundverschieden, so hat man mit grosser Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Abweichung von den religiösen Vorstellungen, den Sagen u. s. w. der Japaner zu erwarten, und umgekehrt, ist eine gründliche Verschiedenheit in diesen Punkten vorhanden, so erhält dadurch alles, was hinsichtlich einer tieferen Kluft zwischen den beiden Volksstämmen des japanischen Inselreichs gesagt wurde, eine starke Stütze.

Dies ist nun, wie aus vielen, aber sämtlich in die neueste Zeit fallenden Untersuchungen — namentlich von Scheube, Batchelor, Chamberlain, Miss Bird —, welche ich selbst in manchen Punkten zu kontrollieren und zu ergänzen Gelegenheit fand, in der That der Fall. Es steht nicht nur die Religion der Aino durchaus unabhängig von der der Japaner da, sondern auch die Sagen und Märchen sind, wenn nicht ein nachweisbarer neuerer Import stattgefunden, sämtlich sowohl dem Gegenstand als der ganzen Art der Auffassung nach durchaus verschieden.

Allerdings würde man irren, wenn man — der Idee gemäss, als wären die Aino wirklich eine Art von Urwilden — eine völlige Selbständigkeit ihrer Religion und ihrer Folklore annehmen wollte. Höchst wahrscheinlich haben mancherlei Zufuhren von Sagen- und Märchenstoffen, wie wohl bei allen Völkern, so auch bei den Aino, stattgefunden; hin und wieder mag sogar der Kultus von aussenher beeinflusst sein. Ohne Frage aber geschah dies in der Vorzeit durchaus von anderer Seite als von Japan her, und dabei war auch die Art der Bearbeitung jener Stoffe eine völlig abweichende; ja man darf sagen, dass dies hinsichtlich der Grundlage aller ihrer religiösen Vorstellungen der Fall ist.

Es ist eine vielleicht überraschende, jedenfalls eine höchst beachtenswerte Thatsache zu nennen, dass die Aino ihren jetzigen Herren, den Japanern, gegenüber sich auf einem höheren Standpunkte in bezug auf die Religion befinden. Was die Japaner anlangt, so würde es hier zu weit führen, wenn ich weitläufig auseinander setzen wollte, dass die ihnen eigentümliche altheidnische Religion, der „Weg der Götter“, Kami no mitschi oder noch häufiger mit sinicojapanischem Worte Schintoo genannt, von Haus aus ein Kultus der persönlichen Vorfahren eines jeden Individuums [221] und einer jeden Familie ist, eine Religionsform also, welche man nur irrigerweise als eine höhere Stufe im Vergleich zu der — in ihren Anfängen stets polytheistischen — Naturverehrung hat bezeichnen wollen, welche vielmehr als die primitivste anzusehen ist, die wir kennen. Die gestorbenen Vorfahren werden als schützende Genien gedacht und verehrt; die Feinde nebst ihrer ganzen Sippschaft werden nach dem Tode zu bösen Gespenstern, so dass diese Religionsstufe, von der wir übrigens in vielen höher entwickelten Religionen ganz folgerichtig bedeutende Nachwirkungen und Überbleibsel bemerken, mit einem ausgeprägtem Gespensterglauben aufs engste verknüpft ist. Es ist kein Zufall, dass unter den japanischen Sagen gerade die hierauf bezüglichen einen so grossen Teil ausmachen, wie dies auch aus meiner Sammlung japanischer Sagen und Märchen (Leipzig bei W. Friedrich 1885) erhellt, freilich nicht einmal in einem der Wirklichkeit völlig entsprechenden Masse, da die fabulierende Kraft des Volkes unaufhörlich sich auf diese Seite wirft und eine Unzahl derartiger Geschichten schafft, die nur an sich meist zu unbedeutend und zu eintönig sind, um eine Aufzeichnung zu verdienen. Auf diesem Kultus der persönlich mit dem Einzelnen verknüpften Toten ist in Japan die übrige alte Götterlehre erst aufgepfropft; die Naturkräfte, deren Kultus aus dem eigentlich chinesischen und aus dem indischen (arischen) Kreise zu den Japanern gelangte, bewahrten allerdings in gewisser Weise ihre Attribute; die Götter oder Heroen sind als Repräsentanten der Sonne, des Donners u. dgl., die Dämonen als die der Wolken und der Finsternis noch ganz wohl zu erkennen, aber dies ist im Grunde mehr Folge eines mechanischen Festhaltens an der Form der empfangenen Anregungen, und auf alle Fälle ist die Verehrung dieser Gottheiten im Schintoo nur dadurch motiviert, dass man sie zu Stammvätern teils des ganzen Volkes, teils des Herrschergeschlechts machte und ihnen in derselben Weise, wie den persönlichen Vorfahren, nur in weiterem Kreise ihre Opfer — richtiger Totenopfer — darbringt. Eine Folge davon ist auch das ausserordentlich starke Zurücktreten der Ethik in dem Schintoo. Der Japaner, der die Aussenwelt, die Natur, sich selbst und dem ganzen Menschengeschlecht nicht in der ehrfurchts- und pietätvollen Weise gegenübersetzt, wie die Völker mit richtig entwickelter Naturreligion, beschränkte in alter Zeit alle seine ethischen Vorschriften auf körperliche Reinlichkeit — welche ja aus naheliegenden Gründen überall mit dem Überwiegen des Totenkultus eng verknüpft ist — und erst die Chinesen brachten ihm wirklich moralische Satzungen, welche er eigentlich bis zum heutigen Tage, sofern sie sich nicht auf die Familie beziehen, mehr als etwas Äusserliches betrachtet.

Die Aino dagegen haben eine ganz ausgesprochene polytheistische Naturreligion, völlig entsprechend der der Indogermanen; sie verehren die Naturkräfte des Himmels, die Himmelslichter, den Donner, das Wasser etc. als dem Menschen gegenüberstehende oder vielmehr erhaben über ihm schwebende Mächte, denen zu gefallen jedermann zu gewissen Dingen verpflichtet ist, welche in ihrem Zusammenhange ein wahres Sittengesetz ausmachen. Lügen, Betrügen, Gewaltthat an anderen ist gegen die Gebote der Götter, und wenn daneben in die religiösen Satzungen sich manches Äusserliche mengt, z. B. das Verbot, das Wasser unnützerweise zu verunreinigen [222] — was leider die Folge des seltenen Waschens bei dem in betreff seiner Wohnungen keineswegs gleich unreinlichen Volke hat — oder nichts Unreines an das Ostfenster der Hütten, dem der erste Gruss der Sonne zukommt, zu bringen, u. dgl. m., so liegt dies ja in der Natur aller Anfänge der Ethik zu tief begründet, als dass man darauf grosses Gewicht legen könnte. Auf alle Fälle sind wirkliche Sittengesetze in das Bewusstsein des Volkes tief eingeprägt, und man kann sie nicht anders als aus dem innersten Wesen der Volksreligion erklären.

Dem entsprechend haben aber die Sagen und Volksmärchen ebenfalls einen Zug, auf welchen auch Chamberlain a. a. O. gebührend aufmerksam macht, und der sich bei den Japanern so gut wie gar nicht findet, nämlich den der moralischen Nutzanwendung und — um es kurz auszudrücken — der poetischen Gerechtigkeit. Bestrafung des Bösen, Belohnung des Guten ist ein Charakterzug vieler Aino-Traditionen, und wenn daneben auch die Belohnung der Schlauheit gegenüber der Dummheit manchmal eine vorragende Rolle spielt — wie dies einem immerhin etwas kindlich fühlenden und dem Jägerhandwerk ergebenen Volke nur natürlich ist — so geschieht es doch eigentlich nicht in einer verletzenden Weise. Ein Frohlocken über grausame Massregelung eines Wesens, welches vielleicht kein anderes Verbrechen begangen hat, als dass es sich gegen seine Widersacher verteidigte, bemerkt man bei den Aino nicht, während es in den Sagen und Märchen der Japaner einen stehenden Zug bildet und fast nur in solchen Erzählungen gemildert und mit Rücksicht auf moralische Momente umgeformt ist, aus deren Fassung ein Einfluss der buddhistischen Lehre mit Sicherheit zu entnehmen ist.

Dass die Aino ihre Götter mit einem Namen bezeichnen, welcher dem japanischen Kami (Herr) sehr ähnlich und vielleicht aus ihm entstanden ist, nämlich mit dem Worte Kamui, ist sicherlich etwas Äusserliches. So wenig der Verkehr mit irgend welcher Nation das innere Naturell der Aino berührte, so beträchtlich ist doch an allen Berührungspunkten der Handelsverkehr, und bei dem äusserst sanften, wenig widerstandsfähigen Wesen der Aino lässt sich begreifen, dass er in seiner Sprache sich den Fremden vielfach anzupassen suchte. Auf solche Weise liesse sich die Übereinstimmung des Namens für die Gottheit also schon ohne Zwang erklären; noch wahrscheinlicher aber dürfte es sein, dass gerade in Japan das Wort Kami mit den Mythen und Sagen von den Naturgottheiten eingeführt wurde, welche unleugbar vom Festlande her ihren Weg auf das Inselreich fanden, und unter dieser Voraussetzung wird jener Umstand alles Auffällige verlieren.

Die Götter, welche von den Aino am meisten verehrt werden, sind die Himmelslichter, Sonne und Mond, beide Tschup kamui genannt. Der Mond heisst, wenn man ihn unterscheiden will, kunne chup, ein Ausdruck, der viel missdeutet ist — als „schwarze Sonne“ oder doch „trübe, nicht leuchtende Sonne“ — aber nichts anderes heissen soll, als „Sonne der Nacht“. Obgleich ausser der Angabe, dass der Morgenstern Diener der Sonne und der Abendstern der des Mondes ist, keine Mythen über sie vorliegen, und obgleich selbst die Bezeichnung des Geschlechtes der Himmelslichter schwankt, so ist doch namentlich die Sonne Gegenstand fortwährender [223] Verehrung, und ihr werden vielleicht die allermeisten Inao oder heiligen Symbole geweiht, welche — obwohl im Widerspruche mit Chamberlain — Scheube (Die Ainos, im 26. Heft der Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens) ohne Zweifel ganz richtig als symbolische Weihgeschenke, ähnlich den japanischen Gohei, erklärt. Wie diese Gohei, stellt der Inao oder Inabo, ein 1/2 bis 3/4 Meter langer Holzstab, dessen äusserer Teil zu schmalen, spiralig angeordneten Streifen gehobelt wird, mag nun diese Hobelung oder Abschabung den ganzen Stock entlang gehen und einen Büschel am oberen Ende abgeben, oder mag dieselbe mehrere kürzere, wirbelartig aussehende, nach oben freie Büschel bilden, immer nur ein Symbol für ein der Gottheit zu bringendes Geschenk dar. Dies muss ursprünglich wohl als ein Festkleid gemeint sein, wie die japanischen, aus Papier gebildeten Gohei noch deutlicher zeigen, und auf diese Weise kommt der Inao in letzter Instanz mit unseren Fahnen und Bannern zusammen, so verschiedenes Aussehen diese auch bekommen haben. Ausser diesen Symbolen, von denen eines, wo nicht mehrere, wohl stets am Ostfenster der Wohnungen sich befindet, hat man aber auch Köcher, auf denen der Mond und die Sterne in Gestalt von einer grösseren und vielen kleinen Metallscheiben angebracht sind und welche ebenfalls besonders heilig gehalten werden.

Die Donnergötter werden beim Gewitter in Kampf miteinander gedacht. Ein von Scheube mitgeteiltes Gedicht der Aino von Yeso lautet übersetzt :

„Der Gott des Himmels und der aus der Nähe herbeispringende Gott kämpften in heissem Streit mit lautem Geräusche; beide Götter verliessen zu Tode getroffen einander.“

Auf die Fluss- und Meergötter werden, wie es scheint, am häufigsten die Versammlungslieder der Aino bei den Festen gesungen, zu welchen die Insassen verschiedener Dörfer an einer Art Zentralstelle, z. B. in Piratoru in der Nähe des an der Südküste der Insel gelegenen und für einen Hauptort der Aino von Yeso angesehenen Sara, zusammenkommen, Lieder, von denen Pfizmaier in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie bereits im Jahre 1850 (Bd. 4 u. 5) einige mitgeteilt hat. Noch häufiger aber findet man den Feuergott und den Hausgott, dessen Schutze das ganze Eigentum anvertraut wird, verehrt. Dass ein besonderer Reisweingott (Gott des von den Japanern den Aino gelieferten Sake, der an die Stelle des einheimischen, aus Hirse bereiteten gegorenen Getränkes getreten ist) als existierend gedacht wird, möchte ich sehr bezweifeln, da bei allen Festen der Aino das Trinken eine grosse Rolle spielt und kein Trinken ohne Libation für die Götter stattfindet. Auf den Sake geht dadurch allerdings eine Art Heiligung über, so dass die Männer sorgfältig mit einem Stäbchen ihren Schnurrbart beim Trinken hochheben; man würde ihn indes schwerlich zur Ehre der Götter auf den Boden schütten, wenn er selbst als göttlich angesehen würde. Die übrigen Gebräuche bei den Festen bestehen in Tanz und Gesang. Einen solchen feierlichen Tanz hatte ich Gelegenheit anzusehen; die tanzenden jungen Weiber bildeten unter Führung eines Mannes — die übrigen, namentlich die älteren Männer sahen zu und tranken — einen Kreis, in dem sie sich fortwährend bewegten, [224] wobei sie sich nacheinander langsam beugten und wieder aufrichteten, so dass dadurch eine Art langsamer Wellenbewegung in den Kreis kam. Sie sangen dazu eine wirkliche Melodie — also etwas, was man sonst in Ostasien eigentlich nie hört — in Molltonart, welche ebenfalls sehr an den einförmigen Wellenschlag in einer ruhigen Bucht erinnerte. Zwei der von mir gehörten ähnliche, jedoch nicht einmal so effektvolle Melodien hat Kreitner in seinem Reisewerke „Im fernen Osten“ S. 316 u. 327 mitgeteilt; man ersieht aus den einfachen Noten sofort den grossen Unterschied dieser Musik von der der Japaner oder auch der Kamtschadalen, wie erstere mehrfach in den Mitteilungen der deutschen ostasiatischen Gesellschaft und letztere in der alten Stellerschen Reisebeschreibung aufgezeichnet ist.

Eine besondere Erwähnung verdient noch der Tierkultus. Auch in dieser Beziehung verhalten sich die Vorstellungen der Aino ganz anders als die der Japaner; während bei diesen die Tiere selbst als zauberhafte Wesen, als wahre Gespenster auftreten, haben die Aino eine Vorstellung von einem Bärengotte, einem Fuchsgotte u. s. w., den sie verehren, ja es scheint, dass diese Idee von einem Wesen, welches die betreffende Tiergattung geschaffen hat, sie beschirmt und zum Besten der Menschen in Bereitschaft hält, noch ausgeprägter ist als bei den nordamerikanischen Indianern, in deren Sagen bekanntermassen solche Gottheiten oder Geister eine grosse Rolle spielen. Auf diese Weise erklärt es sich nicht nur, dass die Aino die Schädel der getöteten Jagdtiere, besonders der Bären und Füchse, zu Ehren der betreffenden Gottheiten auf Stangen stecken, welche sie in der Nähe ihrer Hütten in einem eigens dazu eingehegten Raume aufstellen, sondern es fällt auch damit das rechte Licht auf ihre Bärenfeste, welche zwar bei manchen ihrer Nachbarnationen, ja sogar bei vielen nordischen Völkern im ferneren Westen bis nach Europa hinein vorkommen, nirgends aber von solcher Bedeutung sind wie bei den Aino. Sie sind mehrfach — z. B. von Scheube im 22. Hefte der Mitteilungen der deutschen ostasiatischen Gesellschaft — ausführlich beschrieben, so dass es genügt, sie hier im allgemeinen zu kennzeichnen. Ein Bärenjunges, das auf der Jagd eingefangen, gewöhnlich nachdem die alte Bärin getötet, wird bei den Ainos aufgezogen, anfangs mitunter sogar von einer Frau gesäugt, um dann, gewöhnlich aus seinem Käfig in eine mit starken Kreuzbalken verwahrte Höhle gebracht, mit Pfeilschüssen getötet oder doch kampfunfähig gemacht und in letzterem Falle endlich stranguliert zu werden. Alsdann schlachtet man es und verzehrt es unter Innehaltung gewisser Zeremonien und unter reichlichem Saketrinken, wobei man seinen Schädel um Verzeihung bittet und unter Anflehen des Bärengottes schliesslich als Trophäe aufstellt.

[249] Dass trotz des grossen Unterschiedes, welcher in den damit verknüpften religiösen Ideen zwischen Japanern und Aino waltet, doch auch bei letzteren die Toten ein Gegenstand grosser Ehrfurcht sind, dass insbesondere die Friedhöfe heilig sind, wird sicherlich niemand überraschen. Über die Begräbnisstätten und in manchen Fällen über die früher von den Toten bewohnte Hütte hinaus scheint sich indessen der Einfluss derselben nach der Meinung der Aino nicht zu erstrecken, was einen wesentlichen Gegensatz zu ihren südlichen Nachbarn ausmacht. Sämtliche Aino pflanzen auf dem Grabe der Männer einen Pfahl mit Spitze in Lanzenform auf, eine Form, welche auffallend genug sich in Korea in Stein wiederholt; auf dem Grabe der Weiber findet sich ein ähnlicher Pfahl ohne Spitze, nicht aber, wie Kreitner (a. a. O. S. 305) meint, ein Pfahl, der oben mit einem queren Brett versehen. Letzterer findet sich auf allen Friedhöfen, ist also nur ein rohes Symbol für „verbotener Weg“, etwa in der Weise, wie das von einem Baum oder Fels zum andern gezogene Strohseil in Japan und im Einklange mit Ideen und Zeichen, welche durch ganz Ostasien verbreitet sind. Ein Beweis hierfür liegt schon darin, dass die Aino ebensolche Pfähle mit oberen Querbrettern, nicht selten mit Hobelspänen gleich denen der Inao behängt, auch an den Stellen anbringen, wo sie Fallen für Bären und Füchse aufgestellt haben, bei deren Betreten seitens des Tieres eine Armbrust losgeht und einen vergifteten Pfeil auf das Jagdtier schleudert; hier kann offenbar nur eine Warnung vor dem Betreten des Platzes gemeint sein.

Wenn auch die Göttersagen der Aino immer noch ziemlich unvollständig bekannt sind, so bestätigen sie doch hinreichend das, was über den Charakter ihrer religiösen Vorstellungen gesagt ist. Die Schöpfungssage möchte, so viel man aus dem bisher darüber Ermittelten — vgl. insb. Chamberlains oben erwähntes Memoir, S. 12 — schliessen kann, wenig entwickelt sein. Ein (danach benannter) Kamui schuf Menschen und Tiere; ob in ihm sich ein unbestimmter, vom asiatischen Kontinente herrührender Anklang an den Brahmanismus und Taotismus findet, ist jedenfalls schwer, [250] wenn überhaupt zu ermitteln. Sicher ist, dass Tiergestalten schon zu Beginn neben ihm vorkommen. Der Ottergott z. B. vergass bei der Schöpfung eine Sendung an die Menschen, welche noch darunter zu leiden haben; der Hahn, welcher von dem Schöpfer auf die Erde gesandt wurde, um ihm darüber Bericht zu bringen, fand die „Menschenwelt“ so schön, dass er lange Zeit der Rückkehr vergass, und als er dann viel zu spät zurückkehrte, schleuderte ihn der Gott im Zorn auf die Erde zurück und verbot ihm den Himmel. Dies, fügen die Aino hinzu, ist der Grund, weshalb der Hahn nicht hoch fliegen kann. Bedeutungsvoller ist jedoch der Mythus vom Streit der guten und bösen Götter um die Weltherrschaft, welcher endlich durch eine Übereinkunft geschlichtet wurde, nach welcher die Partei, welche am folgenden Morgen die Sonne zuerst sähe, die Oberherrschaft haben sollte. Als nun beide Parteien nebeneinander Platz genommen, wandte sich der schlaue Fuchsgott, welcher auf Seite der guten Götter, der Lichtgötter, sich befand, nach Westen und sah hier wirklich, bevor die Sonne sich über den Horizont erhoben, die fernen Gebirge von ihren Strahlen erleuchtet. Er rief nun laut: „ich sehe die Sonne!“ und alle Götter mussten es ihm bestätigen. So kam es, dass die guten Gottheiten, die des Lichtes, die Welt regieren.

Eine Sintflutsage fehlt, wie Chamberlain (a. a. O. S. 36) ganz richtig hervorhebt, den Aino gänzlich. Was sie von bösen Wassergeistern, Mindutschi, erzählen, welche Tiere, namentlich Pferde, in Untiefen ziehen und ihre Eingeweide herausreissen, ist von geringer Bedeutung und höchst wahrscheinlicherweise neuen Ursprungs — ein Anklang an ähnliche mythisch-tierische Gespenster des japanischen Volksglaubens. Auch findet sich nur ein einziger Zug in den Sagen der Aino, welcher an die vulkanische Natur eines Teils ihrer Wohnorte erinnert, nämlich in der Sage von ihrem Hauptzivilisator Okikurumi, und selbst dieser könnte sehr wohl durch europäische Interpreten künstlich hineingelegt oder doch den Aino an die Hand gegeben sein.

Was diesen Okikurumi anlangt, dessen Name eine sichere Deutung nicht zulässt, so wird er ausdrücklich nicht als Stammvater, sondern nur als Wohlthäter der Menschheit geschildert, der ihnen vom Himmel her geschickt ward. Als er von dort herunter kam, soll die Welt noch neu, der Erdboden, unter dem Feuer brannte, noch dünn gewesen sein, so dass die Menschen nicht wagten, aus ihren Hütten zu treten, eine übrigens in sich höchst widerspruchsvolle Angabe, die einstweilen auf sich beruhen bleiben muss. Auf alle Fälle berichtet der Verlauf der Sage, dass Okikurumi die Menschen mit Fischen versorgte, die er gefangen, und sein Weib Turesch (das Wort bedeutet eine jüngere Schwester, wie sie also nach der ursprünglichen Annahme auch wohl hat sein sollen; im Laufe der Zeiten wurden in ganz Ostasien die Geschwisterehen sehr streng verpönt) brachte dieselben den Menschen, bis ein Frevler, das Verbot nicht achtend, ihr nicht nachzuforschen, sie mit Gewalt in seine Hütte zog. Jetzt verwandelte sie sich in ein Seeungeheuer und verschwand unter Donner und Blitz; die Hütte ward von einem Wetterstrahl entzündet und verbrannte. „Seitdem“, schliesst die Sage, „entzog Okikurumi dem Menschengeschlechte seine Gunst; er kehrte in den Himmel zurück und die Aino blieben von nun an arm und elend.“

[251] Dieser Zug der Klage um verlorene frühere Herrlichkeit wiederholt sich in anderen Sagen, welche bald von Okikurumi, bald von dessen und Tureschs Sohne Wariunekuru — ein ebenfalls bis jetzt unerklärter Name — erzählt werden. Eine einzige Tochter wird in diesen Sagen dem alten Gotte zugeteilt, und ein listiger und verschlagener Feind der Aino, den man gewöhnlich mit dem japanischen Sagenhelden Yoschitsune identifiziert, erlangte deren Hand und allmählich Kenntnis von allen Zauberkünsten und -kräften[WS 1] seines Schwiegervaters. Er benutzte dies, um ihm mit den wichtigsten Schätzen und Zaubermitteln, unter denen auch Bücher genannt werden, zu entfliehen. Der Schwiegervater verfolgte ihn vergebens; denn obgleich derselbe mit Hilfe eines Stockes dem unglaublich rasch fahrenden Zauberwagen seines Schwiegersohnes ganz nahe war, wusste dieser ein ganzes Gebirge zwischen sich und seinen Verfolger zu bringen, zauberte auch, als er über Hakodate — einen der südlichsten Punkte der Insel Yeso — hinausgekommen, ein Heer herbei und schreckte den ebenfalls mit grossem Gefolge anrückenden alten Gott zurück. Nach anderer Lesart geschah Flucht und Verfolgung zur See mit Zauberschiffen. In beiden Fällen entkam der Betrüger und nahm die „Schriften“ der Aino mit, so dass sie seitdem „unwissend und des Schreibens unkundig“ blieben.

Irgend welcher Zusammenhang der Ainosagen mit Japan ist hieraus unbedingt nicht zu folgern; der Yoschitsune der ersteren steht in keinerlei Zusammenhange mit der japanischen Sagengestalt dieses Namens, und an historische Begründung obiger Ainoerzählung zu denken, wäre vollends ungerechtfertigt. Die Heranziehung eines japanischen Halbgottnamens überhaupt ist ohne Frage neuen Datums und hat ebensowenig Belang wie etwa die künstliche Identifizierung des japanischen Fischergottes Yebisu mit dem „Wellengotte“, Kaibezup Kamui, der Aino. Denn wenn der Name jenes Yebisu, oder Yemischi (sprich Ebisu, Emischi), der zugleich die nördlichen, unzivilisierten Japaner der alten Zeit bezeichnet, später auch die direkte Veranlassung zu dem üblichen Namen der Insel Yeso gab, so ist dieser Name doch ausschliesslich japanisch; die Aino nennen diese Insel nur Aino-Muschir, d. h. Aino-Insel oder Aino-Land. Übrigens ist die Einführung des Namens Yoschitsune nicht einmal überall gleichartig, denn es scheint, dass manche Aino, z. B. auch die, aus deren Erzählungen Miss Bird ihre Notizen schöpfte, ihn geradezu mit Okikurumi verwechselt haben.

Als Sitz dieses Gottes gibt die Sage auf Yeso in der Regel das schon erwähnte Piratoru an, neben welchem der nächstgelegene Küstenort Sara wohl die grösste Rolle spielt. Weit weniger kommt Akeschi in Betracht, welches weiter östlich an der Südküste liegt; sonst weist man auch noch auf Karafuto als eigentliches Ainoland hin. Dass die Aino im Osten Yesos auch von den Kurilen ihren Ursprung herleiten — wie Batchelor berichtet — kann, falls es wirklich begründet, bei der Buntschekigkeit der Angaben weder überraschen noch zu irgend welchen Folgerungen berechtigen; überhaupt möchte dies von den Ursprungsorten gelten, von welchen die Aino erzählen. Jedenfalls ist indessen der Umstand sehr zu beherzigen, dass die Aino nirgends von einem südlichen Wohnorte etwas wissen, den sie früher gehabt hätten. Chamberlain, welcher dies ausdrücklich bestätigt, meint zwar kein Gewicht darauf legen zu sollen, indem die Aino vielleicht [252] die für sie beschämende Thatsache hätten totschweigen wollen, dass sie, die einst Herren von Japan gewesen, jetzt so zurückgekommen seien. Allein wo bleibt für eine solche Annahme irgend eine Analogie? Und spricht nicht schon der Inhalt und der elegische Ton der vorerwähnten Ainosagen gegen Chamberlains Auslegung auf das entschiedenste?

Aus verschiedenen Sagen hat man folgern wollen, dass die Aino in ihrem jetzigen Wohnsitze eine ältere Bevölkerung angetroffen und ausgerottet hätten; es möchte jedoch keiner Frage unterworfen sein, dass jene Sagen — von einem zwerghaften, unter der Erde wohnenden Geschlechte, den Koropokkuru, welches darüber klagt, dass die Gottheit es so klein geschaffen, und von einem Riesenvolke, den Kimui-aino oder Leuten vom Berge, das man sich ogerartig dachte — nur richtige Analoga des fast überall vorkommenden Glaubens an Kobolde oder Zwerge und an Riesen sein können, eine Ansicht, welche durch das sehr neue Datum, bis zu welchem die Aino beide, namentlich die letzteren, noch gesehen haben wollen, in hohem Grade bestärkt wird. Auch Drachen oder grosse Schlangen bilden eine ganz folgerichtige Zugabe zu diesen Sagen, insbesondere eine ungeheure Schlange, welche von den Göttern lange vergebens bekriegt ward, da ihre Stücke immer wieder rasch zusammenwuchsen. Als man sie zuletzt doch erlegte, kamen aus ihren Wunden Wespen und allerlei andere stechende Insekten hervor.

Von dem Jenseits erzählen verschiedene interessante Geschichten, welche zugleich die Angabe Batchelors widerlegen, der zufolge die Aino die Vulkane mit der „Hölle“ oder besser Unterwelt, Pokna Muschir, in Verbindung bringen sollen. Die beiden von Chamberlain ausführlich mitgeteilten Sagen von dem Besuche eines Aino in der Unterwelt mögen in möglichst genauer Wiedergabe folgen.

Erste Unterweltsage. Ein braver junger Aino von gutem Aussehen verfolgte eines Tages auf der Jagd, der er eifrig und mit Geschick oblag, einen Bären in das wildeste Gebirge, weit, weit hin. Er vermochte indessen dem Tiere nie so nahe zu kommen, dass er einen Pfeil auf dasselbe hätte entsenden können, und auf einem Berggipfel verlor er es ganz aus dem Gesichte. Es war, wie er bald ermittelte, in eine weite Höhle gelaufen, in welche der Aino ebenfalls hinein ging. Anfangs von Dunkelheit ganz umfangen, bemerkte er doch nach einiger Zeit in der Ferne einen blassen Lichtschimmer und tastete seinen Weg dorthin; er kam endlich in bewohnte Gegenden und sah Bäume, Häuser, Dörfer, Menschen, alles wie in seiner Heimat, nur weit schöner. Mit den Menschen aber befasste sich der junge Jäger nicht, er forschte nur nach dem Bären, und da er ihn nicht sah, beschloss er, in der neuen Welt, welche sich ihm aufgethan, anderes Wild zu suchen. So schritt er thalaufwärts, weiter und weiter, bis er müde ward und sich an einigen Maulbeeren erfrischte, die an den Bäumen neben dem Wege hingen. Aber wie gross war sein Schreck, als er, zufällig auf sich selber blickend, gewahr wurde, dass er einen Schlangenleib bekommen hatte; sein Wehklagen darüber war auch nur das Zischen einer Schlange. Was sollte er thun? Die Rückkehr in die Welt da draussen vor der Höhle hätte ihm schleunigen Tod gebracht, da die Menschen die Schlangen hassen und verfolgen. Ohne es zu wissen, war er aber [253] doch wieder in die Nähe der Stelle gelangt, wo die Höhle sich nach aussen öffnete. Ermüdet legte er sich hier am Fusse einer grossen Fichte nieder; er schlief ein und hatte einen wunderbaren Traum. Ein schönes Weib, ohne Zweifel die Göttin der Fichte, erschien ihm und sprach: „Es thut mir leid, Dich in diesem Zustande zu sehen, allein Du selbst bist schuld daran, denn hättest Du nicht von den Früchten der Unterwelt gegessen, so wäre Dir nichts geschehen. Jetzt hast Du nur ein Mittel, Deine frühere Gestalt wieder zu erlangen: klettere auf den Gipfel dieser Fichte und stürze Dich mutig hinab!“ Beim Erwachen war der junge Mann, der noch immer die Gestalt einer Schlange hatte, halb voll Hoffnung, halb voll Furcht; er befolgte den Rat der Göttin. Als er sich nicht ohne Zagen und Zaudern vom höchsten Zweige des Baumes zur Erde gestürzt, verlor er die Besinnung. Wieder zu sich gelangt, sah er neben sich eine grosse geborstene Schlangenhaut; sie war beim Fall auseinander gegangen und hatte es ihm ermöglicht, herauszukommen. Er verrichtete ein Dankgebet an die Fichte, ging nun aus der Höhle und kam glücklich nach Hause. Hier jedoch hatte er schon in der nächsten Nacht einen zweiten Traum, in welchem ihm die Fichtengöttin seinen baldigen Tod verkündete. Eine Unterweltsgöttin, dieselbe, die ihn als Bärin in die Höhle gelockt, wolle ihn heiraten, und er sei ihr verfallen, da er jene Früchte gekostet. Auch erkrankte er sehr und vertauschte bald zum zweiten Male diese Welt mit der künftigen, ohne wieder zurückzukehren.

Zweite Unterweltsage. Ein Aino erzählte, dass zuzeiten seines Urgrossvaters ein Mann gelebt habe, welcher gern ergründen wollte, ob die Sagen von Pokna Muschir wahr seien. Eines Tages gelang es ihm auch, in eine tiefe Höhle in der Nähe von Sara zu dringen, die man aber jetzt vergebens suchen würde — sie ist seither längst von den Wogen des Meeres zerstört, in dessen Nähe sie unfern der Mündung des Flusses Sarabet gelegen war. Auch er sah, nachdem er zuerst überall nur Dunkelheit gefunden, schliesslich einen fernen Lichtschimmer, folgte ihm und sah Bäume, Dörfer, Flüsse und Seen mit grossen Fahrzeugen und viele Leute, sowohl Japaner als Aino. Ihn schien jedoch niemand zu sehen; nur die Hunde, welche alles, auch Geister, zu sehen vermögen, bellten ihn wütend an. Die Leute, welche daraus schlossen, dass ein unreiner oder böser Geist zu ihnen gekommen, fingen darauf an, unreine Speise auf ihn zu schleudern, gerade so, wie man sie solchen Geistern auf Erden zuzuwerfen pflegt, um sie zu besänftigen. Der Mann, sehr angeekelt, warf den schmutzigen Reis und die stinkenden Fischgräten weg — vergebens, beides kehrte immer wieder in seine Brusttasche zurück. Endlich, in ein hübsches Fischerhaus tretend, erkannte er seinen Vater und seine Mutter, obwohl sie sich nicht alt, wie sie zur Zeit ihres Todes[WS 2] gewesen, sondern in aller Jugendkraft ihm zeigten. Er rief seiner Mutter zu; aber zitternd lief sie von dannen. Dann erfasste er seines Vaters Hand und sagte: „Vater, erkennst Du mich denn nicht!“ Allein sein Vater fiel mit einem Angstschrei zu Boden; bald kamen Nachbarn zusammen und beteten vereint mit seinen Eltern unter Aufstellung von Weihestäben (Inao), der böse Geist möge doch von dannen gehen. Sehr betrübt ging er denn auch und suchte den Eingang zur Unterwelt wieder zu gewinnen, indem er fortwährend die ihm anhaftende unreine Speise abzuschütteln [254] suchte. Dies gelang ihm jedoch erst, als er wieder bis in die Oberwelt gekommen war, wo die Besudelung von ihm wich. Er dankte den Göttern, der Unterwelt entronnen zu sein, und war von dem Wunsche geheilt, sie je wieder zu besuchen.

An diese Sagen schliesst sich in einem gewissen Sinne die von dem Besuche an, welchen ein Aino dem Gotte unter dem Meere macht. Dieselbe ist um so wichtiger, als sie zweifellos manche Züge mit einer lappländischen Sage ähnlichen Inhalts gemein hat; sie lautet folgendermassen:

Ein Aino war einstmals zum Lachsfang auf die See gefahren. Während er noch weit vom Lande war, erhob sich ein Sturm, der ihn sechs Tage und Nächte umhertrieb, so dass er nicht wusste, wo er sich befand. Schon gab er sich verloren, als er auf einmal Land in Sicht bekam; zugleich besänftigten sich die Wogen und trugen ihn ungefährdet ans Ufer, wo er landete und sich neben einem lieblichen Flusse befand, an dessen Lauf er aufwärts wanderte. Nach einiger Zeit gelangte er an eine volkreiche Stadt, vor welcher er bereits viel Männer und Frauen antraf. In der Stadt selbst war es noch belebter, und ohne Mühe fand er sich zu dem Hause des Ältesten oder Häuptlings, in welches er eintrat. Er traf dort einen Greis von ehrwürdigem Aussehen, der ihm Gastfreundschaft anbot und andern Morgens ihm den Vorschlag machte, mit einigen Leuten seines Volkes, die in Yeso zu thun hätten, nach seiner Heimat zu reisen. Er müsse jedoch sich in einem Boote niederlegen, seinen Kopf verborgen halten und sich nicht umsehen; im andern Falle würde er seine Begleiter sehr erzürnen und Unannehmlichkeiten haben. Alsbald erschien auch eine Anzahl von 100 Kähnen, deren jeder gedrängt voll von Männern und Weibern war und fuhr ab. Der Aino lag in einem der Fahrzeuge und verhielt sich während der Fahrt ganz ruhig; die übrige Mannschaft ruderte fleissig und sang dazu Lieder nach sehr schönen Melodien. Als sie sich jedoch dem Lande näherten, lugte der Aino ein wenig aus und sah, wie sie aus dem Meere in einen Fluss gelangten. Seine Begleiter nahmen Schöpfkellen, probierten das Wasser und lobten es. Die Hälfte der Kähne fuhr stromauf, die andere aber und mit ihr das Boot, in welchem der Aino lag, stach wieder in See und langte endlich an dem Strande an, wo er zu Hause war. Hier warfen ihn die Schiffsleute über Bord und verschwanden samt allen Fahrzeugen, er wusste nicht wohin. Kopfschüttelnd ging er heim, wurde aber nachts durch einen Traum über das belehrt, was er erlebt. Jener ehrwürdige Greis erschien ihm und sprach: „Ich bin kein menschliches Wesen, ich bin ein Meeresgott, der Gott der Lachse. Ich rettete Dich, als Du in Gefahr warst zu ertrinken, und beherbergte Dich, wie es Dir schien, eine Nacht, in Wahrheit aber ein Jahr lang, worauf ich Dich mit meinen Unterthanen, den flussaufwärts steigenden Lachsen, in Deine Heimat sandte. Ich bitte Dich nun, opfere mir recht oft Sake und stelle mir heilige Stäbe auf — dann wird es Dir wohl ergehen. Im andern Falle könnte ich Dich nicht vor Armut schützen.“ Das waren die Worte, die der Greis zu dem Aino im Traume sprach und die dieser stets beherzigte.

Von einem andern „Jenseits“, das in den chinesischen und japanischen Sagen eine grosse Rolle spielt, nämlich von den weithin im Ozean belegenen [255] „Inseln des ewigen Lebens“, dem Pung-lai-schan der Chinesen oder dem Horaisan der Japaner, hat sich bei den Aino an und für sich gar keine Spur gefunden; nur das in einigen Sagen jener Völker mit den Inseln des ewigen Lebens verknüpfte, angeblich noch jenseit derselben liegende „Land der Frauen“, welche — ursprünglich gewiss nichts anderes als Wolkenjungfrauen — eine Art Amazonen vorstellen und die ihnen durch Sturm zugeführten Männer erst heiraten, dann töten und nach einigen Angaben verzehren, ist — sicher wohl erst in jüngster Zeit von Japan aus — zu den Aino gedrungen, deren Auffassung dieser Tradition nach Chamberlain in hohem Grade lasciv sein soll. Ebenso steht es fest, dass eine andere Sage, welche sich sehr eingehend mit dem Ursprunge der Aino befasst, ursprünglich diesem Volke gar nicht angehört, sondern ihm von den Japanern erst in ziemlich neuer Zeit, unbedingt nach Beginn des 17. Jahrhunderts, mitgeteilt ist. Diese Sage, welche ich in meiner Sammlung japanischer Märchen und Sagen unter dem Ttitel „Die Stammmutter der Aino“ in einer Form mitteilte, in welcher sie von vielen späteren tendenziösen Zügen befreit ist, hat daher ihren richtigen Platz unter den japanischen Sagen; sie hat aber auch augenscheinlich nicht in Japan ihre eigentliche Heimat, sondern gehört einer sehr verbreiteten Gruppe von Wandersagen an, der u. a. auch die Legenden von dem Mädchen ohne Hände und unser „Allerleirauh“ angehören. Die Aino, welche man sich in Japan rauh wie die Bären, Wölfe oder Hunde dachte, gaben ohne Zweifel Anlass zu der eigentümlichen Version der Japaner. Die erste Veranlassung der Flucht der von ihrem Vater durch unziemliches Ansinnen verscheuchten Tochter blieb; die nachherige Verheiratung fand mit einem Gott in Tiergestalt statt, und so erschien hier die Geburt tierischer Wesen — in den westlicheren Sagen durch Vertauschung, ursprünglich wohl durch Verzauberung erklärt — an sich schon nicht unmotiviert. Dass die Erzählung in der von mir gewählten, minder entstellten Form noch einen gewissen Reiz behielt, möchte immerhin zuzugestehen sein, und so wird es erklärlich, dass die Aino trotz der in manchen Lesarten enthaltenen cynischen Verhöhnung — die sie als Bastarde von Hund und Mensch hinstellt — sie doch nicht durchweg verschmähten. Eigentümlich ist die Versetzung in die letzten Jahrhunderte, welche die von Chamberlain (a. a. O. S. 14 .f) mitgeteilte wichtigste der von den Aino selbst herrührenden Varianten zeigt, welche also einen bündigen Beweis für das oben erwähnte junge Datum der Übertragung abgiebt. Einst trieb, so heisst es darin, von Yedo her eine grosse Kiste an die Gestade Yesos, welche beim Stranden aufsprang, und aus der ein sehr schönes Mädchen herauskam. Der Verlassenen erbarmte sich ein Gott, der teils in menschlicher Gestalt, teils als grosser weisser Hund — oder Wolf — sich ihr zeigte, sie pflegte und zur Gattin nahm. Ihrem ältesten Kinde, das einen Schwanz hatte, schnitten sie diesen ab, was auch durchaus keinen Schmerz veranlasste. Von diesem und den nachfolgenden Kindern jenes Paares stammen nun die Aino, und so kommt es, dass diese haarig sind wie die Hunde — oder Wölfe — aber keinen Schwanz haben. Die zweite Variante, welche Scheube (a. a. O. S. 23) gibt, ergänzt die eben gegebene dahin, dass die Dame eine Prinzessin, „die Tochter eines Mikado“, war, welcher sie wegen Ungehorsams in den Holzkasten hatte stecken und [256] ins Meer werfen lassen. Es wird hinzugefügt, sie sei in der Nähe von Ischkari, also an der Westküste, im östlichen Teile der Bucht von Otaru, gelandet. Noch andere wollen aus ihr eine Frau des Herrschers in Yedo machen, welche aus demselben Grunde ausgesetzt wurde. Auf alle Fälle möchte feststehen, dass der Sage weder ein echt ainoischer Charakter, noch irgend eine andere Bedeutung zukommt, als dass ihre Übertragung nach Yeso den früheren japanischen Kolonisationsversuchen zuzuschreiben ist, welche in der Zeit nach 1600 gerade von Yedo (Tokio), dem Herrschersitze der damaligen Schogune oder weltlichen Regenten Japans, ausgingen.

In Gegensatz zu den letzterwähnten Sagen treten verschieden andere, welche zwar von allerhand japanischen Kulturgegenständen — Mauern oder Wällen der Niederlassungen, wie sie z. B. bald nach 1600 in Matsumaye (Matomai) von den Japanern geschaffen wurden, u. dgl. m. — reden, also seit der Zeit der japanischen Kolonisation erst ihre jetzige Fassung bekamen, aber doch Züge enthalten, welche den japanischen Märchen und Sagen durchaus fremd sind. Chamberlain hebt unter den letzteren[WS 3] eine Reihe von Tiermärchen hervor und unter diesen wieder die Gruppe der Sagen vom Pena-Umbe und Pana-Umbe, bei denen ihm nur augenscheinlich ein Fehler in der Deutung der Namen unterläuft. Von diesen Wesen, in einer der Erzählung geradezu Füchsen, in der andern Menschen, die aber mit Füchsen in Konflikt geraten, ist das erstere tölpelhaft, das zweite schlau; die wörtliche Übersetzung lautet: Der vom oberen Wasser und der vom unteren Wasser. Chamberlain versteht dies im Gegensatze zu den sonstigen Deutungen dahin, dass der obere Lauf und der untere Lauf der Flüsse gemeint sei — eine Auslegung, welche ihm allerdings sehr viel Raum zu seinen vorerwähnten Umdeutungen geographischer Namen gibt und auch eine scheinbare Stütze dadurch erhält, dass, wie er annimmt, die Aino am Meere und also am Unterlauf der Flüsse gescheiter, gewandter als die im Gebirge seien, welche aber durchaus nicht stichhaltig ist. Wie aus Pfizmaiers trefflichem Vokabular hervorgeht, ist Penak (Benake) die Oberfläche eines Flusses, Panak (banake) der Boden desselben; die ersten beiden Silben obiger Worte bezeichnen daher den Oberflächlichen und den Tiefen (den vom oberen Teile des Wassers und von dessen Grunde),[WS 4] eine Bezeichnung, welche schon an und für sich einem vielen Völkern gemeinsamen Sprachgebrauche gemäss dem obigen Sinne entspricht. — Die beiden Erzählungen lauten:

1. Der Fuchs Pana-Umbe oder Panambe, welcher gern reich werden wollte, zog vor Matsumaye und steckte seinen Schwanz über die Mauer. Das sah alsbald der Daimio (Fürst) von Matsumaye und sagte: Da ist eine heilige Stange, offenbar von den Göttern herrührend; hängt meine besten Gewänder daran! Panambe liess sich das ruhig gefallen und zog erst nach einiger Zeit seinen Schwanz zurück; er kam glücklich nach Hause und war nun sehr reich. Das hörte Penambe und fragte jenen, wie er es angefangen hätte, in den Besitz so vieler Schätze zu kommen. Als ihm Panambe alles gesagt, schalt er diesen, dass er ihm den guten Plan, den er längst im Sinne gehabt, vorweg genommen; er machte sich sofort auf nach dem Meeresufer, wo die Stadt Matsumaye liegt, und steckte gerade wie Panambe seinen Schwanz über die Mauer. Der Daimio liess abermals reiche [257] Kleider daran hängen, aber Penambe war in zu grosser Hast, und in seiner Gier wollte er den Schwanz zu früh zurückziehen. Nun ward dem Daimio klar, auf welche Weise seine Schätze schon das vorige Mal von der vermeinten Inao-Stange verschwunden seien; er rief seinen Leuten, rasch den Dieb zu strafen und die Stange zu zerhauen. Dies geschah; der Daimio rettete seine Gewänder, Penambe aber zog seinen arg verstümmelten[WS 5] Schwanz ohne allen Gewinn zurück. Hätte er dem guten Rate Panambes ordentlich Gehör geschenkt, so wäre er reich geworden, nun aber blieb er zeitlebens arm.

2. Panambe, ein Aino, der einst über einen Fluss setzen wollte, rief eine Schar drüben wohnender Füchse zu, ihn überzusetzen; sie höhnten ihn aber längere Zeit und liessen ihn unbarmherzig warten. Um sie zu strafen, stellte er sich tot; die Füchse kamen in grosser Zahl über den Fluss, umstanden ihn, und da sie ihn endlich wirklich für tot hielten, fingen sie heuchlerisch zu klagen und zu weinen an. Panambe aber sprang nun rasch auf und schlug mit seinem Knüttel alle Füchse tot bis auf einen, der mit einem zerschlagenen Beine zu entkommen wusste. Diese Jagdbeute machte den Panambe sehr wohlhabend, so dass sein Gefährte Penambe zu ihm kam und ihn um das Mittel bat, soviel Füchse auf einmal zu erlegen, Panambe erzählte ihm alles, und Penambe machte es gerade so wie er. Als aber die Füchse ihn forschend und klagend umstanden, kam der früher dem Panambe entronnene Fuchs hinkend heran und sagte: Freunde, ich entsinne mich einer bösen Geschichte – kommt her und klagt in grösserer Entfernung. Als nun Penambe aufsprang und seinen Knüttel schwang, liefen alle Füchse weg; er machte keine Jagdbeute und starb bald in Armut und Elend.

Eine andere, in eigentümlicher Weise an eine nordamerikanische Sage erinnernde Tiersage gibt Chamberlain mit dem Bemerken, dass ähnliche Geschichten, welche auf Jagdtiere Bezug haben, noch in ziemlicher Anzahl bei den Aino zu sammeln sein würden. Sie besagt, dass auf einmal ein prächtiges Haus auf der Spitze eines Hügels erschienen sei, in welchem sechs Personen sich befunden hätten, die sich fortwährend zankten. Niemand wusste, woher sie gekommen waren. Okikurumi indessen, der des Weges kam, erkannte sie alsbald und rief: O ihr bösen, schlechten Hasen, wie sollte ich euren Ursprung nicht kennen? ich will ihn aller Welt künden! Die Kinder der Himmelsgötter warfen sich mit Schneebällen, und von diesem Schnee fiel etwas auf die Erde, er wurde zu Hasen, und das seid ihr! Was lärmt und tobt ihr nun? Ihr hättet in der Welt der Menschen ruhig sein sollen! – Mit diesen Worten ergriff Okikurumi einen Feuerbrand und schlug auf die Leute los, die nun in Gestalt von Hasen von dannen liefen, aber nicht ohne Spuren des Feuerbrandes zu tragen; denn die Hasen haben – im Winter – ein weisses Fell, da es aus Schnee geschaffen, aber schwarze Ohren, da diese vom Feuer angesengt wurden.

Es ist hierzu zu bemerken, dass der japanische Hase dem Schnee- oder Alpenhasen gleich ist, aber nur in den kälteren Gegenden, auf der Insel und in den nördlichen Bergen der Hauptinsel, seine Farbe in der Weise wie seine europäischen Verwandten wechselt.

In ähnlicher Weise spielt auf die Tierwelt Yesos und Japans die einzige [258] – und mutmasslich ziemlich neue – Tiergeschichte an, welche Chamberlain noch mitteilt, nämlich die vom Fuchse, von der Otter und dem Affen. Diese Tiere sollen vor alters in bester Freundschaft gelebt haben, bis der Fuchs die beiden anderen verleitete, einen reichen Japaner zu bestehlen. Die Beute bestand in einem Sacke mit Bohnen, einer Fussbodenmatte und einem Sacke mit Salz. Letzteres schwatzte der Fuchs der Otter auf, da es dazu diene, Fische einzusalzen, dem Affen die Matte, auf der seine Kinder tanzen könnten. Die Otter aber wollte den Salzsack sogleich beim Fischen benutzen und verlor sehr bald das Salz, welches sich im Wasser auflöste; dem Affen ging es noch schlimmer, denn er legte seine Matte auf die Zweige eines Baumes, und als seine Kinder darauf tanzen wollten, stürzten sie hinab und wurden zerschmettert. Voll Rachedurst gingen beide hin, um sich an dem Fuchse zu rächen, dieser aber merkte es, kaute eine Menge der erbeuteten Bohnen und beschmierte mit dem Brei seinen ganzen Leib; darauf legte er sich hin und stellte sich sehr krank. Als die beiden andern kamen, winselte er und sagte, er sei für seine Untreue an ihnen schon bestraft und müsse an einer schweren Ausschlagskrankheit sterben. Er bat sie nur, ihn ruhig verscheiden zu lassen. Abermals glaubten sie ihm, durch den Bohnenbrei getäuscht, und liessen ihn liegen, der Affe aber fühlte sich doch so unglücklich über den Verlust der Seinigen, dass er eilends über die Meerenge nach Japan hinüberzog; und das ist der Grund, weshalb es im Ainolande keine Affen gibt.

Wenn schon in den bisher erzählten Sagen und Märchen die vorhin erwähnten Züge einer moralischen Nutzanwendung und einer Strafe für Unrecht in gewisser Weise hervortreten, so ist dies in den folgenden beiden Märchen, von denen mindestens das zweite entschieden charakteristisch für die Aino ist, noch weit mehr der Fall. Ich lasse dieselben[WS 6] zum Schlusse ohne weiteren Kommentar folgen.


1. Der Mann im Monde.

Vor alters lebte ein Knabe, der weder Vater noch Mutter gehorchen mochte und so träge war, dass er nicht einmal Wasser für sie holen wollte. Einstmals war ihm befohlen, mit einem Kübel und einer Schöpfkelle zum Flusse zu gehen und das elterliche Haus mit Wasser zu versorgen. Er sass lange müssig da und hackte mit seinem Messer in den Kohlen der Feuerstelle herum; endlich erhob er sich, blieb aber an der Thür stehen und hackte an dem Pfosten, indem er sagte: Ach Du, ein Thürpfosten, brauchst kein Wasser zu holen! Am Flusse angelangt, sah er einen kleinen Fisch; auch diesem rief er zu: Ach, Du kleiner Grätenfisch, Du brauchst kein Wasser zu holen! Dann kam eine Lachsforelle; der rief er zu: O Du fetter Fisch, brauchst auch kein Wasser zu holen! Endlich kam ein grosser, grosser Lachs; zu dem sagte er: Wie geht es Dir, Herr Lachs? – Doch als er noch weiter reden wollte, packte ihn dieser, erhob sich bis über die Wolken und brachte ihn geradeswegs in den Mond. Er ist der Mann im Monde, den die Götter zur Warnung aller ungehorsamen Kinder dorthin versetzt haben.

[259]
2. Der böse Zauberer.

Einstmals lebte ein sehr bösartiger Hexenmeister, der gern Schaden stiftete und namentlich einem seiner Bekannten, einem braven Aino, gern etwas anhaben wollte. Deshalb erzählte er ihm eines Tages, wenn jemand oben auf einen gewissen sehr steilen Berg stiege und kühn auf die Wolken spränge, die sich unterhalb des Gipfels befänden, so könne er auf diesen wie auf Pferden reiten und ohne Mühe die ganze Welt sehen. Der gute Mann traute ihm vollkommen und that, wie ihm der falsche Zauberer angeraten, aber die Götter schützten ihn und liessen ihn wirklich auf den Wolken reiten, so dass er viel von der Welt sah und endlich glücklich wieder im Ainolande auf seiner Bergspitze anlangte. Er stieg ins Thal hinab und erzählte allen Leuten schöne Dinge von seiner Reise; dem Zauberer aber sagte er vielen Dank für seine nützliche Anweisung. Darüber war dieser sehr erstaunt; er hatte gemeint, der brave Mann sollte bei dem Sprunge vom Felsgipfel auf die Wolken ums Leben kommen, und nun sah er, dass das, was er lügenhafterweise ersonnen, die reine Wahrheit gewesen war. Sofort stieg in ihm der Wunsch auf, auf dieselbe Art die Welt kennen zu lernen. Er ging daher oben auf den Berg, und als er etwas tiefer einen dichten Ring von Wolken denselben umgeben sah, sprang er beherzt darauf hinab. Doch ihn schützte kein Gott, zerschmettert kam er unten an. In derselben Nacht aber erschien der Gott jenes Berges dem guten Aino im Traume und sagte ihm, wie es dem bösen Zauberer ergangen sei, der für seine Treulosigkeit den Tod reichlich verdient habe. Dich aber, so fügte er hinzu, rettete ich, da Du stets brav gewesen, und ich liess Dich die Welt sehen, damit Du weiser würdest. Erzähle dies allen Leuten, damit sie daraus lernen, wie Bosheit zu Falle kommt!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: -Kräften
  2. Vorlage: Totes
  3. Vorlage: letzeren
  4. Vorlage ohne schließende Klammer
  5. Vorlage: versümmelten
  6. Vorlage: dieselbe