Die Groß-Industrie des Königreichs Sachsen in Wort und Bild. Erster Theil. Einleitung
In gewaltigem Ringen und Kämpfen ist die Industrie erstarkt und hat in den letzten Jahrzehnten einen wahrhaft großartigen Aufschwung genommen. Der menschliche Geist bändigte die mächtigsten Naturkräfte und zwang sie, der Industrie zu dienen. Die Fortschritte auf technischem, elektrischem und chemischem Gebiete, welche Deutschland nach dem letzten deutsch-französischen Kriege gemacht hat, sind wahrhaft staunenswert. Durch heiße Kämpfe gelangten die deutschen Stämme zur Einheit, und das Deutsche Reich war fast über Nacht eine imponierende Macht geworden; die deutsche Flagge zeigte sich in allen Meeren, dank einer Kriegsflotte, welche für den Schutz deutscher Interessen im Auslande genügende Garantien bot und dem deutschen Namen überall Achtung zu verschaffen wußte. – Zahlreiche Erfindungen spornten den Unternehmungsgeist an, neue Verkehrswege wurden erschlossen, und es entstanden großindustrielle Betriebe, welche Tausende von Arbeitern beschäftigten. Die Massenproduktion verdrängte die Hausindustrie, und deutsche Waren erschienen auf allen Weltmärkten, wo sie dank der deutschen Solidität bald ihren Platz behaupteten und ein Absatzgebiet nach dem andern eroberten.
Sachsen aber marschierte immer an der Spitze als ein Hauptindustrieland der Welt; sind doch 650 000 erwachsene und erwerbsfähige Einwohner im Dienste der Industrie und nur 300 000 im Dienste der Landwirtschaft bei einer Gesammtbevölkerung von 3 502 684 beschäftigt. Ein dichtes Netz von Eisenbahnen, Telegraphen- und Fernsprechdrähten überzieht das herrliche Land, welches anerkannt die besten Straßen besitzt; der schöne Elbstrom trägt unzählige Schiffe und Flöße im Dienste des Handels und der Industrie, und es gibt wohl kein Land der Welt, in dem nicht die Erzeugnisse sächsischen Kunst- und Gewerbefleißes gekauft oder eingetauscht werden. – Überwiegend ist in Sachsen die Textil-Industrie: darin bestehen Etablissements mit einem Jahresumsatz von je 5 bis 7 Millionen Mark. Die sächsische Industrie ist uralt. Schon im Mittelalter blühte die Leinwand- und Tuchweberei, vornehmlich in einigen lausitzer Sechsstädten, daneben aber auch das Braugewerbe, und gewisse sächsische Biere hatten schon zu jener Zeit einen Weltruf. – Später wurde die Seidenweberei auch in Sachsen eingeführt und bald darauf auch die Baumwollenweberei; letztere nimmt gegenwärtig in Sachsen den ersten Platz ein. Die Textil-Industrie Sachsens überhaupt hat den Hauptsitz in der Amtshauptmannschaft Zwickau. Dort ist ja genügend Kohle vorhanden, welche, in Wärme resp. Dampf umgewandelt, die Kraft für die zahllosen Maschinen der Groß-Industrie liefert. Aber auch in den großen dichtbevölkerten Dörfern der Südlausitz finden wir großartige mechanische Webereien, Färbereien, Appretur-Anstalten und seit mehreren Jahren auch Spinnereien. Die meisten dieser Fabriken entstanden nach dem Bau der südlausitzer Bahn anfangs der 70er Jahre; bis dahin herrschte in der Lausitz die Handweberei, welche heute nur noch etwa 5000 Stühle beschäftigt. – Strickerei- und Wirkerei, Häkelei, Stickerei- und Spitzenfabrikation einschließlich Klöppelei folgen. Für die Leinen-Industrie ist die Lausitz Hauptsitz, doch steht dieselbe nicht mehr in Blüte. Berühmt ist auch die Großschönauer Damastweberei; baumwollene Musseline- und Weißstickerei wird hauptsächlich im Vogtlande betrieben, Strumpfwirkerei in Chemnitz und Umgegend, Bandfabrikation in der Pulsnitzer Gegend. Tuch und Buckskin wird zu Großenhain, Camenz und Bischofswerda erzeugt, aber auch in Oschatz, Oederan, Kirchberg und Werdau. Wo kennt man nicht die wollene Flanelle von Hainichen, die baumwollenen Flanelle von Ebersbach, die Herrnhuter Leinen und die baumwollenen Rock- und Hosenstoffe von Alt- und Neugersdorf, Leutersdorf etc. die wollenen und halbwollenen Kleiderstoffe von Chemnitz, Glauchau, Meerane, Reichenbach, Zittau, Reichenau, die wollenen Strumpfwaren von Limbach? – Die Textil-Industrie braucht aber viele und verschiedenartige Maschinen, die früher aus England bezogen werden mußten. Jetzt werden solche in Sachsen gebaut und vielfach exportiert, ein Beweis für die Güte des Materials und die Leistungsfähigkeit unserer Maschinen-Industrie überhaupt. – Auch die Papierfabrikation floriert in etwa 60 Fabriken, deren größte sich in Kriebstein, Penig und Bautzen befinden; künstliche Blumen fertigen Dresden, Leipzig, Sebnitz und Neustadt bei Stolpen. Die Cigarrenfabrikation wird auch viel in der Kreishauptmannschaft Leipzig betrieben, die Pianofortefabrikation in Leipzig und Dresden. Das Erzgebirge ist berühmt durch seine Spielwarenfabrikation, Glashütte durch die Uhrenfabrikation, Markneukirchen und Klingenthal bauen gesuchte musikalische Instrumente. Der Maschinenbau ist am stärksten in Chemnitz entwickelt. Auch der Glasfabriken bei Dresden, Radeberg, Bischofswerda, Zwickau und Karlsfeld und der Thonwarenfabriken von Chemnitz, Zwickau, Meißen und Bautzen, sowie der Porzellanfabriken von Meißen und Zwickau ist zu gedenken, in über 750 Brauereien werden ca. 3 760 000 Hektoliter Bier hergestellt, Chemikalien werden in der Gegend von Leipzig und dortselbst erzeugt. Die Blechfabrikation finden wir in Dresden-Radeberg und Aue.
In der Verarbeitung von Wolle, Baumwolle und Flachs hat Sachsen die meisten Länder überflügelt. So ist z. B. die Herstellung von Kammgarn aus Wolle und dessen Verarbeitung zu Geweben auf eine ungewöhnliche [Ξ] Höhe gelangt. Die sächsische Kammgarnspinnereien mit ihren mustergiltigen Einrichtungen erzeugen Gespinnste von großer Feinheit, die außerordentlich stark begehrt sind; ähnlich ist es auch mit der Herstellung feiner Gespinnste und Webwaren aus Baumwolle. – Die Jutespinnereien und Webereien zu Meißen und Ostritz sind gut beschäftigt. Eine der jüngsten Industrien ist die neuerdings in der Lausitz schwunghaft betriebene Steinschleiferei, wie sie in den Neusalzaer, Taubenheimer, Oppacher, Löbauer und andern Syenit- und Granitwerken geübt wird. Bekannt ist auch schon seit Jahrhunderten die Jonsdorfer Mühlstein-Industrie.
Die Mac Kinley-Bill versetzte vor einigen Jahren gerade der sächsischen Industrie einen heftigen Schlag, vorzugsweise der Chemnitzer Gegend und der Lausitz. Viele Fabrikanten, bisher für den Export nach Nord-Amerika fast ausschließlich beschäftigt, waren genötigt, die betreffenden Artikel aufzugeben und sich auf neue zu werfen, wodurch natürlicherweise manche Branche der Textilindustrie vorübergehend geschädigt wurde. Trotzdem gelang es mancher sächsischen Firma, allerdings mit großer Anstrengung, durch Beschaffung neuer, leistungsfähiger Maschinen mit Erfolg, wenn auch mit verschwindendem Nutzen, ja oft ohne solchen, zu konkurrieren. In den letzten Jahren übte auch die durch südamerikanische Wirren hervorgerufene Unsicherheit einen lähmenden Einfluß auf die sächsische Industrie und nicht minder eine Reihe schlechter Ernten. Bei dem Erblühen der Groß-Industrie entstanden auch eine Reihe von Arbeiterschutzgesetzen mit der Wirkung, daß dem alten oder invaliden Arbeiter hinreichende Rente gesichert ist, um ihn vor bitterer Not zu schützen. Dies zusammen mit vorhandenen Kapitalien vieler Firmen zu gleichem Zweck sichert Manchem nun einen friedlichen Lebensabend. Die Lohnverhältnisse aber haben sich in den letzten 12 Jahren beinahe um 100 Prozent verbessert, während die Bevölkerung nur eine Zunahme von etwa 20 Prozent zu verzeichnen hat. Das Jahreseinkommen aus Lohn und Gehalt betrug im Jahre 1879 – 364 651 115 Mark, im Jahre 1891 hingegen 701 084 587 Mark. Werfen wir nun noch einen Blick auf die Dampfkraft, welche im Dienste der sächsischen Industrie steht, so finden wir im Jahre 1891 8078 stehende Dampfkessel mit 358 490 Quadratmeter Heizfläche und 8073 dergl. Dampfmaschinen mit 160 772 durchschnittlich ausgeübten Pferdestärken. Die Baulänge der sächsischen Staatsbahnen einschließlich erpachteter Strecken beträgt 2 594,35 Kilometer mit einem Bau- und Anlagekapital von 723 175 078 Mark.
Es gibt heute kaum einen nennenswerten Industrieort, der nicht in das Netz unserer Eisenbahnen einbezogen wäre. Auch sind viele Industrieorte an das Fernsprechnetz angeschlossen.
Wie die sächsische Großindustrie gegenwärtig, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, aussieht, soll das vorliegende Werk zeigen. Ein Vergleich desselben mit einem ähnlichen von Oeser in Neusalza in den 60er Jahren herausgegebenen Album zeigt den riesenhaften Fortschritt der sächsischen Industrie in anschaulichster Weise, mittels Wort und Bild. Damals kannte man noch keinen Lichtdruck und die Qualität des Papiers ließ viel zu wünschen übrig. Das Kunstgewerbe stand bei weitem nicht auf der hohen Stufe, wie gegenwärtig, die Photographie wandelte noch in den Kinderschuhen einher. –
Von jeher brachten die Mitglieder unseres erhabenen Herrscherhauses der Industrie große Aufmerksamkeit entgegen und förderten dieselbe durch Gewährung von Prämien, sowie durch Verleihung von Auszeichnungen, welche den Geist immer zu neuen Erfindungen anspornten und dadurch der sächsischen Industrie mit zu Glanz und Erfolgen verhalfen. Alljährlich werden eine Anzahl industrieller Etablissements der Ehre eines Allerhöchsten Besuches gewürdigt.
Eine Reihe von der königl. Regierung unterstützte Fachschulen bildet die Industrielehrlinge heran.
Der Export-Verein für das Königreich Sachsen vermittelt seit Jahren mit Erfolg Aufträge für unsere Industrie und sendet alljährlich Weltreisende hinaus, um neue Verbindungen anzuknüpfen.
Die sächsische Industrie wird im nächsten Jahre auf der Weltausstellung zu Chicago wiederum Gelegenheit haben, ihre Kräfte zu messen, und schon heute steht fest, daß verschiedene Industriegruppen dort in geradezu großartiger Weise vertreten sein werden.
Da gewiß anzunehmen ist, daß nach Chicago die Einkäufer aller Weltteile kommen werden, um neue Artikel zu sehen und zu kaufen, so wird auch Sachsen hier, wie überall, den Weltmarkt siegreich behaupten, und die Aussteller werden ohne Zweifel zufriedenstellende Resultate erzielen, neue Absatzgebiete erobern und dadurch neue lohnende Arbeit ins Land bringen.