Textdaten
Autor: Hieronymus Lorm
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Titel: Die Geheimräthin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44–50
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[725]

Die Geheimräthin.

Novelle von Hieronymus Lorm.
1.

Die Stadt hat sich außerordentlich verändert, dachte Herr von Perser, als er in einer Droschke, die er nach seiner Ankunft am Bahnhofe bestiegen hatte, durch ihm fremde, neu errichtete Straßen fuhr. Im Wagen hatte der Reisende einen leicht tragbaren Handkoffer auf dem Sitz gegenüber, und auf den Knieen einen Plaid, den er beim Frost eines früh dämmernden Herbstnachmittags um so fester an sich zog, je weniger dicht sein Oberkleid erschien.

Fünfundzwanzig Jahre! fuhr er in seinen Gedanken fort, die silberne Hochzeit meiner ersten Trennung von dieser alten geliebten Stadt oder meiner ersten Begegnung mit dem schrecklichen Paris. Nie wieder dahin! Das ist eine Zeit, daß nicht bloß die Weltgeschichte, daß auch gewöhnliche Bauleute schon etwas aufführen können. Ich hoffe aber, sie haben mir das alte Gebäude unangetastet stehen lassen; es hat immer so fest und stattlich ausgesehen, wie für Jahrhunderte gebaut.

Die Droschke bog jetzt in Straßen ein, deren er sich wohl zu erinnern vermochte; ja er wollte sogar hier und da einen Laden wiedererkennen, wie er ihn in seiner Jugend gesehen hatte. Dies überkam ihn wohlthuend wie eine Illusion, als ob noch vieles Andere unverändert geblieben sein müßte, unbeschadet freilich des Hinschwindens seiner eigenen Jünglingstage. Unveränderlichkeit ist oft ein so großes Uebel, Menschen und Dingen gegenüber, die man um jeden Preis anders haben möchte; wenn aber die Unveränderlichkeit an sonst gleichgültigen und nur lange nicht gesehenen Gegenständen hervortritt, dann schöpft man die Hoffnung, auch was schon längst verloren gegeben ist, müsse sich plötzlich wiederfinden lassen.

Er hielt vor dem alten Gebäude still, welches das Ziel seiner Fahrt war. Da er nicht sogleich abstieg, trat der Kutscher an den Wagenschlag. Herr von Perser zog, noch immer sitzen bleibend, sein Geldtäschchen und reichte absichtlich ein Zehnmarkstück hin in der Voraussetzung, daß der Kutscher nicht werde wechseln können. Das war richtig und Herr von Perser sagte:

„Rufen Sie ’mal den Hausmann hier; es ist ja sonst nichts in der Straße, kein Verkaufsladen."

In der That, die große breite Straße war den ganzen Tag über wie ausgestorben, und auf jener Strecke, zu der das alte Gebäude gehörte, befand sich nicht einmal ein Gassengeschäft. Man hätte glauben können, in diesen Häusern müßten lauter vom Schicksal vergessene Menschen wohnen, weil es rings umher stets so still war und das Schicksal doch immer die Gestalt vielbewegter Menschen und vielbeweglicher Sachen annimmt. Die Stimme Herrn von Perser’s war wegen dieser Stille auch viel vernehmbarer, als er beabsichtigte.

„Ach nee!" schallte eine Frauenstimme zurück, „was geht denn das uns an?"

Die Stimme gehörte der Hausmannsfrau selbst, die unbemerkt im Schatten der Einfahrt [726] gestanden hatte. Das war ein Zufall, der dem Wunsch des Reisenden völlig entgegenkam. Er verließ den Wagen, den Plaid auf den Schultern, den Koffer in der Hand, und gab der Frau das Goldstück mit den Worten:

„Sie sollen eine Mark für Ihre Bemühung haben.“

Die Frau verschwand im finstern Eingang; Herr von Perser folgte ihr bis in die höhlenartige Pförtnerwohnung, wo das nöthige Kleingeld sogleich beisammen war. Er ließ durch die Frau den Kutscher befriedigen und behielt die übrigen Münzen in der Hand, was den Anschein hatte, als ob er sie nach und nach an eine Schar Kinder zu vertheilen Lust hätte, die vom Spielen im Hofe abgelassen hatte, um den fremden Mann anzustarren.

Wahrscheinlich traute ihm auch die rückkehrende Frau solche Großmuth zu; denn die essigscharfen Züge ihres Gesichtes milderten sich, als sie die Frage beantwortete, wie lange sie schon in diesem Hause bedienstet sei.

Herr von Perser kannte kaum eine höhere Lebensklugheit, als unerwartete Freigebigkeit gegen untergeordnete Leute. Diese Tugend hatte ihm oft schon mit verhältnißmäßig geringen Kosten Vortheile gebracht, welche Andere mit großem Aufwand kaum erschwingen konnten. Jetzt beschäftigte er sich, immer in der Haltung, als ob er sich entfernen wollte, mit den Kindern, fragte sie, betheilte sie, brachte sie zum Lachen und wendete sich dann erst wieder der Frau zu mit der Bitte, ihm zu sagen, ob das Haus noch immer das Eigenthum des ostpreußischen Gutsbesitzers von Tartarow sei.

Der Name war der Frau ganz unbekannt; aber sie begann eine Erzählung von dem neuen Eigenthümer und rückte dabei ihrem Besucher einen Stuhl zurecht. Herr von Perser ließ sich nieder und hörte eine Weile zu, bis er gewiß war, daß die Mittheilungen der Frau nichts enthielten, was mit seinen eigenen Interessen eine Berührung hatte. So unterbrach er denn ihren Redestrom: „Die Familie Tartarow, der noch vor fünfundzwanzig Jahren das Haus gehörte, hat die zweite Etage des Vorderhauses bewohnt. Wer wohnt jetzt in dieser Etage?“

„Die verwittwete Geheimräthin,“ erwiederte die Frau und suchte, als Perser den Namen wissen wollte, nach einer Tafel, die eigentlich im Hausflur hätte hängen sollen und auf welcher die Bewohner der verschiedenen Etagen verzeichnet waren. Perser las den Namen: „Geheimräthin Brigitta Forstjung“ und versank in Nachdenken. Der Name war ihm ganz fremd, und sein Nachdenken bezog sich eben auf die Möglichkeit, in der ihm gewordenen Mittheilung einen Anhaltspunkt für sein Vorhaben zu finden.

„Brigitta!“ sagte er zu sich selbst und wußte nicht, ob dieser Frauenname schon in sein Leben eingegriffen hatte oder nicht. Es war aber thöricht, über einen Namen zu grübeln, der so verbreitet ist, und er entschloß sich endlich, rund heraus zu fragen, ob die Geheimräthin, die, wie die Frau gesagt, kinderlos war, die nach seiner Erinnerung sehr geräumige Wohnung ganz allein innehabe oder ob sie vielleicht Zimmer vermiethe oder zu vermiethen geneigt wäre.

„Ja,“ erwiederte die Hausmannsfrau, „es ist einmal davon die Rede gewesen; es läßt sich ja ein schönes Stück des Quartiers ganz von den vorderen Zimmern abtrennen. Die Geheimräthin ist aber nicht darauf angewiesen und hat darum keinen Zettel herausgehängt. Sie wartet, daß eine Person, die ihr paßt, von selbst kommt.“

Herr von Perser richtete sich hoch auf; sein Freiherrntitel fiel ihm ein, und Etwas sprach in seinen Gedanken dafür, daß damit das Passende schon gefunden sein müsse. Dennoch sank sein Haupt wieder und Schatten flogen über seine Stirn. Wieder kam er nach einigem Besinnen darauf zurück, ob denn aus der Zeit, da er selbst in diesem Hause gewohnt hatte, Niemand mehr am Leben wäre.

„Warten Sie,“ rief die Frau lebhaft, „ich weiß schon Einen. Haben Sie noch den Trödler gekannt, der bis vor fünf Jahren an der Ecke der langen Straße einen Laden gehalten hat? Man hat gesagt, er wär’ älter als das Haus. Er ist wirklich ein ganz zusammengeschrumpfter, uralter böser Geist. Ich weiß, daß er seit Ewigkeit den Laden gehalten und dabei immer hier im Hinterhause gewohnt hat, zwei Treppen hoch. Wie heißt er nur?“

Die Frau kramte in einer Schublade, in der sich verschiedene alte und beschmutzte Papiere befanden, und einen Streifen hervorziehend, fuhr sie fort: „Jetzt hat der Inspektor das Hinterhaus selbst zu versehen. Wir haben aber noch hier alle Miethsleute aufgeschrieben. Da steht es, wie er heißt.“

Perser las den Namen „Carmisoli“, und vor seiner Erinnerung tauchte ein Bild auf, welches selbst durch das Schwatzen der Frau nicht zerstört werden konnte.

„Wie ich Ihnen sage,“ sprach sie eifrig weiter; „vor fünf Jahren hat er den Laden aufgegeben, aber nicht das Geschäft und auch nicht seine Wohnung. Der muß sein Glück gemacht haben; denn früher hatte er da oben nur zwei Stuben und eine Küche. Jetzt hat er das ganze Stockwerk, es sind acht Zimmer. Alle sind voll von seinem Trödel. Es kommen aber auch vornehme Leute zu ihm, oft Damen in der Equipage, die dann oft eine Stunde vor dem Hause warten muß.“

„Ich erinnere mich sehr wohl,“ fiel Perser ein, der nicht widerstehen konnte, den Gedanken, die plötzlich seine Seele bewegten, lauten Ausdruck zu geben; „ich erinnere mich sehr wohl des Ladens, habe oft lange hineingeschaut auf den bunten Kram, wollte immer etwas kaufen und bin niemals dazu gekommen, weil ich niemals etwas gesehen habe, was ich hätte brauchen können. Und Sie glauben, meine gute Frau, daß Carmisoli über die früheren Bewohner des Hauses Auskunft geben könnte?“

Sie bejahte; er ließ Koffer und Plaid in ihrer Verwahrung und machte sich auf den Weg, den Trödler im Hinterhause aufzusuchen.




2.

Ludwig von Perser stammte aus einem freiherrlichen Geschlecht der Rheinprovinz. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte er die Universität der Hauptstadt besucht und in diesem Hause bei der seinem Vater befreundeten Familie des ostpreußischen Gutsbesitzers von Tartarow gewohnt. Damals war er nahe dran gewesen, sich mit einer englischen Dame, die aber von ihrer Kindheit an in Deutschland erzogen worden, mit einer Miß Isabel Glowerstone zu verloben. Der frühe Tod seines Vaters, welcher ein weit geringeres Vermögen zurückgelassen, als man zu erwarten berechtigt gewesen, hatte die Partie zerschlagen, und eine Zeit lang waren deßhalb fast tragische Entschlüsse im Busen des jungen Mannes aufgestiegen.

Allein er war mit seinem noch immer nicht unbedeutenden Erbtheil nach Paris gegangen, wo er seit fünfundzwanzig Jahren ununterbrochen gelebt hatte. Das Leben, das er geführt, war nicht gerade ein verschwenderisches gewesen, schon weil die Erinnerung an Miß Isabel niemals die Lust zu rauschenden Freuden recht hatte in ihm aufkommen lassen, eben so wenig wie die Möglichkeit, sich zu verheirathen. Dennoch sah er zuletzt sein Vermögen auf eine Weise reducirt, daß er nur noch hoffen konnte, unter befreundeten Menschen in Deutschland eine auskömmliche Existenz zu finden. Dabei war sein erster Gedanke die Familie Tartarow gewesen.

Was war aus den Tartarow’schen Mädchen geworden? Mit der jüngsten, die bei seinem Scheiden noch ein Kind war, hatte er sich nicht abgegeben, aber der damals zwanzigjährigen Johanna mußte er jetzt lebhaft gedenken.

Niemand war mehr in dem alten Gebäude vorhanden, der ihm über die ehemaligen Bewohner hätte Auskunft geben können, Niemand, als nach der Aussage der Hausmannsfrau der alte Trödler von der Straßenecke, Carmisoli, zu dem er jetzt die zwei Treppen hinanstieg.

Er zog die Klingel. Ein kleiner Bursche öffnete ihm und Perser trat in ein unerleuchtetes Vorgemach. Noch hatte er nicht gesprochen, als eine alte Person, der man die Köchin auf den ersten Blick ansah, mit einer Lampe in der Hand die Thür eines inneren Raumes öffnete. Jetzt konnte Perser gewahren, daß der kleine Bursche seltsam ausstaffirt war, halb wie ein Reitknecht, halb wie ein Page, nicht anders, als ob er selbst [727] zum Trödelwerk gehörte und zwischen Porcellanfigürchen aufzustellen gewesen wäre. Außerdem saß ein Livreebedienter wartend im Vorgemach.

Auf die Frage der Köchin nach seinem Begehr wollte Perser einfach weiterschreiten, wie man in einen Verkaufsladen sich begiebt. Allein die Köchin gestattete ihm dies nicht: sie verlangte, seinen Namen zu wissen. Er zog seine Visitenkarte. Der Bursche nahm sie und verschwand.

Perser ging ungeduldig hin und her, nachdem die Köchin die Lampe auf einen Tisch gestellt und sich entfernt hatte. Wieder war es ein Gemisch von Stolz und Demuth, was sich der Seele des Barons bemächtigte; wie schon kurz vorher bei der Hausmannsfrau, als er seines Ranges gedacht, drückte sich ein hochfahrendes Selbstbewußtsein in seinen Zügen aus und machte bald wieder einer tiefen Niedergeschlagenheit Platz.

Der kleine Junge kehrte mit der Meldung zurück, der Herr Baron müsse eine halbe Stunde warten oder ein anderes Mal kommen. Es entsprach dem Gefühle der Demuth, welches ihn überkommen hatte, daß Perser sich zum Warten entschloß. Kaum gönnte er dem seltsamen Umstand, daß hier die Form der Meldung wie bei einer angesehenen Herrschaft zu walten schien, während es sich doch nur um den Eintritt bei einem alten Ladenbesitzer handelte, einen flüchtigen Gedanken. Der schwere Druck der Nothwendigkeit nahm seine Seele ein und führte seine Vorstellungen, ohne daß er es wollte, auf die Thatsachen zurück, die er in diesem Hause erlebt und die ihn vor fünfundzwanzig Jahren daraus vertrieben hatten.

Mit dem eigentlich interessanten Mittelpunkt der Familie von Tartarow, mit Johanna, hatte er nur in geringem, ganz äußerlichem Verkehr gestanden. War er doch damals in der Lage gewesen, das einzige Erlebniß, welches ihn jemals zur Thatkraft und Leidenschaft aufgeregt hatte, mit ganzer Kraft der Seele festzuhalten: die so früh gescheiterte Beziehung zu Miß Isabel Glowerstone, jetzt ein längst verschmerzter Verlust, damals die Hoffnung auf ein ganzes, volles Lebensglück. Allerdings hatte ihn im letzten Jahre seines Aufenthaltes der Gang der Dinge in ein sonderbares Verhältniß zu Johanna gebracht, welches jedoch nur von kurzer Dauer war und an dessen Verlauf er nicht gerade mit Selbstbefriedigung zurückdachte, wenn er sich auch den Gedanken daran stets aus dem Kopfe geschlagen hatte, um so mehr, als nichts geschehen war, was thatsächlich in sein Leben eingegriffen hätte.

Endlich wurde eine zum inneren Raume dieses seltsamen Trödlerladens führende Thür geöffnet, und eine Dame, vornehm gekleidet, rauschte durch das Vorgemach. Der Bediente, der in der Ecke gewartet, war aufgesprungen, und die Köchin eilte herbei, um der Dame die Ausgangsthür zu öffnen. Der Bediente folgte, und Perser glaubte, daß er lange genug bei einem Trödler antichambrirt hätte, und wollte sich ohne Weiteres in das Innere der Wohnung begeben. Die Köchin faßte ihn jedoch beim Rocke und erklärte kurz, daß er entweder fortgehen oder noch warten müsse.

„Ich werde mir doch den Weg in den Verkaufsladen eines Trödlers freimachen können,“ rief Perser mehr lachend als ärgerlich.

„Da müßte ich nicht die Katharine Plunz sein,“ erwiderte die Frauensperson und sah ihm scharf und drohend ins Gesicht.

Perser senkte das Haupt mit derselben Niedergeschlagenheit, die ihn heute schon oft überkommen, und ließ sich wieder auf den Stuhl nieder.

Sind einmal längst vergangene Tage durch irgend einen Umstand wieder in Erinnerung gebracht worden, so treten auch Personen wieder ins Gedächtniß, die man bisher gänzlich vergessen hatte. So tauchte jetzt vor Perser mit der Gestalt seiner Jugendgeliebten, Miß Isabel Glowerstone, auch die ihres Vetters Albert auf.

Miß Isabel hatte zum Hause des Sir Robert Glowerstone gehört, ihres Oheims, der einen beträchtlichen Theil seines Vermögens politischen Zwecken geopfert hatte und deßhalb mit dem Rest nach dem Kontinent gegangen war. Von der Geliebten wußte Perser nur so viel, daß sie, nachdem die Verbindung mit ihm gescheitert, nach England zurückgekehrt und Hofdame einer Prinzessin geworden war. Erst vor wenigen Jahren hatte sie einen steinalten und steinreichen Franzosen, einen Grafen Surville, geheirathet, und sie sollte gegenwärtig nach dem Tode ihres Gatten auf einem Gut in den Pyrenäen, ihrem Wittwensitz, leben.

Diese Thatsachen hatte Perser in Paris durch einen Brief des Sohnes von Sir Robert, Albert Glowerstone, erfahren. Die Gestalt dieses Mannes war eben jetzt plötzlich in der Erinnerung Perser’s aufgetaucht. Albert hatte auf der Universität dieser deutschen Stadt Philosophie studirt und war eben so oft zu Perser in das Haus der Tartarow’s gekommen, wie dieser in das Haus Sir Robert’s. Nach der Lösung des Verhältnisses zu Miß Isabel hatte Perser auch den Umgang mit Albert bald abgebrochen; denn ein hinter eleganten Manieren mehr und mehr hervorgetretenes Schmarotzerthum, welches die Börse Perser’s unverhältnißmäßig in Anspruch genommen, hatte ihn bewogen, die Gesellschaft des Halbengländers immer deutlicher abzulehnen. Von seinen fernern Schicksalen wußte Perser nur, daß Albert später eine junge Dame geheirathet, die ihm ein kleines Besitzthum am Rhein zugebracht hatte, wo er jetzt noch als Wittwer und Vater eines Mädchens lebte.

Die Thür ging wieder auf; der kleine, seltsam kostümirte Bursche erschien, wie um den Vortritt zu leisten, und ihm folgte ein elegant gekleideter Mann von etwa sechsundzwanzig Jahren, der noch einige Worte in die inneren Gemächer zurücksprach, wahrscheinlich zu dem Trödler, der ihn bis an die Schwelle des Vorgemachs begleitet haben mochte. Der junge Mann warf einen flüchtigen Blick auf Perser, während die Köchin herbeistürzte, um den Ueberzieher zu reichen, wobei sie fast ununterbrochen den Titel „Herr Legationsrath“ im Munde führte. Nach der Entfernung desselben fragte Perser mit ironischem Lachen, ob er sich jetzt des Eintritts unterfangen dürfe, was der kleine Bursche mit einer Handbewegnng, die nach innen wies, beantwortete.

Perser fand im ersten Gemache, welches von einer herabhängenden Ampel nur wenig erleuchtet war, eine Gestalt, die mit seiner Erinnerung an den Trödler nicht völlig übereinstimmcn wollte. Statt der aus verschiedenen Zeitepochen des vorigen Jahrhunderts zusammengefügten Kleidung trug der kleine alte Mann, der den Eintretenden mit stummer Verbeugung begrüßt hatte, die Salontracht eines Hofraths oder Diplomaten. Er war ganz in Schwarz gehüllt mit Ausnahme der hohen weißen Halsbinde, und sein mit vielen kleinen Falten bedecktes Antlitz wäre sogar ehrwürdig erschienen, wenn nicht eine stark hervortretende rothe Nase, an der ihn auch Perser wieder erkannt hatte, dem sonstigen Charakter der Züge Eintrag gethan hätte.

Carmisoli entschuldigte sich, daß er den Baron so lange hatte warten lassen. Er wäre, seit er den Gassenladen aufgegeben, nicht mehr in der Lage, beaufsichtigende Leute um sich zu haben, und könne bei den Schätzen, die hier aufgespeichert seien, einen Fremden nicht einlassen, so lange andere Personen anwesend wären. Freilich hätte das neue Lokal den Vortheil, vornehme Herren und Damen anzulocken.

Der Trödler kramte auch den Trödel seiner aristokratischen Beziehungen aus, nannte unter Anderen den Legationsrath Siegfried Malköhne, der eben von ihm gegangen war, und rühmte sich der Bestellungen von Seite adeliger Damen, unter denen er auch die Gräfin Surville nannte. Perser erfuhr dadurch zu seiner Ueberraschung, daß sie sich wieder in Deutschland aufhielt. Er entschuldigte sich seinerseits, daß er nicht gekommen war, um etwas zu kaufen, sondern um eine Erkundigung einzuziehen, und erwähnte der Familie von Tartarow mit dem Bemerken, daß wohl Niemand mehr als Herr Carmisoli, der schon vor einem Menschenalter das Haus bewohnt, über den ehemaligen Besitzer desselben würde Auskunft geben können.

„Von den Tartarow’s,“ erwiederte der Trödler, „sind alle verschwunden, begraben; einige leben freilich noch in der Provinz; aber warten Sie, neulich war die Geheimräthin Forstjung in meiner Galerie, und es ist mir aufgefallen, daß sie sich im Gespräch mit einer andern Dame eine geborne von Tartarow genannt hat. Das fällt mir erst jetzt wieder ein. Die Geheimräthin bewohnt im Vorderhaus die zweite Etage. Sie ist Wittwe.“




[728]
3.

Das war Alles, was Perser wissen wollte, und war mehr, als er gehofft hatte. Er eilte rasch die Treppe hinab und begab sich nach dem Vorderhaus, um trotz der Stunde, die inzwischen eine späte geworden war, den Versuch zu machen, bei der Geheimräthin vorzukommen. Was blieb ihm auch übrig? Mit tiefer Beklommenheit gestand er sich, daß diese Momente, in welchen er aufs Gerathewohl eine neue Lebenslage aufsuchte, die bittersten waren, die ihm sein Schicksal bisher bereitet hatte. Es ist noch immer weniger grausam, das Letzte auf eine Karte setzen zu müssen, als alle seine Hoffnungen Zufällen anzuvertrauen, von denen man nicht einmal weiß, ob sie überhaupt eine Karte sind, die im günstigen Falle Gewinn bringen kann.

Bei der Geheimräthin Forstjung war eben Damenkaffee gewesen, und als sich Perser mit Abgabe seiner Karte melden ließ, befand er sich in einem Vorsaal, der von Frauen und Mädchen, die ihre Straßenkleider wieder angezogen hatten, ganz erfüllt war. Erst, als die letzte Dame verschwunden war, wurde er gebeten, einzutreten. Man öffnete ihm ein kleines Gemach, dessen zurückgeschobene Portière auf der entgegengesetzten Seite den Blick in den großen Salon gewährte, den die Gesellschaft soeben verlassen hatte. Offenbar war es nur dieser Umstand, der ihm das Boudoir erschloß; man wollte einen fremden Besuch nicht in den augenblicklich unwirthlich gewordenen Räumen empfangen, in welchen das fröhliche Treiben der jungen Mädchen Alles in Unordnung gebracht hatte. Perser war kaum einige Minuten allein geblieben, als die Geheimräthin an der Schwelle erschien, eine hohe, stattliche Frau, die seinen Gruß stumm und kalt erwiederte. Der Baron sah, daß die Gestalt einer Juno ein Antlitz trug, an welchem die blühende Jugend bereits vorübergegangen war, ohne jedoch ihr Scheiden allzuschwer empfinden zu lassen. Die Züge waren überaus gewinnend und verführten, der Dame kaum mehr als dreißig Jahre zu geben, während sie in Wahrheit schon über das fünfunddreißigste Lebensjahr hinaus war.

„Ich wünschte ein alter Bekannter zu sein,“ sagte Perser bei seiner ersten Verbeugung, „bin aber leider nicht sicher, ob ich dies wirklich bin. Ich komme nur in der Voraussetzung, mit dem [729] Mitglied einer Familie zu sprechen, die mir vor vielen Jahren nahe befreundet war.“

„Ich bin eine geborne von Tartarow,“ erwiederte die Geheimräthin, die steif aufrecht stehen blieb und keine Miene machte, den Baron zum Sitzen einzuladen.

„Ich weiß nicht, ob das ein Grund ist, daß ich meinen Namen als bekannt annehmen darf,“ sprach der Baron, sich von Neuem verbeugend.

„Ich würde Sie sonst um diese Stunde nicht mehr empfangen haben,“ erwiederte die Geheimräthin; „man kann aber einen langgehegten Vorsatz nur ausführen, wenn man jede noch so unerwartete Gelegenheit dazu ergreift.“

Als der Baron diese ihm räthselhaft klingenden Worte nicht erwiedern konnte, setzte die Dame hinzu:

„Ist Ihr Gedächtniß so stark, wie angeblich Ihre Freundschaft für das Haus Tartarow, so müssen Sie wissen, wer vor Ihnen steht.“

Perser erinnerte sich, daß er an diesem Nachmittag bei der Hausmannsfrau den Vornamen der Geheimräthin gelesen und sich vergebens besonnen hatte, in welcher Weise dieser Name in sein Leben eingegriffen hätte. Er konnte jetzt nichts Besseres thun, als ihn aussprechen, womit eine scheinbare Probe seines Gedächtnisses gegeben war.

„Brigitta!“ sagte er daher mit gefühlvollem Ausdruck.

„Sie erinnern sich also?“ rief die Geheimräthin etwas lebhafter; „das kleine Mädchen, das Ihnen niemals sehr hold war, ist Ihnen nicht ganz entfallen?“

Jetzt erst schoß es wie ein Blitz durch die Seele Perser’s.

„Die Schwester Johanna’s!“ sprach er mit Lächeln; denn er war entzückt von der Erinnerung, die ihm so plötzlich zu Hilfe gekommen war.

„Mein Vorsatz aber, den ich seit vielen Jahren, seit dem Tode Johanna’s, im Herzen hegte, ist: demjenigen, der meiner edlen, geliebten Schwester ein Unrecht zugefügt hat, meine Bitterkeit, meinen Zorn nicht zu verschweigen.“

Jetzt erst winkte sie Perser, sich niederzulassen, und nahm vor ihm Platz, um die Erklärung zu geben.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 45, S. 741–746
Novelle – Teil 2

[741] Johanna starb vor fünfzehn Jahren, als ich schon verheirathet war,“ begann die Geheimräthin, nachdem Perser sich niedergelassen hatte. „Erst kurz vor ihrem Tode hat sie mir das Geheimniß offenbart, an welchem sie schwer getragen und welches verschuldet hat, daß sie nicht als Frau gestorben ist, ja vielleicht, daß sie überhaupt so früh hat dahingehen müssen. Nachdem ich Wittwe geworden, auch meine Eltern nicht mehr lebten und dieses Haus längst in fremdes Eigenthum übergegangen war, erfaßte mich ein unbezähmbares Verlangen, wieder in der ehemaligen Wohnung der Meinen zu leben."

„Wie segne ich diesen Entschluß,“ konnte sich Perser nicht enthalten, sie zu unterbrechen, „ich bin dadurch veranlaßt worden, die alte Treppe wieder emporzusteigen, in diesen Räumen mich wieder umzusehen, wo ich allein in meinem ganzen armseligen Leben etwas empfunden habe, was man Glück nennen kann. Könnte ich Ihnen schildern, gnädige Frau, wie mir bloß durch das Bewußtsein, wieder hier zu sein, zu Muthe ist! Sie würden vielleicht die Vergangenheit todt und begraben sein lassen, um einem Menschen, der sich niemals seines Daseins hat freuen können, einen süßen Augenblick nicht in Gift zu verwandeln.

Es war nicht gerade Unwahrheit, aber doch eine Selbsttäuschung in dieser Bemerkung Perser’s. Seine Lage voll demüthigender Sorgen allein hatte ihn beschäftigt, als er über die Schwelle getreten, aber der Anblick dieser Frau ihm wirklich die Empfindungen ins Herz gebracht, die er eben äußerte. Er empfand sogar noch mehr, als er äußerte. Er sagte sich, daß diese Frau ihm den Eindruck einer wunderbaren Schönheit mache, die ihn um so mehr entzücken mußte, als sie eben die Reife hatte, daß er in seinem Alter von fünfzig Jahren diese Schönheit auf sich wirken lassen konnte, ohne sich lächerlich vorzukommen.

Brigitta Forstjung hatte ihn bei den stürmisch und zugleich elegisch vorgebrachten Berufungen auf seine unglückliche Vergangenheit und die Süßigkeit des Momentes mit Befremden und Aufmerksamkeit betrachtet, und es war, als ob sie ihm Zeit lassen wollte, Stimmungen und Gedanken, die sich seiner bemächtigt hatten, wie sein Anblick deutlich verrieth, zur Ruhe zu bringen; denn erst nach langem Schweigen sagte sie:

„Ich habe mich jahrelang mit dem Entschluß getragen, Sie zur Rede zu stellen, wenn ich Ihnen jemals wieder begegnete; ich habe mir im Geiste die Worte vorgesprochen, in die ich meine Vorwürfe und Beschuldigungen kleiden wollte. Man giebt nicht in einer Minute auf, was man eine Ewigkeit lang zu thun sich vorgesetzt hat. Wie war es Ihnen möglich?"

Er senkte das Haupt, erhob es aber gleich wieder und äußerte frisch und munter, daß man mit fünfzig Jahren von selbst gesühnt habe, was man mit fünfundzwanzig Jahren begangen haben mag.

„Uebrigens, Frau Geheimräthin,“ fügte er hinzu; „ich habe zwar immer nur mit einem dunklen Gefühl von Reue an [742] Johanna gedacht, aber ich weiß nicht mehr recht, was sich zugetragen hat; erzählen Sie mir meine Sünden.“

Joachim von Tartarow, ein sehr schlichter und wenig gebildeter Landedelmann, der mit seiner Familie erst seit einigen Jahren in der großen Stadt gelebt hatte, war sehr bekümmert gewesen, daß seine Tochter Johanna einen Freier hatte zurückweisen wollen, der sich erst hier eingefunden, zwar gewöhnlich in der Provinz gehaust hatte, aber nach der Meinung des alten Herrn ein ganz ausgezeichneter Mann von höchst vornehmen Manieren und umfassender Bildung gewesen wäre. Ja, der Vater hatte der Tochter anvertraut, der Freier sei in seinen freien Stunden bis zu der Schwärmerei sich aufzuschwingen fähig, Gedichte zu machen.

Johanna hatte ihn gleichwohl trocken, langweilig und ohne Verständniß für Kunst und Wissenschaft gefunden, jedoch die Möglichkeit eines Irrthums zugegeben, weil sie ihn noch zu wenig gekannt hatte. Er war nämlich bald, nachdem er seine erste Werbung vorgebracht, wieder nach seiner Provinz gegangen. Auffallend lange, nachdem er geschieden, war ein Brief von ihm gekommen, welchen Johanna mit großen Augen gelesen. Das Schreiben hatte sich in einer Ausdrucksweise bewegt und Gedanken enthalten, wohl geeignet, ein ideal gestimmtes Mädchenherz zu entzücken.

Rasch war Johanna an die Beantwortung gegangen, um nur wieder einen ähnlichen Brief zu erhalten. Dieser war auch abermals nach geraumer Zeit eingetroffen, und die Korrespondenz hatte sich einige Monate lang fortgesetzt, bis Johanna sich gestanden, daß, wenn ihr auch die Persönlichkeit nicht gefallen, Geist und Gemüth des Mannes keine abweisende Behandlung verdienten.

Da war eines Tages wieder ein Brief gekommen, eben so glänzend in der Ausdrucksweise und in den Gedanken, nur seltsamer Weise mit ganz anderen als den bisher gebrauchten Schriftzügen. Ein wenig Nachsinnen – und schreckliche Klarheit war dem Mädchen aufgegangen: sie hatte die ihr aus Briefen an ihren Vater wohl bekannte Handschrift Ludwig von Perser’s vor Augen.

Der unglückliche Freier war durch ein Versehen sein eigener Verräther geworden; er hatte statt seiner Kopie das ihm von Perser eingeschickte Original in das Kouvert gelegt.

Der Schlag war für das Mädchen um so empfindlicher gewesen, als eine stille, tief verhüllte Neigung für den jungen Baron lange schon von ihrem Herzen Besitz genommen, eine um so energischer bekämpfte Neigung, als dem jungen Mädchen nicht unbekannt geblieben, daß Perser’s ganze Seele mit einer schönen Engländerin beschäftigt gewesen. Der seltsame Freier war jetzt natürlich rund abgewiesen worden.

Als die Geheimräthin diese Geschichte vorgebracht, wurde Perser in anderer Richtung davon bewegt, als seine Anklägerin erwartete. Statt sich für schuldig zu erklären, sprach er nur mit den Gefühlsausbrüchen der angenehmsten Erinnerung vom Vater Johanna’s und Brigitta’s, von Joachim von Tartarow. Perser schilderte die große Verehrung und Liebe, die er für den alten Herrn gehegt, dessen Kummer über die fortdauernde Sprödigkeit seiner ältesten Tochter und dessen stets wiederholte Versicherung, daß sie an der Seite des Mannes, der eben um sie geworben, die glücklichste aller Frauen werden mußte, den damals so jungen und zu Abenteuern gestimmten Baron auch allein bewogen hatten, die Fälschung mit den Briefen einzuleiten und durchzuführen.

Bei der Schilderung des alten Herrn sowie der Vorkommnisse der damaligen Zeit wurde Perser in der That weich, und Brigitta konnte sich allmählich des großen Reizes nicht erwehren, den das Bild des eigenen Vaterhauses auf sie übte. Es war, als ob sie in der Darstellung Perser’s erst mit Bewußtsein erlebte, was an dem Kinde ohne dessen Verständniß vorüber gegangen war. Ein wehmüthiges und doch zugleich traulich anheimelndes Gefühl milderte die ablehnende Strenge, die sie bisher dem Verräther an ihrer Schwester entgegengesetzt hatte. Es geschah sogar, daß sie hellauf lachte, als er ihr einzelne Persönlichkeiten, die damals hier in denselben Räumen ein- und ausgegangen waren, in Erinnerung brachte.




4.

Unter diesen Erscheinungen war auch Albert Glowerstone, der schon im ersten Jahre, welches Perser im Kreise der Familie Tartarow verbracht, manchmal sein Gast gewesen war. Bei diesem Namen wurde Brigitta plötzlich ernst, suchte aber den Wechsel der Stimmung zu verbergen, auch veränderte sich dieselbe wieder, als Perser auf den Vater des Hauses zurückkehrte, auf den alten Joachim, dessen Wesen, Gewohnheiten und überschwängliche Herzensgüte der Sprechende mit so rührenden Farben ausmalte, daß die Tochter sich nun ungehemmt einer milden und sanften Regung überließ.

Dies benutzte Perser, um den bisher verschwiegenen Zweck seines Erscheinens zu enthüllen; er erwähnte der beiden Zimmer, die er damals bewohnt hatte, und fragte, ob es richtig wäre, daß die Geheimräthin geneigt sei, diesen Theil der Wohnung abzugeben.

Sie dachte einen Augenblick nach, ehe sie erwiederte:

„Ich habe Mühe, die Wandlung in mir selbst zu begreifen. Den Mann, dem ich so sehr gezürnt habe, soll ich hier aufnehmen? Ich will mich aber eines Gefühles von Pietät nicht schämen. Sie waren einst der Gast der Liebsten, die ich auf Erden besaß, Sie haben mir die ehrwürdige Gestalt meines Vaters vergegenwärtigt; Sie zeigten eine Verehrung und Liebe für ihn, die mir im Herzen wiederklingen – möge es denn sein!“

Sie erhob sich und zog an der Klingelschnur. Dann sagte sie:

„Die Verbindungsthür mit meiner Wohnung habe ich längst vermauern lassen. So bildet jener Theil, den Sie beziehen wollen, ein für sich ganz abgeschlossenes Quartier, das schon von der Treppe aus seinen besondern Eingang hat. Niemand kann wissen, daß Sie eigentlich bei mir wohnen.“

Die Kammerfrau trat ein, worauf die Geheimräthin fortfuhr: „Elise wird Sie mit allen Details bekannt machen. Ich habe die Räume nach modernem Geschmack einrichten lassen für den Fall, daß ich einen Miether fände, der mir konvenirt. Es ist nicht ganz der Fall“ – fügte sie mit einem Lächeln hinzu, um die Unfreundlichkeit des Wortes zu mildern – „aber besichtigen Sie die Zimmer, ob Sie darin den wünschenswerthen Komfort finden; Elise wird Ihnen alles Nötige sagen.“

Sie nickte zum Abschied, und Perser wollte sich nach einigen Worten des Dankes und einer Verbeugung entfernen, als sie, da er schon an der Thür war, seinen Namen rief. Sie sprach nicht sogleich, sie schien mit sich selbst zu kämpfen oder die Worte, die ihr auf den Lippen lagen, abzuwägen. Endlich sagte sie:

„Sie haben von Albert Glowerstone gesprochen. Sind Sie noch gegenwärtig mit ihm befreundet? Wissen Sie, wo er sich aufhält?“

Perser erwähnte kurz, was er vor etwa fünf Jahren aus einem Briefe Glowerstone’s vernommen hatte, daß dieser in nicht gerade glänzenden Verhältnissen als Wittwer und Vater einer Tochter am Rhein lebte.

„Ich selbst,“ setzte er hinzu, „habe ihn seit einem Vierteljahrhundert nicht wieder gesehen. Ach, man sollte einen solchen Ausdruck gar nicht im Munde führen, man macht sich dadurch so alt.“

„Albert Glowerstone hat also eine Tochter?“ rief Brigitta mit einer Art von Schrecken, sie faßte sich aber und sagte verabschiebend: „Es ist gut.“

Perser schied.

Er fand einen zum Behagen herabgestimmten Luxus in den beiden Gemächern und erschrak nur ein wenig über den Preis, den ihm die Kammerfrau nannte. Was thut’s? dachte er, ich muß mich auf die Lauer legen, irgendwo eine Geldquelle für mich ausfindig zu machen.

Als er am nächsten Vormittag, von einem zu diesem Zweck veranstalteten Streifzug in seine neue Wohnung zurückkehrend, in das Thor trat, hielt vor dem Hause ein elegantes Koupé, aus dem ein junger Mann heraussprang, in welchem Perser sogleich den Legationsrath Malköhne wieder erkannte. Das Koupé fuhr davon, nachdem der Besitzer dem Rosselenker ein Wort zugerufen, und der Legationsrath stieg dieselbe Treppe hinan wie Perser. In der zweiten Etage klingelte Malköhne an der Thür der Geheimräthin, und Perser fühlte den Neid, mit dem er einen Blick auf diese allem Anschein nach glückliche und behagliche [743] Existenz geworfen, bedeutend verstärkt durch die Ermächtigung des jungen Mannes, bei Brigitta einzutreten.

Siegfried Malköhne war etwa sechsundzwanzig Jahre alt und gehörte einer wegen ihrer Millionen allgemein bekannten Banquiersfamilie an. Diese war von jüdischer Abkunft, aber schon der Großvater des jetzigen Stammhalters zum Christenthum übergetreten. Der jüngste Sohn, Siegfried, der Liebling seines Vaters, war von Jugend an allen kaufmännischen Pflichten und Aufgaben entzogen und dazu bestimmt worden, die großen Konnexionen des reichen Hauses mit den hochgestellten Persönlichkeiten der Gesellschaft in vollem Maße zu verwerthen. So war er nicht nur ein vielgesuchter Gast in den vornehmen Kreisen, sondern hatte es auch nach kaum vollendeten Rechtsstudien zum Legationsrath im Ministerium des Aeußern gebracht. Von ihm sollte gewissermaßen, nach der Meinung seines Vaters, ein neuer Zweig der Familie ausgehen, ein Geschlecht, das von Hause aus allen Handelsgeschäften entfremdet wäre und seinen Anfang in der Politik, in der Diplomatie hätte. Zu diesem Zweck wurde Siegfried von seiner Familie gedrängt, das Schnupftuch auszuwerfen, wie man sagt, das heißt unter den schönsten und vornehmsten Töchtern des Landes zu wählen. Der Adel, den er noch nicht besaß, war kein Hinderniß, sich für seine Wahl in den Kreisen des Adels umzuschauen, denn der Reichthum, über den er verfügte, hätte ihm nicht nur, wenn er gewollt, den Adelsbrief verschafft, sondern ließ über den Mangel desselben Diejenigen hinwegsehen, welche ihn schon besaßen, wäre es auch seit ältester Zeit. Diese älteste Zeit wird in diesem Punkte gerade von der neuesten Zeit verlacht.

Niemand wußte sich zu erklären, weßhalb Siegfried Malköhne nicht schon längst gewählt hatte. Er war den Frauen freundlich gesinnt, und an Proben, daß auch sie es ihm waren, fehlte es keinen Tag. Die einzige Erklärung wäre der ungewöhnlich ernste Sinn des jungen Mannes gewesen, seine Neigung zur Wissenschaft, sein für seine jugendlichen Jahre fast zu gemessenes Verhalten. Allein er war andererseits ehrgeizig und wußte sehr wohl, daß ein verheiratheter Mann, der seine Salons der großen Welt öffnet, viel rascher Karrière macht als ein Junggeselle, besonders wenn jene Salons zugleich die ganze Pracht und allen Luxus einschließen, worauf unsere Zeit so begierig ist. Das Geheimniß seiner Zurückhaltung war nicht bloß die Befürchtung, seines großen Vermögens wegen geheirathet zu werden, obgleich sie ihn allerdings mit unablässigem Mißtrauen erfüllte. Das Geheimniß seiner Zurückhaltung war vornehmlich die verwittwete Geheimräthin Brigitta Forstjung. Er hatte die um zehn Jahre ältere Frau schon in seinem einundzwanzigsten Lebensjahre, also schon vor fünf Jahren kennen gelernt, als ihr Gatte noch gelebt, ein Beamter aus der Provinz und ganz nach dem problematischen Geschmack des verewigten Joachim von Tartarow. niemals war der Zauber, den gerade auf begabte Jünglinge eine ältere Frau übt, mächtiger gewesen, als bei der Begegnung Siegfried’s mit der Geheimräthin. Auch sie hatte sich sagen müssen, daß er ihre erste Liebe war, und so streng das Verhältniß bei Lebzeiten des Gatten in den Grenzen der Konvenienz geblieben – die Wittwe hatte wenigstens so weit ihrem Gefühle nachgeben müssen, daß sie täglich den Besuch des jungen Mannes empfing. Darin lag jetzt der ganze Reiz ihres Daseins, der Brennpunkt ihrer Gedanken, wenn sie sich auch äußerlich als eine vortreffliche Zeichnerin viel mit der Anfertigung von Portraits und Studienköpfen beschäftigte.

Es waren harmlose Besuche, die ihr Malköhne abstattete, so zu sagen, bei offenen Thüren. Brigitta’s ungewöhnlicher Verstand eignete sie sehr zur Vertrauten und selbst zur Rathgeberin bei Behandlung der zartesten Fäden, welche Politik und Diplomatie dem viel beschäftigten und aufstrebenden jungen Manne in die Hand spielten. Von ihrer beiderseitigen Zukunft wurde niemals gesprochen, mit dem leichten frohen Sinn der Jugend glaubte Siegfried, daß die gegenwärtige Situation, die ihn so ganz befriedigte, für immer erhalten werden könnte. Anders war es bei Brigitta; sie war nach Temperament und praktischer Denkungsweise nicht dazu angethan, mit ihrem Dasein in der Schwebe bleiben zu wollen. Insgeheim hatte sie sich einen Zeitpunkt bestimmt, in welchem es entweder zur Erfüllung ihrer heißesten Wünsche oder zu einem immerwährenden Bruch kommen sollte.

Der letztere kam ihr in Rücksicht auf den Unterschied der Jahre sehr wahrscheinlich vor. So wollte sie denn nur noch den ungefährlichen Verkehr, wenigstens bis zu der bestimmten Zeit, ohne Störung fortsetzen können. Es war ihr schon ein Glück, bis dahin an seine Anhänglichkeit, an seine ungeschworene Treue glauben zu können. Als aber das Drängen der Familie Malköhne in den jüngsten Sprößling, daß er endlich eine Wahl treffe, heftig genug wurde, um ihn selbst noch in Gegenwart Brigittas zu verstimmen, als er ihr, die nichts davon geahnt, sein Herz darüber ausschüttete, da wähnte sie, schon jetzt wäre der gefürchtete Augenblick des Bruches gekommen. Wie war sie überrascht und beseligt, als er zum ersten Male erklärte, sich in seinem Leben nicht von ihr trennen zu wollen! Vor der Welt, klagte er, könne der Bund noch nicht geschlossen werden, noch seien Kombinationen zu berücksichtigen, und nichts dürfe übers Knie gebrochen werden. Allein es würde ihm das Dasein schon ganz ausfüllen, wenn er der Neigung Brigitta’s für alle Zukunft gewiß sein könnte, worüber sie sich noch niemals ausgesprochen hätte.

Wie wäre es ihr möglich gewesen, diesem Geständniß, das sie zum ersten Male vernahm, nicht auch ihr eigenes, zum ersten Male offenbartes entgegenzubringen! Indessen folgte dem gewaltigen Sturm des Momentes wieder die frühere Besonnenheit und Ruhe. Sie sagten sich, daß sie glücklich in ihrem bisherigen Verkehr gewesen und daß sie an dem Frieden desselben nichts ändern wollten. Er vertraute ihr, wie bisher, die Angelegenheiten seines Amtes sowie die Erfahrungen, die er in Gesellschaftskreisen eingeheimst hatte, freute sich ihres Verständnisses in schwierigen Fällen und ihres Lachens, wenn er sich einer pikanten Medisance überließ. So waren wieder zwei Jahre dieses harmlosen Glückes hingegangen, als vor einigen Wochen der Geheimräthin zum ersten Male ein Umstand auffiel, der sie beunruhigte. Siegfried hatte von einer Bekanntschaft gesprochen, auf die er großes Gewicht gelegt und deren eigentliche Bedeutung er doch nicht anzugeben gewußt hatte. Ein Gutsbesitzer vom Rheine, der den Namen Albert Glowerstone führte, war nach der Hauptstadt gekommen, um beim Minister eine Begünstigung hinsichtlich der Arrondirung seines kleinen Besitzthums zu erlangen. Die Sache war ganz unbedeutend, bot kein geschäftliches Interesse und dennoch konnte Siegfried nicht müde werden, von den Einzelheiten dieser Sache zu sprechen, obgleich er mit Glowerstone, der übrigens bereits wieder abgereist war, niemals eine persönliche Begegnung gehabt hatte.

Dies wiederholte sich seit der ersten Erwähnung fast jeden Tag, und Brigitta, scharfsinnig und voll Angst im Bewußtsein, wie schwankend ihr Glück war, wenn sie den Unterschied der Jahre bedachte, kämpfte mit einem Heer von Zweifeln und Besorgnissen. Ein mächtiger Eindruck hatte unbestreitbar auf Siegfried gewirkt, und schon der Umstand, daß sie nicht über die Art desselben von ihm Klarheit erlangen konnte, verdarb ihr das gewohnte Glück. Dies war es auch, was sie im Gespräch mit Perser so stutzig gemacht, als dieser den Namen Glowerstone genannt, das war es, weßhalb sie sich nach einem inneren Kampfe entschlossen hatte, eine Frage über jenen Namen an Perser zu richten. Und sie hatte von ihm selbst eine Auskunft erhalten, die ihr Malköhne offenbar absichtlich verschwiegen: Albert Glowerstone besaß eine unverheirathete Tochter. Hatte sie ihren Vater nach der Hauptstadt begleitet oder sollte der Legationsrath von diesem Umstand wirklich keine Kenntniß haben? Das Letztere schien Brigitta zweifelhaft. Die instinktive Eifersucht, die Angst um ihr, wie sie sich oft selbst sagte, „zitterndes Glück“ wollten ihr die Ueberzeugung eingeben, daß bei dem unverkennbar starken Eindruck der Begegnung mit Glowerstone auf Malköhne ein Weib im Spiele sein müsse. Darüber hatte Siegfried jedoch geschwiegen: der erste Verrath, den sie von ihm erlebte. Klarheit mußte sie sich schaffen und doch konnte sich ihr Stolz, ihr weibliches Ehrgefühl nicht so tief demüthigen, eine direkte Frage darüber an ihn zu richten.




5.

Die Nacht war ihr in solchen Erwägungen schlaflos hingegangen. Am nächsten Tage erschien Malköhne, auf der Treppe von Perser gesehen und beneidet. Der Legationsrath war sehr heiter, er trug ein in Sammet und Seide gehülltes Päckchen in der Hand. Brigitta, die sonst jede Konversation mit dem Aeußerlichsten und Zufälligsten begann, was sich gerade darbot, hätte unter andern Umständen ihre Aufmerksamkeit gewiß zuerst auf das Päckchen gerichtet. Bei den in ihr wogenden Gefühlen und [746] Gedanken jedoch sah sie, ohne zu sehen, nur gespannt, aus dem Munde des theueren Mannes etwas zu vernehmen, was geeignet gewesen wäre, sie von ihrer stummen Qual zu erlösen.

Er entfaltete, was er in der Hand trug, und es zeigten sich allerliebste Arbeiten aus dem Atelier der Goldschmiedekunst, mit Edelsteinen besetzte Nippessachen für den Tisch, die Etagère und die Plattform über dem Kamin.

„Ich habe einen schrecklichen Verrath begangen,“ sagte er lächelnd, und das Lächeln hinderte nicht, daß Brigitta erschrak und ein Geständniß erwarten zu können glaubte. Allein es war anders gemeint. Er war bei einer Dame ihrer Bekanntschaft vor einigen Tagen zu einem kleinen Diner gewesen, und die Dame hatte ihm einige pikante Stellen aus einem Briefe Brigitta’s vorgelesen. Der Legationsrath hatte es diplomatisch anzufangen gewußt, den ganzen Inhalt des Briefes kennen zu lernen, und daraus ersehen, daß Brigitta bei Carmisoli Umschau gehalten. Im Briefe war genau beschrieben, was sie entzückt hatte und was ihr viel zu theuer gewesen, um es anzuschaffen. Das Beschriebene lag nun vor Brigitta, und weil sie in ihrer gedankenvollen Zerstreutheit noch immer nicht recht verstand, was damit beabsichtigt war, beugte er unter scherzenden Worten ein Knie und legte ihr das Mitgebrachte zu Füßen.

Er nahm keinen Anstoß daran, daß sich ihre Züge nicht erhellen wollten, daß ihr Lächeln und ihr Dank fast den Anstrich von Geistesabwesenheit hatten. Beide waren lange schon auf dem Punkte, Alles ohne Scheu von einander anzunehmen, und welcher Strom lachender Worte hätte ihm zu andern Zeiten sein Geschenk vergolten! Er achtete nicht der kühlen Aufnahme; er war unverkennbar von seinen eigenen Angelegenheiten ganz erfüllt.

„Denken Sie, Brigitta,“ sprach er, sich nicht wieder setzend, sondern im Zimmer umher gehend; „ich muß den Gang gestern zu Carmisoli wie ein Schicksal betrachten; aber es steckt eine lange Geschichte dahinter und ich bin so ungeduldig, daß ich mir allen Effekt verderbe und die Pointe gleich an den Anfang stelle.“ Er ließ sich jetzt neben ihr auf dem Sofa nieder und ergriff ihre Hand.

„Wissen Sie, theure Brigitta,“ sprach er sichtbar mit einiger Beklommenheit; „wissen Sie, was dieser Kram eigentlich bedeuten soll?“

Er nahm die Sachen vom Boden auf, stellte sie in einer gewissen Ordnung auf den Tisch und fügte hinzu:

„Das Spielzeug soll Sie an mich erinnern in meiner Abwesenheit, ich verreise.“

Die Geheimräthin erblaßte. In den fünf Jahren ihrer Bekanntschaft hatten sie sich niemals so weit getrennt, daß sie an verschiedenen Orten gelebt hätten. Wenn er im Sommer Urlaub nahm, dann reisten sie zwar getrennt, aber nur, um sich in Tirol oder in einem Seebad des Nordens gleich wieder zusammenzufinden. Selbst ihre regelmäßigen Zusammenkünfte, wenn sie in der Stadt waren, erfolgten fast täglich und nur die passenden Stunden wurden nach Umständen gewechselt. Der Ruf der Geheimräthin hatte unter dieser langen treuen Verbindung nicht gelitten, zunächst, weil mit großer Geschicklichkeit allgemein der Glaube erweckt worden war, sie sei eine ältere Verwandte Siegfried’s, eine Art Tante, sodann, weil, wo diese Annahme nicht ausreichen wollte, die Welt für die Ausdauers, die konsequente Treue eines Verhältnisses, das sich jahrelang hinzieht, ohne durch einen Zwischenfall von sich reden zu machen, immer nachsichtig und tolerant ist.

Zum ersten Male stand der Geheimräthin eine Trennung bevor. Sie zwang sich aber zur Gelassenheit in ihrer ersten Gegenrede:

„Das steht gewiß in Zusammenhang mit Ihrem neuen Abgott, Albert Glowerstone.“

Er lachte und behauptete, der Abgott sei eine der langweiligsten Kreaturen auf dieser Erde.

„Ich.muß gestehen,“ plauderte er, „daß ich ihm vielleicht Unrecht thue. Denn selbst gesprochen habe ich ihn gar nicht, ihn immer nur aus der Ferne beobachtet, weil ich drauf bedacht war, daß er mich nicht in meiner wahren Eigenschaft kennen lerne. Es gehört dies zu der politischen Intrigue, die mich so sehr beschäftigt.“

Mit anscheinendem Gleichmuth fragte Brigitta, weil sie jetzt den richtigen Moment dazu gekommen glaubte:

„War dieser Mann vom Rheine mit dem englischen Namen ganz allein in der Hauptstadt, ohne irgend eine Begleitung seiner Angehörigen?“

Eine Sekunde lang blitzte das Auge Siegfried’s in einem auf Brigitta gerichteten Blicke der Befremdung.

„Ich weiß nur, daß er während seines Aufenthaltes hier ganz allein gewohnt hat, wie ein Junggeselle,“ war die ruhige Antwort. Nach einer kurzen Pause setzte Siegfried seine Mittheilungen fort:

„Sie haben errathen, Brigitta, daß der Fall mit Glowerstone großen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich habe Ihnen niemals etwas Thatsächliches verschwiegen, das in mein Leben eingriff. Aber durch bloße Kombinationen fürchtete ich, Sie zu langweilen. Nun hat sich aber endlich etwas Faktisches ergeben; es veranlaßt sogar meine Abreise und so wuß ich Ihrer Langeweile Trotz bieten und Sie müssen Alles hören.“

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 46, S. 757–760
Novelle – Teil 3

[757] Malköhne erzählte Brigitta, daß, nicht weit vom Gute Glowerstone’s entfernt, in der Nähe von Wiesbaden ein seltsamer Fremder lebte, anscheinend ein Lord, der in diesem schön gelegenen Theile des Landes einfach seine Renten verzehrte, in Wahrheit aber einer der durchtriebensten politischen Agenten fremder Regierungen war. Er war wirklich ein Engländer, und Glowerstone, sein Landsmann, kannte ihn sehr gut. Ja, sie waren so intim, daß man viel aus Glowerstone herauszubekommen hoffte, als er wegen einer persönlichen Angelegenheit mit dem Ministerium verkehrte.

Malköhne setzte der Geheimräthin, die stets großes Interesse und große Klugheit bei den diplomatischen Geschäften ihres geliebten Freundes an den Tag gelegt hatte, jetzt erst die politische Wichtigkeit der Affaire aus einander, um die es sich handelte.

Sie begreifen nun meine Aufregung,“ fuhr er fort, „und auch mein bisheriges Schweigen, so lange ich nur Vermuthungen hatte. Ich mußte darauf bedacht sein, mich persönlich von Glowerstone ferne zu halten, weil ich den Plan nicht aufgeben wollte, ihn einmal als ein Fremder, vielleicht sogar unter falschem Namen, am Rheine aufzusuchen. Um einige Anhaltspunkte zu gewinnen, forschte ich nach den Personen, die er hier besuchte. Da fand ich denn zuletzt, daß er am häufigsten bei der Gräfin Surville vorsprach. Der Name ist Ihnen bekannt?"

„Gräfin Surville?" sagte Brigitta nachdenkend, „ich erinnere mich. Ich habe sie in der Oper gesehen; sie war in der Loge des französischen Botschafters, und ich habe nach ihr gefragt, weil mir der grandiose Schmuck der ältlichen Dame auffiel.“

„Ihr verstorbener Mann,“ ergänzte der Legationsrath, „war der Oheim des Botschafters. So kommt sie oft in sein Haus, wohnt aber selbst in einer prächtigen Villa vor der Stadt. Der Zutritt war mir natürlich leicht; ich bin mehrmals bei ihr gewesen, kam aber dabei in meiner Sache nicht vorwärts. Ich erfuhr bloß, daß sie eine Verwandte von Glowerstone ist. Sie soll im Hause seines Vaters erzogen worden sein, ist in England geboren, aber in Deutschland, sogar hier in dieser Stadt, aufgewachsen. In ihren alten verwitterten Zügen liegt ein seltsames Gemisch voll Stolz und Trauer. Für politische Dinge ist sie ganz ohne Interesse und Verständniß. Abende hindurch habe ich mich umsonst bemüht, in der hier einzig möglichen Form der geselligen Konversation, der Einkleidung des Wichtigen in das Nichtige, meinem Ziel näher zu kommen. Alles, was ich erreichte, war die Mittheilung, daß sie mit dem Lord in Wiesbaden ganz [758] gut bekannt ist, wobei sie keine Ahnung von seiner politischen Bedeutung hat.“

Während dieser Unterhaltung hatte die Seele Brigitta’s die Last der Angst und der Zweifel abgeworfen. Niemals hatte ihr Siegfried eine Unwahrheit gesagt und die Versicherung, daß Glowerstone allein, also ohne seine Tochter in der Hauptstadt gewohnt, hatte der gequälten Frau vollkommen genügt, um die Besorgnisse der vorhergegangenen schlaflosen Nacht zu zerstreuen. Der politische Fall, in den sie jetzt erst Einblick gewonnen, erklärte vollkommen den großen Eindruck, den die Anwesenheit Glowerstone’s auf den Legationsrath geübt hatte. Brigitta schämte sich fast ihres Verdachtes, und wie um Versäumtes nachzuholen, wandte sie sich jetzt den mitgebrachten kleinen Geschenken zu. Die Freude darüber, das Lachen, die geistreiche oder komische Bedeutung, die sie jedem einzelnen Stück beilegte, hätten ein entzückender Lohn für Siegfried sein müssen, und einige Wochen früher wäre er darüber in Enthusiasmus gerathen und hätte mit der Versicherung nicht zurückgehalten, daß er den schwebenden Zustand des Verhältnisses nicht länger ertrüge und endlich Alles dransetzen wolle, sein Glück zu verwirklichen. Jetzt aber begnügte er sich, zu lächeln, den Geist Brigitta’s zu bewundern und über ihre Befriedigung Freude zu äußern. Brigitta, in der bescheidenen Unbewußtheit ihres geistigen Reizes, vermißte in diesem Augenblicke Nichts in der Haltung des Geliebten; sie schwamm noch selig in dem Gefühle, ihre Zweifel und Besorgnisse verscheucht zu wissen.

Während Brigitta hin und her ging, um die passenden Stellen für die Etablirung der neuen Nippessachen zu wählen und jene, die in den großen Salon kommen sollten, bei Seite zu stellen, sagte Siegfried:

„Das Schönste an der Geschichte ist, daß ich dabei selbst etwas geschenkt bekam, wofür ich jeden Preis bezahlt hätte. Ich habe nämlich gestern bei Carmisoli, wo ich die Dinge auswählte, die Gräfin Surville getroffen. Sie sagte mir in ihrer harmlosen Art, die Wichtigkeit nicht ahnend, daß sie in den nächsten Tagen ihren Verwandten Glowerstone besuchen werde, und da ich so großes Interesse an ihm gezeigt hätte, so wolle sie mich vorstellen, wenn ich die Reise dahin nicht scheute. Es gehört zu den wenigen diplomatischen Vorzügen, die ich besitze, die ganze Tragweite, das Vollgewicht einer zufälligen, anscheinend ganz unbedeutenden Situation sogleich zu überblicken. Mir ist es natürlich nur um den Lord zu thun. Da die Gräfin sehr vertraut mit ihm ist, so sagte ich ihr, ich würde gern nach Wiesbaden gehen und ihren Freund dort kennen lernen, nur möchte ich nicht, daß er glaube, ich sei zu diesem Zweck dahin gekommen, es müßte sich wie zufällig machen. Die Gräfin ist sehr naiv, sehr unfähig in diplomatischen Geschäften, zu einer Intrige ganz unbrauchbar. Ich mußte ihr daher meine politische Absicht wie bei den Besuchen in ihrem Hause auch jetzt noch ganz verborgen halten. Mein Bischen Diplomatie ließ mich aber nicht im Stich und ich improvisirte, in Wiesbaden könnte ich die Angelegenheit ihres Vetters Glowerstone zu einem erwünschten Ende bringen, brauchte dazu ihre Hilfe, falls sie ihn mit der Erledigung der Sache überraschen wollte. Darauf ist sie freudig eingegangen, versprach, mir in Allem zur Seite zu stehen, was ich in der Sache für nothwendig halte. Sie können sich denken, theure Freundin, daß ich Alles für nothwendig halten werde, was mich dem unzugänglichen Lord näher bringen kann. So reise ich denn gegen Ende dieser Woche ab.“

Brigitta wäre zu jeder andern Zeit mehr erschrocken über diese Ankündigung, als diesmal. Das Glück, sich wieder im ungestörten Einklang mit dem geliebten Manne zu fühlen, hob sie über den Schmerz der ersten Trennung von ihm hinweg. Das Weib, das sie im Spiele geglaubt, erkannte sie als Hirngespinst, und dann war Alles gut. Auch wollte er ja nicht zu Glowerstone, sondern nach Wiesbaden gehen, wäre aber auch das Erstere der Fall gewesen, sie war nicht so thöricht, ihn vor jeder neuen Bekanntschaft mit einem Weibe bewahren zu wollen. Glowerstone’s Tochter war ihr nur so lange ein Gegenstand der Besorgniß gewesen, als sie Siegfried’s verändertes Verhalten in jüngster Zeit mit jenem unbekannten Mädchen in Verbindung brachte, das er aber, wie sich jetzt herausstellte, gar nicht gesehen hatte, von dem er nichts wußte.

So beschränkte denn die schöne Frau den Ausdruck des Leids über seine bevorstehende Abreise auf die sorgliche Erkundigung nach dem Tage seiner Wiederkehr. Ihre Gelassenheit in solchem Falle würde auch Malköhne seinerseits noch einige Wochen früher anders aufgenommen haben als diesmal. Jetzt fiel es ihm nicht einmal ein, nach dem Grunde zu fragen; er hatte eine Scene gefürchtet, einen Schmerz, der ihn früher beglückt hätte und dessen Ausbleiben ihn jetzt gewissermaßen von einer Angst befreite. Fröhlichen Sinnes sprach er von den Vorbereitungen zur Reise, vom Wegfallen lästiger Abschiedsbesuche, weil seine Entfernung vom Amte gleichsam eine heimliche wäre, obgleich sie im Dienste desselben geschehe, und als er endlich seinen Hut nahm, kündigte er Brigitta an, daß er beim Wiederkommen am nächsten Tage ihren Rath und ihre Hilfe in einer Sache in Anspruch nehmen werde, die nothwendig zur Reise gehöre.

Brigitta blieb allein, und zufällig in den großen Stehspiegel blickend, erstaunte sie selbst, wie sich ihr Aussehen seit den Morgenstunden verändert hatte. Der rosige Anhauch ihrer Wangen war zurückgekehrt, ihre üppige Gestalt stand wieder schwungvoll aufrecht, und die weißen Zähne verriethen sich wieder beim unwillkürlichen Lächeln. Sie war so heiter, daß sie über die Maßen lachte, als Elise ihr in einem fast kummervollen Tone berichtete, wie armselig die Ausstattung war, die der neue Miethsherr für die schöne Wohnung mitgebracht hatte.




6.

Die Gräfin Surville befand sich in einem großen Salon, von mehreren Damen umgeben, die, nach ihrer Toilette zu schließen, nicht Besucherinnen waren, sondern zum Hause gehörten.

Mit dem Gleichmuth der Gewohnheit nahm die Gräfin die Karte von der ihr dargereichten silbernen Platte auf, beugte aber, nachdem sie gelesen hatte, das Haupt betroffen zurück und ließ die Hand, welche die Karte hielt, in den Schoß sinken.

Ein Lebenstraum, den sie nie vergessen, wenn sie ihn auch immer zu verhüllen, ja gänzlich zu verwischen gesucht, stieg plötzlich vor ihr auf: Ludwig von Perser! Ihre erste und einzige Liebe! Aber dahin auf immerdar!

Großer Verstand in ihren eigenen Angelegenheiten, während sie sich absichtlich von Intrigen und politischen Fragen fern hielt, hatte sie von jeher ausgezeichnet. Darum hatte sie im Bewußtsein ihrer erreichten Jahre längst mit jenem Traum abgeschlossen. Sie war sich ebenso klar, daß das Gefühl für Perser immer in ihr rege bleiben würde, sowie daß Zeit und Umstände, die harte Wirklichkeit ohne Zweifel einen ganz andern Mann aus ihm gemacht hatten als Derjenige war, welchen sie geliebt hatte.

Was wollte er jetzt bei ihr? Gleichviel! Ansprüche sollte er nicht erheben können, und das Geheimniß ihrer ersten Beziehung zu ihm mußte dadurch seine Bedeutung verlieren, daß sie es offen vor aller Welt erzählte. Das war das beste Mittel, die Vergangenheit abzuthun. Unbefangen reichte die Gräfin Perser die Hand und erzählte dann den Damen eine kleine romantische Geschichte, deren Inhalt ihre erste Begegnung mit Perser in ferner Jugendzeit war.

Es lag für Perser bei aller Anmuth in ihrer Unbefangenheit doch etwas beinahe Schauerliches in der objektiven Kälte und Gelassenheit, womit die Gräfin einen so wichtigen Theil seines und ihres Lebens behandelte. Er war darauf gefaßt gewesen, Umschweife machen zu müssen, damit sie den Zusammenhang, der so weit zurücklag, und die Gefühle, die so lange Zeit daran geknüpft waren, ganz begreife, und nun erzählte sie selbst dies Alles, aber wie eine Begebenheit aus einem eben gelesenen Roman. War damit nicht vielleicht angedeutet, daß sie die Vergangenheit als völlig abgethan betrachte und keine Konsequenzen daraus für die Gegenwart werde dulden wollen?

Die Gräfin war verblüht und keine Spur des Liebreizes, der den Jüngling hingerissen hatte, war zurückgeblieben. Nur wenn sie lachte und ihre Züge sich belebten, wie es in diesem Momente der Fall war, erweckte ihr Wesen Sympathie. Erst nachdem sie ihren Vortrag den Damen gegenüber geschlossen hatte, stellte sie ihnen den Baron mit aller Förmlichkeit vor. Die Damen waren Kousinen des Hauses Glowerstone aus England, zwei schon ältere Frauen, die, zum Besuche der Gräfin gekommen, bei ihr wohnten, eine Gesellschafterin, eine Deutsche mit ziemlich mürrischem Gesichtsausdruck, und endlich ein junges Mädchen von [759] so großer Schönheit, daß sie Perser selbst jetzt aufgefallen war, da er auf nichts als auf die Gräfin seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Das junge Mädchen an sich ziehend, sagte die Gräfin:

„Das ist die Tochter meines Vetters Albert Glowerstone, Miß Edith – Pardon, mein Kind – Fräulein Edith, sie will durchaus eine Deutsche sein. Sie ist seit einem Monat bei mir; ich muß sie aber in einigen Tagen selbst ihrem Vater zurückbringen. Das war die Bedingung, unter welcher er mir sie ließ.“

Die Damen entfernten sich allmählich, sie hielten es für passend, die beiden Menschen, die sich so spät wiedergefunden hatten, allein zu lassen. Gleichgültig wie früher setzte die Gräfin das Gespräch fort, immer nur auf den Aufenthalt Perser’s in Paris Bezug nehmend, nachdem er sie dafür lebhaft genug zu interessiren gewußt hatte.

Da sich wieder der Zug in ihrem Wesen geltend machte, welcher zu einem freundschaftlichen Vertrauen aufforderte, so kam es, daß Perser, ohne im Entferntesten daran zu denken, hier eine Hilfe finden zu wollen, bloß aus entgegenkommendem Gefühle und nur in zarter Andeutung und Umschreibung ein Bild seiner gegenwärtigen Lage entwarf. Die Gräfin hörte ihn sehr aufmerksam an; ihre Augen ruhten theilnehmend auf ihm und sie äußerte endlich mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns:

„Wie schade, daß wir uns schon wieder trennen müssen! Ich bleibe einige Zeit auf dem Gute Albert’s und gehe dann für den Winter nach Italien. Wir hätten sonst Vieles besprechen können, und es hätte sich Gelegenheit gefunden, um Sie in meine Verhältnisse blicken zu lassen. Da wären Ihnen vielleicht Aufgaben sichtbar geworden, die nur ein Freund lösen kann. Wie hätte mich dies gefreut! Kommen Sie aber wenigstens bis zu meiner Abreise alle Tage!“

Er folgte diesem Rathe, es ergab sich jedoch daraus kein Anknüpfungspunkt für seine Zukunft. Da kam ihm plötzlich, natürlich und doch überraschend, das Schicksal zu Hilfe.

Eines Abends, als sich die Gräfin bereits verabschiedet hatte, saß er enttäuscht und herabgestimmt in seinem Zimmer und grübelte, was er ferner anzufangen hätte, um durchs Leben zu kommen.

Dabei war es charakteristisch für ihn, daß seine Gedanken bald an dem Vorsatze haften blieben, der am wenigsten praktische Bedeutung hatte, an dem Vorsatze, endlich die Geheimräthin zu besuchen, an die er unaufhörlich dachte und die ihm stets in größere Ferne zu rücken schien, je mehr seine Lage ihn peinigte. Jetzt konnte er ihr doch gleichsam etwas mitbringen, sagte er sich, ein Erlebniß, die Bekanntschaft mit der Gräfin Surville. Diplomaten und Officiere, denen er dort begegnet war, konnte er der Geheimräthin so zu sagen vorstellen, Interessantes aus ihren Verhältnissen erzählen.

Er hatte auch an einem Tage, an welchem große Gesellschaft bei der Gräfin war, den Legationsrath Siegfried Malköhne dort angetroffen und es absichtlich vermieden, sich ihm vorstellen zu lassen! denn er hegte unaussprechlichen Neid gegen den, wie er nach und nach erfahren hatte, begünstigten Freund der Geheimräthin, der vor ihr im vollen Glanz einer großartigen Existenz zu erscheinen vermochte. Aber Perser hatte die Verehrung, ja den Kultus beobachtet, womit man den Legationsrath von allen Seiten umgab, und diese Mittheilung aus einem fremden Munde müßte ja Brigitta entzücken. So hoffte er, der schönen Frau selbst zu einer bedeutenden Persönlichkeit zu werden.

Was aber war damit geholfen? Um sich in dieser Bedeutung zu behaupten, mußte er eine Stellung gewinnen, das Leben führen, das seinem Rang gebührte. Er entschloß sich, noch an diesem Abend einen alten, halb vergessenen Freund seines verstorbenen Vaters aufzusuchen.

Schon hatte er die Lampe gelöscht und den Schlüssel abgezogen, um seine Wohnung während seiner Abwesenheit versperrt zu halten, als an seiner Thür geklingelt wurde. Er öffnete und die Beleuchtung der Treppe ließ ihn den Legationsrath Malköhne erkennen, der, höflich den Hut ziehend, um die Erlaubniß bat, dem Baron Perser einige Augenblicke rauben zu dürfen. Dieser, höchlich überrascht, antwortete gleichwohl mit der schicklichen Ruhe und den herkömmlichen Redensarten. Die Lampe wurde wieder angezündet, die Herren nahmen Platz und der Legationsrath sprach zuerst im Allgemeinen von der Schwierigkeit, wirklich gebildete und zugleich mit den Formen der höheren Gesellschaft vertraute Personen für bloß vorübergehende diplomatische Geschäfte zu gewinnen. Dann theilte er mit, daß er noch im Laufe dieser Nacht abreise, und weil sich die Angelegenheiten so sehr gedrängt hätten, wäre er nicht zum Wichtigsten gekommen, zum Engagement eines brauchbaren Mannes, eines Begleiters und Sekretärs, kurz eines Vertrauensmannes.

Perser, obgleich ihm das Herz in ahnungsvoller Hoffnung schlug, zwang sich zu einem vornehmen und fast stolzen Gleichmuth, schweigend das Weitere erwartend. Malköhne fuhr fort:

„Zufällig habe ich heute Ihre Hauswirthin besucht, die Frau Geheimräthin Forstjung, und sie hat mir zum ersten Male von der Vermiethung gesprochen. Kaum hatte sie Ihren Namen genannt, Herr Baron, so war es mir, als hätte ich das Geeignete plötzlich gefunden; denn Ihr Name ist in unseren Kreisen wohl bekannt. freilich war dies nur ein abenteuerlicher Einfall von mir, denn ich habe ja nicht die Ehre, über Ihre Person und Ihre Verhältnisse im Geringsten unterrichtet zu sein. Die Geheimräthin erwähnte jedoch, daß Sie ein vorzüglicher Briefsteller seien, was ich am meisten brauche. Auch meinte sie, daß Sie erst vor einigen Tagen aus Paris gekommen, daß Sie folglich hier vielleicht noch nicht durch Ihre Konnexionen so gebunden seien –“

Der Legationsrath zögerte und stockte; der fast hochmüthige Gesichtsausdruck Perser’s ließ befürchten, es sei ein falscher Schritt geschehen. Die Zurückhaltung Malköhne’s ließ aber wiederum den Baron befürchten, er könnte durch allzu große Reserve eine günstige Wendung verscherzen. Darum erwiederte er freundlicher:

„Ich bin allerdings in mancherlei Beziehungen getreten, so kurz auch mein Aufenthalt ist, allein was an die Diplomatie streift, hat mich von jeher gereizt! ich habe eine wahre Passion, mich in solche Dinge zu mischen, und habe meinen Beruf verfehlt, daß ich nicht Noten und Depeschen schreibe. Aber was wollen Sie, Herr Legationsrath? Wir sind von Geburt Müßiggänger, und wenn nicht gerade pekuniäre Verhältnisse drängen, was bei mir natürlich nicht der Fall ist, so kommen wir zu nichts Ernsthaftem.“

Perser glaubte, versteckte Geister in seinem Innern kichern zu hören. Auch über des Andern Lippen flog eine Sekunde lang ein Schmunzeln! die Geheimräthin mochte ihm die Lage des hier so stolz aufgerichteten Mannes angedeutet haben. Indessen nahm der Legationsrath den Faden der Unterhaltung mit aller Gemessenheit wieder auf.

„Diplomatisch ist die Angelegenheit eben nicht; sie bedarf nur eines Helfers, der, wie Sie, Herr Baron, mit dem Tone, der Haltung der höheren Kreise vertraut ist und eine gebildete Feder führt. Wenn Sie nun sich dazu herbeilassen könnten, in dieser Jahreszeit zu reisen und einige Zeit von hier entfernt zu bleiben, so würden Sie vielleicht Ihre eigene Liebhaberei für das politische Getriebe einigermaßen befriedigen können. Natürlich müßten Sie es sich gefallen lassen, Herr Baron, daß wir Ihre Dienste nicht als ein Geschenk betrachten, welches Sie dem Ministerium machen würden, Sie müßten zustimmen, daß wir Ihre Zeit, Ihre Mühe vergelten, als ob Sie dessen wirklich bedürften.“

Perser strich sich mit der Hand nachdenkend das Kinn und zog die Augenbrauen finster zusammen, als ob die letzte Andeutung des Legationsrathes ihn eigentlich tief verwundete. Doch schien er zur Verzeihung geneigt zu sein, denn mit mildem Lächeln gab er den Bescheid:

„Ich habe nicht das Recht, Ihnen Herr Legationsrath, oder dem Staate Freundesdienste zu erweisen, und würde mich aus Liebe zur Sache auch mit der herkömmlichen Entlohnung verstehen; die Form muß ja überall gewahrt werden.“

Malköhne beeilte sich aus einander zu setzen, was man von Perser verlangte, und dieser erklärte sich damit außerordentlich zufrieden. Er sollte auf ein Telegramm, welches in zwei bis drei Tagen eintreffen werde, nach Wiesbaden abreisen, wohin der Legationsrath, wie erwähnt, schon in wenigen Stunden abzureisen gedachte. Am nächsten Tage werde ein Beamter aus dem bezüglichen Ressort beim Baron erscheinen, um die unleidlichen Formalitäten, das Reisepauschale und die Diäten zu erledigen. Der Baron reichte mit einer Gebärde, die eben so wohl Freundschaft wie Herablassung ausdrückte, dem Legationsrath die Hand, und Beide schieden sehr befriedigt von einander.

[760] In der That hatte Brigitta, als Malköhne soeben den letzten Abschied vor seiner Reise von ihr genommen, mit klarem Verstande eingesehen, daß Niemand für die momentane Sachlage geeigneter war, als Perser. Man brauchte nur einen Mann aus dem höheren Adelsstande und von tadellosen Umgangsformen, schöner Handschrift und gewandtem Stil, und wenn der Mann außerdem in der Hauptstadt noch ein Fremdling war, Nichts über die politischen Verhältnisse ausschwatzen konnte, die in der Heimath herrschten, so diente ihm dies nur um so mehr zur Empfehlung. Aus den alten Briefen Perser’s an Johanna wußte Brigitta, daß er für den schriftlichen Dienst vollkommen geeignet war; sein Charakter aber, den sie nicht kannte, kam hier überhaupt nicht in Betracht.

Perser wußte sich nach der Entfernung seines Besuchers vor Freude kaum zu lassen. Ein Lebensziel war allerdings nicht erreicht, aber er war von jeher darauf angewiesen, nur erträglich von Station zu Station zu kommen. Jetzt war wenigstens für einige Zeit gesorgt. Gern wäre er augenblicklich bei der Geheimräthin eingetreten; allein der Abend war zu weit vorgerückt; auch wollte er sich erst durch den angekündigten Besuch des Beamten volle Gewißheit verschaffen, daß die Sache nicht eine Täuschung war, ehe er der Geheimräthin seinen Dank darbrachte, daß sie in der Angelegenheit an ihn gedacht hatte.

Am nächsten Tage erschien der angekündigte Beamte. Die Besprechung betraf das Reisepauschale und die Diäten, worüber Perser nach Eintreffen des Telegramms sollte verfügen können. Daß dieses nicht ausbleiben werde, versicherte der Beamte. Perser sah die Stunde gekommen, in der es möglich war, der Geheimräthin einen Besuch abzustatten. Er zog die Klingel.




7.

Jetzt sah Perser die Geheimräthin zum ersten Male bei hellem Tageslichte, und während der Anblick der Züge, die sich ihm tief in die Seele geprägt hatten, ihm wohlthat, überraschte ihn zugleich ein neuer Ausdruck der Milde, der Freundlichkeit, deren er sich früher nicht zu erfreuen gehabt hatte. Man ist immer gewissermaßen Denjenigen dankbar, die man zu Dank verpflichtet hat: eine instinktive Andeutung der Psyche, daß die menschliche Bestimmung wäre, Andere zu beglücken. Als ob die Geheimräthin einer Entschuldigung bedürfte, daß sie einen Mann, der ihr so fremd war, in Amtsgeschäfte verwickelt hatte, äußerte sie, daß sie sich seiner Abkunft aus den Rheingegenden erinnert hätte.

„Sie haben zwar von Wiesbaden aus noch einen Weg nach Biebrich zurückzulegen; aber man fühlt dort überall, daß man am Rheine ist; Sie werden sich also in der Heimath wissen.“

Er sprach dagegen von seinen vielen in Paris nutzlos verlebten Jahren, und aus der Wehmuth, die ihn bei diesen Erinnerungen erfaßte, sprang er zum Ausdruck einer Hoffnung über, die ihn erst in der unmittelbarsten Gegenwart überkommen hätte. Seine Worte waren räthselhaft; seine Stimme zitterte, er wagte keine deutliche Bezeichnung; aber das feinere Gefühl einer Frau, wenn es auch nicht immer die volle Klarheit hat, ahnt in der Form eines unerklärlichen Unbehagens, daß eine Flamme lodert, deren wirkliches Aufleuchten sie nicht erblicken möchte; um davon abzulenken, fragte die Geheimräthin, ob Perser nicht seinen alten Freund Albert Glowerstone aufsuchen werde.

„Ich weiß nicht einmal, wo er jetzt haust,“ war die Antwort. „Eigentlich sollte uns der gemeinsame Verkehr unserer Jugend zu Freunden machen, wenn zwischen unseren Charakteren keine Gemeinsamkeit ist. Ich will dies nicht einmal erproben; ich sehne mich nach nichts mehr, als wieder hierher zurückzukehren, und es giebt nur einen einzigen Gegenstand, der mich in Wiesbaden interessiren wird: die Gräfin Surville.“

„Sie kennen die Gräfin?“ sagte Brigitta überrascht; „ja, wenn ich nicht irre, hat sie eine Beziehung zu Ihrer Jünglingszeit. Aber haben Sie die Gräfin seitdem wiedergesehen?“

Perser erzählte, auf welche Weise er sie aufgesucht und wie er von der Geschicklichkeit überrascht war, von dem Takte, womit sie der ersten Wiederbegegnung jeden Anschein von Verlegenheit entzog.

„Die Gräfin ist für mich eine höchst anziehende Erscheinung,“ erwiederte Brigitta; „nach Allem, was ich von ihr gehört und obgleich ich sie nur aus der Ferne gesehen habe. Sie muß eine von den seltenen Personen sein, die, begünstigt durch äußere Lebenslage, nicht nur über allem unedlen, auch über allem gewöhnlichen Treiben der Welt, das uns Andern so wichtig erscheint, gleichmüthig dahinschweben, als ob es so tief unter ihnen läge, daß sie unmöglich einen Blick dafür haben können.“

Perser war entzückt von dieser Bemerkung und verfiel wieder in die Wärme, die Brigitta mit einem leisen Zusammenziehen ihrer dunklen Brauen und mit dem Ausdrucke eines heimlichen Unbehagens erwiederte.

Abermals suchte sie abzulenken:

„Albert Glowerstone wohnt nicht weit von Mainz, so viel ich weiß, und schon um sich zu überzeugen, ob die Tochter schön ist – Sie sagten mir ja, wie ich glaube, daß er Vater einer Tochter – um diese zu sehen, müßten Sie ihn besuchen.“

„Das wäre überflüssig,“ sagte Perser arglos; „die Tochter Glowerstone’s habe ich bei der Gräfin Surville gesehen, wo sie sich längere Zeit aufgehalten; sie ist erst vor einigen Tagen mit der Gräfin zugleich abgereist.“

Die Geheimräthin, die den Kopf von dem Sprechenden, so lange er sich in Reden erging, die ihr nicht lieb waren, halb abgewendet hatte, sah ihm jetzt plötzlich voll und ganz ins Gesicht. Die Rosenfarbe ihrer Wangen war verschwunden; ihr Blick war fast starr, und einige Sekunden verharrte sie schweigend. Es schien, als könnte sie ihren heftig fliegenden Athem nicht sogleich zu den Worten bringen:

„Sie haben die Tochter Albert Glowerstone’s hier gesehen? Hier, und in diesem Monat?“

„Ein auffallend schönes Mädchen,“ fuhr Perser fort, „so schön, daß ich, obgleich ich an ganz andere Dinge zu denken hatte, einige Augenblicke regungslos stand, bevor ich mich vor Miß Edith auch nur verbeugen konnte.“

„Miß Edith, sagen Sie,“ stammelte Brigitta mehr als sie sprach, „Miß Edith, habe ich recht verstanden, wer führt diesen Namen?“

„Die Tochter Albert Glowerstone’s,“ wiederholte Perser, ein wenig erstaunt.

Brigitta sammelte ihre Kräfte, um dem Fremden gegenüber die gebührende Haltung der Salondame nicht aufgeben zu müssen. Doch war sie zerstreut, hielt ihre Lippen auf einander gepreßt und verstand offenbar nicht Alles, was Perser noch vorbrachte. Er fühlte, daß er sich verabschieden mußte, und er that es mit gedrückter Seele, weil die Milde, die Freundlichkeit, die ihn am Anfange der Unterredung entzückt hatten, völlig verschwunden waren.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 47, S. 773–779
Novelle – Teil 4

[773] Als Brigitta allein war, erhob sie sich nicht von ihrem Sitze. Die Arme von sich gestreckt, die Finger in einander geschlungen, als ob sie bewegungslos die Hände gerungen hätte, wiederholte sie sich im Innern unaufhörlich, daß die Tochter Glowerstone’s während der ganzen langen Zeit, in der sie heimlich vor dem Unbekannten gebebt hatte, in der That kein Gespenst war, daß sie leibhaftig Abend für Abend dem Manne gegenüber gesessen haben mußte, der es geleugnet hatte.

Nein! er hatte keine Lüge gesagt, keine einzige Lüge. Was war es doch, wodurch sie sich am letzten Sonntage, als die Angelegenheit zum ersten Male zwischen ihr und Siegfried ganz zur Sprache gekommen war, so tief beruhigt, so völlig beglückt gefühlt hatte? Was war es doch? Er hatte ihr gesagt, Albert Glowerstone hätte hier in einem Hotel gewohnt wie ein Junggeselle, und keiner seiner Angehörigen sei bei ihm gewesen. Ja, das war auch die volle Wahrheit; nur lag heimlich in ihr eingeschlossen die perfideste Lüge.

Brigitta sprang auf. Sie wollte es sich nicht gefallen lassen. Sie hatte jetzt jahrelang dieses Glück behütet und bewacht, gepflegt und geliebkost wie eine Mutter ihren Säugling. Sollte sie es sich entreißen lassen? Eher ihr Augenlicht! Ihr gehörte er an, ihr allein. Tag für Tag hatte sie von Neuem um ihn geworben, stumm zwar, ohne die Phrasen und ohne die Zeichen der Leidenschaft, der thörichten Verliebtheit, aber mit dem Opfer, mit der Hingebung ihres ganzen Seelenlebens. Hohnlachend war von ihr, die an der Seite ihres Mannes nicht gelebt hatte, jede Verlockung zurückgestoßen worden, sich in eine Existenz zu bringen, die ihrer Person, ihrer Schönheit gebührte. Ihm hatte sie sich aufbehalten, beglückt schon dadurch, daß sie mit Gewißheit den Bund mit ihm erwarten durfte. Sollte er das Recht haben, ihr die Brust zu zerreißen, als ob die Krallen eines Raubvogels sie gepackt hätten? Sie wollte sich wehren; kein Unrecht, kein Verbrechen durfte an ihr begangen werden. Aber giebt es ein Recht, existirt ein Gesetzbuch für die Liebe, sitzt ein Richter auf dem Forum, um über die Irrgänge, die Schleichwege falscher Herzen ein Urtheil zu fällen, eine Strafe zu verhängen? War sie nicht verlassen und ohnmächtig?

Sie warf sich auf das Sofa, in dessen Kissen sie ihr Gesicht vergrub, bis ihren Augen heiß und gewaltsam die Thränen entströmten. Aber nicht lange, so stand sie wieder aufrecht, zum Aeußersten entschlossen.

Er ist bei ihr, sagte sie sich, er wirbt um sie; ich will sie von einander reißen. Der Tag darf nicht kommen, an welchem sie sich die Seine in der Zukunft glauben könnte. Was liegt mir noch an meinem Leben, wenn ich ihn nicht zu meinen Füßen zurückführe, und es sollte mir an Ruf und Schicklichkeit noch etwas gelegen sein?

Still faßte sie ihre Gedanken zusammen, nachdenkend saß sie an ihrem Schreibtisch. Heute noch mußte etwas geschehen; sie mußte zu handeln beginnen; [774] unthätig, ein gebundenes Lamm, wollte sie sich nicht schlachten lassen.

Kaum hatte Perser seine Zimmer betreten, als das erwartete Telegramm eintraf. Er machte sich am nächsten Morgen bereit, das Haus zu verlassen, wieder den kleinen Handkoffer und den Plaid zu sich nehmend. Früher wollte er noch mit der Kammerfrau Elise eine Abrechnung treffen, um seine bisherige Benützung des Quartiers zu begleichen. Eben als er Elise rufen wollte, kam sie selbst, und bei der ersten bezüglichen Bemerkung erklärte sie, den Auftrag zu haben, nichts von dieser Art mit dem Baron zu verhandeln, da ihn die Geheimräthin ausdrücklich als ihren Gast betrachtet haben wollte. Nicht um diese Botschaft zu bringen, sei Elise herübergekommen, wie sie sagte, sondern um ihn zu bitten, vor seinem Weggehen noch einmal vor der Geheimräthin zu erscheinen.

Erwartungsvollen Gemüthes trat Perser bei Brigitta ein. Das weiße Morgengewand stimmte zu dem leidenden Ausdruck der ganzen Erscheinung.

„Ich habe Sie noch einmal sprechen wollen, Herr Baron,“ begann sie zögernd, „weil ich – es wird so viel um mich her von Reisen gesprochen; ich habe selbst die Absicht, eine Reise anzutreten oder wenigstens für die Zukunft einen andern Aufenthalt zu suchen. Es ist Alles noch im Unklaren, aber –“

Perser, der wohl die Verwirrung bemerkte, in welcher sich die Gedanken Brigitta’s befanden, jedoch nicht wußte, auf welche Weise er ihr helfend entgegenkommen könnte, ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, indem er seine Blicke aufmerksam auf eine Kreidezeichnung richtete, die in seiner Nähe lag. Es war ein Portrait, dessen Original er gesehen zu haben glaubte, ohne sich desselben bestimmt erinnern zu können. Inzwischen war Brigitta ruhiger geworden und setzte ihm ein sonderbares Anliegen aus einander.

Sie hätte, wie sie sagte, eine unwiderstehliche Neigung, im nächsten Frühling nach dem Rheine zu gehen, möchte sich aber früher dort ankaufen, um nicht in Miethe bei fremden Leuten zu sein. Es wären nun, wie sie erfahren hätte, gerade in der nächsten Umgebung des kleinen Besitzthums von Glowerstone Villen, Schlösser, Häuser, oder was immer für Sommerwohnungen zum Kaufe ausgeboten, und wenn sich dies bewahrheiten sollte, wenn Perser dort ein Haus fände, das ihm für sie geeignet erschiene, so möchte er ihr sogleich davon Meldung thun. Sie würde augenblicklich dahin abgehen, um das bezeichnete Besitzthum in Augenschein zu nehmen.

Perser erklärte sich natürlich mit Vergnügen dazu bereit; aber es schien, als ob dadurch nicht völlig erreicht wäre, was sie wünschte. Sie rang sichtlich mit dem Bestreben, sich ganz verständlich zu machen, ohne eine verborgen gehaltene Absicht zu verrathen.

„Ich muß Sie noch bitten … es wird Ihnen seltsam erscheinen, aber manchmal beherrscht mich, wie vielleicht jede Frau, eine Laune so gewaltig, daß ich keine Hindernisse, keine Unmöglichkeit einsehe, wenn ich die Laune befriedigen will. Mir ist es hauptsächlich darum zu thun, sobald es nur immer geschehen kann, bestimmt zu erfahren, daß ein solches Domicil wirklich und wahrhaftig zum Kaufe angeboten sei. Es ist doch dann ganz natürlich, daß ich mich dahin begebe, es kann ja darin nichts Auffallendes liegen. Es kommt mir also darauf an, um es mit einem Wort zu sagen, daß die Angelegenheit außerordentlich beeilt werde, ja ich bin so maßlos unbescheiden, den Anspruch zu erheben, daß dies Ihre erste Sorge dort sei. Sobald Sie nur irgend Passendes gefunden zu haben glauben, dann telegraphiren Sie sogleich, nicht wahr? Und noch Eins! Sobald Sie dies gethan haben, sagen Sie auch Ihrer ganzen Umgebung, Glowerstone, der Gräfin, wenn Sie wollen, daß ich auf dem Wege bin, daß ich sogleich eintreffen werde und aus welchem Grunde. Daran liegt mir viel.“

Perser gab die Zusicherung, früher noch zu Glowerstone, der über verkäufliche Besitzthümer in seiner Gegend unterrichtet sein mußte, als nach Wiesbaden zu gehen, und Brigitta entließ ihn mit freundlicherem Gesichtsausdruck als am Tage vorher.




8.

Siegfried Malköhne war inzwischen in Wiesbaden eingetroffen. Sein Verhalten zu Brigitta bewegte sich auf jener schmalen Linie zwischen Wahrheit und Täuschung, wie sie nicht bloß ein Diplomat in schwierigen Fällen zu wählen hat, sondern wie sie sich auch gewöhnlichen Sterblichen als nothwendig aufdrängt, sobald Leidenschaft und Gewissen mit einander in Streit kommen. Die politische Angelegenheit, die ihm eine Verständigung mit dem politischen Agenten in Wiesbaden, ja den Versuch, ihn zu gewinnen, zur Aufgabe gemacht, war durchaus in der Wirklichkeit begründet, und er hatte in der umständlichen Auseinandersetzung dieser Angelegenheit zu Brigitta kein falsches Wort gesagt. Verschwiegen hatte er der Geliebten nur das Einzige, daß er zugleich mit seiner amtlichen Mission eine ihn selbst betreffende verfolgte; verschwiegen hatte er die Anwesenheit Edith’s, ja die Existenz der schönen Tochter Glowerstone’s und sein ernsthaftes Interesse für sie.

In der ersten Zeit seiner Aufmerksamkeit auf das wunderbar geartete Mädchen hatte er sich selbst allerlei vernünftige Reden gehalten, um sich zu beweisen, daß es Pflicht für ihn sei, heilige Familienpflicht, eine Ehe mit Brigitta für unmöglich zu halten. Sein Vater, ja selbst sein Minister, hätte ihm die Verbindung mit einer zehn Jahre älteren Frau niemals verziehen, und ganz unüberwindlich wären plötzlich die Schwierigkeiten geworden, die Verbindung trotz alledem durchzusetzen. Warum sollte er Brigitta durch die Darstellung dieser nicht zu besiegenden Hindernisse kränken und verwunden, so lange er überhaupt noch ledig bleiben und sie hoffen lassen konnte?

Es ist wahr, er hätte niemals von sich selbst geglaubt, daß er einst von dem Gedanken, sie zu seinem Weibe zu machen, ablassen würde. Wie es nun mit einem Male dennoch geschehen war, das wußte er nicht deutlich; nur fühlte er eines Tages, daß er ohne die Begegnung mit Edith nicht so schmerzlos zu der Trennung von dem jahrelang gehegten Gedanken gekommen wäre. Allmählich kam es dahin, daß er nicht einmal mehr begreifen konnte, wie er jenen Gedanken jemals hatte hegen können. Da er indessen nicht lügen und betrügen wollte, so würde er einen plötzlichen Bruch, eine brutale Ankündigung, daß die Vergangenheit ein Ende genommen, Brigitta gegenüber nicht gescheut haben, wäre er nur über die Handlungsweise, die er nach diesem Bekenntniß einschlagen sollte, im Klaren gewesen.

Dazu fehlte aber vor allem eine Verständigung mit Edith. Er hatte niemals Gelegenheit, diesem Mädchen gegenüber aus den konventionellen Formen herauszutreten. Wäre dies aber selbst geschehen, welche Befriedigung hätte er daraus zu ziehen vermocht?

Denn die Scheu, die er schon seit Jahren allen Partien gegenüber gehegt, die man ihm als passende vorgeschlagen hatte, die Furcht, der Millionen seines Vaters wegen geheirathet zu werden, ein Gedanke, der viel dazu beigetragen hatte, seinen Bund mit Brigitta zu festigen, diese Scheu und Furcht beherrschten ihn auch Edith gegenüber. Gewiß war sie als eine Fremde in seine materiellen Verhältnisse nicht eingeweiht, und so ernsthaft dachte er schon an sie, daß er aus diesem Grunde, um sie nämlich in Unwissenheit darüber zu erhalten, eine persönliche Begegnung mit Albert Glowerstone in der Hauptstadt vermieden hatte. Dadurch war es möglich, daß auch dieser nichts über seinen Reichthum erfuhr und folglich der Tochter keine bezüglichen Andeutungen machen konnte.

Malköhne dachte nun, bei Glowerstone wie ein mittelloser Beamter auftreten zu können, der bloß gekommen sei, um das Anliegen des rheinischen Gutsbesitzers beim Ministerium zu erledigen. Damit dies gelinge, wählte er zu seinem ersten Erscheinen einen Tag, an welchem die Gräfin, obgleich auch diese über seine Vermögensverhältnisse nicht genau unterrichtet sein konnte, sich nicht bei ihrem Vetter, sondern in Wiesbaden befand. Dies war aber sogleich nach seiner Ankunft dort der Fall; die Gräfin hatte Edith nur in das Haus ihres Vaters gebracht und sodann den geheimnißvollen alten Lord aufgesucht, der zur Zeit ihrer Jugend am englischen Hofe verkehrt hatte.

Dem ersten Blicke Malköhne’s drängte sich in dem kleinen Hause Glowerstone’s eine Armseligkeit auf, die er nicht erwartet hatte. Sie betrübte ihn, weil sie Anlaß geben mußte, eine Verbindung mit ihm um so wünschenswerther erscheinen zu lassen, sobald es zur Kenntniß gelangte, daß er der Erbe eines Millionärs war.

Albert Glowerstone hatte sich seit seiner Jugend wenig verändert, weder in seinem Aussehen, noch in seiner dem Schmarotzerthum geneigten Lebensauffassung. Er war blond und zwar so entschieden, daß man versucht war, ihm sogar eine blonde Gesichtsfarbe beizumessen, und als ehemaliger Student der Philosophie war er noch immer zum Philosophiren geneigt, um dahinter Mangel und ungestillte Bedürfnisse anständig zu verstecken. Was er nicht begreifen konnte und sich vergebens durch Ethik und [775] Psychologie, so weit ihm diese Wissenschaften noch in Erinnerung waren, zu erklären suchte, das war der Charakter seiner Tochter Edith. Gerade weil sie zur praktischen Anwendung dessen geboren war, was er nur theoretisch im Munde führte, zu einem seelenstarken Entsagen und Verzichten, verstand er sie nicht und glaubte, daß sie seine Bücherweisheit nicht verstehe.

Der frühe Tod ihrer Mutter hatte sie ihrer angebornen Gemüthsrichtung ungestört und ungehemmt überlassen. Diese war eine dem Weltleben abgekehrte, und Edith wäre vielleicht unter andern Verhältnissen dieser Richtung sich gar nicht bewußt geworden und hätte sich zu einem naiven anspruchslosen Geschöpf entwickelt, wie es in den Schranken der Dürftigkeit überall aufwächst. Allein in den Beziehungen ihres Vaters, ihres Hauses gab es so viele Berührungspunkte mit der reichen und vornehmen Welt, mit Menschen, welche die luxuriösesten Ansprüche an das Leben stellen und befriedigen, daß für Edith nur zwei Möglichkeiten übrig blieben: sie mußte entweder einen täglichen Kampf des Entbehrens und der Erbitterung mit den Verhältnissen führen und sich zuletzt so unglücklich fühlen, daß sie eine solche Existenz nicht mehr ertragen hätte; oder sie mußte zum Bewußtsein kommen, daß ihr Inneres stärker war als die äußere Lage, daß die Entbehrung überwunden werden könnte und die Erbitterung nicht aufzukommen brauchte. Ihre Natur befähigte sie, den letztern Weg einzuschlagen, und ohne daß sie geneigt oder geeignet war, sich darüber in Reden zu ergehen, sah man all ihrem Thun und selbst ihrer Erscheinung eine entsagende Gelassenheit an, die auf Männer von Geist einen noch tiefern Eindruck üben mußte, als die auffallende Schönheit des Mädchens, die freilich ihren ganz eigenthümlichen Charakter eben von jener Gemüthsrichtung erhielt.

Nach der Hauptstadt zum lange andauernden Besuch der Gräfin Surville hatte sie sich nur auf das Drängen ihres Vaters begeben. Glowerstone, während er gezwungen sich in die äußere Armseligkeit seines Daseins zu fügen schien, ertrug es nur durch zwei ihm zur Hilfe kommende Eigenschaften. Zunächst war er sanguinischen Temperamentes und hoffte von jedem Tage, von jedem Augenblicke einen besonderen Glücksfall; sodann war er eine Schmarotzernatur und stets begierig, nach einem Genuß zu greifen, der ihm geschenkt wurde, den er weder zu erwerben noch zu bezahlen brauchte. Der Gelegenheit, die Tochter eine Zeit lang das köstliche Leben der Hauptstadt, ohne daß es ihn etwas kostete, mitmachen zu lassen, hätte er unmöglich Widerstand leisten können. Zugleich war er überzeugt, daß Edith in der Hauptstadt eine Eroberung machen würde, die zu einer glänzenden Partie führen müßte.

Vater und Tochter saßen nach dem Mittagessen noch am Tische in ihrem „Salon“, der ziemlich groß und tüchtig geheizt, aber nicht anders als eine Bauernstube möblirt war.

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll,“ setzte Glowerstone eine angefangene Unterhaltung fort, „ist denn meine Kousine lsabel ein Blaustrumpf geworden? Du sprichst von lauter Dichtern, Schriftstellern, Zeitungsschreibern, die zum Thee gekommen sind. Ich habe geglaubt, man läßt diese Leute gar nicht hinein, wo Diplomaten und Officiere erscheinen. Sind denn gar keine solchen dagewesen?“

„Eine Menge,“ erwiederte Edith, „von den Ordenssternen und Epauletten konnte man Augenschmerzen bekommen. Ich habe aber die Augen zugemacht und die Ohren aufgethan. Für die Ohren hatten diese funkelnden Herren gar nichts Angenehmes, wogegen die Zeitungsschreiber, wie Du sie nennst, wieder nichts Angenehmes für die Augen hatten.“

„Nun, und was hast Du Gescheites von ihnen gehört?“ fragte der Vater gleichgültig und sehr enttäuscht.

„Am meisten hat mir die Vorlesung einer russischen Novelle in französischer Uebersetzung gefallen. Die Novelle ist von Pawloff. Da kommt ein Mädchen vor, das seiner herabgekommenen Familie durch eine reiche Heirath aufhelfen soll. Der reiche Mann aber wittert diesen Beweggrund in der vorgeschützten Neigung der Geliebten und macht ihr den Vorschlag, der Familie zu helfen auch ohne eine Heirath, falls er nicht geliebt wird. Das Mädchen liebt ihn wirklich nicht und hat die Kourage, die Hilfe anzunehmen und ledig zu bleiben.“

„Die hätte ich nach Sibirien verbannt,“ rief Glowerstone; „kann es noch etwas Dümmeres geben? Als Frau hätte sie der Familie noch ganz anders beistehen können. Ich hätte Dir nach dieser Geschichte erst recht gesagt, daß Du die Augen aufmachen sollst. Hast Du denn Niemand gesehen, der Dich interessirt?“

„O ja,“ entgegnete Edith vollkommen ruhig, „ich hätte mich beinahe verliebt. Da war ein Legationsrath Malköhne, und weil mir seine Gespräche mit der Gräfin und manchmal auch mit mir so sehr gefielen, gerade deßhalb hab’ ich mich weiter nicht nach ihm erkundigt. Ich wollte mich nicht mit ihm beschäftigen.“

Die Köchin trat in das Zimmer und überreichte eine Karte. Glowerstone las laut: „Legationsrath Siegfried Malköhne.“

Der Vater sah die Tochter, die ebenfalls überrascht aufblickte, mit Erstaunen an und gab eilig Befehl, den Besucher eintreten zu lassen.




9.

Die jungen Leute begrüßten sich mit stummer Verbeugung und mit dem Blick des Wiedererkennens. Da Edith einen geschäftlichen Zweck seines Erscheinens voraussetzen mußte, so wendete sie sich hierauf, um den Saal zu verlassen. Malköhne that mit galanten Worten dagegen Einsprache und versicherte, wenn er sie auch nicht jetzt mit den bureaukratischen Details langweilen wolle, die er ihrem Vater vorzubringen hatte, so würde er doch die ihm auferlegte Beamtenpflicht untröstlich finden, wenn er nicht nachher das gesellige Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten, in das Geschäft mit einschließen könnte. Sie war einer inhaltslosen Plauderei niemals geneigt, fand aber selbst ein Interesse daran, Malköhne wiederzusehen, und antwortete ernsthaft und gemessen, ohne das konventionelle Lächeln, welches oft so gedankenlos gleichgültige Reden begleitet:

„Wenn Sie mich zu sprechen wünschen, Herr Legationsrath, so wird mein Vater mich rufen lassen, sobald er es passend findet.“

Malköhne verbeugte sich tief und sah der langsam sich Entfernenden gedankenvoll nach.

Die Angelegenheit Glowerstone’s war im Grunde sehr einfach, wenn auch ihre Erledigung bei den Umständen, in welchen sich der Besitzer dieses unansehnlichen Bauernhofes befand, große Schwierigkeiten bot. Unmittelbar an den Hof grenzte der unbedeutendste Theil eines Staatsforstes mit sonstigem dazu gehörigen Grund und Boden. Dieses Staatseigenthum war schon seit ungefähr einem halben Jahrhundert an dieselbe Pächterfamilie überlassen worden, die sich dort ein stattliches Landhaus auf eigene Kosten erbaut hatte. Der Vertrag mit dem Staate war dem Erlöschen nahe und der jetzige Pächter wollte ihn nicht erneuern. Dies hätte Glowerstone gern dazu benutzt, das staatliche Gut mit seinem kleinen Besitzthum zu vereinigen, was auch leicht zu ermöglichen gewesen wäre, wenn er die nöthigen Mittel beisammen gehabt hätte. Der Staat ließ sich auf keine Zukunftszahlungen ein und auch der Pächter wollte für sein eigenes Haus sogleich bares Geld haben.

Glowerstone wußte sehr wohl, daß nach der Arrondirung seines kleinen Besitzthums durch einen so stattlichen Zuwachs der ganze Komplex um einen doppelt so hohen Preis an den Mann zu bringen war, als jetzt dem Staate für seinen Theil zu bezahlen gewesen wäre, der Bauernhof aber für sich allein nicht zu einem wünschenswerthen Preise zu verkaufen war. Wie sollte aber der verschuldete Mann das nöthige Geld auftreiben, um die Regierung zu befriedigen? Er hatte keinen Kredit, und wenn er seinen Plan einem reichen Spekulanten verrathen hätte, so würde dieser für sich allein den Rahm von der Sache abgeschöpft haben. Deßhalb war Glowerstone nach der Hauptstadt gegangen, bei welcher Gelegenheit er Edith zur Gräfin Surville gebracht, hatte aber beim Ministerium nichts ausgerichtet und nur unbestimmte Zusagen, schwankende Hoffnungen mit heimtragen können.

Malköhne, in die ganze Sache umständlich eingeweiht, wußte sehr wohl, daß nur mit dem Geld in der Hand etwas von der Regierung zu erreichen war. Als nun die politische Affaire mit dem geheimnißvollen Lord in Wiesbaden auftauchte und Malköhne zur Verhandlung über dieselbe abgeordnet wurde, da lag diese Angelegenheit seiner eigenen so nahe im Gedanken, wie sie im Raume einander nahe lagen. Wenn es ihm gelang, die Hand Edith’s zu erhalten, bevor diese von seinem Reichthum unterrichtet war, dann konnte er nachträglich mit Leichtigkeit den Wunsch Glowerstone’s erfüllen und ihm das angekaufte Staatsgut gleichsam auf den Frühstückstisch legen.

Die Werbung war daher die Hauptsache, das Geschäft nur ein Vorwand, und Malköhne zitterte vor dem Gedanken, der Vorwand könnte ihn um den Zweck bringen, ein langes Verhandeln mit dem Vater die Gegenwart der Tochter unmöglich [778] machen. Etwas Rechtes hatte der Legationsrath nicht vorzubringen, dazu war die Sache von zu großer Einfachheit: mit Geld sogleich und ohne Geld niemals erledigt. Malköhne nahm zu Detailfragen seine Zuflucht, begierig auf eine Gelegenheit, sich vorläufig für befriedigt zu erklären und um das Erscheinen Edith’s zu bitten. Er notirte sich mit überaus wichtiger Miene alle Aussagen Glowerstone’s, die nicht die geringste Bedeutung hatten, und dankte seinem Schöpfer für den Zufall, daß, ehe er noch eine vorläufig abschließende Redensart ausgesonnen hatte, ein neuer Besuch sich melden ließ.

„Ludwig von Perser,“ sagte Glowerstone nachdenklich, als er die Meldung empfangen hatte, und Malköhne war in hohem Grade überrascht, daß sein neugeworbener Sekretär, von dem er geglaubt, daß er um dieselbe Zeit gerade in Wiesbaden eintreffen werde, sich zuerst hier einfand.

„Das ist ein alter Freund von mir,“ erklärte Sir Albert, wie sich Glowerstone gern nennen ließ; „wir haben uns wohl schon fünfundzwanzig Jahre nicht gesehen und ich habe gewisse Verpflichtungen gegen ihn. Ich würde ihn trotzdem fortschicken, Herr Legationsrath, wenn Sie eine Unterbrechung unseres Geschäftes nicht wünschen.“

„Im Gegentheil,“ beeiferte sich Malköhne zu versichern, „er ist auch mir sehr willkommen, und während Sie sich mit ihm unterhalten, kann ich überlegen, was ich hier notirt habe. Am besten wäre es zu diesem Zwecke, wenn ich mich mit Fräulein Edith besprechen könnte.“

„Um zu überlegen?“ rief Glowerstone, dem diese Logik nicht einleuchten wollte, „und meine Tochter versteht gar nichts von solchen Dingen. Indessen, wie es Ihnen genehm ist, ich will Alles, was dem Ministerium gefällig ist. Wünscht es, sich mit Edith zu unterhalten, so sei’s.“

Er ließ Perser eintreten und gab Befehl, Edith zu rufen. Seine Begrüßung des Jugendfreundes war ganz, wie es anständig und herkömmlich ist. Glowerstone wurde niemals warm, wo er nicht unmittelbar einen Vortheil für sich gewahrte. Perser war ebenfalls nicht gerade von Rührung überströmend, und nachdem er Malköhne die Hand gedrückt und sich in dem einzigen gepolsterten Lehnstuhl niedergelassen hatte, sagte er:

„Ich bin in Geschäften hier, Glowerstone! ich hätte nicht die Zeit, eine Scene des Wiedersehens aufzuführen. Ja, Herr Legationsrath, ich habe den Weg direkt über Mainz genommen und will erst von hier aus meinen Dienst in Wiesbaden antreten. Das Geschäft hier ist wichtig, aber kurz. Ich habe den Wagen unten.“

„Sie kommen also nicht aus Paris, lieber Baron, sondern aus der Hauptstadt?“ fragte Glowerstone.

Perser bejahte und mußte sich in demselben Augenblicke aus seinem bequemen Polstersitze wieder erheben, weil Edith eintrat. Sie lächelte beim Wiedersehen Perser’s freundlicher als früher bei der ersten Begrüßung Malköhne’s, gerade weil der Baron sich nur mit ihrer Erinnerung an das Haus der Gräfin, nicht mit einer persönlichen Regung ihres Gemüthes verknüpfte. Perser verschwieg nicht, daß er Eile habe, das Geschäft, das ihn hierher geführt, zu Ende zu bringen. Sich streng an den Auftrag der Geheimräthin haltend, wollte er ihr Vorhaben, in die Gegend zu kommen, erst ankündigen, nachdem er Gewißheit erlangt haben würde, daß in der That ein verkäufliches Gut vorhanden wäre. So machte er denn kein Hehl daraus, daß er mit Glowerstone über einen wichtigen Gegenstand zu verhandeln wünschte. Sir Albert brauchte nur von etwas Neuem zu hören, das wichtig genannt wurde, und sogleich stiegen goldene Berge vor ihm auf, wie viele auch schon spurlos wieder eingesunken waren. Gleichwohl drückte er stets eine philosophische Resignation aus, als ob ihm Nichts mehr auf Erden wünschenswerth wäre.

„Ach, meine Herren“ sagte er, „man sollte in dieser Welt Nichts beachten, was zum alltäg!ichen Treiben, zu sogenannten Geschäften gehört. Wie wenig braucht der Mensch, um glücklich zu sein! Müßiggang mit Würde, so übersehe ich mir die Weisheit der Alten. Indessen kann ich Ihnen in meiner philosophischen Bedürfnißlosigkeit keine andere Gastfreundschaft bieten, meine Herren, als auf Ihre Wünsche einzugehen. Sie wünschen Edith zu sprechen, Herr Legationsrath, hier ist sie; Sie wünschen mich zu sprechen, Herr Baron, kommen Sie mit mir!“

Er nahm den Arm Perser’s und geleitete ihn in seine sogenannte Studirstube, einen unmittelbar an die Küche grenzenden Raum, der mehr ein Erker als eine Stube war.

„Kann ich Ihnen mit einem Glas Aepfelwein aufwarten?“ sagte Sir Albert, der mit der Armseligkeit seiner Lage gewissermaßen Parade machte, weil ihm dadurch das Heroische seiner Resignation erst recht zur Geltung zu kommen schien. Beide hatten Platz genommen, und Glowerstone war innerlich entzückt, einen Mann allein sprechen zu können, der eben aus der Hauptstadt gekommen; denn der Vater Edith’s hatte nicht überhört, daß sie sich in Bezug auf den Legationsrath mit einer bei ihrer sonstigen kühlen Gelassenheit auffallenden Wärme geäußert hatte, und er hätte daran sogleich sanguinische Hoffnungen geknüpft, wäre nicht zu fürchten gewesen, daß dieser Siegfried Malköhne, dem er in der Hauptstadt nirgends begegnet war, ein mittelloser kleiner Beamter wäre. Darüber mußte Perser nach der Meinung Sir Albert’s genügend Aufschluß geben können. Allein der Baron zerstörte diese Erwartung.

„Ich bin erst vor einer Woche aus Paris gekommen, kenne die neuen Verhältnisse der Stadt noch gar nicht und am wenigsten die einzelner Personen, die ich nicht schon früher gekannt habe. Dieser Herr Malköhne hat mich auf Empfehlung der verwittweten Geheimräthin Forstjung für ein diplomatisches Geschäft gewonnen; weiter weiß ich nichts von ihm.“

„Das wäre fatal,“ brummte Glowerstone kaum vernehmbar in sich hinein, „wenn der jetzt immer größern Eindruck auf Edith machte, und es wäre eine hoffnungslose Sache.“

„Die Geheimräthin Forstjung,“ fuhr Perser fort, „könnte Ihnen genügend Auskunft geben, und dieser Frau wegen bin ich hier.“

Er berichtete nun über das Vorhaben Brigitta’s, sich in der Gegend anzukaufen, wenn irgend etwas für sie Brauchbares ganz in der Rähe von Glowerstone’s Besitzung ausgeboten würde. Sir Albert sprang auf und würde, wenn er nicht seine philosophische Würde beachtet hätte, Perser umarmt haben. Da war ja plötzlich ein Käufer für Alles und eine Frau konnte man schon gehörig herumkriegen. Er setzte den Sachverhalt aus einander, schwur, daß er Abscheu davor habe, durch diesen Legationsrath unmittelbar mit der Regierung verkehren zu müssen, rühmte das Haus des Pächters, die Lage, die Gegend, den Ertrag und würde noch lange nicht aufgehört haben, wenn Perser, der genug wußte und sich um weiter Nichts zu kümmern brauchte, nicht erklärt hätte, daß er den Wagen nicht länger warten lassen wolle.

„Sie werden Alles der Geheimräthin selbst sagen,“ sprach er eilig! „nicht wahr, sie kann sich ganz an Sie wenden? Jetzt fahre ich nach Wiesbaden, um ihr sogleich zu telegraphiren; sie wird übermorgen schon hier sein.“

„Sie haben einen Wagen,“ bemerkte Glowerstone, der niemals eine Gelegenheit versäumte, kostenfrei nach der Stadt zu fahren; „ich muß Sie begleiten, ich habe Ihnen noch viel zu sagen. Und dann, wir vergessen ja das Wichtigste, wir sind ja alte Freunde und haben noch gar nicht von alten Zeiten gesprochen. Glauben Sie mir, das ist nöthiger als die sogenannten Geschäfte, die ich verachte.“

Er hatte während dieser Rede die Thür geöffnet und der Köchin durch einen Wink angedeutet, was er haben wollte. Sie brachte ihm den Winterrock, Hut und Stock, und ohne in seinem Eifer zu bedenken, daß er sich früher noch von seinem andern Gaste hätte verabschieden müssen, folgte er Perser zum Wagen. Dem Baron war es lieb, noch in Erfahrung bringen zu können, welches Absteigequartier er der Geheimräthin telegraphisch anweisen sollte! denn offenbar lag ihr viel daran, in nächster Nähe des zu besichtigenden Gutes sich aufzuhalten.

„Wir haben gegenüber ein Hôtel,“ erklärte Glowerstone, während sie dahinfuhren, „ein prächtiges Etablissement. Im Sommer ist es zu klein für die andrängenden Fremden. Weine und table d’hôte sollen vorzüglich sein. Sie wissen, ich verachte solche Dinge. Jetzt ist es überflüssig groß. Meine Kousine Isabel, Sie wissen ja, die jetzige Gräfin Surville, die so wenig philosophisch ist, daß sie sich mit meiner Erkerstube nicht begnügen wollte, bewohnt das Hôtel. Sie reist freilich mit drei Personen, einer Gesellschafterin, einer Kammerfrau, die der Reisemarschall ist, und einer Zofe. Welche Thorheit, sich das Leben so schwer zu belasten, wenn man es so leicht nehmen kann!“

Perser achtete nicht sehr auf die Rede seines Gefährten. Dem Baron waren quälende Gedanken aufgestiegen. Wußte Brigitta nicht, daß Malköhne sich bei Glowerstone einfinden würde? Das war nicht anzunehmen. Weßhalb hatte sie dann nicht ihren Auftrag lieber diesem Freunde gegeben, der ihr [779] jedenfalls viel näher stand als Perser? War ihr die Lust, im Spätherbst nach dem Rheine zu gehen, erst über Nacht erst nach der Abreise des Legationsrathes gekommen? Und dieser selbst! Als ihn Perser jetzt wieder gesehen, war ihm plötzlich das in Kreide gezeichnete Portrait erkennbar geworden, auf dessen Original er sich damals nicht hatte besinnen können. Es war das Portrait Malköhne’s, aber um vieles jünger, noch ohne Bart, und im Ausdruck eine Verklärung zeigend, wie Perser sie eben jetzt in Gegenwart Edith’s zum ersten Male an ihm bemerkt hatte.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 48, S. 789–792
Novelle – Teil 5
[789]
10.

Perser und Glowerstone fuhren nach dem Telegraphenamt und begaben sich dann nach dem Hotel, welches Malköhne schon in der Hauptstadt Perser zum Aufenthalt angewiesen hatte. Dort trafen sie mit der Gräfin Surville zusammen, die im Speisesaale eben mit ihrer Gesellschafterin sich zu Tische setzte. Sie lud beide Herren ein, an dem Mahle theilzunehmen. Glowerstone schätzte sich im Stillen darüber glücklich und war nur beklommen durch den Gedanken, wie er auf eben so bequeme Weise, als er gekommen, in der Nacht wieder nach Hause gelangen sollte. Ein guter Genius schien jedoch an diesem Tage die geheimsten Wünsche seiner stets nach Gratisgenüssen schmachtenden Seele befriedigen zu wollen. Er hätte unfehlbar den weiten Weg in der Nacht zu Fuß zurücklegen müssen, da es doch nicht gut angegangen wäre, sich auch für ein Bett zu Gaste zu laden, wenn sich die Gräfin nicht beim Dessert bittend an ihn gewandt hätte. Er blickte dankend zum Himmel, als er vernahm, um was es sich handelte.

„Wiesbaden ist so voll,“ sagte die Gräfin, „daß ich für meine arme Freundin“ – sie deutete auf die immer finster blickende Gesellschafterin – „kein bequemes Schlafzimmer bekommen kann, während ich im Hôtel, Dir gegenüber, an Räumen Ueberfluß habe. Mein Wagen ist auch bereit, aber ich muß über Nacht hier bleiben. Du sagtest, daß Du nach Hause willst; möchtest Du nicht der Ritter dieser Dame sein, damit sie im fremden Lande in der Nacht den Weg nicht allein zurücklegen müßte?“

So fügte es sich, daß Perser später mit der Gräfin allein im Saale blieb. Nachdem er ihr mitgetheilt, daß er in derselben Angelegenheit nach Wiesbaden gekommen, für welche Malköhne auch die Gräfin zu interessiren gesucht hatte, sagte diese:

„Ich bin so unbekannt mit der Gesellschaft in Deutschland, daß ich nicht recht verstehe, was der Legationsrath von mir will. Er behauptet zwar, hier durch mich in Glowerstone’s Sache zu wirken; aber er hat mir so viele Aufträge für den Lord gegeben, meinen alten Freund, daß ich wohl bemerke, es handle sich um eine politische Affaire. Malköhne bittet mich auch, Ihre Bekanntschaft mit dem Lord zu vermitteln.“

Es konnte nicht fehlen, daß diese beiden Menschen, die einst eine den Ernst des Lebens betreffende Beziehung zu einander gepflogen hatten, jetzt, zum ersten Male ohne Furcht vor Störung beisammen, unbefangen und nüchtern, aber mit der Behaglichkeit, [790] die der Rückblick auf die Jugend gewährt, das Schicksal besprachen, das sie für einen Augenblick vereint und dann für immer getrennt hatte. Die Unterhaltung mußte in Beiden ein freundschaftliches Gefühl erregen, und der Gräfin entging es nicht, daß Kummer auf dem Baron lastete, der, obgleich um vier Jahre älter, als Mann doch unvergleichlich mehr Jugend vor der Gräfin vorauszuhaben schien. Perser, der im ersten Gespräch mit ihr in der Hauptstadt kein Geheimniß aus seiner äußeren Lage gemacht, würde doch um keinen Preis verrathen haben, was ihn jetzt bedrückte. Er hätte gefürchtet, mit seinen fünfzig Jahren unendlich lächerlich zu erscheinen, wenn man ihm ein Liebesgefühl angemerkt hätte. Indessen sind die Frauen in diesem Punkte jedem Alter gegenüber außerordentlich tolerant und hierin zugleich mit einem Ahnungsvermögen begabt, welches sie rasch auf die richtige Spur führt.

„Sie sind nicht in glücklicher Lage,“ sagte die Gräfin, „und ich habe so viel Pietät für unsere abgethane Vergangenheit, daß ich Sie nicht leiden sehen möchte. Mein Leben ist abgeschlossen; ich trage es in Ländern und Städten umher, um leichter zu vergessen, daß es ein verfehltes ist, und mir einzubilden, ich hätte etwas zu thun auf dieser Welt. Oft habe ich gehört, daß die Menschen von eisernen Pflichten niedergedrückt werden und sich dadurch elend fühlen; ich meine aber, das größte Elend wäre, aller Pflichten los und ledig zu sein. Wenn ich nun plötzlich etwas zu thun bekäme, für einen Mann zu thun bekäme, um welchen ich vor vielen Jahren Träume und Gedanken gewoben habe, die nicht ohne Einfluß auf man Schicksal blieben, wenn ich einem solchen Mann etwas leisten könnte – ich würde erreicht haben, was mir bis heute unerreichbar schien: nicht umsonst gelebt zu haben.“

Perser war von dieser Aeußerung bewegt; aber in Regungen des Herzens von der Art, wie sie ihn überkommen hatten, giebt es keine Hilfe. Er gestand ihr so viel, daß nach einer unbeglückten und haltlosen Existenz, in der er niemals in einer festen Bestimmung aufgegangen war, jetzt ein Ziel vor seinen Augen schwebte, aber ein unmögliches Ziel, eine Thorheit, ein Wahnsinn.

In diesem Augenblicke trat Malköhne in den Saal. Er hatte inzwischen seine Absichten weiter verfolgt. Als Glowerstone und Perser sich entfernt hatten, knüpfte der Legationsrath an das letzte Zusammensein mit dem Mädchen im Hause der Gräfin an. Edith hatte damals große Sehnsucht nach der Wiederkehr zu ihrem Vater ausgesprochen und nicht verhehlt, daß die ländliche Stille und Verborgenheit eben so viel Antheil an dieser Sehnsucht hätten, als ihre kindliche Liebe.

„Haben Sie nun gefunden, mein Fräulein,“ fragte er, „was Sie so sehr gewünscht haben? Sie konnten damals auf das Drängen der Gräfin, zu gestehen, was Sie eigentlich nach Hause lockte, nichts Bestimmtes antworten, und ich glaube, man malt sich eine Wiederkehr immer schöner aus, als man sie zuletzt in der That findet.“

„Ich bin mir meiner Wünsche vollkommen bewußt,“ erwiederte Edith, „und es ist leicht erklärt, warum ich nichts Bestimmtes anzugeben wußte. Nicht das Heim hat mich gelockt, sondern die Fremde hat mich abgestoßen.“

Er sah sie erstaunt an; denn was nur immer einem jungen Geschöpf unter den Vergnügungen der Hauptstadt reizend und begehrenswerth, erscheinen kann, hatte die Gräfin Surville um Edith versammelt; nicht nur was die Phantasie erregen und den Sinnen schmeicheln kann, Tanz, Theater und die geselligen Freuden überhaupt, sondern auch was dem Geist und dem Ernst dieser Mädchennatur tiefere Eindrücke zurücklassen mußte, die Unterhaltung mit begabten Persönlichkeiten aus allen Gebieten des Schaffens und Wirkens, hatte sie Edith, so lange sie in der Hauptstadt geweilt, vollauf zur Verfügung gestellt. Dies hielt ihr Malköhne vor, als sie sich so widerwillig von dem Gedanken an ihr Leben in der Stadt abzuwenden schien.

„Ja, es ist der wahre Inhalt eines menschenwürdigen Daseins, was ich für kurze Zeit genossen habe,“ erwiederte Edith, und eine edle Gluth stieg bei der Erinnerung in ihre Wangen; „ich wüßte nichts auf Erden was mir noch einen Wunsch übrig ließe, wenn eine solche Existenz meine gewöhnliche wäre, Tag für Tag, nothwendig, sich von selbst verstehend wie das Auf- und Untergehen der Sonne, kurz, wenn es niemals anders sein könnte. Eine solche Lebensweise, eine solche Gesellschaft, das wäre dann wie mein eigenes Haus. Fühlen Sie aber nicht, daß es unheimlich, daß es entsetzlich werden kann, sich in seinem eigenen Hause als ein Gast zu wissen, den die Umstände jeden Augenblick nöthigen können, seine eigene Lebenssphäre zu verlassen, gleichsam seine Seele, die sich ganz damit erfüllt hat, wie Handschuhe abzulegen und arm und verbannt in die Ferne zu ziehen?“

Malköhne war in Versuchung, ihr zu sagen, sie brauche ihm bloß ihre Hand zu reichen, und was sie ihr eigenes Haus nannte, was ihrer Bildung und ihrer Denkungsweise mit Recht zukäme, wäre für immer ihr gesicherter Besitz. Er beherrschte sich aber, er wollte sich nicht wie ein verliebter Knabe von der Leidenschaft übermannen lassen. Zwei Dinge mußten früher festgestellt sein: zunächst, daß die Charaktereigenschaften des jungen Mädchens die unendliche Sympathie rechtfertigen konnten, die er ihrer äußeren Erscheinung zuwendete, sodann aber, daß es eben nicht das Verlangen nach dem eigenen Hause wäre, nach der Lebenssphäre, die der Reichthum aufschließt, was sie bestimmen mochte, auf seine Wünsche einzugehen. Darum wollte er, daß sie den Gedanken, der sie in diesem Augenblicke bewegte, ganz ausspreche, und er entgegnete:

„Sie selbst haben sich verbannt, früher als es nöthig war; ich weiß von der Gräfin, daß es nur von Ihnen abhing, den Aufenthalt bei ihr ins Ungemessene auszudehnen.“

„Was wäre damit gewonnen gewesen?“ rief Edith erregt; „das Gefühl, mich so zu sagen im Salon der Gräfin auf meinem eigenen Grund und Boden zu wissen, hätte mir keine noch so lange Dauer des Aufenthaltes verschaffen können. Das ist die Ursache, nach der Sie forschen, Herr Legationsrath, die Ursache meines Heimverlangens. Ich sehnte mich nach dem entgegengesetzten Pol jener Existenz, nach meiner Armuth, Verlassenheit, Einsamkeit; denn das sind, wie schwer es auch zu erklären ist, fast dieselben Güter, um das angenehme Bewußtsein noch vermehrt, daß sie mir wirklich zukommen, daß sie mein wahres Eigenthum sind.“

Sie lächelte bei diesen Worten, aber Malköhne ahnte, daß es ihr um mehr zu thun war, als um den Scherz, Armuth und Einsamkeit für Lebensgüter zu erklären. Er drang auf eine Erklärung.

„Es ist im Grunde einfach,“ bemerkte sie, „geben Sie einmal allen wünschenswerthen guten Dingen auf dieser Welt eine Zahl. Sagen wir, solcher Dinge gebe es 99, so werde ich immer noch das hundertste hinzufügen können, das nicht schon unter diesen guten Dingen ist, nämlich sie alle entbehren zu können. Es ist nicht auszudrücken,“ fuhr sie lebhafter fort, „wie glücklich eine volle Entsagung machen kann. Sie läßt den Geist der Dinge zurück, die man in Wirklichkeit entbehrt oder eigentlich dann nicht mehr entbehrt. Man hat Alles, wonach man nicht strebt. Bin ich mir nicht so gut wie eine Königin, sobald es mir ganz gleichgültig ist, ob ich eine bin oder nicht? Wenn etwas fehlt, so ist es ein zweiter Mensch, der eben so dächte, wenn man nun schon einmal einen zweiten an seiner Seite hat, der nicht so denkt und dadurch unglücklich ist, wie mein Vater.“

Hatte Malköhne der Versuchung widerstanden, ihr mit dem Reichthum Alles anzubieten, was sie entbehrte: er widerstand nicht ganz der Versuchung, den Schein der Armuth anzunehmen, damit sie das gesuchte Herz in ihm vermuthe. Eine erdichtete Andeutung in diesem Sinne nahm Edith mit Theilnahme auf. Sie mußte ihn für einen armen Beamten halten, der sich nach Stille und Verborgenheit sehnte, um wie Edith selbst in dem Gedanken der Entsagung dahinleben zu können. Fester und strahlender als bisher richteten sich ihre schönen Augen auf ihn; aber er konnte nicht den Muth finden, in einer trügerischen Maske um sie zu werben, so lange er nicht Gelegenheit gegeben, ihn in seiner Person zu erkennen, als einen Mann, der unabhängig von Besitz oder Nichtbesitz für sich selbst einen Werth beanspruchen konnte. Dazu bedurfte es einer zweiten Zusammenkunft und er schied mit dem Vorsatz, das nächste Mal als ein Beglückter von Edith zu gehen.

In dieser aber blieb der sie entzückende Traum zurück, einem Manne, der Nichts weiter auf Erden besäße als das Herz eines Weibes, mit diesem Herzen Alles zu ersetzen. Sie liebte.

Auf der Fahrt nach Wiesbaden dachte er einen Augenblick an Brigitta. Er hatte niemals aufgehört, sie zu lieben; aber seit Edith [791] in sein Leben eingetreten, war der Schleier von jener Liebe gefallen und sie zeigte ihr wahres Gesicht. Es war Alles: Verehrung, Dankbarkeit, Hingebung, Anbetung – nur nicht die Liebe selbst. Sie stand ihm hoch genug, um ihr zuletzt Alles zu gestehen; aber sie war ihm auch theuer genug, um ihr diese Kränkung so spät wie möglich zu bereiten.

Er trat, wie erwähnt, in den Saal, in welchem die Gräfin und Perser sich noch am Tische befanden, setzte sich zu ihnen und sprach von gleichgültigen Dingen. Allein der Ton und die Aufregung, womit dies geschah, hätten schließen lassen, daß er von Gedanken und Vorstellungen beherrscht war, die er keineswegs auszusprechen Lust hatte. Perser, der sich seines Auftrags erinnerte, sobald die Reise der Geheimräthin nach dem Rheine gesichert sein würde, Allen, die es hören wollten, davon Mittheilung zu machen, beeilte sich jetzt, die bevorstehende Ankunft Brigitta’s anzuzeigen.

Der Legationsrath verlor ein wenig die Farbe, und so sehr er sich bereits in seinem diplomatischen Berufe gewöhnt hatte, jeden bedeutenden Affekt zu unterdrücken: das namenlose Erstaunen, welches ihn in diesem Momente beherrschte, mußte sichtbar werden. Er war im Grunde eine biedere Natur, die nach sittlichen Motiven handelte, und wenn er in seinem Beruf als Politiker Verstellung und Heuchelei als eine Kunst betrachtete, deren er sich nicht zu schämen hätte: in den Angelegenheiten seines Privatlebens war er bisher unfähig gewesen, sich solcher Mittel zu bedienen. Erst die letzte Wendung seines Gemüthes hatte eine gewisse Unlauterkeit in seinem Verhältniß zu Brigitta hervorgerufen, aber im Tiefsten seines Herzens wollte er sich dafür eines Rechtfertigungsgrundes bewußt sein.

In wenigen Sekunden war er gesammelt und verlor nicht nur den Ausdruck des Erstaunens, sondern auch die Aufregung, die ihn beherrscht hatte, bevor Perser die bedeutungsschwere Nachricht mitgetheilt hatte. Nur um nicht dem Baron gegenüber wie ein Dupirter zu erscheinen und um Brigitta selbst zu schonen, bemerkte er, daß ein alter Plan der Geheimräthin mit ihrem neuesten Entschlnß zur Reife gekommen sei. Er erhob sich hierauf vom Tische; die Gräfin ließ ihre Zofe kommen und verabschiedete sich von den Herren. Diese gingen auf ihre weit aus einander liegenden Zimmer. Von dem Zweck der Anwesenheit Perser’s mit ihm noch an diesem Abende zu sprechen, wäre Malköhne unmöglich gewesen.

Er verbrachte eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen setzte er sich mit Perser über die politische Angelegenheit ins Einvernehmen. Die Sache war beim Lord mit Hilfe der Gräfin bald geordnet; Perser übernahm den Dienst als Sekretär, und als er die Gräfin in ihre Wohnung zurückbegleitet hatte und noch in ihrem Salon verweilte, sagte sie:

„Sie sind gestern nicht zu Worte gekommen, lieber Baron; das Eintreten des Legationsrathes hat unser Gespräch abgeschnitten. So viel habe ich errathen, daß es nicht die Erbärmlichkeit der äußeren Umstände ist, was Sie zumeist beschäftigt; es läßt sich ja solchen Dingen auf irgend eine Art leicht abhelfen. Wenn Sie aber meine Theilnahme für Sie, die immer mehr in lebhafte Freundschaft übergeht, nicht für weibische Neugier halten wollen, so biete ich Ihnen meine Hilfe an.“

Perser theilte der Gräfin wenigstens so viel mit, daß sie die Absichten ihres Vetters Glowerstone verstehen konnte.

„Ja wohl,“ sagte die Gräfin, „ich kenne meinen Vetter sehr genau; er ist einer von den Menschen, die immer nach Geld verlangen, denen aber alles Geld der Welt nicht helfen könnte, weil sie nicht damit umzugehen wissen. Darum denke ich auch bloß an Edith und überlasse ihren Vater seinen Spekulationen; sie vertreiben ihm die Zeit und geben seiner beständigen Unzufriedenheit wenigstens einen bestimmten Gegenstand. Was er jetzt im Sinne hat, ist leicht zu durchschauen. Er wird der Geheimräthin das Besitzthum des Staates und sein eigenes aufzubürden suchen, mit dem Preis, den sie dafür zahlt, die Regierung befriedigen und ein hübsches Sümmchen für sich zurückbehalten. Damit kann er in die Hauptstadt ziehen, das Leben nach seiner Art genießen – aber wie lange? Dann fängt eine neue Spekulation und neues Elend für seine Tochter an. Warum aber sollte die Geheimräthin in die Falle gehen? Freilich, wenn sie ein unerfahrenes Weib sein sollte oder wenn die Motive des Ankaufs in dieser Gegend so stark sind, daß sie über Alles hinwegsehen muß … Wir kennen diese Motive nicht, und was geht uns die Frau an?“

Die Gräfin hielt bei dieser Frage ihre ausdrucksvollen Augen auf Perser gerichtet, der unwillkürlich seinen tiefer gehenden Antheil an den Schicksalen Brigittas äußerte. In der Gräfin erwachte die Ueberzeugung, daß der Kummer und die Niedergeschlagenheit des Barons in diesem Punkte ihre Quelle hatten.




11.

Brigitta hatte sich nach der Verabschiedung Perser’s unwohl erklärt, was ihren Bediensteten gegenüber bedeutete, daß sie keinen Besuch irgend einer Art empfange. Sie wollte ihren Gedanken ungestört nachhängen, und doch kam ihr mitten in dieser Ungestörtheit ein bisher noch nicht erlebtes Gefühl der Vereinsamung ins Herz. Warum hatte sie keine Vertraute, weßhalb war in dem großen Kreise, den sie im Hause empfing oder dem sie sich in Gesellschaften anschloß, kein einziges weibliches Wesen, mit dem sie diesen schwersten Augenblick ihres Lebens hätte theilen wollen? Sie sah plötzlich mit Grauen auf die durchlebten Jahre zurück; tausend Anlässe, hier oder dort eine Gemüthsbefriedigung, einen erquickenden Anschluß zu finden, hatte sie mit übermüthiger Freude von sich geschleudert, weil das Opfer der Erhaltung des Geheimnisses gebracht wurde, welches sie mit Malköhne verband. Es war der Brennpunkt gewesen für Alles, was man Traum und wirkliches Leben nennen konnte, und nun zeigte ihr der Schrecken vor ihrer Einsamkeit, daß sie nicht wirklich gelebt, sondern in trügerischen Träumen die Jahre aufgezehrt hatte. Sollte es auf diese Weise fortgehen können, selbst wenn sie Siegfried wieder eroberte, ja selbst wenn ihre Befürchtungen nur eitel Gespenster gewesen wären?

Denn manchmal war es ihr, als könnte ihre Angst eine grundlose sein, hervorgegangen nur aus dem beständigen Zittern vor dem Untergang ihres Glückes. Nichts hatte sie erfahren, was darauf hindeutete, daß Siegfried die Tochter Glowerstone’s wirklich gekannt oder auch nur gesehen hätte. Wohl hatte er viele Abende bei der Gräfin zugebracht, aber es geschah aus politischen Gründen, und vielleicht war ihm das Mädchen nicht bedeutend genug erschienen, um auch nur den Namen zu nennen. Allein Brigitta verwarf diesen schwindelnden Trost so rasch wieder, als er in ihr aufgestiegen war. Siegfried’s ausweichende Antwort, als sie nach der Umgebung Glowerstone’s, nach seinen Angehörigen gefragt hatte, kam ihr in den Sinn, und der schreiende Schmerz in der Seele bestätigte das Schlimmste, was sie von Siegfried dachte. Es war kein Zweifel, er war auf dem Wege, einen unerhörten Verrath an ihr zu begehen – und es sollte ihm nicht gelingen, müßten sie Beide auch in Jammer und Verzweiflung untergehen.

Gerade in diesem Augenblick der Entschlossenheit war es, daß Perser’s Telegramm eintraf. Sie wußte jetzt klar, was sie zu thun hatte. Es war spät Abends, der Schnellzug ging in den frühesten Morgenstunden ab. Sie gab ihrer Kammerfrau Befehl, das Nöthigste zurecht zu machen und sich selbst zur Begleitung auf die Reise vorzubereiten. Die Lampe in der Hand schritt sie von Zimmer zu Zimmer, um nachzusehen, was von den tausend Kleinigkeiten, die der Luxus täglich gedankenlos in Gebrauch hat, ihr unvermuthet so dienlich sein könnte, um mitgenommen zu werden. Dabei fielen ihr die letzten Geschenke Malköhne’s ins Auge, die zierlichen und kostbaren Nippessachen, die er für sie bei Carmisoli erstanden hatte. Sie dünkten ihr eine Bestätigung seines Verrathes zu sein.

Sie setzte sich an den Schreibtisch und vergegenwärtigte sich noch einmal ihr ganzes Vorhaben. Dem Geliebten nachzureisen, um ihm Scenen zu machen, das wäre eine Lächerlichkeit gewesen und zugleich eine Herabsetzung ihrer Frauenwürde, und das war ihr keinen Augenblick in den Sinn gekommen. Allein er sollte sie auch nicht ohne Weiteres zerschmettern dürfen, um auf ihrer Leiche Hochzeit zu halten. Sie hatte ihm jene Jahre geopfert, welche die letzten sind, in denen ein Weib noch vollauf glücklich werden kann, er sollte das Opfer, wenn es umsonst gebracht war, mit seinem Leben bezahlen. Sie sah nach, ob der Revolver, den sie besaß, in gutem Stande war. Dann kehrte sie zum Schreibtisch zurück und setzte ihr Testament auf. Einige [792] Abschiedsbriefe, die sie noch aufs Papier warf, waren kurz und enthielten keinen Aufschluß über die Motive ihres Unterganges. Testament und Briefe wurden in einem Fache untergebracht, wo man sie sogleich finden mußte, wenn sie nicht mehr zurückkehrte.

Das Vollbringen dieses Geschäftes ließ ihr eine erstickende Ruhe des Gemüthes zurück. Sie warf sich sogar angekleidet zum Schlummer nieder, wenn sie auch oft wieder mit einem heftigen Aufzucken emporfuhr. Endlich erhob sie sich beim Schlage der Uhr, und sie war es, welche die Kammerfrau weckte, statt, wie es verabredet war, von ihr rechtzeitig geweckt zu werden.

Das Rasseln des Zuges, das Kommen und Verschwinden der Mitreisenden ging an ihr vorüber wie ein unverständliches Schauspiel; sie hatte Mühe, sich zu besinnen, weßhalb sie auf der Reise war. Wenn Menschen, die niemals aus dem gewohnten Geleise des vorgeschriebenen Thuns und Lassens gekommen sind, durch ein unerwartetes Schicksal zu einer außerordentlichen Handlung aufgerüttelt worden sind, dann ist es, als ob sie sich selbst auf der neuen Bahn nicht wiedererkennen würden und sich in jedem Moment erst fragen müßten, wozu sie entschlossen und wohin sie gerathen sind.

Der Abend war schon angebrochen, als sie in dem ihr von Perser bezeichneten Hôtel gegenüber der Besitzung Glowerstone’s anlangte. Man wies ihr Zimmer in der zweiten Etage an, und nachdem sie sich umgekleidet hatte, überlegte sie, ob es nicht noch an diesem Abend möglich wäre, da sie ja angeblich zu einem praktischen Geschäfte gekommen war, bei Glowerstone vorzusprechen. Da vernahm sie Geräusch auf dem Korridor, das ihr in einem Hôtel nicht auffallen konnte; aber die Kammerfrau trat bei ihr ein mit der Frage, ob die Geheimräthin geneigt sei, noch in so später Stunde die Gräfin Surville zu empfangen.




12.

Als die Geheimräthin hörte, wer bei ihr vorsprechen wollte, war ihre Ueberraschung keine ganz freudige. Sie hatte nichts von Ermüdung und Abspannung gespürt, so lange alle ihre Kräfte ausschließlich auf den Zweck gerichtet waren, der sie hierher geführt und der wie Feuer durch ihre Adern rann. Darum wäre sie am liebsten sogleich in das Haus Glowerstone’s geeilt, um vor Allem die Situation zu übersehen. Im Augenblicke, da sie einer bloß geselligen Pflicht genügen sollte, fühlte sie sich von der Reise todmüde und der Erschlaffung hingegeben, die auf jede Ueberspannung folgt. Fast war sie im Begriffe, den Besuch abzulehnen, als ihr plötzlich die Verwandtschaft der Gräfin mit Sir Albert vor das Gedächtniß trat und sie sich zum Empfang bereit erklärte. Das Zimmer war behaglich erwärmt und beleuchtet, und die Gräfin stellte sich vor, indem sie bemerkte, daß die zwei einzigen Gäste dieses Hauses sich nicht früh genug mit einander gegen die etwaigen Unzukömmlichkeiten in einem Dorfwirthshause verschwören könnten.

„Ich habe mir die Berechtigung, Sie aufzusuchen, Frau Geheimräthin,“ sagte hierauf die Gräfin, „vom Baron Perser geholt. Er glaubt den Auftrag, den Sie ihm in der Hauptstadt gegeben, nicht völlig erfüllt, weil er, durch eine amtliche Beschäftigung an Wiesbaden gebunden, Ihnen nicht zur Seite stehen kann.“

„Er ist, wie ich meine, hier so fremd wie ich selbst,“ erwiederte Brigitta, „und könnte mir wohl wenig nützen. Freilich ist er mit Sir Albert Glowerstone befreundet, noch aus alter Zeit, und könnte mich dort einführen. Allein ich komme in Geschäften und weiß von praktischen Dingen wenigstens so viel, daß man überall gut angenommen wird, wo man ein Geschäft mitbringt. Perser hat mir telegraphirt, daß das Gut, welches ich in der Gegend anzukaufen wünsche, in den Händen Glowerstone’s ist.“

„Und Sie haben Niemand,“ versetzte die Gräfin, „der Sie als Sachverständiger begleiten würde? Sind Sie zufällig so bewandert in der Forstwirthschaft, um die Verrechnungen über den Holzertrag und die Anforderungen des Schiffsbaues an den Wald zu würdigen, zu verstehen? Dann bewundere ich Sie, Frau Geheimräthin; wenn aber nicht –“

Brigitta schlug die Augen nieder; das war die erste Verlegenheit, die ihr aus dem in Verzweiflung gewählten Vorwand erwuchs. Die Gräfin, welche nicht den Anschein hatte, die Befangenheit Brigitta’s zu bemerken, wie sehr sie auch ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet hielt, kam der Erröthenden zu Hilfe:

„Ich wollte sagen, wenn das nicht der Fall ist, wenn Sie von der Waldökonomie, die mit dem Ankauf der Villa unzertrennlich verknüpft ist, keine Kenntniß haben, so kann vielleicht ich Ihnen Beistand leisten. Ich erlaube Ihnen zu lachen; wer sollte mir auch glauben, daß ich in Land- und Forstwirthschaft zu Hause wäre und den wirklichen Werth einer ausgedehnten Besitzung zu ermessen wüßte? Die Sache ist aber einfach: ich selbst war einmal nahe daran, aus Rücksicht auf die Wünsche meines Vetters Sir Albert den ganzen Komplex anzukaufen, und habe mich deßhalb von allen Einzelheiten unterrichten lassen. Ich setze indessen voraus, daß es Ihnen zu langweilig wäre, sich noch heute davon zu unterhalten, und es fragt sich nur, ob Sie sich Glowerstone noch heute als eventuelle Käuferin anmelden wollen.“

Brigitta bejahte mit großer Lebhaftigkeit, und die Gräfin erbot sich, die Einführung selbst zu übernehmen. Es wären nur wenige Schritte zurückzulegen, und man käme Sir Albert und seiner Tochter zu jeder Zeit gelegen, besonders aber dem Vater, der nach Unterhaltung, nach irgend etwas Neuem in der Eintönigkeit seiner Existenz immer verlange. So begaben sich denn die beiden Damen über die Dorfstraße, in deren Finsterniß die Gräfin gut Bescheid wußte, nach dem Bauernhofe, wie Glowerstone selbst seine Besitzung gern nannte, um anzudeuten, welcher heroischen Einfachheit des Lebens ein von der Welt zurückgezogener Philosoph fähig wäre. Sie hatten die Schwelle noch nicht überschritten, als Brigitta dem unwiderstehlichen Drang ihrer Leidenschaft, den sie bisher mit Selbstbeherrschung zurückgehalten hatte, durch die Frage nachgab, ob nicht in der Angelegenheit des Gutskaufes schon der Legationsrath Siegfried Malköhne bei Glowerstone vorgesprochen hätte.

Die Gräfin dachte einen Augenblick nach, dann erwiederte sie:

„Ich kann nicht sagen, was den Legationsrath hierher geführt hat; aber ich weiß, daß er den Nachmittag des gestrigen Tages in diesem Hause verbrachte; er hat es mir selbst erzählt. Ich glaube jedoch nicht, daß wir ihn jetzt hier antreffen werden.“

Brigitta zuckte unwillkürlich zusammen; eine geheime Furcht, ihm zu begegnen, war sie los geworden, und dennoch blieb wieder ein leises Bedauern darüber in ihr zurück.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 49, S. 805–810
Novelle – Teil 6

[805] Der große Saal, in welchem ein altväterlicher Kamin große Holzklötze verzehrte, war der eigentliche Wohnraum des Hauses von Glowerstone und zugleich das einzige Gemach, in welchem Fremde empfangen werden konnten. In einer Ecke saß Sir Albert vor dem Schachbrett, um Probleme zu lösen, was einigermaßen einer philosophischen Aufgabe gleich kam; in der anderen Ecke saß Edith beim Spinnrad. Dieses aus den Urväterzeiten überkommene Geräth, welches gegenwärtig selbst in Bauernstuben nicht mehr zu finden ist, bot Edith eine wohlthätige Beschäftigung. Sie haßte die weiblichen Handarbeiten, welche die Augen anstrengen und nichts zu Tage fördern, was Nutzen hätte oder der Schönheit eines Kunstwerkes gleichkäme, und ebenso war sie nicht geneigt, eine ihr von der eigenen Denkungsweise vorgeschriebene Diät der Lektüre zu überschreiten und Abend für Abend ein neues Buch nach dem andern zu lesen.

Der Eintritt der beiden Damen verursachte eine Freude, die bei Vater und Tochter ganz verschiedene Ursachen hatte. Edith war durch die Gegenwart der Gräfin immer beglückt, während ihr Vater sie beinahe fürchtete, weil seine „Muhme Isabel“, wie er sie spöttisch gern nannte, zu viel Kritik an ihm übte. Hingegen war Glowerstone ganz außer sich vor Vergnügen, als die Gräfin ihre Begleiterin vorgestellt hatte; er glaubte sich schon am Ziel seiner höchsten Wünsche. Sogleich räumte er ihr einen Platz in der Ecke ein, wo er über den Schachproblemen gegrübelt hatte, indeß die Gräfin sich mit Edith vor das Spinnrad setzte, so daß beide Parteien gegenseitig außer Hörweite waren.

„Sie dürfen nicht erstaunen, Frau Geheimräthin,“ sagte er, „einen Gutsbesitzer und englischen Sir in so primitiver Behausung zu finden. Ich habe mich aus der Welt zurückgezogen; denn die Welt dreht sich um die Achse der Dummheit. Das ist auch ganz natürlich. Denn wenn sie nicht dumm wäre, so würde sie sich überhaupt nicht mehr drehen, also lieber zu existiren aufhören. Das ist aber einer so wunderschönen Frau gegenüber – Sie werden einem alten Manne das unwillkürliche Kompliment verzeihen, weil es von seinen Lippen eine Wahrheit ist, – das ist der Schönheit gegenüber eine schlecht angebrachte Philosophie. Die Frauen sind es allein, welche die Existenz der Welt begreiflich und verzeihlich machen.“

Brigitta ging sogleich auf den angeblichen Zweck ihres Erscheinens über, auf die Beschaffenheit des Gutes, das zu verkaufen wäre. Damit war ein Thema nach dem Herzen Glowerstone’s gegeben. Er begann seine Lobpreisung des Gegenstandes in der Form unzähliger wirthschaftlicher Details vorzutragen, von denen er selbst nicht das Geringste verstand, die er aber vom Pächter auswendig gelernt hatte. Mit halbgeschlossenen Augen lauschte Brigitta auf die ihr unendlich gleichgültige Rede; sie lauerte darauf, ob nicht der Name des Legationsrathes vorkommen werde. In der That, Glowerstone schloß [806] seine Auseinandersetzungen mit dem bedeutungsvollen Wink, daß man, um sich den Besitz des Gutes zu sichern, der Regierung durch möglichste Raschheit zuvorkommen müsse, denn sie hätte schon an ihn den Legationsrath Siegfried Malköhne abgesendet, der in ihrem Auftrag vor Ungeduld brenne, den Handel abzuschließen.

Diese Aeußerung benutzte Brigitta, um sich zur Gräfin zu wenden und dadurch endlich zu Edith treten zu können. Sich von ihrem Sitze erhebend und eilig in die andere Ecke schreitend, als ob sie eine interessante Nachricht brächte, sagte Brigitta:

„Sehen Sie, Frau Gräfin, jetzt wissen wir, was Sie nicht anzugeben wußten. Der Legationsrath war in derselben Angelegenheit hier, die mich so sehr beschäftigt. Aber dieser holden Erscheinung gegenüber“ – wandte sie sich zu Edith – „hat man nicht das Recht, von Geschäften zu sprechen. Lassen wir dies auf eine andere Zeit. Was für ein herrliches Bild bringen Sie mir vor Augen, mein Fräulein, durch das Spinnrad! Man muß an alle alten Geschichten romantischer Art denken. Doch nein! in jenen Geschichten sitzt immer eine greise Großmutter vor dem Spinnrad und hier ein wunderschönes Fräulein mit Elfenbeinfingern, wie ich sehe.“

Jetzt war es nöthig, daß die vier Personen zusammenrückten, und Edith sagte geradezu, daß sie darauf gelauert hätte, die Trennung in zwei Parteien aufzuheben und das Gespräch allgemein zu machen. Brigitta, eingedenk, in welcher gespannten Lage sie sich befand, und daß sie nöthigenfalls einen Schritt über das Konventionelle hinaus wagen müßte, um für diese Nacht, wenn möglich, ein bestimmtes Faktum nach Hause zu bringen, gab die gefundene Anknüpfung an Siegfried nicht mehr auf. Es war ihr schon eine mit Bitterkeit vermischte Wonne, von ihm zu sprechen, und da sie nicht so weit gehen konnte, seine Person zum Helden ihrer Mittheilungen zu machen, so kam es ihr außerordentlich zu statten, daß Glowerstone eifrig nach den Verhältnissen des Legationsrathes forschte.

Brigitta erzählte von der bevorzugten Stellung, die Siegfried Malköhne in der Gesellschaft einnahm, und namentlich von dem ungeheuren Reichthum, dessen er sich schon erfreute und der noch auf ihn übergehen würde, weil dadurch Anlaß gegeben war, das großartige Leben zu schildern und zu erklären, welches er in der Hauptstadt führte. Wohl fühlte sie dunkel, daß sie dadurch vielleicht begünstigte, was sie eigentlich verhindern wollte, daß dieser Umstand Edith für eine Werbung stimmen müßte, wenn es die Person Siegfried’s nicht gethan haben sollte. Allein Brigitta wollte mit der ganzen Gewalt der Situation den Kampf eingehen und nicht durch Winkelzüge gewinnen.

Zu dieser vollen Gewalt der Situation gehörte aber auch, daß Malköhne die etwaige Begünstigung seiner Werbung durch den Umstand, daß man von seinem Reichthum wußte, wohl merken mußte und daß dadurch noch im letzten Augenblicke eine andere Wendung herbeigeführt werden konnte. So fühlte Brigitta, daß sie unwillkürlich durch diese Enthüllung seiner Verhältnisse sich einen letzten Hoffnungsanker geschaffen hatte.

Glowerstone’s blondes Gesicht ging wie in Seligkeit schwimmend breit aus einander; seine Augen schlossen sich, um neben dem Bilde, das in seiner Seele aufstieg, nichts Anderes zu sehen. Davon ganz verschieden war der Eindruck auf Edith. Sie gedachte der Andeutungen Malköhne’s, daß er gleich ihr ein Leben der Dürftigkeit führe, und sie fühlte ihre Vorstellung von ihm getrübt. Ihre schönen Brauen zogen sich finster zusammen und sie starrte vor sich hin. Brigitta beobachtete die entgegengesetzten Wirkungen ihrer Mittheilung.

Plötzlich warf Glowerstone die Frage auf, wie es komme, daß ein Mann in so ausgezeichneter Lebensstellung noch unvermählt sei.

Die Geheimräthin erwiederte gleichmüthig:

„Er glaubt sich vielleicht noch zu jung. Auch ist er der Ehe überhaupt abgeneigt, wie man wenigstens allgemein hört.“

„Das wäre ein Makel an ihm,“ rief Glowerstone mit Eifer und großem Ernste; „ein Mann muß der Gefahr ins Auge sehen. Die Militär- und Landwehrjahre sind das Geringere, er muß auch seine Ehejahre abdienen.“

Dies führte Glowerstone weiter aus und gerieth dadurch in eine von seiner Seite sehr laut geführte Diskussion mit der Gräfin. Inzwischen flüsterte Brigitta dem schönen Mädchen eine Frage über denselben Gegenstand zu:

„Ich habe natürlich kein Urtheil,“ erwiederte Edith, ohne daß sich der düstere Ausdruck ihrer Züge verloren hätte; „aber, was mich selbst betrifft, so bin ich so glücklich, bereits eine Pflicht gegen einen Mann zu haben –“ sie deutete auf ihren Vater – „und ich wünsche mir keinen andern Mann und keine andere Pflicht, denn so jung ich bin, so sehr ich auch außerhalb der Welt lebe, ich habe bereits eine Enttäuschung erfahren.“

Beide sprachen leise zusammen weiter, und für Brigitta gewann es den Anschein, als ob Edith nicht von der Beschaffenheit wäre, daß auch der reichste Mann nur die Hand nach ihr auszustrecken brauche, um sie zu gewinnen. Sie wird ihn zurückweisen – dachte Brigitta einen Augenblick – sie selbst, die ihn mir entreißen soll, wird mir den Verlornen zurückgeben.




13.

Brigitta erhob sich, um zu scheiden, in Rücksicht auf die späte Stunde, wie sie sagte, und auf ihre Ermüdung nach der langen Reise. Sie verabredete noch mit Glowerstone die Besichtigung der Liegenschaften bei gutem Wetter und ihr tägliches Erscheinen bei ihm, um sich in die Details des Geschäftes ganz einweihen zu lassen. Mit der Gräfin wieder an der Seite schritt sie über die dunkle Dorfstraße und verabschiedete sich in der ersten Etage von der Gräfin, ohne daß von einem Wiedersehen gesprochen wurde, weil es so selbstverstäudlich war, daß Brigitta am nächsten Tage den Gegenbesuch zu leisten hatte.

„Nein, es ist nicht möglich, daß sie ihn abweist“ – dachte Brigitta, als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. „Er ist zu glänzend, er besticht zu sehr. Ich aber werde es nicht dazu kommen lassen, daß er um sie wirbt. Ich habe mir das tägliche Kommen gesichert, ich werde jedem seiner Schritte folgen, er wird mich vor Augen haben, so oft er auf Edith blickt. Und gälte es, ihn mit lauten Worten zurückzuhalten, ich scheue das Aeußerste nicht, und könnte ich nicht verhindern, daß er mit ihr zum Altar tritt, er läge todt vor mir, bevor er das Ja gesprochen hat.“

Als am nächsten Vormittag die Stunde gekommen war, um die Gräfin zu besuchen und Brigitta ihre Toilette durch Hut, Handschuhe und Mantel ergänzen wollte, wurde an die Thür ihres Zimmers gepocht. Das Pochen übte eine außerordentliche Wirkung auf Brigitta. Unter allen Menschen war es keinem gestattet, auf diese Weise bei ihr einzutreten, jeder mußte sich melden lassen – mit einziger Ausnahme Siegfried’s. Das war von jeher sein gewohntes Anmeldungszeichen. Er war es also. Sie stand hochaufgerichtet, einen Arm auf die Brust gelegt, um das heftige Wogen derselben zu verbergen. Die Thür öffnete sich, Siegfried Malköhne erschien.

Er hatte sich von Perser den ganzen Inhalt des Telegramms sagen lassen, das dieser an Brigitta abgefertigt, und Perser kam durch diese Offenheit nur seinem Auftrage nach. Malköhne vermuthete daher richtig, daß Brigitta bereits eingetroffen sein mußte, und es war ihm lieb, daß es geschehen war. Die Wahrheit ist in solchem Falle die beste Rechtfertigung, dachte er. Ich will lieber ein Henker sein, als ein schleichender Giftmörder. Was auch die Folge sei, wenn Brigitta als Gewißheit erkennt, was ihr bisher nur als Furcht vorgeschwebt haben kann – was auch die Folge sei, ich werde zu dem Weibe, das ich wähle, sagen können, daß meine ganze Vergangenheit abgethan, daß ich an kein anderes Weib mehr gebunden sei.

„Was wollen Sie hier, hier, an diesem Orte?“ fragte er in gelassenem Tone. Er war aber dabei bleicher, als sie ihn jemals gesehen hatte, und ihre Bewegung, die sie vergeblich zu unterdrücken suchte, so groß, daß sie nicht mehr aufrecht stehen konnte. Sie ließ sich auf dem Sofa nieder, und Malköhne, statt wie gewöhnlich an ihrer Seite, nahm in einem Fauteuil Platz.

„Ich bin Ihnen nachgelaufen,“ sagte sie schroff, aber mit heroischer Ruhe; „nachgelaufen, was lächerlich wäre, wenn es die Welt hörte, was Ihnen zu sagen die Pflicht der Wahrheit ist.“

Er blieb ebenfalls ganz ruhig und sah ihr ohne Scheu offen ins Gesicht; dann sprach er bloß mit bedeutungsvoller Betonung die Worte: „Der Zweck?“ Er erwartete die Antwort mit demselben festen Blicke.

„Was ist denn der Zweck Ihres Hierseins?“ ließ sie sich etwas lebhafter vernehmen; „vielleicht habe ich verrückt gehandelt, vielleicht hat es gar keinen Zweck, daß ich hier bin; Sie haben [807] mir ja bisher nichts gesagt! Ihren Reden nach wollten Sie nur in der Affaire mit dem Lord nach Wiesbaden gehen.“

„Es ist wahr, ich habe Ihnen nichts gesagt, weil ich nichts gewußt habe, Eins ausgenommen. Und ich weiß noch heute nichts, immer dieses Eine ausgenommen. Dieses Eine hat noch keine Wirklichkeit, schwebt in der Luft, und wenn es sich niemals auf den realen Boden herabläßt, dann wäre es auch besser gewesen, wenn Sie es niemals erfahren hätten – und Alles hätte wieder wie früher sein können.“

„Dieses Eine aber, diese Ausnahme?“ fragte sie mit festem Tone.

„Ihre unglückliche Hast übereilt eine Entdeckung,“ entgegnete er, „die ewig verborgen hätte bleiben können. Doch für mich ist es jetzt, da diese Uebereilung geschehen, besser so. Ich bin mir keiner Schuld bewußt! ich selbst wollte, es wäre nicht so gekommen. Was sind Schicksale, die man mit Händen greifen kann, eine Verarmung, ein Todesfall, eine Feuersbrunst, gegen die unsichtbaren Schicksale im Innern des Gemüthes! Eines Tages mußte ich mir sagen, ich liebe Edith Glowerstone – und damit war das Verhängniß fertig, und was nachkommt, ist nur das Sichtbarwerden des innern Schicksals. Ich liebe Edith Glowerstone – und so schrecklich es scheinen mag, ich fühle Wonne, es Ihnen, gerade Ihnen zu sagen, Brigitta.“

„Und damit wäre Alles abgethan, meinen Sie,“ fuhr sie heftig auf, „Sie lieben, und alle anderen Bande, alle Menschlichkeit, alle Pflichten wären zerrissen und nicht mehr vorhanden? Nein, man schleudert die Vergangenheit nicht so leicht wie ein Wort in die Luft. Sie sind mir zugeschworen, Sie haben sich mir zugeschworen mit jeder Minute, die Sie in den fünf Jahren seit unserer ersten Begegnung an meiner Seite verbracht haben, mit Ihren Gedanken, mit Ihren Zukunftsplänen, mit Allem, was Sie sind. Habe ich diese Zueignung als ein Geschenk genommen, das man wieder zurückfordern kann? Nein, ich habe sie erkauft; ich habe die Verbindung mit Ihnen schwer bezahlt mit dem Aufgeben von Freunden, mit peinvoller Einsamkeit und selbst mit meinem Ruf. Anders wäre heute mein Leben, wenn ich Sie niemals gekannt hätte, und nicht umsonst will ich ein nur erträumtes Glück so schwer bezahlt haben.“

Er blieb gelassen und sagte nach einer Pause mit der Gleichgültigkeit, die Alles über sich ergehen läßt, im Bewußtsein, daß nur Eins noch auf Erden von Wichtigkeit ist:

„Was denken Sie zu thun? Das Verhängniß ist gekommen; giebt es ein Mittel, es ungeschehen zu machen?“

„Sie sprechen, als ob Sie selbst diesem sogenannten Verhängniß Alles überlassen und aus eigener Kraft nichts thun wollten, um es ins Leben zu führen. Ist dies Ihre Absicht? Bleibt wirklich Alles nur ein inneres Schicksal?“

Fast knüpfte sie eine leise Hoffnung an diese Fragen, eine Hoffnung, die im nächsten Augenblicke zerstört war. Denn jetzt kam die Erregung auch über ihn, und er sagte:

„Wie könnte es ein Verhängniß sein, wenn es mich nicht mit Gewalt zur That triebe? Ich gehe von hier zu Glowerstone und werbe um die Hand Edith’s. Den ganzen Tag will ich dort zubringen, noch einmal in das Tiefste dieser Mädchenseele zu dringen suchen, und die Frucht des Tages wird das Ja sein oder auch das Nein von den Lippen des Mädchens. Dann erst ist das Schicksal auch von außen fertig.“

„Ja, ich werde helfen, es fertig zu machen,“ rief Brigitta unwillkürlich, und ein Lächeln des Hohnes und der Grausamkeit, wie er es niemals gesehen, verzerrte fast ihr schönes Antlitz. Er blickte sie mit Erstaunen und Betrübniß an und sprach im sanftesten Tone:

„Warum wollen Sie, wie gewöhnliche Weiber, eine unbefriedigte Neigung in grenzenlosen Haß verwandeln? Brigitta, ich habe Sie so sehr geliebt, ich liebe Sie noch so sehr, und gerade daß kein Atom dieses Gefühles in der neuen Leidenschaft untergegangen ist, daß Beides ungestört neben einander besteht, giebt mir die Berechtigung, Ihnen Alles zu sagen und giebt mir den Wunsch ein, Sie für mich zu stimmen, der alten Tage zu gedenken, in denen wir es uns niemals hätten träumen lassen, uns einst feindlich gegenüber zu stehen.“

„Lassen Sie diese Weichheit,“ rief sie heftig; „ich weiß, daß man damit am leichtesten eine arme Frauenseele zu betrügen glaubt. Ich will keine Unterscheidungen der Gefühle; einfach und klar, unerschütterlich steht es vor mir: Sie haben mich um den Grund meiner Existenz betrogen, und ich brauche nichts mehr zu schonen, wenn ich mich selbst für vernichtet ansehe. Können Sie – ich frage Sie nur dieses einzige Mal, können Sie noch von dem Wahne lassen, der Sie überkommen hat, und zu mir zurückkehren, wo allein Ihr Platz ist? Sie schweigen? Nein? So gehen Sie denn an Ihr Werk! Auch in meiner Hand liegt etwas vom Verhängniß.“

Ein diabolischer Zorn hatte sie ergriffen, dem sie keine Worte gab, der aber an den Grundfesten ihrer sonst so edlen Natur zu rütteln schien. Still wiederholte sie sich, daß sie von einem Unterschied der Gefühle nichts wissen wolle; mit einer Art Genugthuung empfand sie sich als ein Weib wie jedes andere, das, im Innersten seiner Leidenschaft zu Tode getroffen, keine Täuschung und Selbsttäuschung scheut, keine Rache unterdrückt und kein Mittel bei Seite läßt, um sich vielleicht noch aufzuhelfen.

„Gehen Sie an Ihr Werk,“ sagte sie noch einmal, während Siegfried traurig, mit einem Ausdruck tiefen Mitleids sie anblickte, mit einem Ausdruck, der sie noch mehr erbitterte! „die Werbung wird Ihnen gelingen. Hat dieser Wahnsinn Sie so sehr verblendet, daß Sie, ganz zum Thoren geworden, einen Augenblick an dem Gelingen zweifeln könnten? Sie sehen dort die bitterste Armuth von den Wänden starren, jene schreckliche Armuth, die immer im Kampf mit der Unmöglichkeit ist, sich zu verbergen, die vornehme, die den Reichthum heuchelnde Armuth. Wären Sie die schrecklichste Kreatur der Schöpfung – man würde der Versuchung nicht widerstehen, nach Ihrer so großartig rettenden Hand zu greifen. Gehen Sie, und lassen Sie sich betrügen, wie Sie betrogen haben.“

Malköhne erhob sich ruhig und sprach mit dem Ausdruck der sichersten Ueberzeugung:

„Dem ist vorgebeugt, weil ich gerade dies am meisten gefürchtet habe. Darum habe ich es schon in der Hauptstadt vermieden, Sir Albert Glowerstone persönlich vor Augen zu kommen; darum habe ich mich bei Edith als einen bescheidenen Ministerialbeamten eingeführt. Niemand ahnt dort etwas Anderes.“

Brigitta ließ ein seltsames Lachen vernehmen und trat, ihm den Rücken wendend, ans Fenster. Er verließ schweigend das Zimmer.

Als sich Brigitta allein wußte, entströmten ihr plötzlich die Thränen. Ein zwiefacher Schmerz überfällt in solchen Lagen die arme Menschenseele. Neben den Wunden des Herzens bluten die des Selbstgefühls, der gekränkten Eigenliebe. Diese Wunden sind nicht die tieferen, aber im ersten Augenblick brennen sie noch heftiger als die Wunden des Herzens. Sie kam sich so verworfen, so gedemüthigt, so erniedrigt vor, daß sie am liebsten sogleich mit ihrer Existenz ein Ende gemacht hätte. Da kam ihr der Gedanke, daß die Würfel noch nicht gefallen, daß das Schicksal noch in der Schwebe, daß jenes Ja! oder Nein! von Edith’s Lippen erst die Entscheidung bringen werde. Ein unerklärlicher Muth kam für einen Moment in ihre Seele und machte ihre Thränen versiegen. O, wie wollte sie ihn trösten, wie wollte sie ihn beglücken, wenn er enttäuscht, ein leeres Phantasiebild für immer aufgebend, zu ihr zurückkehrte, die ihn allein, die ihn wirklich liebte! Sie wartete, bis von ihrer Erregung im Aeußeren nichts mehr sichtbar war; dann vollendete sie ihre Toilette und ging zur Gräfin hinab; denn sie fühlte, daß sie in der Pein der Erwartung, mit welcher Entscheidung dieser Tag enden werde, dem Wahnsinn verfallen müßte, wenn sie sich nicht mit Gewalt an gleichgültige Tageseindrücke klammerte.




14.

Am Morgen dieses Tages hatte sich Sir Albert zu Fuß in ein Nachbardorf begeben, um sich bei einem Bauer, wie schon oft, einen Ackergaul satteln zu lassen. Auf diese Weise beritten, pflegte er den Forst zu durchstreifen, und diesmal geschah es, um dem Pächter gute Nachricht zu bringen. Auf die eine oder die andere Art, durch Malköhne oder durch die Geheimräthin, mußte der Verkauf des staatlichen wie des eigenen Besitzthums endlich zu Stande kommen, und der Pächter sollte nur das Haus, das alt und wenig geschmückt war, gehörig säubern und zieren, damit die schöne Frau aus der Stadt einen gefälligen Anblick davon gewinne. Auf solche Aeußerlichkeiten sähen ja die Frauen zumeist, auch bei ernsten Geschäften. Glowerstone hatte [808] im eigenen Hause den Bescheid zurückgelassen, daß er erst des Nachmittags wieder eintreffen werde; er wollte sich mit dem Pächter noch einmal gründlich aus einander setzen.

Edith hatte die Abwesenheit des Vaters benutzt, um die sonst unentbehrliche Hausmagd vieler kleiner Besorgungen wegen nach der Stadt zu schicken, und befand sich allein zu Hause, in der Meinung, daß sie Besuch nur von der Gräfin oder der Geheimräthin zu erwarten hätte. So saß sie schreibend und rechnend in jener Erkerstube neben der Küche, wo vor einigen Tagen Perser und Glowerstone eine Unterredung hatten.

Nur ein uralter Gärtner für den Gemüsebau befand sich noch auf dem Hofe und geleitete, nicht recht wissend, ob er den Eintritt erlauben oder verweigern solle, Siegfried Malköhne bis an die Schwelle der Erkerstube, um sich wieder zu entfernen, als das Fräulein gegen den Besuch keine Einwendungen erhoben hatte.

Hocherröthend stand Edith vor dem jungen Manne. Sie hatte ihn nicht mehr zu sehen erwartet; sein letztes Scheiden und sein Ausbleiben am vorhergegangenen Tage hatten ihr den Eindruck zurückgelassen, als ob er in die Unterhaltung eines Augenblickes, wie dies in der Stadt gebräuchlich ist, mehr Ernst und Wichtigkeit gelegt hätte, als er zu rechtfertigen geneigt war. Wie oft kommt es vor, daß sich Männer von Welt in einem Moment, der ihnen gerade dazu geeignet erscheint, so vollwichtig darstellen, als ob sie nichts Anderes mehr im Sinne hätten – um einen Moment später vergessen zu haben, was sie sprachen. Malköhne knüpfte sogleich an die letzte Unterredung an, aber im leichtesten Tone geselliger Plauderei, so daß die Befangenheit des Mädchens allmählich verschwand.

Es waren aber in dieser Mädchenseele seit zwei Tagen große Dinge vorgegangen, die Niemand weniger geahnt oder vorausgesehen hätte, als Edith selbst. Hatte Malköhne der Geheimräthin gegenüber von einem Verhängniß des Inneren gesprochen, das ihn überwältigt hätte, so war ein solches auch für Edith eingetreten. Was vermochte ihr Widerstreben, der Ernst der Weltanschauung, die sie sich gebildet hatte, die tiefe und umfassende Resignation, von der sie sich ganz und gar erfüllt geglaubt, gegen das unwillkürliche und schicksalsvolle Empfinden, welches die letzte Anwesenheit Malköhne’s in ihr bewirkt hatte! Schon in der Stadt war sie, wie sie ihrem Vater noch unbefangen gestanden, auf ihn aufmerksam gewesen, von ihm interessirt worden. Seit der letzten Zusammenkunft wollten ihre Gedanken nicht mehr von ihm ablassen, so sehr sie sich selbst dagegen sträubte. Als die Geheimräthin tags vorher von ihm gesprochen, war Edith fast erfreut gewesen, daß sich sein Bild in ihr getrübt hatte durch einen kleinen Zug von Falschheit oder Unwahrheit, den die Geheimräthin aufgedeckt. Jetzt, bei dem unerwarteten Wiedersehn, war dies Alles vergessen und nur mit Mühe gewann sie die Fassung, um in demselben Tone, wie zwei Tage vorher, mit ihm zu sprechen.

Es mochte ein Uhr des Nachmittags sein; die Tischzeit, welche Glowerstone diesmal nicht abgewartet, war in der ländlichen Behausung lang vorüber; durch das halbgeöffnete Fenster drang die Sonne eines jener Spätherbsttage, welche wie eine Reue der Jahreszeit erscheinen, daß sie unmittelbar früher schon winterlichen Anstrich gezeigt hat. Das Weinlaub an der Mauer gegenüber warf noch seine reizenden verschlungenen Schatten. Edith, die sich einer Beklommenheit darüber nicht erwehrte, den Gast in diesem unwirthlichen, kleinen Raume zu sehen, schlug einen Gang durch Hof und Garten vor. Das milde Wetter konnte die Gedanken in den beiden jungen Seelen nicht beschwichtigen; allein es lud dazu ein, sie einstweilen nur stumme Betrachtung sein zu lassen.

Siegfried Malköhne war viel jünger, als man heut zu Tage gewöhnlich mit Jahren ist, viel jünger, als man ihm selbst hätte sagen können, ohne ihn zu verletzen. Ein Leben in der großen Welt, im Angesicht der mannigfachen menschlichen Beziehungen, die den Trug und die Illusionen, die Gemeinheit und oft die Verworfenheit, auf welchen sie meistens beruhen, so rasch zu erkennen geben, macht dem Anschein nach frühzeitig alt, und ein junger Mann von Geist und Weltgewandtheit kommt dadurch bald zu dem Vorsatz, sich von nichts so leicht täuschen zu lassen. Den bestechendsten Erscheinungen gegenüber, den verlockendsten Versuchungen zum Trotz hält er sich in mißtrauischer Ruhe; er will um keinen Preis der Getäuschte sein. Alt ist aber eigentlich nur, wer nicht mehr getäuscht werden kann, und so bewirkt ein großes und großstädtisches Leben dieser Art eine sonderbare Blasirtheit, eine Blasirtheit, der noch keine Genüsse vorausgegangen sind.

Dies mag in mancher Richtung für das Herz, die Phantasie, die Jugendlichkeit eines jungen Mannes von schädlichem Einfluß sein, hat aber den überwiegenden Vortheil, daß, wenn plötzlich ein überwältigender Eindruck den Schleier einer künstlichen Greisenhaftigkeit durchbricht, die jugendliche Natur in ihrer ungeschwächten Kraft sich geltend macht. Im Verkehr mit Brigitta war Siegfried in der zu seinen Jahren noch nicht passenden Menschenverachtung und früh altmachenden Objektivität immer mehr bestärkt worden und hatte mit überschwänglichem Vergnügen dem Hang nachgegeben, sich dabei selbst täglich weiser, gereifter und älter zu erscheinen. Das war das eigentliche Geheimniß der Anziehungskraft gewesen, die Brigitta so lange auf ihn geübt hatte. Jetzt war der künstliche Schleier, den er so lange um die eigene Jugend gewoben hatte, plötzlich durch die Leidenschaft zerrissen und er stand mit der unschuldigen Seele eines unerfahrenen Jünglings vor Edith; er hatte seine Jugend wiedergefunden.

Edith aber, der niemals Gelegenheit geboten gewesen, die Gestalt, in der er sich jetzt zeigte, mit seiner frühern zu vergleichen, war bis zur Bezauberung erstaunt, in dem Diplomaten und Weltmann, in dem Löwen der großstädtischen Gesellschaft eine so kindliche Naivetät und eine so bereitwillige Empfänglichkeit für die Geringfügigkeiten zu finden, die sie ihm aus ihrem eigenen engbeschränkten Lebensgang mittheilen konnte. So wurden sie bei dieser Wanderung durch den Garten, die sie, ohne es zu merken, bis auf die Felder ausgedehnt hatten, immer inniger mit einander befreundet. Malköhne hielt dabei im Stillen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, das ihm in solcher Stimmung als Gemeinheit erschienen wäre, an der Voraussetzung fest, daß Edith glauben mußte, den in Dürftigkeit lebenden kleinen Beamten an ihrer Seite zu haben.

Als sie das Haus wieder erreichten, hatte das gegenseitige Vertrauen der Gemüther keine Schranken mehr und ohne Pathos und selbst ohne eine allzu stürmische Betheuerung, einfach wie etwas Selbstverständliches konnte Siegfried der Geliebten den Wunsch aussprechen, sie für immer zu besitzen. Wohl stieg ihr das Blut bis an die Schläfen; wohl glaubte sie, ihr Herz schlage hörbar, aber zugleich war sie sich bewußt, daß ihre Antwort eben so einfach und maßvoll sein mußte wie seine Bewerbung. Sie befanden sich gerade am Fuße der schmalen hölzernen Treppe, die zur Erkerstube hinaufführte, und bevor Edith voranschritt, legte sie ihre Hand in die des Geliebten. Es war zum ersten Male, daß sich ihre Hände berührten, und wenn sie fähig gewesen wären zu sprechen, so hätte ihnen das plötzliche Erscheinen Glowerstone’s das Wort abgeschnitten.

Er war sehr erfreut, den Legationsrath anzutreffen. Zwar hatte die Mittheilung der Geheimräthin, daß Malköhne dem Heirathen abgeneigt, die kühnsten Hoffnungen des sanguinischen Philosophen sehr gedämpft; allein in der Sache des Gutskaufes glaubte er jetzt, gestützt auf die Aussicht eines Ankaufs durch die Geheimräthin, eine Pression üben zu können.

„Ich komme eben vom Pächter,“ sagte er, einen großen Pack von Papieren aus der Tasche ziehend; „ich habe mir alle Tabellen und Register geben lassen und will daraus ein verständliches Tableau für Frau Forstjung zusammenstellen. Einer Dame muß man ja in solchen Dingen möglichst wenig langweilig sein. Kennen Sie die schöne Geheimräthin, Herr Legationsrath? Wissen Sie, daß sie mir leicht die Mittel geben kann, mit der Regierung fertig zu werden?“

Man war inzwischen langsam über die Treppe gegangen und in die große Wohnstube getreten.

„Ich lasse Sie hier,“ sagte Glowerstone, „und gehe an meinen Schreibtisch im Erker, um gleich die Ausarbeitung anzufangen. Die Geheimräthin kommt heute Abend. Sie werden aber verzeihen, Herr Legationsrath, wenn ich dazwischen, wie es sich gerade trifft, Ihre Hilfe in Anspruch nehme. Sie sind in der amtlichen Terminologie zu Hause, ich bloß in der philosophischen. A propos, ich staune, daß Sie sich überhaupt amtlich beschäftigen. Gestern Abend hat uns die schöne Geheimräthin erzählt, daß es der Gebieter über Millionen ist, der sich zum Beamtendienst herabgelassen hat.“

[810] Malköhne erblaßte. Edith bemerkte dies nicht und fügte den Worten ihres Vaters lächelnd hinzu:

„Sie haben sich wohl schon auf den nächsten Maskenball eingeübt, Herr Legationsrath? Ich habe sonst gar keine Gedanken für solche Dinge; aber nachdem Sie selbst mir Ihre Neigung, wie ein frommer Einsiedler in einer Waldhöhle zu leben, so hübsch dargelegt haben, war ich durch die Erzählungen der Geheimräthin ein wenig betroffen.“

Glowerstone ging in die Erkerstube. Malköhne machte sich am Fenster zu thun, um sein Gesicht nicht unmittelbar Edith zuwenden zu müssen. Er wußte, daß es die Zertrümmerung seines innern Glückes verrathen konnte.

War er, der Kluge, der Welterfahrene, der Mann, der nicht mehr getäuscht werden konnte, nun dennoch in Gefahr gekommen, das Opfer einer versteckten Absicht zu werden? Edith wußte um seine Verhältnisse, wußte, daß ihr an seiner Seite eine Welt des Glanzes und des Genusses erschlossen würde – war sie nicht dadurch bestochen? War dies nicht die Triebfeder, daß sie ihre Hand in die seine gelegt hatte?

In furchtbarer Gestalt stiegen jetzt die warnenden und höhnenden Worte Brigitta’s, die letzten, die sie zu ihm gesprochen hatte, in seiner Seele empor. Ja, das war es! Die Armuth starrte von den Wänden und das Mädchen rühmte sich vielleicht noch wie einer edlen That des falschen Geständnisses, durch welches sie den darbenden Vater aus seinem Elend zu reißen vermochte.

Er mußte Wahrheit haben, sagte sich Siegfried. Wahrheit um jeden Preis! Er mußte ihr seinen Verdacht ins Gesicht sagen. Es galt das Glück eines ganzen langen Lebens und gegen die Beängstigung, in das Unglück zu stürzen, konnten die Rücksichten auf konventionelle Schicklichkeit nicht in die Wagschale fallen. Brigitta’s Mahnung warf jetzt eine brennende Verheerung in sein Gemüth, und die Zweifel mußten ausgerottet werden; er wollte lieber unglücklich als betrogen sein, lieber durch sein Verhalten für einen ungezogenen Barbaren Edith gegenüber gelten, als aus Höflichkeit in eine Falle stürzen.

Gewiß, Edith konnte sich nicht auf die Dauer verstellen; gerade ihre naive Offenheit hatte ihn so sehr bezaubert, sie mußte auf Befragen die Wahrheit bekennen. Und doch zögerte er, das Wort auszusprechen.

Edith ließ, als sie seinen prüfenden Blick auf ihrem Gesicht fühlte, die Arbeit sinken. „Was haben Sie? Fehlt Ihnen Etwas?“

„Ja,“ sagte er rasch, „es fehlt mir plötzlich das Beste, was ich hierher mitgebracht habe. O Edith, ist es denn möglich, daß mein Vermögen in Ihren Augen mehr Werth hat als mein Herz?“

Sie sah ihn befremdet an: „Mehr Werth – Ihr Vermögen? Wie soll ich denn das verstehen, Siegfried?“

Er sah nicht den Blick, der jeden Dritten überzeugt hätte, und verstand nicht das Beben ihrer Stimme. Mit hastigen Worten sich überstürzend theilte er ihr Alles mit, was in seinem Innern brannte, auch den von außen geschürten Verdacht; er wog seine Worte nicht, er sah nicht, wie unter dem Eindruck derselben ihr Gesicht erblaßte und einen Ausdruck des Entsetzens annahm; er wand sich vor ihr unter dem Gifttropfen, den ihm Brigitta ins Herz gegossen hatte.

„Gott – mein Gott!“ rief endlich Edith tief erschüttert, „ist es denn möglich, daß Sie das glauben können? Soll ich mich jetzt zur Versicherung erniedrigen, daß dem nicht so sei? O, wenn das –“ sie kam nicht weiter! die Thränen stiegen ihr in die Augen, sie wandte sich, sie zu verbergen.

„Vergieb, Edith,“ rief Malköhne, „ich bin ja ein Wahnsinniger, Dich so zu quälen. Nein, jeder Zweifel muß vor Deinen reinen Blicken vergehen! Aber Du weißt es nicht, Du kannst nicht ahnen, wie tief mich das getroffen hat. Dort Berechnung zu finden, wo man endlich einmal voll vertrauen wollte und selig sein – o, es ist ja Höllenqual, das nur zu denken –“ wieder stampfte er den Boden und Edith sah ihn voll tiefer Niedergeschlagenheit an. Dann schritt sie langsam dem Fenster zu.

In diesem Augenblicke erschien Glowerstone und ersuchte den Legationsrath, für einen Moment in die Erkerstube hinüberzukommen. Die Herren setzten sich vor die Tabellen und Register, und während Malköhne nachdenkend einen Theil derselben zu studiren schien, sann er doch über einen ganz andern Gegenstand nach. Er befand sich schon nicht mehr unter der Einwirkung der klaren Augen, die seinen Zweifel verstummen gemacht hatten, und die Angst überfiel ihn von Neuem, doch überlistet zu sein – für einen Diplomaten wohl die schlimmste Empfindung, und sie wurde plötzlich, indem er sich Brigitta’s Hohnlachen vorstellte, wieder so mächtig in ihm, daß sie ihm alle Ruhe raubte.

„Ich habe im Salon mein Notizbuch liegen lassen, glaube ich,“ sagte er. „Bleiben Sie hier, Sir Albert, ich kehre sogleich zurück!“

Er fand Edith noch am Fenster sitzend und lehnte sich, nach einigem zwecklosen Umhersuchen, ihr gegenüber in einen Stuhl, die Beute der widerstreitendsten Empfindungen. Jetzt wollte er reden – und fand nicht die Worte, ihr nochmals den unbeweisbaren Verdacht auszusprechen; dann wollte er durch ihren Anblick sich von diesem Verdacht losringen – und konnte doch sein altes Gefühl für sie nicht mehr im Herzen lebendig werden lassen. Der Zustand wurde ihm von Minute zu Minute unerträglicher.

In Edith vollzog sich indessen auch eine stürmische Bewegung. Die Zweifel des Geliebten regten sie um so furchtbarer auf, als nicht nur das Ungerechtfertigte derselben, sondern auch ihre Unschönheit an dem eben erstandenen innern Glück rüttelte. Sich sammelnd und ruhig überlegend kam sie zu dem traurigen Ergebniß, daß, wer einmal von diesem Gesichtspunkt, der sich freilich im Weltleben nahe genug aufdrängen mochte, ausgegangen war, immer wieder darauf zurückkommen mußte. Selbst die vollzogene Vermählung würde daran nichts ändern können. Die Zweifel wären immer wieder da, Zweifel, die durch Worte nicht beseitigt werden konnten, und doch war in der ganzen Welt nichts Anderes dagegen vorhanden als eben Worte. Wo aber die Worte finden, um einen so hartnäckigen Unglauben stets neu zu besiegen? Sie sah ja jetzt schon, daß der ganze vorige Eindruck wieder ausgelöscht war; sie sah den Kampf auf Siegfried’s Gesicht, der sich von Neuem in seiner Seele abspielte. Plötzlich war ihr Entschluß gefaßt.

„Ihre Zweifel würden niemals ein Ende nehmen,“ sagte sie heftig zu Malköhne; „darum ist es besser, gleich jetzt das Richtige zu thun.“

Und mit bitterer Ironie fuhr sie fort:

„Sie hören hier aus jeder Stube, aus jedem Möbel die hilflofe Armuth schreien! Wie hätte mich dies nicht in Versuchung führen sollen! Sie haben Recht, ich liebe Sie nicht. Fliehen Sie mich, ich bin eine schreckliche Kreatur.“

Der schneidende Ton dieser Selbstverhöhnung bewirkte, was ihr Ernst und ihre Ruhe nicht vermocht hatten; sein Argwohn schwand. Er warf sich ihr zu Füßen und beschwor sie, sein Mißtrauen zu vergessen und ihm die Beleidigung zu vergeben. Allein Edith wandte sich ab, die unverdiente tödliche Kränkung brannte in ihrem Herzen, sie fühlte sich namenlos unglücklich.

„Sie lieben mich nicht,“ sagte sie, „sonst wäre ein solcher Zweifel niemals in Ihnen erwacht. Gehen Sie, und mögen wir uns niemals mehr wiedersehen. Ihr Verdacht hat mich besudelt, den Fleck kann nur die Zeit tilgen! Ihr Anblick würde ihn immer von Neuem auffrischen. Leben Sie wohl!“

Sie blieb unerschütterlich und verließ das Zimmer. Er stürzte aus dem Hause, eine Beute der Verzweiflung.

Textdaten
zum vorherigen Teil
aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 50, S. 822–826
Novelle – Teil 7

[822] Mit dem Instinkt des Verwundeten, der wie der angeschossene Hirsch von selbst zur lindernden Quelle getrieben wird, trat Malköhne in die Wohnung der Geheimräthin, so mechanisch, daß er ohne Zweifel wieder umgekehrt wäre, wäre er zu deutlichem Bewußtsein gekommen, wo er sich befand. Es war bereits Abend geworden; Brigitta schrieb eifrig an einem Briefe, den sie der Gräfin Surville im Falle eines unglücklichen Endes zurücklassen wollte. Sie hatte sich an diesem Tage mit der Gräfin innig befreundet und bei ihrer Verlassenheit und Entfremdung den Gesellschaftskreisen der Hauptstadt gegenüber fand Brigitta für das Bedürfniß, ihr bis zum Tode verletztes Frauenherz ganz zu offenbaren, keine bessere Befriedigung als den Brief an die Gräfin.

Malköhne war beim Eintritt an der Thür stehen geblieben; Brigitta fuhr bei seinem Erscheinen erschreckt in die Höhe. Als sie den Wortlosen todtenblaß vor sich sah, war ihr Alles klar. Edith hatte ihn zurückgewiesen. Ein tiefer, erlösender Seufzer stieg aus dem Herzen der bisher so gequälten Frau. Zugleich füllten sich ihre Augen mit Thränen, denn niemals hatte sie tief empfundenes Unglück in so sichtbarer Gestalt vor Augen gehabt, als beim Anblick des jungen Mannes. Sanft nahm sie ihn bei der Hand und wollte ihn zum Sofa geleiten; er sank aber auf einem niederen Tabouret in sich selbst zusammen.

Brigitta ehrte sein Schweigen, im dunklen Gefühle, daß es ihn laben müsse, in ihrer Nähe zu sein, ohne zu sprechen. Nie hätte sie das erste Wort laut werden lassen, aber Malköhne selbst unterbrach das Schweigen. Er sah sich zuerst wie verwundert um, die zwei Kerzen, die auf dem Schreibtisch brannten, erhellten das Zimmer nicht genug, daß er Brigitta’s Züge mit voller Deutlichkeit hätte sehen können. So entging es ihm, ob sie Freude oder Mitgefühl ausdrückten; er wußte nur, daß er sich in unmittelbarer Nähe des einzigen Wesens befand, welchem er bisher alle seine Erfahrungen bekannt hatte. Freilich war auch unter den schmerzlichsten derselben keine gewesen, die sich mit dem verzehrenden Weh hätte messen können, das ihm jetzt die Seele durchwühlte.

Er begann langsam die Geschichte dieses Tages zu erzählen, nicht als ob er sie dem Ohre eines Anderen beichtete, sondern als ob er sie aus eigenem Bedürfniß in ein Tagebuch schriebe. Minute nach Minute schilderte er das Zusammensein mit der Tochter Glowerstone’s. Einen Moment strahlte überwältigende Freudigkeit aus seinen Augen, als er von der stummen Handreichung am Fuße der Treppe berichtete. Dann kehrte er mit einer Wuth, als ob er sich selbst zerfleischen wollte, sein Innerstes heraus, die Zweifel, die ihn nicht früher losgelassen hatten, als bis sie sein Glück zertreten. Jedes Wort wiederholte er, das er gesprochen und vernommen; es war, als ob er niemals hätte enden können, als ob er mit diesen Bekenntnissen noch einen Rest des sonst spurlos Untergegangenen festhielte und ihn niemals mehr aufgeben wollte.

Brigitta hörte ihn an, zuerst wie man von dem Leid eines Unglücklichen, das man nicht selbst nachempfinden kann, sich erzählen läßt. Man bleibt eigentlich kalt gegenüber dem Geschehenen selbst, aber man hat das Vertrauen, einen Trost für den Unglücklichen ausfindig zu machen. Allmählich indeß nahmen die Bekenntnisse ihres Geliebten die Gestalt an, als ob sich ihr eigenes Schicksal darin ankündigte. Ihr erster Gedanke bei seinem Anblick war gewesen: ich habe ihn wieder! Die Freude darüber spurlos zu unterdrücken, war als die nächste Regung eines edlen Herzens ihr nur natürlich gewesen.

Während er aber sprach, die Gefühle, die ihn angetrieben hatten und ihn jetzt einem so namenlosen Elend preisgaben, mit den glühenden Tönen der Leidenschaft verkündete, mußte sich Brigitta endlich fragen, ob sie den Verlorenen auch wirklich wiedergewonnen hatte. Immer unumwundener, immer deutlicher mußte sie sich die Antwort ertheilen, daß ein anderer Mann ihr zu Füßen saß, als derjenige, mit dem sich zu vereinen den Traum vieler Jahre für sie gebildet hatte. Vielleicht saß er auch in Zukunft wie seit Jahren täglich an ihrer Seite, vielleicht verband er sich sogar zuletzt mit ihr. Aber war damit auch der Zauber gebrochen, der ihn im Innern festhielt und ihn nach einer ganz andern Richtung zog?

Mit einem unwillkürlichen Schrei fuhr sie empor. Laut sagte sie sich:

„Er hat eine Jugend, die ich nicht an ihm gekannt habe, und nicht ich bin es, die diese Jugend geweckt hat; ich habe ihn wiedergewonnen – aber ich habe ihn für ewig verloren.“

Brigitta war eine jener großen Schönheiten, deren Alter man nicht zu enträthseln vermag, von denen man sogar glaubt, daß sie nicht jünger sein könnten, ohne minder vollendet zu sein. Allein Brigitta zählte beinahe um zehn Jahre mehr als der Mann, den sie liebte: eine Wahrheit, die ihr in diesem Augenblicke grell vor Augen trat. Aus dem Schmerz, dessen Tiefen Siegfried nach allen Seiten vor ihr aufgedeckt hatte, stieg seine bisher nicht geahnte, seine bisher künstlich verborgen gehaltene Jugendlichkeit empor. Die Maske dieser Jugend war es gewesen, was ihn mit ihr verbunden hatte; dies fühlte Brigitta. Die angenommene Blasirtheit, der Anschein, Alles hinter sich zu haben und durch Nichts mehr getäuscht werden zu können, der scharfe, durchschauende Blick und das schonungslose Urtheil: das waren die willkürlich aufgebauten Stufen gewesen, auf denen er sich bis zu ihrer eigenen Erfahrung und Denkungsweise zu erheben und mit ihr auf gleichem Niveau zu sein schien. Die Natur aber fordert allmächtig und unbeugsam ihr Recht. Sie wollte sich seine Jugend nicht entgehen lassen – und er stand plötzlich vor ihr, voll Schwärmerei und Illusion, durchklungen von den gewaltigen Lebenstönen des zum ersten Male erwachten Herzens, in weiter, weiter Entfernung von Brigitta.

Er konnte ihr nichts mehr geben; sie konnte ihm nichts mehr sein; ihre Hände reichten durch so große innere Trennung hindurch nicht mehr zu einander hin, selbst wenn sie sich äußerlich in einander gelegt hätten. Sie sah mit einer Art Bewunderung auf den noch immer in sich versunkenen, noch immer auf dem Tabouret kauernden Mann herab, daß er so plötzlich zum Jüngling hatte werden können. Bald aber erfüllte sie sein Anblick mit tiefem Mitgefühl, so daß sie fast freudig sich bewußt wurde, ihm noch etwas sein zu können, eine Schützerin, eine Pflegerin, eine Schwester.

„Ich lasse Sie nicht allein nach Wiesbaden zurückkehren,“ sagte sie, „und hier ist Ihres Bleibens auch nicht. Ich habe an diesem Orte nichts mehr zu thun. Warten Sie hier auf mich! Ich nehme Abschied von der Gräfin und von Glowerstone’s und lasse den Wagen kommen. In Wiesbaden kann ich Sie getrost dem Lord und Ihren diplomatischen Geschäften überlassen. Thätigkeit ist jetzt das Einzige, was Ihnen Heil bringt.“

Er antwortete nicht und sie nahm Hut und Mantel. Die Gräfin befand sich bereits bei Glowerstone’s, so daß Brigitta ohne Aufenthalt hinübereilte. Sir Albert und seine „Muhme“ waren wie gewöhnlich in einem sanften Streit begriffen, der nur von seiner Seite immer lautern Schall annahm. Es handelte sich darum, ob es nicht gut wäre, Edith der Gräfin, wie sie es wünschte, nach Italien mitzugeben, während Sir Albert Nahrung für seine Welt- und Menschenverachtung darin fand, daß man ihn so herzlos allein lassen wollte.

„Da kommt ein Schiedsrichter,“ rief Sir Albert beim Anblicke der Geheimräthin; „aber ich hoffe nicht viel; ich habe die Frauen niemals auf meiner Seite.“

Die Gräfin erzählte, daß Edith angegriffen und traurig in ihrem Kämmerchen sitze, sich nicht zu Bette legen, aber auch keine Gesellschaft um sich sehen wolle. Der Grund der Verstimmung sei nicht ausfindig zu machen.

„Ich weiß ihn sehr gut,“ erklärte Glowerstone, „aber Ihnen, Muhme Isabel, wollte ich nichts davon sagen. Sie sind gleich mit dem Vorwurf bei der Hand, daß ich mir sanguinisch in der Einbildung einen Palast baue, der beim ersten Fußtritt, den ich hineinsetzen will, zusammenbricht. Diesmal aber bin ich gewiß, daß der Palast in voller Wirklichkeit vorhanden war und daß ihn Edith muthwillig zerstört hat.“

[823] Er setzte weitläufig aus einander, weßhalb es ihm wahrscheinlich sei, daß Siegfried Malköhne eine Zuneigung für Edith geäußert habe und das „verwetterte Mädel“ ihn aus angeborener Sprödigkeit, Weiberlaune, Eitelkeit vor den Kopf gestoßen haben müsse, und jetzt sei ihr nicht wohl dabei.

„Ach, es wäre so schön gewesen,“ rief er, schwärmerisch zum Himmel blickend. „Ich würde ein großes Haus gemacht haben, einen Koch aus Paris haben kommen lassen – und mein Keller!“

„Mit Ihren Principien, Sir Albert!“ konnte sich die Geheimräthin nicht enthalten zu äußern; „Sie verachten so sehr alle diese Dinge!“

„Ach was!“ platzte Glowerstone ärgerlich heraus; „ich will Ihnen etwas sagen, Frau Geheimräthin, und das ist der Schlüssel des ganzen Weltgeheimnisses und aller Weisheit. Also der Satz steht fest: Alles ist eitel. Genüsse, Ehren, Ruhm und Wonnen aller Art, das ist Alles nur eitel Nichtigkeit. Aber Eins ist nicht zu vergessen: diese Wahrheit ist auch eitel! Denn sonst – Sie verstehen –“

Die Geheimräthin war keineswegs in der Verfassung, sich in einen philosophischen Streit einzulassen; sie sagte, daß sie nur gekommen, um Abschied zu nehmen, sie wolle noch in dieser Nacht die Rückreise nach der Hauptstadt antreten. Glowerstone war darüber sehr bestürzt und fragte, was nun aus dem Gutsankauf werden solle, er hätte sich seit dem frühesten Morgen den ganzen Tag bemüht, ihr aus den Tabellen und Registern des Pächters verständliche Auszüge zu machen. Brigitta überwand ihre Verlegenheit, indem sie bemerkte, daß ja die Person des Käufers Sir Albert gleichgültig sein könne; sie werde aber durch ihre Konnexionen auf den Legationsrath einwirken können, daß das Geschäft von Seite der Regierung zu Stande komme.

Nachdem sich Glowerstone einigermaßen damit zufriedengegeben hatte, wünschte Brigitta, auch von Edith Abschied zu nehmen, und bat die Gräfin, sie in das Kämmerchen des Mädchens zu geleiten.




16.

In dem engen Raume hätten drei Personen kaum Platz gefunden. Die Gräfin blieb an der Schwelle stehen und verabschiedete sich, um in ihre Wohnung im Hôtel zurückzukehren, mit der Bitte, daß die Geheimräthin sie dort noch einmal aufsuche, was diese versprach.

Sehr überrascht stand Edith der ihr halbfremden Frau gegenüber.

„Ich habe unmöglich von Ihnen scheiden können,“ sagte Brigitta, „ohne mir Ihre Züge noch einmal einzuprägen. Der Plan, Sie während meines Aufenthaltes hier zu zeichnen, ist freilich gescheitert; ich muß in die Hauptstadt zurück. Aber in meiner Galerie schöner Gesichter, die ich seit Jahren sorgsam mit Kreide festhalte, dürfen Sie um keinen Preis fehlen. Ich muß also mein Gedächtniß recht zu Hilfe nehmen.“

Sie setzte sich und rückte die kleine Lampe zurecht, damit die Strahlen derselben voll auf das Antlitz des Mädchens fielen.

„Nein,“ rief sie sodann, „nicht diesen Ausdruck, nicht diesen Kummer will ich mir im Gedächtniß wiederholen. Ihre Züge haben sich seit gestern verändert, und Sie sind bleicher, als ich mir vorgestellt.“

Diese letzte Aeußerung wurde sogleich zur Unwahrheit; denn hohe Röthe stieg in das Antlitz Edith’s, als sie den Zustand ihres Gemüthes beobachtet wußte.

„Ich bin Ihnen fremd,“ fuhr Brigitta in einschmeichelndem Tone fort, „aber ich bin eine Frau. Sie sind an diesem Orte so einsam, so verlassen; nehmen Sie mit meinem antheilsvollen Herzen vorlieb, weil eben kein anderes in Ihrer Nähe ist.“

Die welterfahrene Brigitta brauchte wenig Kunst, um ihre Absicht zu erreichen, die vorläufig nur dahin ging, das in seinem Gram und in der natürlichen Scheu, ihn zu enthüllen, gleichsam eingefrorene Herz zu bewegen, zu erschüttern. Sie sprach von dem Lose so vieler Frauen, was in ihrer Seele aufgekeimt war, sprachlos ersticken zu müssen, und sobald sie sich selbst als leidend, als tiefgekränkt vom Leben darstellte, war das richtige Mittel gefunden, Edith zu rühren, sie über ihr eigenes Geschick in Thränen ausbrechen zu lassen. Mit den Thränen kommt das Vertrauen zu Demjenigen, der sie hervorgelockt hat, und bald vernahm Brigitta mehr und mehr im Zusammenhang, was das Herz des Mädchens belastete.

Das war derselbe Schmerz, das waren dieselben Gefühle, von denen soeben Siegfried Malköhne zu ihren Füßen überströmt war. „Was trennt diese beiden gleich jungen und gleich liebeerfüllten Geschöpfe?“ fragte sich Brigitta und versank in ein stummes Nachsinnen.

Ein Kampf, ein letzter schwerer Kampf ging in der Seele der tiefgekränkten Frau vor. Ein fast unbewußter Trieb mahnte sie, die Brücke zur Vereinigung der Getrennten mit eigener Hand zu bauen, und doch war sie selbst es gewesen, welche noch vor so kurzer Zeit eine solche um den Preis ihres Lebens verhindert hätte, ja um den Preis, den Geliebten todt zu ihren Füßen zu sehen. Was aber hoffte sie noch, was wollte sie noch? Sie dachte an die Regung, mit der sie soeben den Tiefbekümmerten verlassen hatte, die Regung, die ihr gebot, eine Schützerin, eine Pflegerin, eine Schwester für ihn zu sein – und nichts weiter.

Ein letzter tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust, und dann war die Schwäche, die Selbstsucht, die Eifersucht für immer überwunden. Mit dem Tone, wie ihn nur eine Mutter anschlägt, redete sie zum Gemüthe Edith’s, die staunend und zitternd zu ihr aufsah, weil sie solchen Ton noch nicht vernommen hatte. Allein immer wieder entrang sich ihr die herzzerreißende Klage, daß er sie einer niederen Berechnung fähig gehalten und daß er sie folglich nicht lieben könne.

„Er sollte Sie nicht lieben?“ rief Brigitta, selbst schmerzlich bewegt, und schilderte die Stunde, die Siegfried soeben bei ihr verbracht hatte. Das Weh, das ihr sein Anblick verursacht hatte, bot ihr die glühendsten Farben, um dem Mädchen die Liebe zu malen, die einen Mann von so stolzer und hoher Gesinnung und von sonst so übermüthiger Verachtung alles schwächlichen Gefühlslebens so tief hatte beugen können. Edith war in der That erschüttert und zugleich beseligt, aber wie ein Wehruf entrang es sich ihr:

„Seine Zweifel würden kein Ende nehmen; lebenslang, Tag für Tag würden sie wiederkehren. Sagen Sie selbst, theure Frau, giebt es auf der ganzen weiten Erde einen Beweis – nicht in Worten, die immer nur erfolglos verklingen – einen thatsächlichen Beweis, daß ein Mißtrauen falsch und grundlos ist?“

„Sie haben ihn ja gegeben, diesen Beweis,“ rief Brigitta fast leidenschaftlich. „Sie haben ihn ja mit einem einzigen Wort gegeben, mit dem Nein, das ihn zurückstieß. Sie haben freiwillig, in einem Moment, als Sie Alles ergreifen konnten, Alles von sich gewiesen, den ganzen erbärmlichen Reichthum für Nichts geachtet, nicht werth, ein Atom Ihrer reinen Seele durch einen noch so leisen Verdacht zu schwärzen. Sie haben auf die Güter der Welt so thatsächlich verzichtet, daß für Siegfried nichts mehr übrig bleibt, als sich ewig und ewig zu wiederholen, er hätte das einzige Wesen gefunden, das unbestochen von weltlichen Vortheilen ihm die Hand gereicht, und er müsse nun an dem Beweise, daß er ein solches Wesen gefunden, elend zu Grunde gehen. Der Preis, um welchen er den entzückenden Gewinn erzielte, von der Existenz eines solchen Wesens zu wissen, war aber zu furchtbar; der Preis war der Verlust dieses Wesens selbst. So kann es, so darf es nicht bleiben; Sie dürfen nicht Denjenigen morden, den Sie erst zu seinem wahren Leben erweckt haben.“

So geschah es denn, daß in Edith gleichsam die untergegangene Sonne wieder aufging. Bald lag sie am Herzen der neuen Freundin, und wenn sie weinte, so waren es die Thränen des wiedergewonnenen Glückes. Brigitta beeilte sich, das Erreichte festzuhalten.

„Kommen Sie zu einem letzten Abschied von mir in meine Wohnung,“ rief sie, und sich zu einer heitern Wendung des Gespräches zwingend, fuhr sie fort: „Ich habe Ihnen ja nicht einmal Zeit gelassen, mir einen Gegenbesuch zu machen. Ich will aber nicht von hier scheiden, ohne das Bewußtsein, Sie einmal bei mir willkommen geheißen zu haben.“

Sie ließ nicht nach, bis Edith mit ihr auf der Straße war, und erst als sie an der Thür standen, die im ersten Stockwerke zur Gräfin führte, erhob sich in Brigitta ein neuer Widerstand.

Einen Augenblick dachte sie daran, Edith, die keine Ahnung haben konnte, was sie oben erwartete, allein die zweite Treppe hinaufgehen und vor Malköhne erscheinen zu lassen. Allein Brigitta war zu fein- und zu zartfühlend, um nicht zu fürchten, daß der Schreck des Mädchens über eine so uerwartete und fast unschickliche Begegnung Alles wieder vereiteln könnte. So mußte [826] sich denn Brigitta auch das letzte Opfer noch auferlegen und Zeuge einer Versöhnung werden, durch welche das beste Glück, das sie auf Erden besessen hatte, zu den Todten geworfen werden sollte. Einen Augenblick preßte Brigitta ihr Tuch an die Augen; ein einziges krampfhaftes Schluchzen, rasch unterdrückt, entwand sich ihrer Brust. Dann war das Opfer vollendet und kein Klagelaut sollte sie selbst jemals glauben machen können, daß sie es bereute.

Sie traten in die Wohnung Brigitta’s; Malköhne, der eine Annäherung gehört hatte, stand aufrecht und todtenbleich mitten im Zimmer. Beim unerwarteten Anblick des Geliebten wollte Edith entfliehen. Brigitta umschlang sie mit beiden Armen und sagte mit zitternder Stimme:

„Hier hat er gewartet, sinnlos, gedankenlos, daß ihm irgend woher die erwünschte Vernichtung komme; bringen Sie selbst ihm das neue Dasein, führen Sie ihn an das höchste Ziel seines Lebens!“

Brigitta verschwand im Nebenzimmer. Malköhne, der weniger aus ihren Reden als aus der veränderten Miene Edith’s und ihren auf ihm ruhenden Blicken die glückselige Wendung erkannte, war von freudigem Schreck im Tiefsten erschüttert. Allein den Zusammenhang ahnend, fühlte er wohl, daß er nicht in unmittelbarer Nähe Brigitta’s die ihn beglückende Versöhnung zum Abschluß bringen durfte. Nur wenige leidenschaftliche Worte sprach er mit gedämpfter Stimme zu Edith und verließ das Zimmer, geräuschvoll genug, daß Brigitta seine Entfernung vernehmen und sich wieder zu Edith verfügen konnte.

Am nächsten Tage erfuhr Brigitta durch die Gräfin, daß Vetter Albert einmal in seinem Leben keinen zu sanguinischen Palast aufgebaut hatte, daß Edith sich wirklich mit dem Legationsrath Siegfried Malköhne verlobt hatte. Dieser war von einem richtigen Gefühle geleitet, indem er es vermied, Brigitta wiederzusehen. Er wußte, daß sie es ihm danken würde. Ihr Aussehen aber war von der Art, daß die Gräfin sie nicht verlassen wollte. Nach und nach kam der Bericht von Allem, was vorgefallen, über die Lippen Brigitta’s; die Gräfin war ihr zu theuer geworden, um ihr verschweigen zu können, was sie ihr ohnehin schriftlich hatte mittheilen wollen.

„Jetzt aber fürchten Sie nicht,“ schloß Brigitta, „daß mich die Welt elend sehen und jammern hören würde. Uns Frauen ist das laute Klagen verwehrt. Heiße Thränen in der Nacht geweint, die solchen Kummer verhüllt und verschweigt: das ist es allein, was uns bleibt, wenn uns das Leben enttäuscht hat und wir in unserm innersten Fühlen tödlich gekränkt sind.“

Die Gräfin fragte nach der nächsten Gestaltung der Lebenslage Brigitta’s.

„Ich habe ein kleines Gut in Ostpreußen,“ erwiederte diese, „seit undenklichen Zeiten ein Besitzthum meiner Familie, des Hauses Tartarow. Die Gegend ist sehr häßlich, aber was liegt daran? Ich werde mich dahin zurückziehen; dadurch erspare ich mir’s auch, mich mit der Verwaltung schriftlich zu beschäftigen. Bisher hat mir der Legationsrath das Bezügliche geordnet oder ordnen lassen.“

Die Gräfin warnte sie davor, sich der Einsamkeit zu überlassen.

„Immerwährende Veränderung,“ sagte sie, „täglich ein neues Ziel vor Augen, sei es noch so unbedeutend: das rettet noch allein Frauen vor dem Untergang, die ein Schicksal haben wie Sie und ich.“

Daran knüpfte die Gräfin den Namen des Freiherrn Ludwig von Perser. Er wäre eine passende Gesellschaft für Brigitta und könnte zugleich die schriftliche Verwaltung des Gutes führen. Brigitta hatte keine bestimmte Antwort darauf.

Die Frauen schieden. Die Gräfin begab sich nach Wiesbaden, um von dort aus nach Italien abzureisen, und Brigitta kehrte in die Hauptstadt zurück. Es währte nicht lange, so fand sich Perser mit einem Briefe der Gräfin bei ihr ein. In der That wurde es für Brigitta eine unentbehrliche Unterstützung, dem durchaus rechtlichen Manne ihre Geschäfte übertragen zu können und an dem Baron einen würdigen Repräsentanten zu haben, wenn sie nicht selbst auf dem fernen Gute mit dem Gewicht ihrer Persönlichkeit auftreten wollte. Perser bezog die Wohnung neben ihr, die er einst hatte miethen sollen. Wohl versuchte er nach und nach eine immer dringendere Bewerbung um ihre Hand; allein für eine edle Frau bleibt, wenn sich die Treue für ein geliebtes Wesen nicht gelohnt hat, nur noch ein letzter Trost: die Treue für den Schmerz, den ihr der Verlust verursacht hat.

Fast sechs Monate des Jahres brachte Perser getrennt von Brigitta auf ihrem Gute zu. In der Thätigkeit für sie lernte er allmählich gleich ihr selbst jene Entsagung lieben, die, während jeder Besitz von Unruhe begleitet ist, bei aller Wehmuth doch wenigstens einen dauernden Frieden in sich schließt.