Textdaten
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Autor: Brüder Grimm
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Titel: Die Rabe
Untertitel:
aus: Kinder- und Haus-Märchen Band 2, Große Ausgabe.
S. 53-62
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1815
Verlag: Realschulbuchhandlung
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: old.grimms.de = Commons
Kurzbeschreibung: seit 1815: KHM 93
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Begriffsklärung Andere Ausgaben unter diesem Titel siehe unter: Die Rabe.


[53]
7.
Die Rabe.

Es war einmal eine Mutter mit einem Töchterchen, das war noch klein und wurde noch auf dem Arm getragen. Nun geschah es, daß das Kind einmal unruhig war und die Mutter mochte sagen, was sie wollte, es half nicht. Da ward sie ungeduldig und weil die Raben so um das Haus herumflogen, machte sie das Fenster auf und sagte: „ich wollt’ du wärst eine Rabe und flögst fort, so hätt’ ich Ruh,“ und kaum hatte sie das Wort gesagt, so war das Kind eine Rabe und flog von ihrem Arm zum Fenster hinaus. Die Rabe aber flog weg und niemand konnte ihr folgen, sie flog aber in einen dunkelen Wald und blieb darin. Auf eine Zeit führte einen Mann sein Weg in diesen Wald und er hörte die Rabe rufen und er ging der Stimme nach; und als er näher kam, sagte die Rabe zu ihm: „ich bin verwünscht worden und bin eine Königstochter von [54] Geburt, du kannst mich erlösen.“ Da sprach er: „wie soll ich das anfangen?“ Da sagte sie: „geh’ hin in das Haus dort, darin sitzt eine alte Frau, die wird dir Essen und Trinken reichen und dich davon genießen heißen, aber du darfst nichts nehmen, denn wenn du trinkst, so trinkst du einen Schlaftrunk und dann kannst du mich nicht erlösen. Im Garten hinter dem Haus ist eine große Lohhucke, darauf sollst du stehen und mich erwarten: den Nachmittag um zwei Uhr komm’ ich in einer Kutsche, die ist mit vier weißen Hengsten bespannt, wenn du aber dann nicht wach bist, sondern schläfst, so werd’ ich nicht erlöst.“ Der Mann sprach, er wollt’ alles thun, die Rabe aber sagte: „ach ich weiß es wohl, du kannst mich nicht erlösen, du nimmst doch etwas von der Frau.“ Da versprach der Mann noch einmal, er wollte gewiß nichts anrühren von dem Essen und Trinken. Wie er aber in das Haus kam, trat die alte Frau zu ihm und sagte: „ei, was seyd ihr abgemattet, kommt und erquickt euch, esset und trinkt.“ „Nein, sagte der Mann, ich will nicht essen und trinken;“ sie ließ ihm aber keine Ruhe und sprach: „wenn ihr dann nicht essen wollt, so thut einen Zug aus dem Glas, einmal ist keinmal,“ bis er sich überreden ließ und einen Trunk nahm. Nachmittags gegen zwei Uhr ging er hinaus in den Garten auf die Lohhucke und wollte auf die Rabe warten; wie er da stand, auf [55] einmal ward er so müd’ und wollte sich nicht hinlegen, aber er konnte es gar nicht mehr aushalten, und mußte sich ein Bischen legen; doch wollte er nicht einschlafen, aber kaum hatte er sich gelegt, da fielen ihm die Augen von selber zu und er schlief ein und schlief so fest, daß ihn nichts auf der Welt hätte erwecken können. Um zwei Uhr kam die Rabe mit vier weißen Hengsten gefahren und war schon in voller Trauer und sprach: „ich weiß doch schon, daß er schläft!“ Und als sie in den Garten kam, lag er auch da auf der Lohhucke und schlief; und wie sie vor ihm war, stieg sie aus dem Wagen, schüttelte und rief ihn an, er wollte nicht erwachen. Sie rief aber so lang’ bis sie ihn endlich aus dem Schlaf erweckte, da sagte sie: „ich sehe wohl, daß du mich hier nicht erlösen kannst, aber Morgen will ich noch einmal wiederkommen, dann habe ich vier braune Hengste vor dem Wagen, aber du darfst bei Leibe nichts nehmen von der Frau, kein Essen und kein Trinken.“ Da sagte er: „nein gewiß nicht.“ Sie sprach aber: „ach! ich weiß es wohl, du nimmst doch etwas!“ Am andern Tag zur Mittagszeit kam die alte Frau und sagte, er äße und tränke ja nichts, was das wäre? Da sprach er: „nein, ich will nicht essen und trinken.“ Sie aber stellte das Essen und Trinken vor ihn hin, daß der Geruch zu ihm aufging und beredete ihn, daß er wieder etwas trank. Gegen zwei Uhr ging er in [56] den Garten auf die Lohhucke und wollte auf die Rabe warten, da ward er wieder so müde; daß seine Glieder ihn nicht mehr hielten und er konnte sich nicht helfen, er mußte sich legen und ein Bischen schlafen. Wie nun die Rabe daher fuhr mit vier braunen Hengsten, war sie wieder in voller Trauer und sagte: „ich weiß doch schon, daß er schläft!“ Und als sie hin zu ihm kam, lag er da und schlief fest, da stieg sie aus dem Wagen, schüttelte ihn und sucht ihn zu erwecken; das ging aber noch schwerer als gestern, bis er endlich erwachte. Da sprach die Rabe: „ich sehe wohl, daß du mich nicht erlösen kannst, Morgen Nachmittag um zwei Uhr will ich noch einmal kommen, aber das ist das letztemal, meine Hengste sind dann schwarz und ich habe auch alles schwarz; du darfst aber nichts nehmen von der alten Frau, kein Essen und kein Trinken.“ Da sagte er: „nein gewiß nicht.“ Sie sprach aber: „ach, ich weiß es wohl, du nimmst doch etwas!“ Am andern Tag kam die alte Frau und sagte, er äße und tränke ja nichts, was das wäre? Da sprach er: „nein ich will nicht essen und trinken.“ Sie aber sagte, er sollte nur einmal schmecken, wie gut das alles sey, Hungers könnte er doch nicht sterben; da ließ er sich überreden und trank doch wieder etwas. Als es Zeit war, ging er hinaus in den Garten auf die Lohhucke und wartete auf die Prinzessin, da ward er wieder so müde, daß er [57] sich’ nicht halten konnte und er sich hin legte und schlief so fest als wär’ er von Stein. Um zwei Uhr kam die Rabe und hatte vier schwarze Hengste und die Kutsche und alles war schwarz; sie war aber in voller Trauer und sprach: „ich weiß doch schon, daß er schläft und mich nicht erlösen kann.“ Als sie zu ihm kam, lag er da und schlief fest, sie rüttelte ihn und rief ihn, aber sie konnt’ ihn nicht aufwecken, er schlief in einem fort. Da legte sie ein Brot neben ihn hin, davon konnte er so viel essen, als er wollte, es wurde nicht all’; dann ein Stück Fleisch, davon konnt’ er auch so viel essen, als er wollte, es wurde nicht all’; zum dritten eine Flasche Wein, davon konnt’ er trinken, so viel er wollte, es wurde nicht all’. Darnach nahm sie ihren goldenen Ring vom Finger und steckt ihm den an und war ihr Name darein gegraben, und endlich legte sie einen Brief hin, darin stand, was sie ihm gegeben hatte und daß es nie all’ würde und es stand auch darin: „ich sehe wohl, daß du mich hier nicht erlösen kannst, willst du mich aber noch erlösen, so komm nach dem goldenen Schloß von Stromberg, da kannst du es, das weiß ich gewiß.“ Und wie sie ihm das alles gegeben hatte, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr weg in das goldene Schloß von Stromberg.

Als der Mann aufwachte, und sah, daß er geschlafen hatte, ward er von Herzen traurig und [58] sprach: „gewiß nun ist sie vorbei gefahren und du hast sie nicht erlöst.“ Da fielen ihm die Dinge in die Augen, die neben ihm lagen, und er las den Brief, darin geschrieben stand, wie es zugegangen war. Also machte er sich auf und ging fort und wollte nach dem goldenen Schloß von Stromberg, aber er wußte nicht, wo es lag. Nun war er schon lange in der Welt herumgegangen, da kam er in einen dunkeln Wald und ging vierzehn Tage darin fort, und konnte sich nicht herausfinden. Da ward es wieder Abend, und er war so müde, daß er sich an einen Busch legte und einschlief; am andern Tag ging er weiter und wollt’ sich am Abend wieder an einen Busch legen, da hört’ er ein Heulen und Jammern, daß er nicht einschlafen konnte. Und wie die Zeit kam, wo die Leute die Lichter anstecken, sah er eins schimmern und machte sich auf und ging ihm nach, da kam er vor ein Haus, das schien so klein, denn es stand ein großer Riese davor. Da dacht’ er bei sich: „gehst du wohl hinein oder nicht, wenn du’s thust, kommst du vielleicht um’s Leben, du willst aber doch einmal hineingehen.“ Wie er nun drauf zu ging und der Riese ihn sah, sprach er: „es ist gut, daß du kommst, ich habe doch lange nichts gegessen, jetzt will ich dich gleich zum Abendbrot verschlucken.“ „Laß das gut seyn, sprach der Mann, wenn du essen willst, so hab’ ich was bei mir.“ „Wenn das ist, sagte der Riese, so [59] bist du gut.“ Da gingen sie beide hinein und setzten sich an den Tisch und der Mann holte sein Brot, Wein und Fleisch, was nicht all’ wurde, hervor, und sie aßen sich beide recht satt. Darnach sagte der Mann zum Riesen: „kannst du mir nicht sagen, wo das goldene Schloß von Stromberg ist.“ Der Riese sprach: „ich will einmal auf meiner Landcharte nachsehen, darauf sind alle Städte, Dörfer und Häuser.“ Da holt’ er seine Landkarte, die er in der Stube hatte, und suchte das Schloß, konnte es aber nicht finden: „das thut nichts, sprach er, ich habe oben in einem Schranke noch mehr Landkarten, da will ich einmal sehen, ob es darauf zu finden ist.“ Sie sahen zu, konnten’s aber nicht finden. Der Mann wollte nun weiter gehen, der Riese aber sprach, er sollte noch ein Paar Tage warten, er hätte einen Bruder, der wär’ aus und holte was zu essen, wenn der käme, der hätte auch gute Landkarten, da wollten sie noch einmal suchen, der fänd’s gewiß. Also wartete der Mann, bis der Bruder nach Haus kam, der sagte, er wüßte es nicht gewiß, er glaubte aber das goldene Schloß von Stromberg stände auf seiner Karte. Da aßen sich die drei noch einmal recht satt und dann ging der zweite Riese hin und sprach: „nun will ich einmal zusehen auf meiner Karte;“ allein das Schloß war auch nicht darauf. Da sagt’ er, er hätte noch oben eine Kammer voll Landkarten, da [60] müßt’ es darauf stehen. Wie er nun die herunter gebracht hatte, suchten sie von neuem und endlich fanden sie das goldene Schloß von Stromberg, aber es war viele tausend Meilen weit weg. „Wie werd’ ich nun dahin kommen?“ sprach der Mann. „Ei, sagte der Riese, zwei Stunden hab’ ich Zeit, da will ich dich bis in die Nähe tragen, dann muß ich aber wieder nach Haus und das Kind säugen, das wir haben.“ Da trug der Riese den Mann bis etwa noch hundert Stunden vom Schloß und sagte: „jetzt muß ich zurück, den übrigen Weg kannst du wohl allein gehen.“ – „O ja, sagte der Mann, das kann ich wohl.“ Wie sie sich nun trennen wollten, sprach der Mann, „wir wollen uns erst recht satt essen;“ und darauf nahm der Riese Abschied und ging heim. Der Mann aber ging vorwärts Tag und Nacht, bis er endlich zu dem goldenen Schloß von Stromberg kam. Da stand es aber auf einem gläsernen Berge, und oben darauf sah er die verwünschte Prinzessin fahren; nun wollte er hinauf zu ihr, aber er glitschte immer wieder herunter. Da war er ganz betrübt und sprach zu sich selbst: „am besten ist, du baust dir hier eine Hütte, Essen und Trinken hast du ja.“ Also baute er sich eine Hütte und saß darin ein ganzes Jahr und sah die Prinzessin alle Tage oben fahren; konnte aber nicht hinauf zu ihr kommen.

[61] Da hörte er einmal wie drei Riesen sich schlugen, und rief ihnen zu: „Gott sey mit euch!“ Sie hielten bei dem Ruf inne, als sie aber niemand sahen, fingen sie wieder an sich zu schlagen und das zwar ganz gefährlich. Da sprach er wieder: „Gott sey mit euch!“ sie hörten wieder auf, guckten sich um, weil sie aber niemand sahen, fuhren sie auch wieder fort, sich zu schlagen. Da sprach er zum drittenmal: „Gott sey mit euch!“ und dacht’, du mußt doch sehen, was die drei vorhaben, ging hin und fragte sie, warum sie so auf einander losschlügen. Da sagte der eine, er hätt’ einen Stock gefunden, wenn er damit wider eine Thür schlüge, so spränge sie auf; der andere sagte, er hätte einen Mantel gefunden, wenn er den umhinge, so wär’ er unsichtbar; der dritte aber sprach, er hätte ein Pferd gefangen, mit dem könnte man den gläsernen Berg hinaufreiten. Da sprach der Mann: „für die drei Sachen will ich euch etwas geben, Geld habe ich zwar nicht, aber andere Dinge, die noch mehr werth sind; doch muß ich sie vorher probiren, damit ich sehe, ob ihr auch die Wahrheit gesagt habt.“ Da ließen sie ihn auf’s Pferd sitzen, hingen ihm den Mantel um und gaben ihm den Stock in die Hand, und wie er das alles hatte, konnten sie ihn nicht mehr sehen und er prügelte sie durch und durch, rief: „nun, seyd ihr zufrieden?“ und ritt den Berg hinauf. Oben aber vor dem Schloß, das [62] war verschlossen, da schlug er mit dem Stock vor die Thür, gleich sprang sie auf, und er ging hinein und die Treppe hinauf oben in den Saal, da saß die Prinzessin und hatte einen goldenen Kelch mit Wein vor sich stehen; konnt’ ihn nicht sehen, weil er den Mantel um hatte. Und als er vor sie kam, zog er den Ring vom Finger, den sie ihm gegeben hatte und schmiß ihn in den Kelch, daß es klang. Da rief sie: „das ist mein Ring, so muß auch der Mann da seyn, der mich erlöst.“ Sie suchten im ganzen Schloß, und fanden ihn nicht, er aber war hinaus gegangen, hatte sich auf’s Pferd gesetzt und den Mantel abgeworfen. Wie sie nun vor das Thor kamen, sahen sie ihn, und schrien vor Freude; und er stieg ab und nahm die Prinzessin in den Arm, da küßte sie ihn und sagte: „jetzt hast du mich erlöst.“ Darauf hielten sie Hochzeit und lebten vergnügt miteinander.

Anhang

[XIII]
7.
Die Rabe.

(Aus der Leinegegend). Auch hier kommt die Befreiung der Brunhild vor. Zuerst wie in dem vorigen (doch aus einer ganz andern Quelle geflossenen) Märchen der Zank der Riesen über ihre Schätze, nur nicht so deutlich. Das goldne Schloß auf dem Glasberg ist der Flammensaal der nordischen Sage, geradezu übereinstimmend mit dem altdänischen Lied der Elskovsviser (altdän. Lieder und Märchen S. 3. Anmerk. S. 496. 97.) wo Bryniel auf dem Glasberge sitzt; welchen nur ein besonderes Pferd (Grani) besteigen kann. Die Verwandtschaft [XIV] und Vertauschung der Flamme und des schimmernden Glases liegt sehr nah. – Der Schlaftrunk, vor dem sie ihn warnt und der ihn überwältigt, ist der Vergessenstrank der nordischen Grimhild.

Eine Annäherung zu den drei Raben I. 25. ist sichtbar und doch dieses Märchen neu. In einem der Braunschweiger Sammlung, das sonst ganz anders ist, kommt S. 226. ff. vor, wie die Verwünschte dreimal vorbei fährt, und der Ritter, der zu ihrer Erlösung wachen soll, weil er aus einer Quelle getrunken, an einer Blume gerochen oder einen Apfel genossen, eingeschlafen ist: sie legt ihm jedesmal ein Geschenk zur Seite, ihr Bild, eine Bürste, die Geld schafft und ein Schwert mit der Inschrift: „folge mir.“ Auch ist die Farbe ihrer Pferde jedesmal, wie hier, verschieden. Uebrigens beweist diese Recension den näheren Zusammenhang mit dem vorangehenden Märchen vom goldenen Berg, denn der Ritter hat auch vorher die verzauberte aus ihrer Schlangengestalt durch Schweigen bei furchtbaren Gespenstern erlöst. – Ueber das Kundgeben durch das Werfen des Rings in den Weinbecher vgl. Hildebrands Lied. S. 79.