Die Großmutter
[484] Die Großmutter. (Zu dem Bilde S. 469.) Der Maler Max Liebermann zahlt zu den entschiedensten Vertretern der modernen Richtung in der Malerei, die nichts als die Wahrheit, die wirkliche thatsächliche Wahrheit zur Darstellung bringen will, die allem Zurechtgemachten, Glatten, Einschmeichelnden abhold ist. Als er, fünfundzwanzigjährig, 1874 zum erstenmal in Berlin mit einem Bilde dieser Art auftrat, seinen „Gänserupferinnen“, da erkannte man wohl das hervorragende Talent, aber die häßlichen alten Weiber erregten schwere Mißbilligung. Seither haben sich die allgemeinen Anschauungen von Kunst etwas geändert: in Paris und Brüssel preist man Liebermann als einen der ersten Meister der Gegenwart, in München und Berlin haben ihm die Preisrichter Medaillen zugesprochen und eine große Schar von deutschen Künstlern und Kunstschriftstellern folgt seiner Fahne. Max Liebermann hat trotz der angedeuteten künstlerischen Ueberzeugung die Grenzen des Würdigen stets einzuhalten verstanden. Der Grundsatz der Wahrheit verwandelt sich bei ihm nicht in die Verpflichtung zum Schmutz. Er ist der Maler der Armen, der Mühseligen und Beladenen, des Dorflebens, wie sein großes französisches Vorbild, François Millet, mit dem ihn die Malerkolonie zu Barbison im Walde von Fontainebleau zusammengeführt hat. Als eine Probe der Liebermannschen Art legen wir heute unsern Lesern das Bild der alten Großmutter vor. Wohl fehlt ihm zur vollen Wirkung die Farbe, aber die Grundzüge der oben geschilderten künstlerischen Richtung lassen sich auch im Holzschnitt erkennen.