Die Interieurs in der Rotunde

Textdaten
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Autor: Adolf Loos
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Titel: Die Interieurs in der Rotunde
Untertitel:
aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 40–47
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung: Loos pflegte eine Kleinschreibung (außer bei Satzanfängen und Namen) auch bei seinen Titeln, wie den Inhaltsverzeichnissen zu entnehmen ist (im Buch selbst sind die Titel in Versalien gesetzt). Um Irritationen zu vermeiden, werden die Titel in der gewohnten Groß-Kleinschreibung gegeben
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[40]
DIE INTERIEURS IN DER ROTUNDE
(12. juni 1898)


In meinem letzten berichte habe ich recht ketzerische forderungen aufgestellt. Weder der archäologe, noch der dekorateur, noch der architekt, noch der maler oder der bildhauer soll uns die wohnung einrichten. Ja, wer soll es denn dann tun? Nun, ganz einfach: Jeder sei sein eigener dekorateur.

Allerdings werden wir dann nicht in „stilvollen“ wohnungen wohnen können. Aber dieser „stil“, der stil mit den gänsefüßchen, ist auch gar nicht nötig. Was ist denn dieser stil überhaupt? Er läßt sich schwer definieren. Meiner meinung nach fand jene wackere hausfrau auf die frage, was stilvoll sei, die beste antwort, welche sagte: „Wenn auf dem nachtkastel ein löwenkopf ist, und dieser löwenkopf ist dann auf dem sofa, auf dem schrank, auf den betten, auf den sesseln, auf dem waschtisch, kurz auf allen gegenständen des zimmers gleichfalls angebracht, so nennt man dieses zimmer stilvoll.“ Hand aufs herz, meine herren gewerbetreibenden, haben sie nicht redlich dazu beigetragen, eine solche widersinnige meinung ins volk zu bringen? Nicht immer war es ein löwenkopf. Aber eine säule, ein knopf, eine balustrade wurde immer in alle möbel hineingepreßt, bald verlängert, bald verkürzt, bald verdickt, bald verdünnt.

Solche zimmer tyrannisierten ihren armen besitzer. Wehe dem unglücklichen, der es gewagt hätte, sich etwas hinzuzukaufen! Denn diese möbel vertrugen absolut nichts anderes in ihrer nähe. Bekam man etwas geschenkt, konnte man es nirgends hinstellen. Und wenn man die wohnung wechselte und im neuen heim nicht genau dieselben [41] zimmergrößen vorfand, dann war es auf immer mit der „stilvollen“ wohnung vorbei. Dann mußte vielleicht gar der altdeutsche dekorationsdivan in den blauen rokokosalon gestellt werden und der barocke schrank in das empiresitzzimmer. Schrecklich!

Wie gut hatten es doch dagegen der dumme bauer oder der arme arbeiter oder die alte jungfer. Die hatten solche sorgen nicht. Die waren nicht stilvoll eingerichtet. Eines kam von da her, das andere von dort. Alles durcheinander. Doch wie läßt sich das erklären: Die maler, denen man doch viel geschmack zutraute, ließen unsere prächtigen wohnungen links liegen und malten immer die interieurs der dummen bauern, der armen arbeiter und der alten jungfern. Wie man nur so etwas schön finden kann? Denn schön ist, so wurde gelehrt, nur die stilvolle wohnung.

Aber die maler hatten recht. Sie, die für alle äußerlichkeiten des lebens, dank ihren geübten und trainierten augen, einen viel schärferen blick haben als andere menschen, haben das hohle, das aufgeblasene, das fremde, das unharmonische unserer stilvollen wohnungen stets erkannt. Die menschen passen nicht zu diesen räumen und die räume nicht zu diesen menschen. Wie sollten sie denn auch? Der architekt, der dekorateur kennt seinen auftraggeber kaum dem namen nach. Und wenn der bewohner diese räume hundertmal käuflich erworben hat, es sind doch nicht seine zimmer. Sie bleiben immer das geistige eigentum dessen, der sie erdacht hat. Auf die maler konnten sie daher nicht wirken, es fehlte ihnen der geistige zusammenhang mit dem bewohner, es fehlte ihnen jenes etwas, das die maler eben im zimmer des bauern, des arbeiters, der alten jungfer fanden: die intimität.

[42] Ich bin, gott sei dank, noch nicht in einer stilvollen wohnung aufgewachsen. Damals kannte man das noch nicht. Jetzt ist es leider auch in meiner familie anders geworden. Aber damals! Hier der tisch, ein ganz verrücktes krauses möbel, ein ausziehtisch mit einer fürchterlichen schlosserarbeit. Aber unser tisch, unser tisch! Wißt ihr, was das heißt? Wißt ihr, welche herrlichen stunden wir da verlebt haben? Wenn die lampe brannte! Wie ich als kleiner bub mich abends nie von ihm trennen konnte, und vater immer das nachtwächterhorn imitierte, so daß ich ganz erschreckt ins kinderzimmer lief! Und hier der schreibtisch! Und der tintenfleck darauf, schwester Hermine hat als ganz kleines baby die tinte darüber ausgegossen. Und hier die bilder der eltern! Welch schreckliche rahmen! Aber es war das hochzeitsgeschenk der arbeiter des vaters. Dieser altmodische sessel! Ein überbleibsel aus dem hausstande der großmutter. Ein gestickter pantoffel, in dem man die uhr aufhängen kann: schwester Irmas kindergartenarbeit. Jedes möbel, jedes ding, jeder gegenstand erzählt eine geschichte, die geschichte der familie. Die wohnung war nie fertig; sie entwickelte sich mit uns und wir entwickelten uns in ihr. Allerdings war kein stil darin. Das heißt: kein fremder, kein alter. Aber einen stil hatte die wohnung, den stil ihrer bewohner, den stil der familie.

Als die zeit immer gebieterischer die forderung nach der stilvollen wohnung erhob – alle bekannten waren schon altdeutsch eingerichtet, und da kann man doch nicht zurückbleiben –, da wurde der ganze „alte plunder“ hinausgeworfen. Plunder für jeden anderen, für die familie ein heiligtum. Der rest war – tapezierer.

Nun haben wir es aber satt bekommen. Wir wollen [43] wieder die herren in unseren eigenen vier wänden sein. Sind wir geschmacklos, gut, so werden wir uns geschmacklos einrichten. Haben wir geschmack, um so besser. Von unseren zimmern wollen wir uns aber nicht mehr tyrannisieren lassen. Wir kaufen alles zusammen, alles, wie wir es eben nach und nach brauchen können, wie es uns gefällt.

Wie es uns gefällt! Ja, da hätten wir ja doch den stil, nach dem wir solange gefahndet, den wir immer in die wohnung herein haben wollten. Einen stil, den nicht löwenköpfe, sondern der geschmack oder, meinetwegen, ungeschmack eines menschen, einer familie erzeugt haben. Das gemeinsame band, das alle möbel im raume miteinander verbindet, besteht darin, daß sein besitzer die auswahl getroffen hat. Und selbst wenn dieser, besonders was die farbenauswahl anbelangt, etwas sprunghaft vorgehen sollte, es wäre noch immer kein unglück. So eine mit der familie gewordene wohnung verträgt schon etwas. Wenn man nämlich in ein „stilvolles zimmer“ auch nur ein nippesstückchen hineinstellt, das nicht dazu gehört, so kann das ganze zimmer „verdorben“ sein. Im familienzimmer geht jedes stück sofort im raume vollständig auf. So ein zimmer ist wie eine violine. Die kann man einspielen, jenes einwohnen.

Unberührt von diesen ausführungen bleiben selbstverständlich räume, die nicht zum wohnen benützt werden; bad und toilette werde ich vom installateur, die küche vom betreffenden fachmanne einrichten lassen. Und vollends solche räume, die zum empfange der gäste, zu festlichkeiten, zu außergewöhnlichen gelegenheiten benützt werden. Da rufe man den architekten, den maler, den bildhauer, den dekorateur herbei. Es wird schon [44] jeder denjenigen finden, den er verdient. Denn zwischen dem produzenten und dem konsumenten besteht immerhin ein geistiger kontakt, der freilich für wohnräume nicht ausreichen kann.

So ist es ja immer gewesen. Auch der könig wohnte in einem zimmer, das mit ihm und durch ihn geworden war. Aber seine gäste empfing er in den vom hofarchitekten geschaffenen räumen. Wenn die braven untertanen durch die goldenen räume geführt wurden, dann entrang sich wohl der brust manches untertanen der seufzer: „Ach, hat’s der gut! Wenn du doch auch so schön wohnen könntest!“ Denn der brave untertan denkt sich den könig nicht anders als im purpurnen hermelinmantel mit dem szepter in der hand und der krone auf dem haupt spazierengehend. Was wunder, daß die braven untertanen sofort, sobald sie zu gelde kamen, sich auch diese vermeintlich königlichen wohnräume anschafften. Ich habe mich genug gewundert, daß ich noch nie jemanden im purpur herumlaufen sah.

Nach und nach entdeckte man aber mit schreck, daß auch ein könig sehr einfach wohnt, und da gab es denn einen plötzlichen rückzug. Einfachheit, auch in den festräumen, war trumpf. In anderen ländern ist man wieder im vormarsche begriffen, während wir uns erst zum rückzuge anschicken. Erspart kann uns der nicht werden, wie unsere gewerbetreibenden – ach, so sehr! – wünschen. Geschmack und lust an der abwechslung sind immer verschwistert. Heute tragen wir enge hosen, morgen weite und übermorgen wieder enge. Das weiß jeder schneider. Ja, wird man sagen, da könnten wir uns doch die periode der weiten hosen ersparen. O nein! Die brauchen wir, damit uns die engen hosen wieder gefallen. [45] Wir brauchen eine periode der einfachen festräume, um auf die reichen wieder vorbereitet zu werden. Wollen unsere gewerbetreibenden die einfachheit schneller überwinden, so gibt es nur ein mittel: sie zu akzeptieren.

Gegenwärtig fängt sie bei uns erst an. Das kann man wohl am besten dem umstand entnehmen, daß das meistbewunderte zimmer in der Rotunde auch das einfachste ist. Ein schlafzimmer mit bad, für den bestimmt, der es selbst entworfen hat. Ich glaube, daß dies vielleicht den stärksten reiz für die sich stauenden beschauer bildet. Das zimmer übt den ganzen zauber des individuellen und persönlichen aus. Niemand anderer könnte darin wohnen, niemand anderer könnte es so voll und ganz auswohnen, erwohnen, wie der besitzer selber. Otto Wagner.

Hofrat Exner hat das zimmer sofort für die pariser weltausstellung erworben, wo es die bestimmung haben wird, den parisern vorzutäuschen, die wiener schliefen und badeten alle so. Unter uns können wir uns ja eingestehen, daß wir noch nicht so weit sind. Aber dieses zimmer wird eine große umwandlung in unserem wohnungswesen hervorrufen. Denn, wie ich schon früher hervorgehoben habe, es gefällt den leuten. Das Österreichische Museum hat da durch seine weihnachtsausstellung glücklich vorgearbeitet. Man denke nur, die wiener finden jetzt sogar ein messingbett schön. Kein reiches, sondern das einfachste, das man sich denken kann. Und dabei hat der tapezierer nicht einmal den versuch gemacht, die messingstäbe durch stoffe zu verleugnen, wie es bisher immer gang und gäbe war. Messingbetten mußten nämlich immer „gefüttert“ werden. Eine glatte, grüngefärbte und polierte wandvertäfelung umgibt das zimmer, [46] in die hie und da wertvolle stiche eingelassen sind. Eine ottomane mit einem eisbärenfell, zwei messingnachtkästchen, zwei schränke und zwei kabinette, ein tisch, zwei fauteuils und einige sessel füllen den raum. Über der wandvertäfelung sind als wandverkleidung naturalistische kirschbaumzweige gestickt. Ebenso ist auch das velum über dem bette dekoriert. Der weißgetünchte plafond trägt im kreise angeordnete, an seidenschnüren hängende glühlampen. Die farbige wirkung, hervorgerufen durch das grüne holz, das gelbe messing, das weiße fell und die roten kirschen ist außerordentlich. Über die sessel des zimmers zu sprechen, behalte ich mir noch vor. Aber heute schon sei gesagt, daß der teppich unrichtig ist. Die rosenbeete, in denen wir früher umhersteigen mußten, haben wir gründlich abgetan. Ich glaube nicht, daß es angenehmer wirkt, durch den teppich die illusion erweckt zu bekommen, daß man über bloßgelegte baumwurzeln stolpern könnte. Der kirschbaum sendet nämlich seine wurzeln über den ganzen fußboden.

Ein juwel ist das bad. Die gesamte wandverkleidung, der fußbodenbelag, der ottomanenüberzug und die pölster bestehen aus jenem wolligen stoff, aus dem unsere bademäntel verfertigt werden. Er hat ein diskretes violettes muster erhalten, und das weiß, das violett und das silber der vernickelten möbel, der toilettengegenstände und der badewanne geben die farbenstimmung. Die badewanne besteht nämlich aus spiegelglas, das mit nickel montiert ist. Sogar die gläser auf dem waschtisch – facettenschliff – sind nach Wagnerschen zeichnungen ausgeführt. Natürlich auch die reizende toilettegarnitur.

Ich bin ein gegner jener richtung, die etwas besonders vorzügliches darin erblickt, daß ein gebäude bis [47] zur kohlenschaufel aus der hand eines architekten hervorgehe. Ich bin der meinung, daß dadurch das gebäude ein sehr langweiliges aussehen erhält. Alles charakteristische geht dabei verloren. Aber vor dem Otto Wagnerschen genius streiche ich die segel. Otto Wagner hat nämlich eine eigenschaft, die ich bisher nur bei einigen wenigen englischen und amerikanischen architekten gefunden habe: er kann aus seiner architektenhaut heraus und in eine beliebige handwerkerhaut hineinschlüpfen. Er macht ein wasserglas – da denkt er wie ein glasbläser, wie ein glasschleifer. Er macht ein messingbett – er denkt, er fühlt wie ein messingarbeiter. Alles übrige, sein ganzes großes architektonisches wissen und können hat er in der alten haut gelassen. Nur eines nimmt er überallhin mit: seine künstlerschaft.