Die Gartenlaube (1898)/Heft 6
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6. Heft. | Preis 10 cents. | 31. März 1898. |
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Ostern. Gedicht von Johannes Trojan. Mit Abbildung | 165 |
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (5. Fortsetzung) | 166 |
Hoffmann von Fallersleben in Corvey. Ein Gedenkblatt zum hundertsten Geburtstag des Dichters. Mit Abbildungen |
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Zum 1. April. Gedicht von Carl Busse. Mit Illustrationen | 176 |
Auf dem Kynast. Historische Erzählung von Rudolf von Gottschall (Fortsetzung) | 178 |
Brunnen- und Badekuren. Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch | 183 |
Oesterreichisch Ostereier. Skizze von R. March. Mit Illustrationen von L. Janda | 185 |
Wie das erste Deutsche Parlament entstand. Ein Rückblick von Johannes Proelß. Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten. III. Märzstürme und Märzerrungenschaften (Schluß) |
186 |
Blätter und Blüten: Die erste deutsche Handelshochschule zu Leipzig. S. 194. – A. v. Liezen-Mayer †. (Mit Bildnis.) S. 194. – Erdbrände. S. 194. – Dämmerstunde. (Mit Abbildung.) S. 195. – Magnetisch gewordene Uhren und ihre Heilung. S. 195. – Kindersymphonie. (Zu dem Bilde S. 192 und 193.) S. 195. – Der Seealpsee im Säntisgebirge. (Mit Abbildung.) S. 196. – Zu unserer Kunstbeilage und den Bildern S. 169 und 172. S. 196.
Illustrationen: Abbildung zu dem Gedicht „Ostern“. S. 165. – Osterläuten. Von Frank Kirchbach. S. 169. – In Erwartung. Von E. v. Müller. S. 172. – Osterzauber. Von F. Mock. S. 173. – Abbildungen zu dem Gedicht „Zum 1. April“. S. 176 und 177. – Zum hundertsten Geburtstag Hoffmanns von Fallersleben. Von Franz Hoffmann von Fallersleben. S. 181. – Abbildungen zu dem Artikel „Oesterreichische Ostereier“. Von L. Janda. Das „Ritzen“ der Ostereier. Mährische Ostereier. S. 185. Galizische Ostereier. Bemaltes und beschriebenes Gänseei. S. 186. – Abbildungen zu dem Artikel „Wie das erste Deutsche Parlament entstand“. Kaiser Ferdinand I von Oesterreich. A. Fischhof. A. Schmerling. S. 187. Die Abdankung des Fürsten Metternich. Volksversammlung unter den „Zelten“ in Berlin. Von A. Wald. S. 188. Die Freudenkundgebung vor dem Schlosse zu Berlin. S. 189. Barrikadenkampf am Köllnischen Rathaus in Berlin. Von A. Wald. Der Zug mit den Bahren der Gefallenen im Schloßhof. S. 190. Umritt König Friedrich Wilhelms IV durch die Straßen von Berlin. Von H. Binde. S. 191. – Kindersymphonie. Von E. Wagner. S. 192 und 193. – A. v. Liezen-Mayer †. S. 194. – Dämmerstunde. Von A. Koester. S. 195. – Der Seealpsee. S. 196.
Neuroder Lehrkurse für Haushalt und Handarbeit. Die von uns im vorigen Jahre (Halbheftumschlag 6) erwähnten Kurse zur Ausbildung von Haushalts- und Handarbeitslehrerinnen haben sich vortrefflich bewährt; es veranstaltet deshalb der schlesische Vaterländische Frauenverein dieses Jahr eine neue Folge davon. Der Haushaltskurs nimmt am 18. April dieses Jahres seinen Anfang und dauert 8 Wochen. Behörden, Vereine und Fabrikbesitzer, welche einer geeigneten Persönlichkeit die vollkommene Befähigung zum Vorstand einer Haushaltsschule verschaffen wollen, können nichts Besseres thun, als ihr hier den gründlichen theoretisch-praktischen Unterricht dazu erteilen zu lassen. Der am 15. Juni beginnende, ebenfalls achtwöchige Handarbeitskurs will seinen Teilnehmerinnen das zur Staatsprüfung erforderliche methodisch-unterrichtliche Wissen nebst allen einschlägigen Handfertigkeiten vermitteln. Schulgeld wird nicht erhoben, nur ein Materialgeld von 2 Mark wöchentlich ist zu entrichten. Die Pension in guten Bürgerfamilien zu 110 Mark für die Dauer der Kurse vermittelt der Verein, auch ist der Genuß von Stipendien für einen Teil der Schülerinnen vorgesehen.
Meldungen sind zu richten an Herrn Kreisschulinspektor Dr. Springer zu Neurode in Schlesien, der auch zu jeder weiteren Auskunft bereit ist.
Ein neuer Feuerlöschapparat für Haus und Werkstatt. Ein Feuer würde oft noch im Entstehen leicht unterdrückt, oder es würde einem solchen, das bereits um sich gegriffen, noch erfolgreich Einhalt gethan werden können, wenn immer gleich der nötige Löschapparat zur Stelle wäre. Wenn auch eine gute Wasserleitung vorhanden ist, muß doch erst ein Schlauch herbeigeschafft und an diese angeschraubt werden, wodurch viel Zeit vergeht, ehe eine durchgreifende Bekämpfung des verderblichen Elements möglich wird. Diese Uebelstände beseitigt der Feuerlöschapparat „Neptun“, da er jederzeit sofort in Thätigkeit gesetzt werden kann. Er besteht aus zwei nebeneinander befindlichen eisernen Rädern, die sich mit ihrer gemeinsamen Nabe um das Zuleitungsrohr als Achse drehen können, das an die Wasserleitung angeschraubt ist. An dem Zuleitungsrohr ist ferner ein Schlauch festgemacht, welcher auf der Nabe der beiden Räder zwischen diesen aufgerollt ist. Oeffnet man einen Verschluß am Zuleitungsrohr, so läßt der Schlauch, da er hohl liegt, auch in ausgerolltem Zustande sofort das Wasser ausströmen; dabei kann er, wenn der Feuerherd an anderer Stelle liegt, mit Leichtigkeit gerade so weit abgewickelt werden, als nötig ist, um zu diesem zu gelangen. Der Apparat läßt sich an jeder Wasserleitung anbringen und ist sehr leicht zu handhaben. Er läßt sich übrigens auch als Sprengvorrichtung für Gartenzwecke verwenden, wobei er sich zugleich als praktischer Schlauchschoner erweist.
Die Glanz- und Mattvergoldung auf Glas. Verschiedene Liebhaberkünste, zum Beispiel die Spiegel- und Glasradierarbeit, die Glasbronzemalerei, erfordern oft eine Glanz- oder Mattvergoldung einzelner Teile, seien es Linien oder Flächen. Dilettanten wenden hierfür allerlei Verfahren an, die selten zu wirklich guten Resultaten führen; entweder haftet das Gold nicht fest genug, oder es springt nach einiger Zeit ganz ab, oder es verliert den Glanz etc. Da mögen einige fachmännische Ratschläge vielen willkommen sein. Handelt es sich nur um einfache Linienumrandungen oder Linienmuster, wie zum Beispiel auf Bilderrahmen, so nimmt man am vorteilhaftesten Beuligs Glasmetalltinte, auf die wir bereits auf Halbheftumschlag 7 des vorigen Jahrganges aufmerksam machten, legt das Muster hinter die gut gereinigte Glastafel und zeichnet mit einer Zinkfeder ganz wie mit gewöhnlicher Tinte die Linien nach. Gerade Linien zieht man am Lineal. Die Tinte läuft nicht aus, geht leicht aus der Feder, besitzt einen schönen Glanz und läßt sich gut mit Oelfarben oder Asphaltlack übermalen. Sollen die Linien durchaus mit Blattmetall dargestellt werden, so vergoldet man am besten die entsprechenden Stellen in breiteren Flächen, malt die Musterfiguren mit Oelfarbe darauf, läßt hinreichend trocknen und wäscht dann das überstehende, nicht durch Farbe verdeckte und geschützte Gold mit Wasser ab. Um nun aber größere Flächen auf Glas zu vergolden, giebt es drei Verfahren. Alle drei verlangen zunächst eine peinlich saubere Reinigung und nachfolgende Polierung des Glases mit weichem Leder. Man bestreicht hierauf die Fläche möglichst gleichmäßig und dünn entweder mit einer Lösung von Borax in Wasser, oder mit Kaliwasserglas (einer dicken Flüssigkeit aus der Droguenhandlung) oder mit einer Gelatinelösung, legt das Blattgold auf
und poliert es nach einigen Tagen mit einem Achatstein. Man kann zwecks schöneren Glanzes die Auflage zwei- oder dreimal wiederholen.
Bei Anwendung von Borax muß die Tafel erwärmt werden, ebenso bei Gelatine. Am sichersten für Dilettanten ist der Auftrag mit Kaliwasserglas, mit welchem Bindemittel man sehr wohl zum Beispiel die Facetten an Moraständern für Photographien etc. vergolden kann. Wünscht man Mattvergoldung hinter Glas auszuführen, so dürfte Bronze in den meisten Fällen genügen, andernfalls nimmt man ein nicht klar durchsichtiges, sondern blindes Bindemittel, mischt zum Beispiel Talcum unter eines der oben angegebenen. Sandierte, also körnig erscheinende Vergoldungen entstehen durch Einmischen von feinem oder gröberem Gries in die Bronzefarbe oder in das Bindemittel.
Certosamosaikarbeit. Unter diesem Namen werden besonders in Mailand Möbel aus Nußbaum oder schwarzpoliertem Holze angefertigt, welche mit aus drei- oder viereckigen Stücken zusammengesetzten Elfenbeinmosaiken eingelegt sind. Die Muster tragen zumeist einen orientalischen Charakter, bestehen also aus geometrischen Motiven, Zackenrändern, Bandleisten, Sternen und dergleichen. Man sticht zunächst die Konturen der Musterteile mit einem Flacheisen vor, hebt danach mit einem gebogenen Eisen die Holzfläche in solcher Tiefe heraus, daß die Stärke des Elfenbeins genau einpaßt, und klebt letzteres mit Fischleim oder Syndetikon in die vertieften Stellen ein, nachdem man die entsprechenden Figuren mit einer feinen Laubsäge zugeschnitten hat. Tafeln von echtem Elfenbein bekommt man in jedem größeren Drechslergeschäft zu kaufen. Da dasselbe jedoch sehr hoch im Preise steht, empfiehlt es sich, imitiertes amerikanisches Elfenbein zu verwenden, welches in Ton und Maserung dem echten durchaus ähnlich sieht. Eine 1 mm dicke und etwa 20X25 cm große Tafel kostet etwa 2 Mark.
Anleitung zur Stopfmethode nennt sich ein kleines Broschürchen von Virginia Brunner (Wien, Sallmeyer), welches einen ganz neuen Gedanken in die bekannte, wenn auch wenig ästhetische Thätigkeit des Strümpfestopfens bringt; das Ausfüllen der kleineren und größeren Lücken durch tunesischen Häkelstich nämlich statt des mühsamen und zeitraubenden Gitterstopfes. Die Methode ist ebenso praktisch als einleuchtend, eine Reihe guter Abbildungen kommt noch dem Verständnis zu Hilfe; unter ihnen befinden sich diejenigen Abarten des tunesischen Stiches, welche den gestrickten Maschen völlig gleich sehen. Die bereits vorliegende vierte Auflage des kleinen Buches spricht für fleißige Benutzung durch die Frauenwelt, wir können es daher getrost als Hilfskraft bei der so unbeliebten und doch so unumgänglichen Arbeit empfehlen.
Apfelsinen längere Zeit frisch zu erhalten. Wenn man Apfelsinen kistenweise bezieht, bekommt man sie bedeutend billiger, als wenn man sie in kleinen Mengen kauft. Für einen nicht zu kleinen Haushalt ist es deshalb empfehlenswert, eine größere Anzahl dieser köstlichen, erfrischenden Früchte zu erstehen. Man sucht die besten aus und bestreicht jede Apfelsine dann mit einem Wattebäuschchen, das man mehrmals erneuern muß, mit Paraffinöl sorgfältig überall und legt sie darauf nebeneinander, so daß keine Frucht die andere berührt, auf ein Obstgestell. Diese Apfelsinen halten sich, da die Verdunstung zurückgehalten wird, sehr lange.
Nur hat dies Aufbewahrungsverfahren, das sich auch bei tadellosen Citronen anwenden läßt, den einen Uebelstand, daß man die Schalen der Früchte natürlich nicht gebrauchen kann. Man thut daher gut, nur einen Teil der Früchte, der sich am längsten halten soll, zu überstreichen, die übrigen Apfelsinen dagegen nur in reines Seidenpapier einzuwickeln und so auf das Obstgestell zu legen. E.
Citronensaft als Fleckenvertilgungsmittel. Von allen Flecken in der Wäsche sind die Rostflecken die abscheulichsten; auf ganz rätselhafte Weise geraten sie meist in die besten Wäschestücke und bereiten der Hausfrau durch ihre Entfernung manche unliebsame Arbeit. Wiederholt habe ich nun Citronensaft als ein ganz ausgezeichnetes Mittel zur Entfernung von Rostflecken erprobt, welches stets zur Hand ist und dessen Gebrauch auf d!e Stofffasern der Wäsche nicht schädlich wirkt. Man tropft auf die Rostflecken etwas Citronensaft, legt ein ziemlich feuchtes Tuch darüber und plättet mit heißem Eisen rasch über das Tuch weg. Frische Rostflecken bedürfen meist nur eines zweimaligen Beträufelns und Ueberplättens, bei älteren Flecken muß man das Verfahren öfter wiederholen, oft sechs- bis achtmal, aber es ist dann selbst bei ganz alten Rostflecken von Erfolg. H.
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Halbheft 6. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Erwacht! Erhebt euch! Also sangen
Die Lerchen schwebend überm Feld;
Da fing es unten an zu prangen,
Und festlich schmückte sich die Welt.
Von oben ist in Haus und Herz!
Des Todes Fesseln sind zersprungen,
Und Leben regt sich allerwärts.
Gekommen ist aus Südens Ferne
Herunter fallen goldne Sterne,
Zahllose auf das Wiesengrün.
Bald hat aufs neu Besitz genommen
Das Schwalbenpar vom alten Nest.
Willkommen Auferstehungsfest!
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Antons Erben.
(5. Fortsetzung.)
Noch acht Tage bis zur Stunde des Abschieds. Wenn Christel
nur wüßte, wie sie dieselben überstehen soll! Sie erscheinen
ihr schlimmer als die Jahre, die dann kommen, die Jahre der Verlassenheit! Ja, sie wird gehen, nach Dresden zur Taufe
fahren und nicht wiederkehren.
O, diese nächsten acht Tage! Ob sie den Verstand wohl behält in der Zeit, oder ob ihr armes gequältes Hirn sich verwirrt? Ein Wunder wär’ es nicht. Wenn man ihr sagte, du sollst in acht Tagen sterben, eine Wohlthat wär’ es gegen dies! Und – sich nichts merken lassen vor ihm, sich beherrschen müssen, nicht den Kopf an die Wand lehnen dürfen in verzweifelndem Schluchzen! Ihm die Hand zum Abschied drücken müssen mit einer Lüge auf den Lippen! Sie will gar nichts sagen, kein Wort sagen, sie will ihn nur noch einmal küssen, ja, das will sie. Und dann in den Wagen, vorüber am Pächterhause, wo die Gespenster ihres einstigen Glücks aus den Fenstern schauen und weinen und spotten. Und weiter, auf die Bahn, in ein Coupé, und immer weiter, und das Haus nicht mehr sehen und doch immerfort vor Augen haben und darinnen den Mann wissen, der aufjauchzt vor innerer Erlösung, weil sie fern ist!
Wirklichkeit? Ist es denn Wirklichkeit? Wenn sie nur nicht mit diesen ihren eignen Augen gelesen hätte, die Worte sich nicht eingebrannt hätten in ihre arme Seele mit Feuerschrift, die nie verlöscht. Ach ja, sie muß gehen, sie will gehen, es bleibt ihr ja nichts anderes übrig. Und es müssen auch diese acht Tage ertragen werden!
Und Christel schleppt sie wirklich hin auf ihren Schultern, einen nach dem andern. Mit Antons Befinden geht es überraschend vorwärts, jeden Tag besser – „das macht die Hoffnung“ sagt Christel sich.
„Sie können ohne die mindeste Sorge reisen, Frau Christel,“ versichert der Arzt eines Tages, „der Kranke ist jetzt bereits aufgestanden und geht im Zimmer umher, das Anlegen des Verbandes besorgt bestens meine Wenigkeit und die Toilette der Diener. Für Unterhaltung werden die Baronesse und Fräulein Edith verantwortlich gemacht, Besuche aus der Nachbarschaft treffen ein, und für den nötigen Aerger wird Heine das Seinige thun mit Berichten aus der Wirtschaft. Sie sehen, Frau Christel, es wird hier nichts fehlen, womit ich aber nicht gesagt haben will, Verehrte, daß Sie hier entbehrlich sind – nein, das habe ich nicht etwa gemeint, nicht wahr, Mohrmann?“ Und der joviale Herr schlägt dem Patienten auf die gesunde Schulter. „Länger als drei Tage Urlaub giebt’s nicht – was, Mohrmann? Sonst werden wir ungnädig und lassen die Treulose durch die Polizei zurückführen!“
„Lieber Herr Doktor,“ sagt Christel sehr langsam, „kein Mensch ist unentbehrlich, ich bin es auch nicht.“
Der alte Herr stößt augenzwinkernd den Hausherrn an. „Die angelt aber nach Komplimenten, die Gnädige!“ lacht er, „der Tausend, das hätte ich nie von Ihnen gedacht, Frau Christel, und so will ich Sie bestrafen, indem ich gar nichts darauf sage, der Herr Gemahl könnte sonst eifersüchtig werden; hab’ auch keine Zeit. Leben Sie wohl, meine Herrschaften, auf Wiedersehen, lieber Mohrmann, glückliche Reise, Frau Christel!“
Christel folgt dem Arzt auf dem Fuße und im Hausflur faßt sie nach seiner Hand. „Lieber Herr Doktor, ich kann mich doch darauf verlassen, daß Sie jeden Tag kommen werden zu meinem Mann?“
„Ja Schockschwerenot, habe ich Sie denn schon einmal im Stich gelassen?“ ist seine scheltende Erwiderung. „Machen Sie sich doch keine unnützen Sorgen, verehrte Frau, Sie finden ihn wieder vor, so breit und lang er ist, mein Wort darauf –“ Er bricht stotternd ab, sie sieht ihn so sonderbar an, daß dem alten Mann ganz wunderlich wird.
„Ich danke Ihnen,“ sagt sie, drückt ihm noch einmal die Hand und wendet sich wieder Antons Zimmer zu. Sie sieht jämmerlich aus an diesem letzten Tage, an dem der Koffer schon gepackt dasteht. Jeder fragt, ob sie krank sei. Und selbst Edith sagt bei Tische: „Bitte, sehen Sie sich doch einmal im Spiegel, Frau Christel; ich wette, Sie haben Reisefieber.“
„Ja, ich glaube,“ erwidert sie.
Edith hat es auf Christels Bitte übernommen, dem Hausherrn bei Tische behilflich zu sein; er kann das Fleisch nicht schneiden, und den Wein sich eingießen kann er auch nicht, Das junge Mädchen besteht darauf, heute noch vor den Augen Christels eine Probe ihrer Fähigkeit abzulegen. Sie streift die Aermel etwas von den feinen Handgelenken zurück und bedient den finster dreinblickenden Mann mit lächelnder Grazie. Seitdem Emma von Zobel, die Mitwisserin ihres Geheimnisses, abgereist ist, fühlt sie sich wieder freier vor Christel; das heimliche Herzklopfen freilich, das – das kann sie nicht unterdrücken.
Draußen weht ein frühlingsgleicher Wind, die Knospen der Buchen sind geschwollen, so daß die Hecken einen krausen dichten Eindruck machen, und Fräulein von Wartau bemerkt zu Christel, daß demnächst wohl das Tannenreisig von den Hyacinthenbeeten genommen werden könne; sie für ihr Teil glaube an einen zeitigen Frühling, und wenn sie nicht sehr irre, habe sie bereits das Pfeifen der Stare gehört. „Sie werden Ihre Freude haben an den Beeten,“ fügt sie hinzu, „dieser südliche sonnige Teil des Gartens ist köstlich im Frühjahr; er war immer mein besonderer Liebling,“ seufzt sie noch und denkt dabei an ferne Zeiten, an einen hyacinthenduftigen Frühlingstag, wo ihr vom Schicksal die erste und einzige Liebeserklärung ihres Lebens gegönnt wurde auf den kiesbestreuten Gartenwegen, in denen sie und er wandelten. Damals galten die Wartaus noch für reich; auch sie, die achtzehnjährige, wußte es nicht anders, und der schöne Offizier aus der benachbarten kleinen Garnison glaubte es ebenfalls.
Unter ihrem weißen Sonnenhut war sie erglüht bei seinen Blicken, seinen Worten, er hatte sie verglichen mit den rosigen Hyacinthenkelchen; und als eine selige Braut war sie in das Schloß zurückgekehrt und die Treppe hinaufgeflüchtet nach ihrem Mädchenstübchen; er aber hatte des Barons Zimmer aufgesucht, um, ihres Besitzes sicher, auch bei dem Vater zu werben. Und sie hatte gewartet, gewartet da droben, zitternd wie Espenlaub, daß der Vater sie rufen solle, um sie dem Bräutigam zuzuführen. Und niemand kam. Ueber dem Garten leuchtete goldig die Sonne des Abends und verglühte am Himmel; ein Weilchen stand die Windmühle von Altwitz wie eine Silhouette im roten Sonnenball. Dann flammten die Wolken noch einmal auf im leuchtenden Rot und verfärbten sich mählich zu violett und orange, und noch ein paar Minuten, dann lag draußen alles grau in grau, und Tonette von Wartau stieg mit blassem Antlitz die Treppe hinunter und suchte ihren Vater.
Der Herr Baron saß bereits beim Abendessen und ließ es sich wohlschmecken, die Schwester und deren Erzieherin ihm zu Seiten. Als er Tonette sah, war er ganz wie sonst, nur daß diesmal die scharfe Bemerkung unterblieb, mit der er jede Unpünktlichkeit zu tadeln pflegte. Mit keiner Silbe erwähnte er den Freier. Sie konnte nicht einen Bissen hinunterbringen, und nach Schluß der Mahlzeit stellte sie sich, zitternd vor Trotz, in seinen Weg.
„Wo ist Schmergenthin?“ fragte sie halb erstickt.
„Soll ich Schmergenthins Hüter sein?“ war die lachende Gegenfrage. „Ich denke mir, er spricht ein Dankgebet, weil ihn der Himmel vor einer Thorheit bewahrte.“
„Vater! Vater!“ stieß sie hervor.
„Als er hörte, daß dein Vater dir nicht einmal das Kommißvermögen mitgeben könne, Tonette,“ sagte er mit erhobener Stimme, „behauptete Schmergenthin plötzlich, er fühle sich deiner nicht wert, und bat mich, dir zu sagen, du möchtest ihn vergessen. Sei gescheit, Mädel, glaub’ ihm und folge seinem Rat! Und nun schlaf wohl, ich bin müde heute.“
In dieser Nacht verdarb Tonettes Seele. Armut und Verlassenheit sind zwei bittere Dinge, sie lehren die Geduldigen, noch geduldiger werden, aber die eitlen Herzen lehren sie das Heucheln, das Vorteilsuchen, sie lehren sie, andere bestehlen, [167] Tonette, die scheinbar so edelmütige stolze Tonette, war eine Intrigantin geworden, obgleich sie es sich selber nicht eingestand. Sie konnte und konnte den Gedanken nicht loswerden, daß Christel hierher nicht gehöre. Sie hatte die wunderlichsten Phantasien; sie rechnete die schrecklichsten Zufälligkeiten aus; die Anton befreien könnten von diesem Klotz, den er umherschleppe zu seinem Elend – wie sie meinte. Es waren ja schon Leute vom Blitz erschlagen worden, es waren auch schon welche durch ein Eisenbahnunglück umgekommen, es hatten andere beim Sturz von der Treppe das Genick gebrochen – warum kam nicht mal so ein Ereignis? Warum? Wenn so etwas nicht geschah, würden die beiden natürlich vereint bleiben bis an ihr seliges Ende, denn er war ja so ein lächerlich gewissenhafter Mensch, und bei Christels Konstitution könnte es leicht zu spät werden für Tonettes Pläne!
Mit Intriguen ist da auch nicht weit zu kommen. Diese blonde ruhige Frau besitzt eine Seele wie Quellwasser so klar; sie ist noch nicht einmal fähig, eine konventionelle Lüge auszusprechen, und das weiß der Mann; Tonette sieht täglich, wie er diese Frau achtet. Aber Achtung ist der Leidenschaft gegenüber ein schwacher Kämpfer, und das weiß Tonette aus eigner Erfahrung – ihr Vater hat ihre Mutter auch geachtet und sie dennoch an gebrochenem Herzen sterben lassen. Und sie sieht von Edith, die eben den starken Kaffee in die Mokkatäßchen füllt, zu Anton hinüber und fängt den qualvoll heißen Blick auf, der zu dem Mädchen fliegt, und sie sieht, wie er die Wimper senkt vor ihren, Tonettens, Augen, und während sie dies alles beobachtet, herrscht ein wahres Grabesschweigen am Tische, selbst Ediths Plaudern ist verstummt.
Christel denkt, wie es anders sein wird, wenn sie nicht mehr hier sitzt, wie er aufatmen wird, wenn er nicht mehr Komödie zu spielen braucht vor ihr. Die Sache wird sich ungefähr so entwickeln: im Anfang wird er alles aufbieten, sie zur Rückkehr zu bewegen, denn die Gewohnheit ist so stark, daß sie in den Farben der Liebe zu schillern vermag. Aber allmählich, wenn seine Christel standhaft bleibt – und sie bleibt standhaft! – dann wird er sich beruhigen und wird glücklich sein, daß die Ketten, die so schwer, so drückend waren, nun gebrochen sind. – Sie möchte aufschreien vor Schmerz, vor Zorn, aber sie muß fest bleiben, sie hat ja den Brief gelesen, den furchtbaren Brief, die Worte haben sich ihr so deutlich eingeprägt, sie kann sie auswendig, sie geben ihrem Stolz immer wieder neue Nahrung, wenn sie zurückschrecken will vor dem schweren Schritt. Und um sieben Uhr morgen früh geht der Zug! O, sie wollte, sie hätte noch viel zu thun, damit sie nicht weiter zu denken braucht, aber es giebt nichts mehr für sie zu thun, gar nichts mehr, so fieberhaft arbeitete sie während der letzten Tage. In der Wirtschaft ist alles in bester Ordnung, auf Wochen hinaus jede Kleinigkeit vorausberechnet und bestimmt. Solange es irgend möglich, will sie ihm jede Sorge abnehmen, kleine Unbequemlichkeiten ersparen; die Zeit, wo er ohne Hausfrau ist, wird ihm ohnehin schwer genug werden.
Fräulein Tonette erhebt sich plötzlich. „Na, meine gute Frau Christel,“ sagt sie in dem herablassend freundlichen Ton, den sie ihr gegenüber stets annimmt, „also reisen Sie glücklich und amüsieren Sie sich gut und – kommen Sie gesund wieder!“
„Danke!“ erwidert Christel und begleitet die alte Dame bis auf den Flur hinaus, und dort hält sie ihr plötzlich die Hand hin und mit abgewendetem Gesicht kommt es in stockenden Worten über ihre Lippen: „Nehmen Sie sich ein wenig meines Mannes an – er ist immer noch so ans Zimmer gefesselt. Wenn Sie ihn zuweilen auffordern wollten, hinaufzukommen – er ist so gern in Ihrem Zimmer, ich weiß es. Und Fräulein Edith –“
O du Gans, du einfältige! denkt Tonette, sie ist dumm und blind in ihrer selbstgefälligen Ehefrauensicherheit! „Aber natürlich, liebe Frau Mohrmann,“ antwortet sie laut, „wenn Ihr Gatte Lust hat, so ist er immer willkommen. Sagen Sie es ihm nur, ich habe wirklich nicht den Mut, ihn in unser langweiliges Tusculum hinauf zu locken. Es ist weiter nichts da oben als Erinnerungen, Trödel und –“
„Ich weiß, daß Anto gern kommt,“ unterbricht Christel diese Phrasen, „und ich danke Ihnen recht sehr.“
„Sie gehen wohl recht schweren Herzens fort?“ fragt das alte Fräulein, und um die Mundwinkel zuckt ein unmerklich spöttisches Lächeln.
„Ja, gnädiges Fräulein. Sehr schweren Herzens,“ erwidert Christel. „Man weiß nie, ob man wiederkehrt!“ und sie richtet ihre Augen groß und ernst auf das malitiös lächelnde Gesicht der alten Dame.
„Na, Sie werden schon wiederkommen, meine gute Frau Christel, werden schon wiederkommen,“ tröstet Tonette, „nehmen Sie’s nicht so tragisch. – Adieu nochmals und bitte, schicken Sie mir doch Edith, sie würde an dem Vorabend dieses großen Ereignisses doch nur stören.“ Sie nickt gnädig noch einmal, dann geht sie die Treppe hinauf, Christel kehrt zurück.
Im Eßzimmer sitzen Anton und Edith noch am Tische, als sie eintritt. Edith hat eine Apfelsine geschält und so geordnet, daß sie wie eine goldene, eben erschlossene Blüte auf dem Krystalltellerchen liegt; sie wischt nun die Fingerspitzen an der Serviette ab und präsentiert Anton die Frucht. Durch das Fenster zuckt ein Sonnenstrahl, er entlockt dem Tafelgerät ein lustiges Blitzen und Funkeln und läßt die krausen dunklen Haare über Ediths Stirn leuchtend braun erscheinen. Auf dem kecken Gesicht mit den strahlenden Augen liegt ein heimliches Lachen und sie fragt: „Erlauben Sie, Frau Christel, daß ich ihn füttere?“ Sie hat die Orange auf einen Theelöffel geladen und nähert diesen Antons Mund.
Christel fühlt, wie sie rot wird, wie das Herz ihr klopft zum Zerspringen. In demselben Augenblick fährt Anton auf von seinem Sitz und stößt mit der Hand das Löffelchen heftig zurück. „Ich danke, Baronesse, ich liebe Süßigkeiten nicht!“ sagt er schroff, und ohne Christel anzusehen geht er hinaus.
Edith lacht zuerst, wird dann verlegen, faltet eilig ihre Serviette zusammen und kommt zu Christel herüber.
„Addio, liebste Frau Christel,“ sagt sie, ihr um den Hals fallend und sie küssend. „Sie können froh sein, Dresden zu sehen! Ich führe gern mit, aber Tante erlaubt es nicht, und wenn ich es mir so recht überlege, ich bleibe auch lieber hier. Grüßen Sie Emma von Zobel, wenn Sie sie sehen, sie verkehrt freilich in andern Kreisen. – Was werden Sie anfangen in Dresden? In die Oper gehen, in die Galerie? Ach nein, ich glaube, Sie machen gewiß lauter Einkäufe, das ist ja für die Landbewohner schon ein Pläsir. Ich suche unterdes Schneeglöckchen und bekränze das Bild meiner ehemaligen Liebe damit, denn, sehen Sie, Frau Christel, das ist aus, rein aus! Gelt, zum Lachen ist’s! Warum sehen Sie mich denn so entsetzt an? Ich soll doch nicht weinen? Darum? Um so ein dummes Kerlchen wie der Edi ist? Nein, da kennen Sie mich schlecht!“
„Sie werden ihn wohl nie geliebt haben,“ sagt Christel langsam. Mein Gott, wie das so leichtlebig, so leichtsinnig klingt aus dem Munde dieses jungen Mädchens! Sie blickt der Davoneilenden nach und beißt die Zähne aufeinander. Kann denn solch Geschöpf dem Manne, der es erwählt, eine Spur von Glück ins Haus bringen? Darf sie dazu helfen, daß Antons thörichte Neigung zum Ziele führt, dem Ziele, elend zu werden für immer an der Seite dieses oberflächlichen Wesens?
Sie nimmt mit heißen Wangen ein Tuch um die Schultern, ergreift den Schlüsselkorb und steigt hinauf in die Bibliothek. Den Schlüssel besitzt sie noch; Anton hat ihn bis jetzt nicht zurückverlangt; das Treppensteigen wurde ihm wohl noch zu schwer, oder meidet er den Raum, um einer andern Ursache willen? Es ist, als sei das stille Gemach nicht mehr vorhanden für ihn.
Sie aber hat für das Zimmer, in welchem sie die schwerste Stunde ihres Lebens erduldet, eine Leidenschaft gefaßt. Des öftern ist sie schon hinaufgeschlichen, hat vor dem Bilde gestanden, das Napoleons Abschied darstellt, und an dem Schreibtisch gesessen, an dem ihr Mann den verzweifelten Brief schrieb. Und heute sitzt sie zum letztenmal dort und sieht mit trostlosen Augen in die dunstige Landschaft hinaus, die unter dem Schauern des Lenzwindes liegt, über der Wolkenschatten und Sonnenblitze wechseln. Ihre Lippen bewegen sich, als spräche sie. „Ich muß es thun,“ sagt sie endlich, „ich muß!“
Und entschlossen rückt sie näher heran und schreibt den Scheidebrief an Anton. Sie liest ihn gar nicht nochmal durch, sie couvertiert ihn, siegelt und adressiert und legt ihn dann mitten auf die Schreibunterlage, daß er sich grell abhebt von dem roten Löschblatt. Da ist auch ein Briefbeschwerer, den setzt sie vorsichtig auf eine Ecke des Schreibens und dann sitzt sie da wieder [168] unthätig, in ihre schweren Gedanken verloren bis zur Dämmerung. Nun muß sie gehen, muß ein Ende machen. Sie zieht ihren Trauring ab – er gleitet leicht vom Finger, ihre Hand ist mager geworden in den letzten Zeiten – legt ihn ebenfalls auf den Brief und dann schleicht sie hinunter. Vor Antons Thür stockt ihr Fuß; es ist eine schreckliche Qual, mit ihm allein zu sein, sie möchte es hinausschieben so lange als möglich. Sie geht deshalb nach dem Inspektorhause hinüber und redet noch einmal von A bis Z mit der jungen Frau Heine über Butter und Käse, und daß die Preise jetzt aufschlagen werden des knappen Futters wegen. Aber endlich muß sie auch dort „Adieu“ sagen. Sie sieht sich noch einmal in der Stube um, in der sie die arbeitsvollen glücklichsten Jahre ihres Lebens neben Anton verbracht hat, und dann wandert sie langsam in der Dunkelheit über den Hof ins Schloß zurück.
In Antons Zimmer ist noch kein Licht, er hat sie aber auf dem Flur gehört und ruft: „Wo steckst du denn eigentlich, Christel? Ich wollte dir noch verschiedenes sagen, was du in Dresden besorgen mußt – hast du jetzt Zeit?“
„Ja!“ sagt sie gepreßt, „aber willst du nicht erst zu Abend speisen?“
„Nein, ich danke, ich warte lieber noch.“
Sie ist eingetreten und tastet sich nach dem großen Lehnstuhl am Schreibtisch. „Willst du nicht Licht haben, Anto?“
„Nein!“ Das klingt sehr hastig, fast schroff.
Christel sitzt schweigend und abwartend da. Trotz der Dunkelheit kann sie seine große Gestalt erkennen, wie sie auf dem Teppich hin und her wandert.
„Ich habe auch einen Brief mitzugeben an Karl,“ sagt er endlich.
„Ich soll ihn mitnehmen?“ stößt sie befremdend heftig hervor. Sie weiß ja doch, es ist der Brief, der unselige Brief, der seine Beichte enthält.
„Ich kann ihn auch mit der Post schicken, wenn es dir zu viel ist,“ antwortet er erstaunt.
„Ach, gieb ihn nur,“ sagt sie jetzt gewaltsam ruhig.
„Und dann ist dort mit dem Sattler zu sprechen,“ fährt er fort, „der Kutschgeschirre wegen, der Sielengeschirre, du weißt ja. Und, bitte, gehe nach der Ofenfabrik, dort sollen jetzt Rokokoöfen ausgestellt sein; die Adresse schrieb ich dir auf. Und im übrigen wünsche ich dir nur noch, daß du ein paar nette Tage verlebst und mit keinerlei Sorge hierher zurückdenkst. Du hast zuletzt ja viel durchgemacht, Christel, du mußt mal heraus, du wirst froher wiederkehren und mich – wirst du dann ja auch anders antreffen. Was ich dazu thun kann“ – er lacht kurz auf – „werde ich ja thun, natürlich! Es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit! Und nun gieb mir die Hand, Christel; wenn du wieder da bist, dann –“
Er tastet mit der gesunden Hand nach der ihrigen, heiß und fiebrig umspannt sie die kalte Linke der Frau; die Rechte hat sie auf den Rücken gelegt, der Ring fehlt ja an ihr.
„Warum zitterst du denn?“ fragt er.
„Zittere ich? Ich weiß es nicht.“
„Ja, Christel, alte gute Christel!“ Und plötzlich thut er, was er nie gethan, er kniet vor ihr nieder und legt den Kopf in ihren Schoß. Es ist, als ob ein Beben durch den großen Mann geht.
„Steh doch auf! Steh doch auf!“ sagt sie hastig, wie befehlend, „ich bitte dich, steh auf! Wir wollen uns doch nicht lächerlich machen, Anto – Komödie spielen ist für uns nicht angebracht.“
„Komödie spielen?“ wiederholt er. Eine grenzenlose Bitterkeit überkommt ihn gegen die Frau, die für das, was in seiner Seele vorgeht, so gar kein Verständnis hat. Die Reue, die Verzweiflung ließ ihn niederknieen vor ihr, und sie fragte nicht: Was drückt dich, was ist dir? Hätte sie eine einzige solche Frage gethan, er hätte ihr in dieser Minute gebeichtet wie einer Mutter, hätte sie gebeten: Bleib’ bei mir, hilf mir, laß mir Zeit – ich finde mich wieder!
Er lacht laut auf und springt auf die Füße. „Es ist wahr, Christel,“ sagt er schneidend, „wir standen eigentlich auch nie so zärtlich sentimental miteinander – hast recht, Christel; den Teufel auch! Weil du auf drei Tage nach Dresden reist, werde ich wie ein Schulbub’, der nach den Ferien von seiner Mutter Abschied nimmt und plärrt.“
Sie antwortet nicht, sie weiß ja so genau, was ihn knieen ließ vor ihr: die Reue, das mahnende Gewissen. Wenn sie eben gewollt, wenn sie seinen Kopf zwischen ihre Hände gefaßt, wenn sie den Thränen der Verzweiflung, die ihr emporquollen, hätte ihren Lauf gelassen, dann wären die gelockerten Bande wieder fest geknüpft worden – auf ein paar Wochen oder Tage, oder – Stunden, – und dann wäre der Kampf von neuem entbrannt in seinem Herzen. Und sie will kein Mitleid, will keine Geduldete sein, sie will nicht seine Qualen sehen auf Kosten ihres Rechtsgefühls, sie will nicht, sie kann nicht!
„Na also, dann können wir wohl zu Abend essen, Christel,“ sagt er forciert gleichgültig, „was hast du denn Gutes? Eine anständige Henkersmahlzeit, die versteht sich bei einem so ausgezeichneten Hausstand von selbst, obgleich der Februar ein jammervoller Monat für die Küche ist. Wir trinken am Ende eine Flasche Sekt und stoßen an auf glückliche Reise – was?“ Und dabei drückt er auf den Knopf der elektrischen Klingel. „Licht!“ schreit er den Diener an, der atemlos eintritt.
„Ich kann nicht essen,“ sagt Christel, „ich möchte dich vielmehr bitten, nicht übelzunehmen, wenn ich mich zeitig zur Ruhe begebe. Wenn du aber wünschst, will ich dir Gesellschaft leisten beim Essen, trotz meines Kopfwehs.“
„Also Kopfweh? Nein, nein, genier’ dich nicht, leg’ dich nur, ich kann allein essen, Christel!“
„Gute Nacht denn, Anto, und adieu auch gleich,“ sagt sie. „Ich habe mir in einer Kammer das Bett herrichten lassen, ich muß früh aufstehen morgen, und das stört dich, weckt dich aus dem besten Schlaf. Der Diener bleibt schon diese Nacht in der Stube neben deinem Schlafzimmer. Gute Nacht, und laß es dir gut gehen während meiner Abwesenheit, Anto!“
Sie hat sich hingetastet zu ihm, und jetzt schlingt sie die Arme um seinen Hals. „Adieu. Anto – komm’, gieb mir einen Kuß und sei nicht böse auf mich – nicht wahr, du weißt, ich meine es gut mit dir?“
„Nein, nein, ich bin nicht böse,“ antwortet er, indem er sie flüchtig küßt, „und ich weiß ja, daß du es gut meinst.“
„Dann leb’ wohl,“ flüstert sie, und auf einmal fühlt er ihre Lippen wieder auf den seinen, fest, leidenschaftlich innig, einen kurzen Augenblick nur, und dann hat sie ihn so jäh losgelassen, daß er fast schwankt.
So hat sie ihn nie geküßt.
„Christel!“ ruft er, aber die Thüre klinkt eben ein; Christel ist gegangen. Daß es ein Abschied war für immer, das ahnt er nicht.
Es ist gerade, als ob es in der Luft liege, daß etwas
Unerhörtes geschehen wird. Anton kann, allein da unten, keine Ruhe finden. Er hat lange gelesen, so lange, daß ihm die Lampe
ausging; nun liegt er schlaflos im Dunkeln mit wirren Gedanken.
Draußen hat sich der Sturm aufgemacht und rast um das
Schloß mit Pfeifen und Brausen. Es knackt im Gebälk und
in den Möbeln, es ist, als ob es hinter den Tapeten raschele;
die Dielen ächzen leise, als träten unsichtbare Füße auf sie. Aus
dem Nebenzimmer tönt das laute regelmäßige Schnarchen des
Dieners. – Der Kerl würde nicht aufwachen und wenn man
eine Kanone neben ihm abschösse! denkt der einsame Mann, dem
die Schulter schmerzt, denn der Verband hat sich verschoben.
Er starrt mit brennenden Augen nach oben, es kommt ihm vor, als ob dort leise Schritte gehen: Edith – Edith, die auch nicht schläft! Hätte er doch das Mädchen nie gesehen! Könnte er doch weiter so vegetieren wie bisher neben Christel, in der eintönigen Folge der Wochen und Monde! Es war so ruhig geworden in ihm, sein Herz hatte das rasende Pochen von einst verlernt; er war sich so rechtschaffen, so bieder vorgekommen und hatte Freude an seinen Erfolgen gehabt.
Und jetzt? So ging es nicht weiter, aber – was soll dann werden? Er hatte den Selbstmord immer verachtet, immer – aber in seiner Lage war es fast das einzige, was blieb!
Sollte er Christel einfach zwingen, ihre Rechte aufzugeben? Einen Streit vom Zaune brechen? Es wäre brutal gewesen. Ach ja, sie würde ihm alles, alles vergeben, sie würde dulden,
[169][170] klaglos dulden, sie würde ihn mit ihrer Demut zur Verzweiflung treiben, denn sie liebt ihn ja mit jener Liebe, die alles erduldet, alles erträgt und alles hofft. Sie würde es als Pflicht ansehen, bei ihm zu bleiben, und wenn er sie mit Füßen träte. Und sein Herz und seine Sinne schreien nach der andern, und diese andere weiß es und liebt ihn wieder, vielleicht sich selber noch unbewußt. Aber ihre Blicke, ihre kleinen Koketterien, die ihm den Kopf verwirren – –. Er hat ja Herzklopfen wie ein Sekundaner, wenn er ihr Kleid rauschen hört, und seit dem Feuer, seitdem er das reizende Geschöpf auf seinen Armen dem Tode entriß, da war es vollends um ihn geschehen. –
Er hatte am Nachmittag, bevor der Brand ausbrach, an seinen Freund Karl geschrieben, droben in der Bibliothek, den Brief aber später verbrannt, denn der Freund konnte ihm auch nicht helfen; er hat ihm nur ganz einfach ein paar freundliche Zeilen mit seinem Glückwunsch übermittelt. Es muß sich auch so ein Ausweg finden lassen; einige Tage Ruhe nur für sein überreiztes Gehirn, das stille vorwurfsvolle Gesicht Christels nicht sehen – nur ein paar Tage nicht!
Es ist gegen vier Uhr früh, als er einschläft; als er erwacht, ist’s neun Uhr. Ueber ihm spielt Edith von Ebradt auf dem verstimmten Klavier der Tante; durch die Vorhänge der Fenster blitzt ein Sonnenstrahl, der Sturm hat alle trüben Wolken draußen verjagt.
Auf sein Klingeln erscheint der Diener und hilft ihm beim Ankleiden. „Ist meine Frau abgereist?“
„Jawohl, Herr Mohrmann.“
„Hat sie noch eine Bestellung hinterlassen für mich?“
„Ich weiß nicht – werde mich erkundigen – Frau Mohrmann hat gar nichts weiter gesagt,“ berichtet der Mann, nach einem Weilchen zurückkehrend. „Der Kutscher hat müssen am Friedhof vorfahren, und da ist sie noch einen Augenblick ausgestiegen und an das Grab der Mutter gegangen.“
Anton fällt dies auf. „War sie auch im Pfarrhause?“
„Nein! Der Kutscher sagt, nur auf dem Friedhof.“
Das ist eine Sentimentalität, die Anton gar nicht an ihr kennt.
Der Vormittag geht so hin; Heine kommt und der Doktor kommt; Anton ladet die Herren zum Frühstück ein, es geht ganz lebhaft dabei her. Mittags erscheinen die Damen bei Tisch, sie sitzen da zu dreien. Fräulein Tonette kann ausgezeichnet erzählen; sie bringt das Gespräch auf ihren Aufenthalt in Madeira, sie ist mit dem Vater drei Jahre hintereinander dort gewesen. Man bleibt heute länger beisammen als sonst. Der Diener sieht von Viertelstunde zu Viertelstunde in das Zimmer, aber die Herrschaft redet so eifrig, er kann noch immer nicht die Dessertteller holen. Endlich erhebt sich Tante Tonette.
„Nun sollen Sie ruhen, lieber Mohrmann, und wenn Sie nachmittags Langeweile haben – wir sind zu Hause.“
Er verbeugt sich jetzt sehr förmlich, und man entfernt sich ohne seine Zusage. Er will nicht hinaufgehen, er will nicht; abends um neun Uhr klopft er aber doch an. Edith sitzt in dem künstlich arrangierten Erker mit einer Handarbeit, die Baronesse am Kamin. Anton nimmt ihr gegenüber Platz und muß Auskunft geben, wie er sich als Strohwitwer gefällt. Man unterhält sich wieder ganz ausgezeichnet. Edith spricht freilich am wenigsten, nur ihre Augen sprechen. Diese dunklen, leuchtenden sonderbaren Augen.
So vergeht der erste Tag und der zweite, eine Nachricht aus Dresden kommt nicht, aber Anton weiß ja, sie schreibt so ungern, die Christel, und wahrscheinlich wird sie nur telegraphieren, wann sie einzutreffen gedenkt, damit der Wagen an der Bahn sein kann.
Zum Ueberlegen ist Anton nicht gekommen, vielmehr immer tiefer und tiefer in seine unselige Leidenschaft versunken. Heute, wo er jeden Augenblick die Depesche erwartet, die ihm die Rückkehr Christels melden soll, ist er von einer solchen nervösen Gereiztheit, daß niemand ihm etwas recht macht, und die Leute in der Küche, der Diener an der Spitze, wünschen die „Frau“ herbei. Er fährt empor, wenn eine Thür geht, und sieht in jedem Menschen, der über den Hof schreitet, einen Depeschenboten. Aber bis gegen Abend ist nichts gekommen, weder Brief noch Depesche.
Zu der gewohnten Stunde klopft er wieder bei den Damen an, er findet nur die Baronesse vor; Edith hat Kopfweh und sich in ihr Zimmer zurückgezogen.
„Ich weiß nicht,“ sagt die alte Dame, „was sie treibt; sie sieht so blaß aus, ißt schlecht seit einiger Zeit, und des Nachts schluchzt sie mitunter zum Herzbrechen. Gott schütze sie nur vor unglücklichen Amouren – so etwas will durchgemacht sein, mitunter auf Kosten der Gesundheit.“
Er bleibt nicht lange, es ist so öde ohne sie. Er steigt wieder die Treppe hinunter, geht durch alle Stuben und weiß nichts zu beginnen vor innerer Unruhe. Wenn man sich wenigstens in die Arbeit stürzen oder mit dem Schießprügel umherlaufen könnte! – Dieser elende Knochenbruch – zum Verrücktwerden ist’s! Und nun noch gar das arme Mädel da oben krank! Sie weiß nicht, was mit ihr ist, die Alte, aber ich weiß es, ich! – Sterben wird sie daran, wie ich auch, zu Grunde gehen werden wir daran, sie und ich! Und er stößt einen Stuhl, der ihm im Wege steht, mit so heftigem Fußtritt fort, daß er krachend zu Boden fliegt und der Diener atemlos hereinstürzt, um mit offenem Munde seinen Herrn anzustarren.
„Mach’ Feuer oben in der Bibliothek!“ herrscht dieser ihn an und wirft ihm den Schlüssel hin, den Christel vor ihrer Abreise ihm wieder zugestellt hat, indem sie denselben in das Schubfach seines Betttischchens legte. Ihm ist plötzlich eingefallen, daß er sonst dort oben in dem stillen Zimmer mit dem weiten Blick in die Ferne hinaus am ehesten Ruhe gefunden hat.
Nach einer halben Stunde meldet der Diener, daß es oben schon genügend warm sei, und Anton hält mit seinem Auf- und Abwandern ein und steigt zur Bibliothek hinauf. Noch ist es ziemlich hell hier, im Ofen flackert das Feuer, die mit Bücherrepositorien ziemlich bis zur Decke hinauf besetzten Wände heimeln ihn an, der Schreibtisch scheint nur auf ihn zu warten. Es ist so still hier, so totenstill; er hört, als er jetzt im Erker sitzt und hinausstarrt in die Landschaft, das Ticken des Holzwurms in der Vertäflung, das Rascheln einer Maus hinter den Büchern und über sich das dumpfe, regelmäßige Tick! Tack! der Turmuhr. Am Boden liegt der aufgeschlagene Band einer französischen Ausgabe der „Drei Musketiere“ von Dumas, und er erinnert sich, darin geblättert zu haben, als er zum letztenmal hier oben saß, als er den Brief an Karl schrieb, bevor das Feuer in Altwitz ausbrach. Aber wie ist das Buch auf den Boden gekommen? Er stößt es achtlos mit dem Fuße fort.
Wie soll es werden? Soll er auf Reisen gehen? Seine Verhältnisse gestatten es ihm ja: Heine ist ein zuverlässiger Mann und Christel wäre ja auch da. Die neuen Eindrücke der weiten Welt würden ihn vielleicht eine Zeit lang abziehen – eine Zeit lang, ja, er würde in dem bunten Reiseleben die Ketten nicht rasseln hören, die ihn hier zur Verzweiflung bringen, aber – – geändert wird nichts damit, vergessen kann er nicht, das fühlt er.
Er springt auf und geht im Gemach umher. Einmal reißt er die Taschenuhr heraus, es ist halb sieben Uhr, um Sieben passiert wieder ein Zug von Dresden die Station, da kann sie kommen. Ob man den Wagen zur Bahn schickt? Man müßte es wohl thun, aber – warum hat sie nicht geschrieben? Wenn’s nicht geschieht, ist’s nicht seine Schuld und – sie wird sich ja doch herfinden, sie wird in aller Seelenruhe ihr Kleid zusammenraffen und mit ihrem gleichmäßigen festen Schritt nach Hause gehen.
Er sieht sie schon eintreten, keine Spur eines Vorwurfs auf ihrem vollen Gesicht, nicht einmal die Frage: Warum war denn der Wagen nicht da, Anto? Nein, sie wird ablegen und sofort nach dem Schlüsselkorb greifen und in der Wirtschaft nachspüren. Höchstens sagt sie: Sobald ich draußen alles geschafft habe, Anto, erzähle ich dir; einstweilen grüßt Karl recht herzlich. Und wenn es dann später zum Erzählen kommt, wird sie von den Kindern und dem Haushalt der Frau Doktorin reden, aber was er am liebsten wissen möchte, muß er ihr abfragen. Und bei Erwähnung des Täuflings wird sich wieder der schmerzliche Zug um ihren Mund legen wie jedesmal, wenn sie von Kindern spricht.
Ja, du großer Gott, ist er denn nicht am meisten zu beklagen, er, der da gearbeitet und erworben hat, rastlos, unermüdlich, ohne zu wissen, für wen? Ja, für irgend welche ihm unbekannte Sprößlinge seiner entfernten Verwandten!
[171] Er ist, wie zufällig, vor dem Bilde „Napoleons Abschied von Josephine“ stehen geblieben. Er sieht die Schilderei an; bisher hat er sie kaum bemerkt. Ein Ausdruck von Genugthuung fliegt über sein zuckendes Gesicht. Ach, der hatte den Mut, der war ein ganzer Mann, er verstieß die Kinderlose – Frankreich zuliebe! Als ob Wartau ihm nicht dasselbe bedeute, was jenem Frankreich? – – Die Kerle, die anstatt des sogenannten Gemüts eine unbeugsame Energie besitzen, kommen weiter in der Welt!
Als ob er sich nicht auch Kinder wünschte! Als ob er noch Lust hätte zu arbeiten für irgend wen, der ihm gleichgültig ist! Die kinderlose Ehe wäre ja Grund genug für eine Trennung. – – Zum Henker mit der verfluchten Sentimentalität, die ihm sein deutsches Blut vererbte!
Am Hochzeitsmorgen hatte die Mutter ihm noch gesagt: „Anto, hüte dich, falle nicht zurück in solche Dummheiten wie die mit der Fränze. Dein Weib ist schlicht und rechtlich, das, was die Fränze verstand, versteht sie nicht – dich abzustoßen und wieder anzuziehen mit Thränen und Lächeln. Und ihr Männer seid wie die Kinder, ein Stück Brot werft ihr weg um ein Leckerwerk! Hüte dich, Anto, Brot ist das, was wir am notwendigsten im Leben gebrauchen.“
Ach, was wußte denn das alte Frauchen von Liebe und Leidenschaft? Was wußte sie von ihres Sohnes Herzen und von dem andern jungen Herzen da drunten, das ihn liebt, diesem Feuerherzen, das schon um einen kranken Hund sein Leben wagte? Herrgott, wie sie da hineinstürzte in das brennende Gebäude, ohne Besinnen! Dieses wundervolle Selbstvergessen, dieser kecke junge Wagemut! Und wie sie so erschreckt in seinen Armen lag, als er sie hinaustrug! Dieser Blick, diese Blässe, als er ihren Namen rief!
Er läßt sich zitternd in den Sessel vor dem Schreibtisch nieder. „Ich will Christel schreiben,“ sagt er halblaut, „ich will ihr alles gestehen, ich will – “ Er weiß es selbst nicht, was er will.
Die Dämmerung ist stark hereingebrochen, aber von einem rötlichen Schimmer durchhaucht. An seinem Schreibtisch mangelt schon das Licht; er zündet ein Streichholz an und damit die Stearinkerze; sie genügt, den Brief zu schreiben. Er will eben das im Wege Liegende von der Unterlage schieben, da sieht er einen Brief und auf diesem einen goldenen Ring.
Christels Ring! Christels Schrift!
Er faßt sich plötzlich an die Stirn, eine Ahnung kommt ihm, eine Ahnung, die ihn förmlich lähmt. Ein Weilchen sitzt er, den Ring anstarrend, den er in der Linken hält. Die Kerze entlockt dem Golde nur ein schwaches Funkeln, denn der Reif ist matt geworden in den Jahren, da er an der fleißigen Hand saß; Tausende von kleinen Kritzern sind da eingegraben und erzählen von Arbeit, harter Arbeit, die für ihn gethan wurde. Er faßt den Brief endlich, öffnet ihn unbeholfen mit der einen Hand, legt ihn auf die Platte des Schreibtischs und beugt sich darüber. Nur wenig Worte stehen da:
„Lieber Anto!
In dieser ernsten Stunde ist nur allein die rückhaltloseste Wahrheit am Platze.
Ich habe den Brief gelesen, Anto, den Du an Freund Karl schriebst an jenem Tage, als das Feuer in Altwitz ausbrach. Wie ich dazu kam? das ist unwesentlich; es war nur Zufall und ihm danke ich es, daß er mir endlich die Augen öffnete. Ich hätte Dich gleich verlassen, um Dir Deine Ruhe, das Glück zu geben, das Du ersehnst, wenn Du nicht schwer verletzt zurückgekehrt wärst aus Altwitz; so mußte ich Dich noch länger mit meiner Gegenwart quälen.
Wenn Du dies liest, bin ich gegangen, und Du bist frei. Unsere gerichtliche Scheidung wird keine Schwierigkeiten machen – ich gab Dir ja kein Kind.
Ich weiß, Du bist gut und mitleidig, Du wirst versuchen, mich zu bereden, bei Dir zu bleiben, aber ich komme nicht! Dein Mitleid will ich nicht, Deine Liebe habe ich nicht, und so, wie unser Verhältnis jetzt ist, halte ich es für unwürdig.
Leb’ wohl, Anto, sorge Dich nicht um mich, ich kann arbeiten und bringe mich schon weiter. Werde Du nur glücklich, recht glücklich, das ist mein größter Wunsch!
Christel.“
Das ist der ganze Brief, einfach, schlicht, ohne einen einzigen Vorwurf für ihn, der ihr die Treue des Herzens brach, und dennoch fest und energisch im Wollen; keine Klage, keine Sentimentalität, kein Jammer über ihr gebrochenes Glück.
Eine Viertelstunde ist vergangen. Drunten über den Hof rollt die Equipage, die von der Bahn zurückkehrt; der Kutscher hat auch ohne Befehl angespannt, um die Frau abzuholen, aber Anton merkt hier oben nichts davon. Erst jetzt, wo man an seine Thür klopft, fährt er empor und starrt den Diener an, der, noch im Mantel, den Hut in der Hand, meldet: „Herr Doktor Konring aus Dresden.“ Und er hat den Namen noch nicht ausgesprochen, da schiebt der Doktor ihn schon beiseite, tritt, ebenfalls noch im Reisepelz, in die Bibliothek und erblickt den Freund, der sich mit blassem Antlitz von seinem Schreibtisch erhebt.
Den „Guten Abend!“ spart er sich, er sagt nur leise: „Mein Gott, Mensch, was sind das für Geschichten, die du da angerichtet hast!“
„Karl!“ Mohrmann richtet sich straffer auf, „ich weiß, sie schickt dich – wo ist sie, Karl? – ich bitte dich.“
„Zunächst bei uns,“ antwortet der Freund. „Ja, Alter, du wolltest es ja nicht anders.“
Anton stöhnt plötzlich auf, als packe ihn ein heftiger körperlicher Schmerz, und der Freund legt ihm die Hand auf die Schulter.
„Sie kommt natürlich nicht wieder, Anton,“ sagt er ernst, „sie schickt mich aber, um mit dir von der Scheidungsangelegenheit zu sprechen. Sag’ mir nur, Kerl,“ fährt er mit erhobener Stimme fort, dann bricht er ab beim Anblick des Freundes, der in einer Anwandlung von Schwäche auf den Stuhl zurückgesunken ist, schleudert den Hut von sich und reißt den Pelz herunter, Anton Zeit lastend, sich zu fassen. „Bist du denn ganz von Gott verlassen?“ beginnt er wieder, um abermals abzubrechen und das zuckende Antlitz des Mannes zu betrachten. „Na, wozu noch reden?“ spricht er gelassen. „Es ist ja gar nichts mehr zu wollen, gar nichts – sie ist wie mit der Schere abgeschnitten, die Geschichte. Und nun nimm dich zusammen, wir haben Ernstes zu besprechen und lange kann ich nicht hier bleiben, ich habe schwere Patienten daheim.“
„Sie kommt nicht wieder?“ fragt Anton jetzt.
„Kann sie denn das?“ ruft dunkelrot vor Zorn der Arzt, „ist sie denn ein Hund, den du mit Füßen treten darfst und der dir winselnd dafür die Hand lecken soll? Sie ist ein Weib, das auf sich hält, auf Würde hält; ein Weib, das Stolz besitzt, mehr als du, mein Junge. Gieb mir lieber ein Glas Wein, und dann laß uns die paar Punkte besprechen, die nötig sind, eure Scheidung einzuleiten. Je bälder die Sache zum Klappen kommt, um so größere Wohlthat ist es für die arme Seele. Also sei so gut, Anton, laß mir ein Glas Wein kommen und einen Happen zu essen, ich fahre heute nacht zwölf Uhr zurück.“
Anton erhebt sich wie ein alter, müder Mann und macht eine Bewegung nach der Thür. „Laß uns hinunter gehen,“ bittet er. – Sie kommt nicht, sie kann nicht kommen, sagt er sich, und das, was er gewollt, glühend ersehnt, gehofft, seine Freiheit, sie fällt wie eine centnerschwere Last auf seine Schultern.
Es ist nicht viel, was drunten in Antons Zimmer bei einem eilig servierten Imbiß der Doktor für Christel verlangt. Man könne ja ihre Kinderlosigkeit als Grund der Trennung geltend machen, und wenn sie vielleicht ihr eingebrachtes kleines Vermögen zurückerhalten könne … Wenn es aber Anton Unbequemlichkeiten machen sollte, das Kapital herauszugeben, so ist sie auch mit den Zinsen zufrieden, die ihr Anwalt in Empfang nehmen mag. So hat sie zu dem Arzt gesagt, und so trägt dieser es dem Manne vor, auf dessen bleichem Gesicht man die Erschütterung liest.
„Also das Kapital, das sie einbrachte,“ wiederholt der Doktor ganz geschäftsmäßig. „Es genügt auch für sie, und wie die Verhältnisse liegen, wirst du auch künftig wohl Geld genug brauchen, alter Freund. Es thut mir leid um euch beide, Anton,“ fährt er fort, „du siehst aber selbst ein: es giebt keinen Rückweg, es giebt keinen Stillstand in der Sache, also vorwärts! Du willst es ja auch schließlich so. Was mich anlangt – ich habe gemeint, die Frau, die mir da blaß und zitternd die ganze Geschichte erzählte, sei verrückt, hab’s nicht für möglich gehalten! Na, es passieren wunderliche Dinge auf der Welt. Wir, meine
[172][173] Frau und ich, kümmern uns natürlich um sie, das verspreche ich dir, ohne daß du darum zu bitten brauchst, als das letzte, was ich dir versprechen kann, denn von jetzt an sind wir, meine Frau und ich, Partei. Du wirst ja auch allein fertig, und ich wünsche dir alles Glück und keine Enttäuschung für dein künftiges Leben.“
Der kleine untersetzte Mann mit dem feinen energischen Gesicht sieht noch einmal ehrlich bekümmert zu dem blonden Riesen hinüber, der sich mit Mühe aufrecht hält. „Adieu nochmals, Anton!“ Dann fährt er in den Pelz, greift zum Hut und ist wie der Blitz verschwunden, und ehe Anton ihm folgen kann, sitzt er schon im Landauer. Noch einmal blickt er aus dem Wagenfenster zurück und sieht in der hellen Februarnacht eine große Gestalt auf der Freitreppe stehen, die ihm nachzustarren scheint.
„O, heiliger Gott, was für ein wunderlich Ding ist das Menschengehirn, und das meines Freundes Anton insbesondere!“ murmelt er. „Arme Christel, arme tapfere Christel – aber da ist ja nichts mehr zu machen, gäbe nichts als ein armselig Flickwerk, das doch wieder auseinanderfallen würde. Hier heißt’s – durch! Wie blaß er aussah, der thörichte Kerl, beinahe so blaß wie damals, als ihm die Fränze den Absagebrief schrieb! Ja, eklich ist’s immer, wenn so was auseinanderreißt, es thut weh trotz alledem und alledem! Gebe nur Gott, daß meine Typhuskranken die Nacht überstehen. Ich konnt’s doch der Christel nicht abschlagen, ihrem Gatten noch mal persönlich zu versichern, daß er frei ist. Armes Weib!“
Sie ist fort und bleibt fort – Mohrmanns lassen sich scheiden! Anton muß es glauben, und allmählich auch die andern Leute. Im Hause geht das Gerede und das Gewisper schier ins Unendliche. Die Baronesse erfährt es erst am folgenden Tage von der weinenden Frau Pastorin, die mit ihrem Manne zu Anton gepilgert ist, und während der geistliche Herr versucht, den verlassenen Schwager zu einer Reise nach Dresden zu bereden, um Christel wiederzuholen, nötigenfalls mit Gewalt, sitzt die erschütterte Schwester bei Fräulein Tonette und klagt über die trotzköpfige pflichtvergessene Frau, die mir nichts dir nichts dem von Gott angetrauten Ehemann davongeht.
„Nun ja, sie hat’s am Ende nicht so leicht gehabt mit ihm; aber, Fräulein Tonette, sie weiß doch gar nicht, wie gut es ihr eigentlich ging. Keine Not, keine Nahrungssorgen, ach, wenn’s den Leuten zu wohl wird – – Ach, gnädiges Fräulein, wenn Sie doch an sie schreiben wollten, Sie sind so klug und könnten ihr gewiß auseinandersetzen, wie sehr sie ihren Mann und uns alle kränkt!“
„Meine liebe Frau Pastorin,“ sagt Fräulein Tonette von Wartau, und ihre feinen Finger spielen nervös auf dem kleinen Tischchen vor ihr – sie sitzt wie gewöhnlich am Kamin mit einer Strickarbeit. „Meine liebe Frau Pastorin, ich mische mich grundsätzlich nie in Ehestandsgeschichten. Wenn Frau Christel und ihr Gatte sich trennen wollen, so werden sie Gründe dafür haben, denke ich mir.“
„Weil sie kinderlos sind?“ fragt die weinende Frau. „Das ist eine Sünde, ein Unding! Man kann auch glücklich sein ohne Kinder, ja gewiß! Ich war sogar sterbenstraurig, als ich das erste bekam, weil ich dachte, mein Mann liebte mich nun nicht mehr allein, und –“
Fräulein von Wartau unterbricht sie, und ihr Gesicht ist geradezu hochmütig, als sie sagt:
„Sie können sich wohl schwerlich hineindenken in die Seele von Menschen, die auf eigener Scholle sitzen, meine Liebe? Ich gebe ja gern zu, daß in der Ehe eines kleinbürgerlichen Beamten oder Predigers Erben zu entbehren sind, der Besitzer von Wartau aber –“
Sie verstummt, denn plötzlich ist Edith eingetreten, blaß, mit gespanntem Ausdruck.
„Hm!“ räuspert Fräulein Tonette sich noch einmal und strickt weiter.
Der Pastorin, einer nervösen Frau, ohne irgend welches selbständige Urteil, ist nur die Phrase von der Entbehrlichkeit eines Erben bei Leuten ihres Standes in den Ohren sitzen geblieben. Tödlich beleidigt erhebt sie sich.
„Meine Kinder sind mir genau so lieb wie dem Kaiser die seinen,“ stößt sie hervor, „aber ich habe gemeint, wem Gott sie versagt, der soll sich fügen und sich nicht wider ihn aufbäumen und in seinen Ratschluß hineinpfuschen wollen, denn ich habe gemeint, die Ehe sei heilig.“
„Ja gewiß, meine Liebe, aber mir kommt kein Urteil zu,“ sagt Fräulein von Wartau jetzt seelenruhig. „Es giebt Dinge in der Welt, die diese Heiligkeit in das Gegenteil verkehren. Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich und verlangen Sie von mir kein Hineinmengen – ich stehe dieser Sache so fern wie möglich, aber leid thut es mir, wirklich recht leid.“
Die Pastorin erwidert ihren Blick nicht; sie sieht unverwandt zu Edith hinüber; das Gesicht des jungen Mädchens ist womöglich noch blasser geworden. Eine Aeußerung Louischens fällt ihr ein, die sie heute früh kaum beachtet hatte, und wie sie das schlanke Geschöpf jetzt ansieht, das sich am Fenster vor dem Nähtischchen niedergelassen hat und auf dessen Antlitz Röte und Blässe einander jagen, kommt ihr die Erkenntnis wie ein blendender Strahl. Und plötzlich wirft sie den Kopf in den Nacken, und die Hand auf die Thürklinke legend, sagt sie:
„Verzeihen Sie, daß ich Sie in meinem Jammer belästigte, Baronesse. Ich kann begreifen, daß Sie sich nicht gern einmischen mögen in den traurigen Handel, ich kann’s vollkommen begreifen!“ Und im nächsten Augenblick ist sie verschwunden und hat die Thür heftig hinter sich geschlossen.
Die Baronesse sieht einen Augenblick ganz verblüfft die Stelle an, wo die Pastorin noch eben gestanden hat. „Ob diese Art Menschen wohl fähig ist, eine Kalamität mit Anstand durchzukämpfen?“ murmelt sie.
„Edith!“ ruft sie dann laut.
„Ja, Tante!“
„Bitte, komm’ hierher!“
Das junge Mädchen tritt näher und setzt sich der Tante gegenüber in einen Fauteuil.
„Altwitzens reisen in fünf bis sechs Tagen an die Riviera,“ beginnt die alte Dame das Gespräch, „wir werden heute nachmittag hinüberfahren oder – gehen, das ist besser, und die Gräfin bitten, dich mitzunehmen.“
[174] Edith fährt empor, und ihre erstaunten Augen sagen ohne Hehl, daß sie die Tante für verrückt hält. Ein ungläubiges kurzes Lachen fliegt durch das Zimmer.
„Du wirst erst im Juni mit ihnen zurückkommen.“
„Herrgott, liebe Tante!“
„Ich will keinen Klatsch, verstehst du? Und wenn du es nicht kapierst – um so besser. Jedenfalls gehst du von Wartau fort.“
Edith senkt den Kopf – sie hat verstanden. Dunkelrot, mit zuckendem Munde sitzt sie da. Dann springt sie auf und läuft in ihr Zimmer, und dort steht sie hochaufatmend still und nagt die Lippen. Ihr graut vor dem Feldherrntalent der Tante. Und diese holt seufzend ihr Kontobuch, das auf ein Bankgeschäft in Leipzig lautet, hervor. Sie muß ihre paar heimlich ersparten Groschen opfern – so Gott will, bringen sie ihr Zinsen, hundertfältig!
Dann setzt sie sich und schreibt an eben diesen Bankier. Nach einem Weilchen des Ueberlegens beschließt sie, anstatt nach Altwitz zu gehen in diesem Sturm – die Mohrmannsche Equipage mag sie heute erst recht nicht benutzen –, an die Gräfin zu schreiben und diese zu bitten, Edith, die ein wenig huste, unter ihren Schutz für einen Aufenthalt im Süden nehmen zu wollen. Sie kann sich zwar denken, daß es den alten Herrschaften vielleicht nicht ganz paßt, ein schönes junges Mädchen zu chaperonnieren, aber sie kann ihnen nicht helfen, Edith muß fort, es darf nicht der leiseste Schatten auf ihren Ruf fallen; um keinen Preis aber soll sie in dem Hause des in der Scheidung liegenden Mannes bleiben.
Ihrer Schwester gegenüber beschließt sie vorläufig noch zu schweigen; die ist so schrecklich unbequem mit ihren aristokratischen Ideen von Standesehre und hält Dinge für verwerflich, die völlig gäng und gäbe sind im Kampfe des Lebens. Ihre Vorwürfe kommen noch früh genug.
–
– – – – – – – – – –Pastors gehen unverrichteter Sache wieder heim. Anton hat ruhig den Redeschwall seines geistlichen Schwagers über sich ergehen lassen, im Lehnstuhl sitzend oder umherwandernd, denn der Herr Pastor spricht lange. Endlich, als auch die Pastorin sehr erregt eintritt, sagt er: „Bitte, redet nicht mehr davon! Wir sind beide Menschen, die ihren gesunden Verstand haben – wir können nicht zusammenbleiben; ich leide darunter so schwer wie Christel, aber wir werden es tragen. Ihr meint’s gut, habt Dank? Zu ändern ist nichts.“
Die Pastorin faßt ihren Mann am Rockärmel; er will eben noch einmal beginnen über die Heiligkeit einer vor Gottes Altar beschworenen Ehe, da sagt sie:
„Komm’, Robert; das Fräulein von Wartau da oben hat eben erklärt, es giebt Verhältnisse, die eine heilige Sache entheiligen und umwandeln zum Schlimmsten, und ich glaube, sie hat recht. Red’ nicht mehr; er kann nicht anders und sie auch nicht – glaub’ mir’s.“
Der geistliche Herr sieht seine Frau verwirrt an, nimmt den Hut vom Tische und folgt ihr mit einem kurzen verwunderten Blick auf Anton.
„Adieu, Anton,“ sagt die blasse Frau. „Ihr habt recht, es ist besser, ihr geht voneinander.“
„Erzähl’ mir’s doch nur, Lotte,“ beginnt der Pastor, als sie daheim angekommen sind in seiner stillen Arbeitsstube und die vom schnellen Gehen schwer atmende Früu auf den nächsten Stuhl gesunken ist, „was hat’s denn gegeben zwischen den beiden?“ Und er beugt sich über sie und streicht ihr die feuchten Haare aus der Stirn.
Sie hat Christels Augen, nur durch Weinen getrübt, große treue Sterne von hellem bräunlichen Grün. Sie sieht ihn an mit ihrem großen Kummer. „Robert, er liebt eine andere!“ sagt sie. „Und deshalb darfst du nicht zureden, denn eine weit größere Sünde wär’ ihr Zusammenbleiben, Robert, als ihre Trennung. Nein, sag’ nichts, Robert, das ist so und – ich bliebe auch nicht bei dir, wenn du –“
„Aber Lotte,“ bittet er vorwurfsvoll.
„Du sagst selbst, die Sünde naht dem Menschen in tausenderlei Gestalten, und du sagst – wir sind schwach, wir unterliegen ihr –“
„Und wenn dein Mann kämpfte, um der Sünde Herr zu werden, würdest du ihm nicht helfen wollen, Lotte, ihm zur Seite bleiben in der schweren Zeit?“
„Ich würde bei meinem Mann bleiben und wäre er ein Mörder, aber in diesem Falle nicht. Nein, dazu wäre ich einesteils zu stolz, und andernteils –“ sie stockt und wird verlegen – „und ich könnt’s nicht sehen, wie du dich vielleicht quältest neben mir,“ setzt sie leise hinzu.
Er versteht sie plötzlich und er versteht Christel, und jetzt verstummt er vor diesem einfachen demütigen Bekenntnis einer Liebe, die ihre weinenden Augen verhüllt und geht, um den andern glücklich werden zu lassen. Und der sonst so streng eifernde Mann zieht die Frau in seine Arme und küßt sie mit feuchten Augen.
„Und Christel denkt wie ich,“ flüstert sie, „ich weiß es.“
„Arme, stolze, demütige Christel,“ sagt er, „ich hatte dich nicht verstanden.“
Am fünften März haben die Altwitzer reisen wollen; es ist heute der vierte, der Abend vorher. Tante Tonette hat ihn ersehnt, Edith fast auch. Es ist freilich zum Sterben langweilig und zum Verzweifeln aufregend jetzt in Wartau.
Die alte Dame hat seit dem Bekanntwerden der Mohrmannschen Trennung gewünscht, auf ihrem Zimmer zu speisen. Sie sind auch einfach unmöglich, diese Diners zu dreien mit dem Manne, der mitten in der Scheidung von seiner Frau steht. Das spricht sie ganz laut aus, so daß die Dienstboten es hören. Edith aber steht am Fenster und späht ganze Tage lang nach der hohen Gestalt, wie sie über die Steinplatten des Hofes kommt und geht, und hat ein ewiges, unausgesetztes Herzklopfen.
Er sieht nie hinauf, mit keinem Blick, aber ihr Herz klopft darum nicht weniger schnell. Sie ist nicht unbefangen und kann es nicht sein ihm gegenüber, aber sie würde ihn gern vor ihrer Abreise noch einmal wiedersehen. – Ob er noch immer den heißen Blick für sie hat, möchte sie wissen, wie an jenem Tage, da er ihr zum erstenmal begegnete? Oder – ob er der Frau nachtrauert, der er gehörte bis jetzt? Nein, nein, es ist nur – o, sie weiß, die Tante ist klug und er ist ritterlich – nur der Leute wegen, der Leute wegen! Träfe sie ihn allein, ganz allein, irgendwo auf engem Wald- oder Feldweg, nur der Himmel über ihnen, die grünende Saat oder das schwellende Geäst des Buchengestrüppes zur Seite, dann, ja dann würde seine große sehnsüchtige Leidenschaft ihn die Arme ausbreiten lassen. „Edith!“ würde er rufen wie an jenem Tage in Altwitz.
Sie hat sich vorgenommen, ihm auf einem Spaziergange zu begegnen, aber bisher ist sie vergebens die einsamen Feld- und Waldwege gewandert, nirgends zeigt er sich. Und heute hat sie ihn noch gar nicht erblickt und er weiß doch, daß sie morgen verreist auf lange Zeit. Es ist dumm, ohne Gewißheit fort zu müssen, und Edith brennt auf diese Gewißheit, schon Edis wegen und der Zukunftsträume wegen. Womit soll sie sich denn die Zeit vertreiben? Mit dem alten Paar, das sie begleiten soll, das von Tonette genaue Instruktionen bekommen hat, Edith zu keinerlei Vergnügungen zu führen – Edith habe noch Trauer und außerdem wünsche der Arzt ein ruhiges Verhalten für sie.
Ach die Oede, die Langeweile! Ihr wird es gleichgültig sein, ob vor den Fenstern der Villa, in welcher das Ehepaar Altwitz jedes Jahr ein paar Zimmer bewohnt, Palmen rauschen und das Mittelmeer seine blauen Wasser breitet, ihr Denken wird immer nur in Wartau sein, und abwechselnd auch bei Edi in Berlin; bei letzterem natürlich nur aus Haß. Dieser blonde aristokratische Junge, der so berechnend ist wie ein polnischer Handelsjude – sie zittert ordentlich, wenn sie an ihn denkt.
Warum soll er eigentlich nicht wissen, wenn es endlich heißt: der Besitzer von Wartau läßt sich von seiner Frau scheiden, um Fräulein Edith von Ebradt zu heiraten? Es ist doch so? O, nur so viel Gewißheit, um Ma von Zobel eine Andeutung machen zu können; dann erfährt es auch er bald, das wird ihre Rache sein!
Sie tritt bei diesem Gedanken mit dem Fuße auf das Parkett, so daß Fräulein von Wartau sich veranlaßt sieht, ein tadelndes „Aber Edith, man erschrickt sich ja zu Tode!“ auszurufen.
[175] Sie fährt mit dem Kopfe herum. „Tante, ich halt’s nicht mehr aus im Zimmer, ich laufe einmal das Stückchen Waldweg hinüber und frage, wie es der alten Gräfin geht. Bitte, erlaube es mir!“
„Meinetwegen,“ giebt die Tante zu, „du kannst ruhig da promenieren, Mohrmann ist nach Settwitz zu gegangen, also in entgegengesetzter Richtung.“
Edith fährt mit zitternder Eile in ihr Jackett, stülpt den Filzhut auf und stürmt die Treppen hinunter. Sie wandert durch den Park an der Gärtnerei vorüber, läßt sich die nach dem Obstgarten führende Thür von der alten Mutter Hahnen aufschließen und ist nach wenigen Minuten im sogenannten Wäldchen, an welchem der Weg nach Settwitz vorbeiführt. Hier muß Mohrmann ihr begegnen!
(Fortsetzung folgt.)
Hoffmann von Fallersleben in Corvey.
In demselben Jahre, das uns zum Rückblick auf 1848 und an die Verdienste der patriotischen Freiheitsjünger mahnt, deren Heroldsrufe der Märzbewegung vor fünfzig Jahren schmetternd vorausklangen, bietet am 2. April der hundertste Geburtstag Hoffmanns von Fallersleben uns Anlaß, dieses Dichters im besonderen zu gedenken. Der befreienden Wirkung, welche seine „Unpolitischen Lieder“ in der Stickluft der vormärzlichen Zeit ausübten, des jubelnden Wiederhalls, den sein „Lied der Deutschen“, sein „Deutschland, Deutschland über alles!“ gleich nach seinem Entstehen im Jahre 1841 in patriotischen Kreisen fand, hat erst vor kurzem die „Gartenlaube“ gedacht. Dort ist unseren Lesern – vergl. S. 62 des laufenden Jahrgangs – auch ein Bildnis des Dichters aus jener hochbewegten Zeit dargeboten worden. Das zeigte ihn noch im Vollbesitze seiner kraftstrotzenden Jugendfrische, ganz wie er sich trug und gab, als er nach dem Verlust seiner Breslauer Professur, eines festen Wohnsitzes und jedes sicheren Einkommens, ein Heimatloser, durch Deutschlands Gaue zog und nach dem Muster der fahrenden Sänger der Vorzeit als Recitator seiner Gedichte und Lieder sich praktisch an der Agitation der politischen Führer beteiligte, welche die Wiedergeburt des zerstückelten und geknechteten Vaterlands in freier Verfassung erstrebten.
Das Bild Heinrich Hoffmanns, das unser heutiges Heft schmückt, zeigt uns seine Züge in späterer Zeit. So – das humorvolle Antlitz von weißem Bart und Haupthaar umrahmt – sah er im Alter aus, als er sich endlich wieder einer festen Anstellung zu erfreuen hatte. Erst 1860, als ihn der Herzog von Ratibor zum Bibliothekar seiner kostbaren Büchersammlung auf Schloß Corvey an der Weser ernannte, wurde ihm eine solche zu teil. In den stillen Räumen dieser ehemaligen berühmten Benediktinerabtei konnte er in den letzten vierzehn Jahren seines Lebens sich ohne Kampf und Sorgen seinen Neigungen hingeben, die von Jugend auf mit gleicher Liebe das Studium der altdeutschen Poesie und die Pflege des eigenen Dichtertalents umfaßten. Hier, an der Grenze seines Geburtslandes Hannover, das zu betreten ihm mehr als zwei Jahrzehnte lang polizeilich untersagt war, ist der reichen Blütenwelt seines Gemüts noch ein voller Nachfrühling vergönnt gewesen. Zwar das glückliche Familienleben, das er sich noch als Fünfziger hatte gründen dürfen und das seinen Aufenthalt in Weimar verklärt hatte, ging in Corvey bald nach der Uebersiedelung seines besten Horts verlustig: der Tod entriß dem Dichter die innig geliebte Frau. Erst als die Schwester der Verstorbenen das Hauswesen übernahm, kehrte wieder Ruhe und Frieden bei ihm ein. Aber in dem von ibm so schön besungenen „Garten der Kindheit“ sah er hier gesund und frisch sein eigen Fleisch und Blut erblühen. Zahlreicher Zuspruch von Freunden erhellte seine Einsamkeit, und jetzt konnte er als Wirt am eigenen Tisch beim perlenden Wein das hafisische Behagen entfalten, mit welchem er während seiner Wanderjahre die ihm erwiesene Gastfreundschaft so reichlich zu vergelten gewußt. Von seiner traulichen Dichterklause in Corvey aus begleitete sein Geist das Erstarken des deutschen Volks mit manch kräftigem Zuspruch, begrüßte er die Gründung des Deutschen Reichs im Jahre Siebzig mit hoffnungsvollem Frohlocken, während seine Vaterlandslieder aus den Jahren der Einheitsträume für die Nation neue Bedeutung erhielten.
So werden die Ansichten von seiner Arbeitsstätte in Corvey wie von dem Schlosse selbst, in welchem das sturmbewegte Leben des Dichters einen friedlichen Abend fand, vielen willkommen sein. Wir verdanken das Kunstblatt, welches rechts unten auch noch ein Stück des Gartens zeigt, der zu Hoffmanns Geburtshaus in Fallersleben gehörte, dem Sohne des Dichters, Franz, aus dessen persönlichen Erinnerungen wir zur Erläuterung der Bilder das Folgende schöpfen.
Die Schlichtheit und Anspruchslosigkeit des Dichters sprach sich auch im Charakter seines Arbeitszimmers aus. Sein Wahlspruch: „Klar und wahr“ kam hier voll zur Geltung. Da sah man sich nach modernen Stores und schweren Gardinen, nach lauschigen halbdunklen Ecken vergeblich um. Voll und ungehindert drang das Tageslicht durch ganz leichte an den Seiten drapierte Vorhänge ein. Dafür zeigte sich auch der in die Fensternische gerückte Blumentisch stets dankbar, dessen wohlgepflegte Pflanzen in stetem Grünen und Blühen waren. Wuchernder Epheu hatte die ganze eine Wand überzogen, mit seinen Ranken das von Friedrich Preller fein und charakteristisch gezeichnete Bildnis der so früh geschiedenen Gattin des Dichters überspinnend. Ein seiner Größe angemessenes, unendlich lang erscheinendes Sofa, einige Tische, dicht bestellte, bis an die Decke reichende Bücherregale, mehrere handfeste Stühle, an den Wänden gute Bilder, das war außer seinem Schreibtisch das ganze Mobiliar. Dieser aus gewöhnlichem Tannenholz verfertigte, rot gebeizte Arbeitstisch war stets mit hunderterlei Dingen, unzähligen Schriftstücken, Mappen, Heften, Manuskripten und Schreibutensilien bedeckt. Musterte man ihn oberflächlich, so glaubte man, alle die Sachen seien in genialer Unordnung, wie es eben kam, hingelegt. Doch bei näherer Betrachtung überzeugte man sich vom Gegenteil. Es war kein Stück auf seiner Fläche, das nicht seinen ganz bestimmten, peinlich bewahrten Platz gehabt hätte. Rechts befand sich zur Hand zahlreiches Schreibmaterial. Ein Körbchen mit Petschaften und verschiedenen farbigen Arten von Siegellack stand daneben und ward fleißig von ihm benutzt. Die Petschafte zeigten mehrere seiner Wahlsprüche, die außerordentlich charakteristisch sind und je nach dem Inhalte der Briefe verwendet wurden: „Klar und wahr“, „Heut und immer“, „Gott und die Zeit“, dann ein Hammer mit der Umschrift: „Viel Feind, viel Ehr“ und ein Eichenzweig, umgeben von den Worten: „Nur tot anders“, waren allen seinen Freunden bekannte Siegel.
Die erwähnten Schriftstücke bestanden aus wissenschaftlichen sowohl wie poetischen. Auf dem Tische lagen ferner seine Tagebücher, die er bis auf den letzten Tag regelmäßig fortgeführt und zum großen Teil in seiner Selbstbiographie „Mein Leben“ benutzt hat. Eine Mappe mit Papier, um seine Gedanken zu fixieren, hatte den Titel „Feierabend“. Mit Papier war der Dichter überhaupt sparsam, seine herrlichsten Lieder, die in ganz Deutschland von einem Ende bis zum andern gesungen werden, sind auf das gewöhnlichste Konzeptpapier geschrieben, oft nur auf handgroße Zettel. Als ein weiteres Haupt- und Kapitalstück, ein Requisit ersten Ranges, muß noch seine hier ebenfalls liegende Brieftasche genannt werden. Ihr wurden die wichtigsten neuesten Gedichte, Trinksprüche und Aufzeichnungen von allgemeinerem Interesse einverleibt. Hoffmann ohne seine Brieftasche war nicht denkbar. Aus ihr, die Unzähligen seiner Verehrer eine Spenderin froher Stunden geworden ist, las der Dichter zu Hause wie auf Reisen seine neuesten Poesien vor, mit einer Kunst im Vortrage, einer Stimme, wie man sie so leicht nicht wieder hört, und die niemand, der sie je vernahm, wieder vergißt.
Die Lust am Wandern und der Drang, seine alten Freunde zu sehen, verließ ihn bis ans Ende nicht. Corvey selbst bot ihm wenig Verkehr; die Beamten des Herzogs brachten weder seiner Persönlichkeit noch seinem Schaffen irgendwie Verständnis entgegen. Das nahe Höxter war in dieser Beziehung ergiebiger, aber konnte ihm keinen Ersatz bieten für den Verkehr mit Freunden von gleichem Erleben und Streben. Oft packte ihn das Reisefieber ganz plötzlich, die alte buntgestickte Reisetasche wurde hervorgeholt und mit dem Nötigsten versehen und fort ging’s mit den starken Wanderschritten seiner Jugendjahre. Am stärksten zog es ihn zu den alten Freunden am Rhein, in Leipzig, Hamburg, Dresden und Breslau. Als 1861 seine noch immer in Kraft bestehende Ausweisung aus Hannover aufgehoben ward, bot ihm die geliebte hannöversche Heimat das Hauptziel seiner Ausflüge.
Die Stadt Fallersleben, welche jetzt den hundertsten Geburtstag ihres berühmten Sohns festlich begeht, besuchte er so oft er irgend konnte. Hier war sein Vater Bürgermeister gewesen. In dem großen Garten hinter seinem Geburtshaus, das noch im Besitz seines Schwagers war, freute er sich des reichen Blumenflors, der ihm Gelegenheit gab, wie als Knabe zierliche Sträuße zu winden, in welcher Kunst er ein Meister war. Oft lud ihn aber auch das kühle Gartenhaus, welches wir auf unserer Zeichnung sehen, ein, von seinen Spaziergängen auszuruhen. Im heimlichen Dämmerschein schuf er hier noch im hohen Alter manches Lied, sich und andern zur Freude. Als nach seinem Tode der Pavillon zusammenbrach, errichtete die Stadt Fallersleben dem Sänger auf derselben Stelle einen Denkstein.
Der Dichter starb in Corvey eines sanften Todes. Von seltener Gesundheit, wie er sein Lebelang gewesen, bis ins hohe Alter, traf ihn am 8. Januar 1874 ein Schlaganfall, der seinen mächtigen Körper auf das Krankenlager warf. Hier entschlief er am 19., nachts halb Zwölf, ohne jeglichen Todeskampf. In den letzten Jahren seines Lebens ward ihm die Freude, daß sich das volle Verständnis für das Martyrium seines Lebens und die hohe Mission seiner Poesie immer mehr im Vaterlande Bahn brach. Das ist inzwischen in immer stärkerem Maße der Fall gewesen. In erfreulichster Weise zeigte sich das im Jahre 1890, als Emil Rittershaus den poetischen Aufruf für die Errichtung eines Hoffmann-Denkmals auf der damals deutsch gewordenen Insel Helgoland erließ, dem Entstehungsorte des niemals ausgesungenen „Lieds der Deutschen“. P.
[176]
Wenn ich ’mal Söhne habe … nach Jahren,
Sie sollen mir eins im Herzen bewahren.
Da will ich den lauschenden Kinderseelen
Von einem Tag meiner Jugend erzählen.
Und ob mich die dunkelsten Schatten umwehn,
Sie sollen mein Auge leuchten sehn.
* | * | |||
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Wir waren Studenten – drei Bursche gut,
Die Augen voll Glück, die Herzen voll Glut,
Und schickten zum Herrn, so die Welt regiert
Und sie gar meisterlich ausstaffiert,
Manchmal vor Tollheit und Jugendlust
Einen Juchzer aus voller Burschenbrust.
Da war es in goldnen Ferienstunden,
In Hamburg hatten wir uns gefunden,
Hatten schon wacker die Stadt besehn,
Hafengetöse – Wimpelwehn,
Vergaßen auch nicht über andern Sachen,
Den Mägdlein unter den Hut zu lachen,
Dann hurtig des Abends zum Glase gesetzt:
„Brüder – was jetzt?“
So wurden denn mancherlei Heldenthaten
Von uns beraten.
Doch that auch Stimm’ über Stimm’ erschallen,
Das rechte Wort – es wollte nicht fallen.
Da ist der Jüngste denn aufgesprungen,
Mächtig ist seine Stimme erklungen.
Die Narben brannten in seinem Gesicht,
Sein volles Herz, es hielt ihn nicht.
Er sprach nur wenig, nur kurze Worte,
Er faßte sein Glas: „Brüder, hört zu!
Ich weiß ein Örtlein –“
„Heraus mit dem Orte!“
Und jubelnd sagte er: „Friedrichsruh!“
Blitz! Wie fuhren wir andern drein!
„Das Wort – es mag dir gesegnet sein!“
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* |
Ueber den Straßen und Plätzen lag
Sonnengoldig ein Nachmittag.
Der Himmel selber in aller Schöne,
Der sorgte für seine Musensöhne,
Führte bei hellstem Sonnenschein
Ins Dörfchen uns ein. –
Keuchend kamen die Züge und schwanden,
Wir grüßten sie froh,
Dann haben wir drei vor dem Schlosse gestanden
Und die Herzen klopften nur so!
Neben uns – gegen Park und Thor –
Schob sich langsam die Menge vor,
Neue Scharen drängten sich nach –
O wie das summte, lachte, sprach,
Bis plötzlich – halb verschollen – ein Klang
In all das Summen und Lärmen drang.
Lauschend neigte sich jedes Ohr,
Ein tiefes Schweigen in aller Runde,
Dann flog es hastig von Munde zu Munde:
„Der Wagen fährt vor!“
Vorwärtsgeschoben, zusammengedrückt,
Eine Mauer – so sind wir vorgerückt.
Und als wir’s sahen – die Pferde – den Wagen
Ein Sturmwind, ist es emporgeschlagen:
Hin durch die Lüfte Strauß um Strauß,
Hundert Hände streckten sich aus,
Und die Kinder wurden emporgehalten,
So sahen auch sie den herrlichen Alten:
Ueber den Knieen leichte Decken,
Im breiten Schlapphut – so saß er da.
Mir blieb das Hurra in der Kehle stecken,
Doch die andern riefen Hurra!
Das war ein Jubel, ein Stoßen und Drängen,
Immer wieder flogen die Tücher empor,
Bis unter den vollen, brausenden Klängen
Der wagen sich rasch im Walde verlor.
Ein Alter – er war weit hergekommen –
Hatte sein Mützlein abgenommen.
Der stand, als alles vorüber war,
Noch immer in seinem weißen Haar.
Weit war die Welt versunken um ihn,
Er hatte auch nicht Hurra geschrien,
Und mählich waren die meisten verstoben,
Lachten und lärmten vom Walde droben,
Da ward er lebendig, und siehe da,
Mit einem Male rief er Hurra,
So hell, so jubelnd, so tief beglückt,
– Dem hab’ ich vor Freuden die Hand gedrückt.
Zwei Stündlein mochten vergangen sein,
Von neuem schlossen sich die Reihn.
Und siehe: noch einmal das alte Gesicht,
Still und freundlich – eisern nicht!
Und immer wieder jubelnden Schalles
Die „Wacht am Rhein“, und was sangen wir alles!
Und als er thät den Wagen verlassen,
Gemach den schweren Krückstock fassen –
Unsagbar schwoll es in allen empor,
Hunderte stürmten ihm nach durchs Thor,
Da ward ihm selbst wie in alter Zeit
Das Herze weit;
Als wär’ der alte Leu erweckt,
Mächtig hat er sich aufgereckt,
Da stand er noch einmal, so schien es mir,
Der Halberstädter Kürassier,
Eisern – gewaltig – titanengroß,
Brausender brach der Jubel los.
Und als er sich dann hinüberbog,
Noch einmal grüßend den Schlapphut zog
Und bedächtig zu seinem Hause schritt –
Aller Herzen nahm er mit.
Die Thore geschlossen – das Brausen verhallt –
Wir gingen zurück durch den Sachsenwald.
Drunten und droben Klang und Schall,
Weiße Kleider flatterten überall.
Neckisch riefen von fernen wegen
Die Mädchen uns lustige Worte entgegen.
Was war’s? Kaum haben wir hingeblickt,
Haben nicht einmal Antwort geschickt:
Liebe – du bunter Schmetterling,
Mannestreue: ein besser Ding!
Mit freudigen Herzen und seltsam befangen,
So sind wir schweigend dahingegangen.
Haben uns jeder für Alltagswochen
Ein Zweiglein gebrochen,
Doch jeder für sich – ganz heimlich beim Gehn,
Als dürft’ es selber der Freund nicht sehn.
Mit bunten Scharen
Sind wir nach Hamburg zurückgefahren,
Suchte wohl jeder in seiner Tasche,
Ob es auch reichte zur besten Flasche,
Es reichte – Hurra und ein Vivat drein!
Herr Wirt, nun leg’ er sich Ehre ein!
Bald stieg es empor – herb – frisch –
Der beste Tropfen auf unserm Tisch!
Das war’s – so hatten wir’s alle gewollt,
In grünen Römern deutsches Gold,
Gold vom Rheine – edelste Blüte –
Wärm’ auch weiter ein treu’ Gemüte!
Die Gläser zitterten in der Hand,
Wir haben keinen Namen genannt.
Doch als wir drei sie hoben und führten,
Daß sich die vollen tönend berührten,
– Wie’s da zu unsern Ohren drang!
Den ganzen Raum durchlief der Klang,
Das macht’, es stimmten wunderfein
Drei junge begeisterte Herzen ein!
Und leuchtenden Auges setzten wir an –
Ward wohl tiefer Trunk gethan!
So haben wir drei zusammengesessen,
Keiner von uns hat die Stunde vergessen.
Und Jahr für Jahr, am ersten April,
Thut jeder gar heimlich und lächelt still,
Und jeder von uns, wo er auch sei,
Holt seine beste Flasche herbei,
Füllet sein Glas und neiget sich:
Otto von Bismarck, wir grüßen Dich!
Carl Busse.
Auf dem Kynast.
(Fortsetzung.)
Es war ein schwüler Nachmittag, als Klärchen sich mit dem
alten Bergführer auf den Weg nach Schreiberhau machte.
Ein für die Jahreszeit ungewöhnlicher Sonnenbrand lag drückend
auf dem weiten Thalkessel, doch Klärchen war trotz der Schwüle
frisch und frohen Mutes. Die vom Vater gewünschten Besorgungen
hatte sie in aller Eile meistens selbst gemacht, die übrigen
einer Freundin überlassen und so ging sie leichten Herzens dem
längst ersehnten Wiedersehen entgegen.
Der Bergführer plauderte mit Behagen, ihm war so wohl zu Mute. Das Mädchen an seiner Seite erinnerte ihn lebhaft an seine unglückliche Tochter, doch die Wehmut, welche diese Erinnerung zunächst hervorrief, war längst dem Wohlgefühl einer willkommenen Täuschung gewichen; ihm war, als schritte das eigene Kind neben ihm her, so lieblich wie in früheren längst verschwundenen Tagen. Sie lenkten in das Thal des Zacken ein, der frisch aus den Bergen kam und einen erquickenden Hauch in der lastenden Schwüle verbreitete. Ueber die Felsensteine schäumten die Wogen mit lustigem Rauschen und die Forellen glitten auf ihnen thalwärts oder versteckten sich hinter den kleinen granitnen Wasserburgen, welche einzelne von der Flut herangespülte Gesteine bildeten, vor den Listen der Fischer.
Jetzt öffnete sich das Thal zur Linken und gewährte einen freien Ausblick auf den Kamm des Gebirges, wo jäh von den Schneegruben hinab sich die basaltenen Säulen senken. Oben über den Bauden hing ein blaugraues Wölkchen, das sich wachsend ins Blaue dehnte. Wieder schoben sich Bergcoulissen vor und verdeckten den hohen kahlen Kamm, wieder steigerte sich die Hitze in der eng zusammengepreßten Schlucht. Die Wanderer ruhten auf einem Felsvorsprung aus. Durch die Tannen und Fichten auf beiden Seiten des Thals ging ein Rauschen, man wußte nicht, woher es kam, es war, als wollte der Wald die Hitze von sich abschütteln, als regte sich sein Gezweig ahnungsvoll in der Hoffnung einer kommenden Erquickung.
Lange Zeit waren die beiden weiter geschritten. Abermals traten die Bergwände auf der Linken zurück, doch wie anders war jetzt der Blick auf die Höhen des Kammes! Sie hatten sich in Rübezahls Mantel gehüllt, dichte Wolken bedeckten sie und schon grollte der Alte vom Berge aus ihnen hervor mit leisem Donner.
Sie waren dort angekommen, wo der kleine Kochel nach einem Fall vom Felsen in die Arme des Zacken stürzt, der ihn mit hinabnimmt in die Ebene. Schon war der ganze Himmel schwarz umzogen; voller flutete der Zacken; hoch oben auf den Bergen mußten sich ihm schon die Quellen des Himmels erschlossen haben, welche die Bäche und Flüsse der Erde speisen. Nun rollte auch der Donner zu Häupten der Wanderer, warf ins Thal seinen schmetternden Gruß und das Echo kam herüber von den Nachbarthälern – es schien nur eine nicht verhallende Stimme zu sein, mit welcher der Berggeist seinen Zorn verkündete. Die Blitze jagten wie Spielgenossen übermütig hin und her, bald hier, bald da das Gewölk zerreißend und die seltsamen Felsgestalten, die am Wege standen, mit Glühlicht übergießend. Klärchen schmiegte sich erschrocken an ihren Begleiter, wenn der Blitz dicht vor ihnen in die Erde zu fahren schien und fast in demselben Augenblicke der schadenfrohe Donner über den Schrecken jubelte, den sie vereint den Wanderern einjagten. Und schon loderte eine helle Fackel aus der Waldnacht hervor; der Blitz hatte eine Riesentanne getroffen, die knisternd ihre Funkensaat weithin streute und vom hohen Hang in das Thal herniederleuchtete. Nun warf aber auch das Gewölk seine Güsse hernieder und die Wanderer sahen sich nach einer Zuflucht um.
Da stand eine Hütte am Wege und sie traten unter das schützende Dach. Ein alter Mann lag auf der Holzbank und erhob sich mühsam; er wollte sein Weib rufen, damit es für die Gäste sorge; sie sei jung und rüstig, aber sie fürchte sich vor dem Gewitter; deshalb weile sie nebenan im Kuhstall, wo man die Blitze nicht sehe. Die Fremden seien gern gesehen, sie möchten sich nur auf die Bank am Kachelofen setzen, seine Frau werde für einen guten Trunk Milch sorgen. Er hoffe sie schon hervorzuholen.
Der Alte schritt durch die Stallthür, welche in traulichster Weise den Verkehr zwischen den Vernunftlosen und vernunftbegabten Geschöpfen vermittelte. Draußen goß der Regen nieder in schweren Fluten; mit unheimlicher Wucht, mit Hagelkörnern vermischt, prasselte er auf das Dach hernieder, das sich in eine große Traufe verwandelte; der Blitz zuckte durch die schmalen Fensterscheiben und der Donner grollte fort und fort in den Bergen.
Klärchen begann auf einmal zu weinen und zu schluchzen, der alte Bergführer suchte sie zu trösten und streichelte ihr zärtlich das Köpfchen, das sie wie hilfesuchend an seine Brust legte. „Was ist dir, Kind? Du warst ja erst noch so munter, so glücklich, als wir zusammen des Weges zogen?“
„Ich weiß nicht, wie mir zu Mute ist. Das schreckliche Unwetter draußen ist schuld; es kommt auf einmal so über mich, wie verlassen und einsam ich in der Welt bin.“
„Und dein Robert?“
„Das ist es eben! – Wann wird er der meine werden? Sieh die Blitze draußen: keiner, der vom Himmel kommt, wird ihn töten, doch da blitzt’s in der Schlacht, da donnert’s, und die tödliche Kugel kommt geflogen!“
„Es sterben nicht alle, die in den Krieg ziehen; die meisten kehren gesund und unversehrt heim.“
„Und wenn er zurückkehrt – wo bleibt meines Vaters Segen? O, Rübezahl – Ihr seid mir stets wie ein Vater gewesen, in langen Jahren, seitdem Euch der Weg nach unserer Burg führte; zu Euch hab’ ich so viel Vertrauen! Euch könnt’ ich alles sagen.“
„Und es ist gut bei mir aufgehoben!“
„Meine Mutter ist früh gestorben, wie Ihr wißt; ich kannte sie kaum. Der Vater hat viel für mich gethan, ich muß es ja dankbar anerkennen; doch er ist schroff und streng und hat kein rechtes Herz für mich. Er will mein Glück machen, wie er sich’s denkt, doch womöglich so, daß es auch ihm Nutzen bringt. Wenn ich den reichen Bauernsohn heirate, so kommt das unserer Wirtschaft auf der Burg zu gute. Da strömen uns alle Lebensmittel für die Gäste in reichem Maße umsonst zu. Von Jahr zu Jahr wird Vater weniger zärtlich gegen mich; oft scheint es mir, als falle ich ihm zur Last, als sänne er nur darauf, mich mit Vorteil loszuschlagen; Gott verzeih’ mir’s, ich bin nicht undankbar, ich will ihn nicht anschwärzen; doch er wird unerbittlich sein, wenn ich meinem Herzen folgen will und dies seine Pläne durchkreuzt!“
Klärchen brach in lautes Schluchzen aus. Der alte Bergführer saß nachdenklich auf seinen Stab gestützt; er sah mit einem warmen Blick des Mitleids auf das Mädchen, doch er sprach kein Wort, um sie zu trösten; er sah wohl ein, daß sie recht hatte mit ihren Klagen.
Die Sintflut draußen hatte inzwischen nachgelassen, es war kein die Wasser anschwellender Wolkenbruch gewesen. Die Blitze wurden matter und seltener, der Donner grollte leiser hinter den Bergen. Da trat nun auch aus der Stallthür das Ehepaar hervor, die Frau, halb widerwillig von dem alten Manne vorgeschoben; sie hielt sich noch ängstlich die Hand vor die Augen, vom gelblichen Schimmer eines verspäteten Blitzes geblendet. Dann kam sie näher mit einem freundlichen Gruß; sie werde gleich ein paar Gläser Milch bringen, sie habe nur zuvor den Fremden Guten Tag sagen wollen. Dem alten Bergführer reichte sie die Hand; als sie vor Klärchen hintrat, erhellte abermals ein plötzlicher Blitz den dunklen Raum. Die Frau fuhr erschrocken zurück, doch es war diesmal nicht der Blitz, der sie erschreckt hatte. „Jesus Maria,“ rief sie aus, „die Toten stehen auf!“
Verwundert schauten alle auf die Frau, welche kreidebleich geworden war und sich an einer vorspringenden Ecke des Kachelofens festhielt.
„Das ist sie, ganz wie sie war, nur frischer und gesunder!“
Klärchen horchte gespannt auf, noch mehr der alte Rübezahl.
„Eine Aehnlichkeit, welche Aehnlichkeit? Reden Sie doch,“ sagte er ungeduldig.
„Ich weiß nicht, ob ich darf! Versprochen hab’ ich zu schweigen, doch auch der andere hat sein Versprechen nicht gehalten.“
„So sprich nur, Veronika,“ sagte der Alte, der wieder zusammengesunken auf der Ofenbank saß; „das Schweigen hat [179] dir nicht das Gold gebracht, das du erwarten durftest; vielleicht bringt das Reden Gold ein und das ist doch die Hauptsache.“
„Gold gewiß nicht,“ sagte sie, auf den Bergführer und das Mädchen einen fast verächtlichen Blick werfend. „Doch ich rede jetzt gern, schon weil’s den andern ärgern muß!“
Rübezahl faßte sie an den Armen und zog sie an sich heran wie ein Kind, dem man seine Macht zeigen, das man willfährig machen will. „Wer sind Sie? Was wissen Sie? So reden Sie, sprechen Sie doch!“
„Was kommt Ihnen bei?“ rief sie, sich losreißend, „es ist meine Sach’, ob ich reden oder schweigen will! Sie sind kein Beichtvater, alter Mann, und ich hab’ Ihnen nichts zu bekennen; auch ist keine Sünd’ von mir dabei, und werden’s noch einmal zudringlich, so bleib’ ich stockstumm, so wahr ich Veronika heiße.“
„Recht hat sie, die Frau,“ sagte Rübezahl zu Klärchen. „Doch die Aehnlichkeit – die Aehnlichkeit, das packt mich so, daß ich nicht weiß, was ich thue und sage. Ich bitte, sprechen Sie, Frau Veronika!“
„So aber bin ich nicht,“ brach diese ab, „daß ich Sie hier dursten lasse – einen Augenblick!“
Sie eilte in den Stall und kam bald mit der Milch zurück, welche sie den Gästen vorsetzte. Dem erregten Bergführer dünkte die kleine Pause eine Ewigkeit. Endlich begann sie: „Es wird etwa zwanzig Jahre her sein, als zu uns – ich wohnte damals in Flinsberg mit meiner Großmutter – ein Berliner Kavalier mit seiner Frau kam. Ob sie ihm rechtens angetraut war, weiß ich noch heute nicht. Es war ein schmucker Kavalier, wie sie selten in unsere Berge kommen. Dieser kannte sie, er war mehrfach über dieselben gewandert; es habe ihn stets erquickt, sagte er, wenn der Berliner Hofdienst ihn ermüdet habe. Die Frau aber stammte aus dem Gebirge, dem Aupathal, und erzählte uns oft von den Riesenbergen, die dort oben sich gegenüberständen wie zwei hohe Burgen des Berggeistes. Der Kavalier mußte zurück zum Großen Friedrich, von dessen Krückstock und Schnupftabaksdose er uns viel erzählte, wie von seinen großen Augen, welche die Leute noch immer mit so durchbohrenden Blicken ansahen, daß man’s nicht aushalten konnte. Der mußte schon ein reines Gewissen haben, dem dieser Blick nicht klaftertief in die Seele ging. Nun, bei dem Herrn hat’s damit wohl schlimm genug ausgesehen! Er gab uns sein Weib, das leidend war, in Pflege und zahlte uns im voraus eine ansehnliche Summe; dann verschwand er nach einem sehr rührenden Abschied; er verschwand, um nicht wieder zu kommen. Anfangs kamen wohl Briefe an seine Frau, doch auch dies hörte allmählich auf. Diese ward immer schwermütiger, immer kränker, sie genas eines Mägdleins und drei Tage darauf starb sie. Uns blieb das Kind zurück und noch eine kleine Geldsumme, um einige Zeit für dasselbe zu sorgen.“
„Und in welchem Jahre begab sich dies?“ fragte Rübezahl mit vor Aufregung zitternder Stimme.
„Im Jahre 1786,“ versetzte Veronika.
„Und das Mädchen stammte wirklich aus dem Aupathal?“
„So hat sie uns erzählt.“
„Weiter, weiter!“ rief der Bergführer.
„Ein Zufall kam uns zu Hilfe in unserer Not, denn wie sollten wir auf lange Jahre hinaus für das arme Kindlein sorgen? Ein Beamter der Schaffgotsch’schen Güter kam nach Greifenberg, das ja auch dem Grafen gehört, und auch nach Flinsberg führten ihn seine Geschäfte. Die Geschichte von dem Berliner Kavalier und dem zurückgelassenen Kinde kam ihm zu Ohren und zu unserem größten Erstaunen trat er eines Tags bei uns ein. Er lebte seit Jahren mit seiner Frau in kinderloser Ehe und beide hegten schon längst den Wunsch, ein Kind zu adoptieren, am liebsten eine Waise, um sich lästige Abmachungen mit den Eltern zu ersparen. Aus einem Briefe, den wir bei der Frau gefunden, sahen wir, daß der Vater des Kindes nichts mehr von ihr und von dem Kinde wissen wollte; er hoffe, hieß es darin, daß sie sich allein durchschlagen werde mit ihrer Hände Arbeit, nur wenn sie in hoffnungslose Not gerate, solle sie sich noch einmal an ihn wenden. Der Brief hatte keine Unterschrift und auch uns war der Name des Kavaliers immer verschwiegen worden. Wir weigerten uns nicht, dem Manne das Kind zu überlassen; er bot uns eine nicht unbeträchtliche Summe dafür, er nannte uns auch seinen Namen; doch es war ein falscher Name, denn wir haben später nie erfahren können, daß ein solcher Beamter sich in gräflich Schaffgotsch’schen Diensten befände. Es kümmerte uns auch weiter nicht, denn er hielt sein Versprechen; er ließ das Kind abholen durch eine zuverlässige Magd, schickte uns das Geld und das war ausreichend, daß ich dem Manne hier begehrenswert erschien. Er hatte damals ein hübsches Bauerngut. Doch das ging verloren in schlimmen Zeitläufen und was davon übriggeblieben ist – das sehen Sie hier.“
„Doch worüber erstauntet, worüber erschrakt Ihr so, als Ihr dies Mädchen saht?“ fragte Rübezahl mit einer von Thränen erstickten Stimme.
„Nun, jene Frau stand vor mir, nicht wie sie zuletzt war, elendiglich dem Tode entgegensehend, nein, so wie sie zu uns kam. Hätte mir die Jungfrau Maria einen schönen Traum geschenkt, so – nicht anders würde ich sie wiedergesehen haben, die arme Frau, die so schön war, als sie zu uns kam, und die so früh von uns ging. In Flinsberg haben wir sie begraben und weiße Rosen auf ihr Grab gepflanzt.“
„O Gott,“ seufzte der Alte, die Hände faltend, „es war meine Tochter, und so mußte sie untergehen! Ich danke Euch was Ihr für sie gethan von Herzen, wie ein armer Mann nur danken kann, der nichts hat als Thränen und einen warmen Händedruck. Doch noch mehr danke ich Euch, daß Ihr für das verlorene Kleinod mich ein anderes finden ließet – eine andere Tochter, der Mutter Abbild!“
Klärchen wußte nicht, wie ihr geschah, so rasch kam das alles über sie. Das war ja wie ein Märchen, das man am Spinnrad erzählt, und sie selbst sollte es sein, mit der sich so Wunderbares begeben? Sie mußte sich erst zurechtfinden, ob sie träume oder wache. Doch als Rübezahl seine Arme öffnete, um sie ans Herz zu schließen, da fühlte sie, daß sie einen neuen Vater gefunden, und schluchzend lag sie an seiner Brust.
Den Bewohnern der Hütte aber erzählte der Alte, daß er in jenem Jahre seine Tochter verloren, die aus der Schneegrubenbaude mit einem Fremden davongegangen sei zu unsäglichem Herzleid für ihn selbst und sein Weib. Es sei kein Zweifel mehr, in Klärchen umarme er sein Enkelkind! Und zärtlich streichelte er des Mädchens einfach gescheiteltes Haupthaar und drückte ihr einen Kuß auf Stirn und Lippen.
Das Gewitter hatte sich indes ganz verzogen, der Bergführer und Klärchen rüsteten sich zum Weitergehen.
„Jener Beamte hatte mir versprochen,“ sagte Veronika, „mir Auskunft zu erteilen, was aus dem Kinde geworden und ob er es in allen Formen Rechtens an Kindesstatt angenommen, doch hab’ ich nie eine Zeile, ein Wort von ihm erhalten.“
„Das ist alles in Ordnung, liebe Frau,“ versetzte der Bergführer; „dafür aber werde ich sorgen, daß er Ihnen noch jetzt schreibt mit seiner Namensunterschrift. Das lassen Sie meine Sorge sein – damit will ich danken für die freundliche Aufnahme.“
Draußen war alles erquickt durch das Gewitter und die Regenflut; noch rauschten die Wälder an den Berglehnen, ein verspäteter Wind schüttelte die Tropfen von den Bäumen auf die Waldblumen, die zu ihren Füßen blühten.
„Und so,“ sagte Klärchen, „hätte mein Vater kein Recht auf diesen Namen, kein Recht, über mich zu bestimmen?“
„Du irrst, mein Kind. Er hat die Rechte und Pflichten eines Vaters. Diese hat er bisher erfüllt, jene kann er für sich verlangen. Daran ändert sich nichts.“
„Nichts, gar nichts – auch nun ich dich gefunden, den Vater meiner Mutter, den Blutsverwandten, von dem ich in Wahrheit abstamme? Dem andern muß ich dankbar sein; er hat für mich gesorgt jahrelang; aber er ist doch nur ein Vater, den sie dazu gemacht haben, drüben in den Gerichtsstuben, wo man die Häuser kauft und verkauft und die Prozesse führt, und ich bin solch ein Gegenstand, über den man da verhandelt und ein Geschäft abgeschlossen hat!“
„Rege dich nicht auf, mein Kind! Es muß alles in der Welt seinen Schick haben und seine Ordnung, und was wäre aus dir geworden, wenn sich der Mann von der Burg nicht deiner angenommen hätte? Vielleicht wärst du verhungert wie hundert arme verlassene Würmer, die man nur um Gotteswillen eine Zeit lang füttert, bis man selbst es satt bekommt. Und diese [180] Veronika sieht mir nicht aus, als ob sie ein liebreiches Herz hätte – mit dem Gelde des Berliner Kavaliers hätte auch ihre Liebe ein Ende genommen und in irgend einem Armenhaus einer armen Gemeinde hätte man dich untergebracht.“
„Wohl, er hat sich meiner angenommen, doch nicht um meinetwillen, sondern um seiner selbst willen, und so ist’s geblieben! Meine Pflegemutter, die kranke Frau, brauchte eine Puppe und er hat sie ihr verschafft. Als sie verstorben und ich aus den Puppenkleidern herausgewachsen war, da suchte er von mir so viel Nutzen zu ziehen als möglich; das will er auch jetzt, nun er mich zwingt, den reichen Bauern zu heiraten. Und da sollte ich mich nicht weigern dürfen, da müßt’ ich blindlings gehorchen, obschon er nicht mein rechter Vater ist?“
„Sei guten Muts, mein Kind,“ tröstete sie der Alte. „Du bist in meinem Schutz und ich habe jetzt auch ein Recht mitzusprechen. Er ist ein wenig in meiner Gewalt; er hat die Sache bisher sehr geheim gehalten und die Welt glauben machen wollen, du seiest sein eigenes Kind! Die Frau war, wie ich später gehört, sehr oft in Bad Landeck, und da oben im Glatzer Land wird er auch bei den Gerichten den Hokuspokus gemacht haben. Das werd’ ich alles noch erfahren; und für den braven jungen Mann und eure Liebe will ich eintreten, so viel ich’s vermag!“
Schon waren sie in der Mitte von Schreiberhau angekommen, dort, wo das Dorf, sonst weit an den Berglehnen zerstreut, sich im bequemen Thalgrund ausbreitet. Welch’ reges Leben herrschte hier – überall Jäger in ihren schmucken Uniformen, fröhlich und kampfesmutig! Lieder ertönten aus den Häusern am Wege, wo sich kleine Trupps zusammenfanden; auf einer Wiese wurden Rekruten einexerziert, auch ein Gespann mit Geschütz und Protzkasten jagte auf der Hauptstraße vorüber. Das ganze Dorf schien ein großes Heerlager zu sein. Von allen Seiten strömten damals zum Grafen Götzen, der im Glatzer Land die trotzige Bergfeste von den Franzosen zu befreien suchte, Freischaren herbei, die sich aus allen Ständen rekrutierten: Jünglinge der Hochschulen, junge Beamte und Gutsbesitzer, ganz wie sie später im Jahre 1813 zum Lützowschen Freikorps strömten oder sonst in die Reihen der Kämpfer eintraten. Doch sie wurden mit hineingerissen in den Strudel der allgemeinen Niederlage, als die preußisch-russischen Heere in den blutigen Schlachten auf ostpreußischem Boden besiegt wurden. Tonlos verhallte „ihr Trompetenruf im Morgengrauen“ und „das Schwert an ihrer Linken“ sehnte sich vergebens nach der Leier des Sängers, der ihre Thaten gefeiert hätte. Ein flüchtiges Aufblitzen und ein langes Dunkel der Vergessenheit – das ist das Los der sieglosen Tapferkeit, welche die Geschicke der Welt nicht wenden kann.
Ueberall, wo Rübezahl und sein Enkelkind weiterschritten, begegneten sie schmucken jungen Freischärlern, welche das in ihr Feldlager sich wagende Mädchen freundlich grüßten. Das Hauptquartier war in der Wohnung des Schulzen; dort hoffte sie auch Robert zu finden, der als junger Offizier zu den Führern der Truppe gehörte. Rübezahl begab sich in die Schenkstube, wo an einem langen Holztische die Befehlshaber und Verwaltungsbeamten der Truppe Platz genommen hatten. Das Bureau mußte sich mit den ländlichsten Schreibmitteln begnügen; die Kellerräume und Ställe des Besitztums waren zum Proviantmagazin eingerichtet.
Rübezahl war allen wohlbekannt. Man ging und rief ihm entgegen; man wußte, daß er Depeschen brachte, von denen die weiteren Bewegungen der Truppe abhängig waren, und in der That holte er aus seinem Stiefel ein Schreiben des Grafen von Götzen hervor, der einen Teil der Mannschaften zu sich ins Glatzer Land entbot, während ein anderer die Bewegungen der Franzosen im Hirschberger Thal beobachten und die Bergübergänge schützen sollte.
Als die Beratung, welcher Rübezahl beiwohnen durfte, zum Abschluß gekommen war, teilte er dem Lieutenant Robert die Anwesenheit des Mädchens mit. Blitzschnell beurlaubte sich dieser und flog hinaus, wo unter einer Eiche vor dem Nachbarhause Klärchen seiner wartete. Rübezahl, der den Besitzer wohl kannte, führte sie selber in den Garten, in welchem das Gebüsch noch in unverkümmertem Waldwuchs die Wege säumte. Er setzte sich da auf eine Bank, während die Liebenden nach zärtlicher Umarmung und glühenden Küssen auf und ab gingen, Arm in Arm.
„Wie freue ich mich, daß du hierhergekommen,“ sagte Robert, „welch’ ein schöner Beweis deiner Liebe!“
„Ich fürchtete, dich nicht wiederzusehen, ehe du in den Kampf zogst.“
„Unsere Zahl ist noch nicht groß genug und wir müssen hier auf der Wacht stehen. Das Einexerzieren der Rekruten geht langsam, mit unbrauchbaren Truppen ist dem Grafen Götzen aber nicht gedient. Es ist möglich, daß ich deinen Besuch erwidern kann. Wie ich dir schrieb, ist die Feste Kynast scharf ins Auge gefaßt worden, ob sie sich zu einem kleinen Waffenplatz eignet, und ich werde sie vielleicht inspizieren.“
„O, dort oben ist’s schön und Vater darf nicht scheel sehen zu unserer Liebe, wir wollen dort kein Geheimnis daraus machen. Denn was den Vater angeht, so hab’ ich Dinge erfahren, merkwürdige Dinge; sie setzen mich vielleicht herab in deinen Augen, aber sie geben mir einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft.“
Und Klärchen erzählte die Begegnung mit Veronika und was diese über ihre Herkunft mitgeteilt.
Robert hörte aufmerksam zu und schloß die Geliebte innig ans Herz. „Glaube doch nicht, daß ich mich um Dinge kümmere, die über uns verhängt sind ohne unsere Schuld. Du bist mein liebes Mädchen und sollst mein liebes Weib werden, wenn auch nicht der wackere Bergführer Rübezahl, sondern der alte Berggeist selbst dein Ahn wäre, der jedenfalls ein großer ungetaufter Heide ist. Was kümmert mich das Dunkel, das über deiner Geburt schwebt? Licht ist wo du wandelst, und licht wird meine Seele bei deinem Anblick! Sollte Vater Rübezahl mit dem Burgkapitän, der sich alle Vaterrechte erkauft hat, ein gewichtiges Wort zu unseren Gunsten sprechen, so könnte uns das vielleicht nützen; er ist jetzt im Besitze eines Geheimnisses, das deinem Pflegevater vielleicht unbequem sein kann! Doch wir hängen nicht ab von solcher Hilfe; unsere eigene Liebe ist stark genug, um den Sieg zu erringen.“
„Und wenn wir einmal in einem stillen Pfarrhause wohnen –“
„Da möge Gottes Segen über uns walten; in meiner Liebe sollst du dann einen Ersatz dafür finden, daß du ohne den Segen treuer Elternliebe hast aufwachsen müssen.“
„Ach, ich denk mir’s so schön im Pfarrhaus! Eine hohe Linde vor der Thür –“
„Und mein bescheidenes Studierzimmer, dem sie die Blüten ins Fenster schüttet.“
„Und da gehst du auf und ab und lernst deine Predigt und ich sitze daneben mit meinem Nähzeug und scheuche die Bienen fort, die von den Lindenblüten genascht haben und herbeigeflogen kommen, um dich durch ihr Summen zu stören.“
„Und wenn du über die Straße gehst, da grüßen alle Bauern tief die ehrwürdige Frau Pfarrerin – kleine Ehrwürden du.“
„Und in die Küche bringen sie mir Wurst und Schinken, Eier, Butter und Mehl und allerlei, was das Feld und der Stall liefert.“
„Die Küche wird deine Freude, aber die Kirche wird dein Stolz sein.“
„Gewiß, wenn ich da im Kirchenstuhl sitze und du auf der Kanzel stehst und alle sehen auf dich – da wird Gottes Wort mich ergreifen wie alle andern, aber ganz im stillen, so nebenbei werd’ ich doch denken: der so kräftiglich da oben spricht und so die Herzen bewegt, das ist mein lieber, mein einziger Mann, und ich kann stolz auf ihn sein, und die Liebe, die er predigt, ist ja lebendig in ihm und waltet Tag für Tag in unserem Hause und beglückt mich mein Leben lang.“
In diese Friedensträume schmetterten auf einmal die Hörner zu einem Uebungsmarsch. Robert mußte sich von Klärchen trennen nach einem herzlichen, innigen Abschied, und auch vom alten Rübezahl schied er mit einem warmen Händedruck.
„Ich bringe dich jetzt nach Hermsdorf zurück,“ sagte dieser. „Doch im Vorbeigehen will ich bei Veronika anfragen, wo das Grab meiner Tochter ist. Und dann hält mich nichts mehr, ich gehe nach Flinsberg, um die Ruhestätte deiner armen Mutter aufzusuchen.“
„Zweifle nicht daran,“ versetzte Klärchen, „wenn ich dich auch heute nicht begleiten kann: es wird dort, wo meine Mutter ruht, auch noch Platz sein für meine Rosen und meine Thränen.“
[181]
[182] Kaum hatte Leontine erfahren, daß Klärchen auf die Burg zurückgekehrt sei, als sie nach Hermsdorf an den Geliebten schrieb und ihn einlud, am nächsten Nachmittag die Burg zu besuchen, wo sie dann mit ihm zusammentreffen und ihn mit dem kleinen Schutzgeist bekannt machen wolle.
Leontine war in großer Aufregung. Der Vater war aus Breslau zurückgekehrt, wie sich bald zeigte, in einer Stimmung, die ihrem Liebeshandel durchaus ungünstig war. Früher war er gleichgültiger gewesen und geneigt, die Dinge dieser Welt gehen zu lassen, wie sie eben gingen. Vor Napoleon, der das Schicksal Europas in seiner Hand hielt, hatte er einen großen Respekt; er wich der Begegnung mit französischen Offizieren nicht aus, obschon er keineswegs sein preußisches Gewissen und die Bewunderung für den Großen Friedrich aufgegeben hatte. Jetzt aber kam er zurück mit einem ingrimmigen Groll gegen die Fremdherrschaft. Einige seiner Freunde hatten über französischen Uebermut, der ihnen persönlich nahe getreten war, sich zu beklagen; auch der Druck, der auf dem Volke lastete, die Kontributionen waren empfindlicher geworden, und der alte Baron sprach sich in erbitterten Ausdrücken über die Landesfeinde aus. Er setzte jetzt alle seine Hoffnungen auf den Sieg der preußisch-russischen Heere in Ostpreußen und auf den Befreiungskampf des Grafen Götzen. Er billigte den Entschluß der Nachbarn, Kurt und Friedrich, sich an diesem Kampfe zu beteiligen und so von ihrer ritterlichen Vaterlandsliebe ein rühmliches Zeugnis abzulegen.
Leontine lächelte über das Lob, das der Vater ihren Freiern und Bewerbern erteilte; sie wußte ja am besten, was es damit für eine Bewandtnis hatte ... Ohne die selig unselige Kunigunde wäre sie nicht auf den glücklichen Gedanken gekommen, die tapferen Junker in den Krieg zu schicken und zwei tüchtige Kämpfer fürs Vaterland anzuwerben.
Ein böses Lächeln glitt über ihre Lippen; sie war im Herzen eine Französin und in französischer Bildung aufgewachsen. Das letztere hatte sie ja gemein mit dem Großen Friedrich und wenn sie auch Voltaire nicht wie dieser zur Tafel einladen konnte, sie selbst lud sich oft genug bei ihm zu Gast und schwelgte in seinen Werken. Geist, Witz, Leidenschaft, das war, was sie verlangte, was sie besaß – und das deutsche „Bärentum“ konnte ihr nur wenig davon bieten. Der Krieg zwischen Frankreich und Preußen war ihr peinlich; sie kümmerte sich anfangs wenig darum. Das Reich der Frauen war für sie das Reich der Liebe, der Leidenschaft, und da giebt es keine Grenzpfähle; die schwarzen Adler Preußens und diejenigen der Legionen des Cäsar mochten sich zerfleischen: das war ein Kampf hoch in den Lüften; hier auf Erden gab es für die Frauen andere Kämpfe, Herzenskämpfe mit ihren Siegen und Niederlagen, die nicht in die Bücher der Geschichte kommen. Seitdem sie aber ihr Herz an den französischen Offizier verloren, da war auch etwas über sie gekommen von seiner Begeisterung für den großen Bonaparte. Die großen Männer gehörten ja allen Nationen an; ob Friedrich oder Napoleon, preußische oder französische Uniformen, darauf konnte es ihr nicht ankommen! Das Genie trägt keine Uniform, es erhebt sich in erzener Gestalt auf seinem Piedestal, bewundert von seiner Zeit und allen Zeiten.
Leontine hatte einen lebhaften Geist, oft übersprudelnd, geneigt zur spöttischen Beleuchtung der Dinge, und ein leidenschaftliches Wollen, das auf den Genuß der Gegenwart gerichtet war. Ihr Herz war eines feurigen Pulsschlages fähig; doch ein Gemüt, das in seinen Tiefen eine stille und dauernde Liebe trägt, war ihr versagt. Nur eine Liebe verstand sie, jene, die den zweifellosen Rausch des Augenblicks gewährt.
Sie hatte dem Geliebten geschrieben, er möchte sich als ein Maler aus Süddeutschland auf der Burg einführen. Er zeichnete aus Liebhaberei und führte das Malergerät bei sich. Das würde ihn dann zu einem längeren Aufenthalt auf der Burg berechtigen; er konnte auch auf den inneren Höfen malerische Motive für seine Bilder suchen.
Leontine war zuerst oben angekommen und allein; sie hatte ihrer Begleiterin, der dicken Lotte, einen neuen Roman von Julius von Voß in die Hand gegeben und sie auf der Aussichtsbank am Wege zurückgelassen. Sie wußte, diese Erzählung würde sie so fesseln, daß sie die Zeit darüber vergaß. Julius von Voß, dieser Meister der Wachtstubenlitteratur, war zwar Konterbande auf Schloß Giersdorf; der alte Baron, obgleich selbst kein Heiliger, hätte doch nicht zugegeben, daß seine Tochter diese Romane lese, und Leontine selbst fand keinen Geschmack daran. Sie waren ihr zu roh und gemein, es fehlte ihnen die französische Grazie wie sie den Regungen ihrer eigenen leidenschaftlichen Natur entsprach. Und dennoch schmuggelte sie diese Romane ins Haus, nur um der dicken Lotte willen, deren Teilnahme für diese kecken Schilderungen durch keinerlei Bedenken gestört wurde. War die Begleiterin verdrießlich, gelangweilt, störend – ein Band von Julius von Voß wirkte auf sie zerstreuend und beruhigend, und da die Erbin des alten Namens keine eigenen Gedanken hatte, denen man sie in solchen Augenblicken überlassen konnte, so gaben diese Romane das willkommenste Ersatzmittel. Sie blieb wie festgebannt, sie sah und hörte nichts, wenn ihre träge Phantasie durch die Bilder erhitzt wurde, welche die Wachtstubenplaudereien des in seiner Lebenswahrheit höchst ungenierten Schriftstellers ihr entrollten.
Leontine fand Klärchen sehr bereit, ihr zu helfen. Dem Vater gegenüber lebte schon lange in der Seele des Mädchens ein trotziges Gefühl, das sich auflehnte gegen sein Machtgebot. Nach den letzten Enthüllungen über ihre Vergangenheit hatte sich dies Gefühl verstärkt. Hinter seinem Rücken zu handeln, gebot ihr ja schon die eigene heimliche Liebe, und es war kaum ein neuer Frevel, wenn sie eine fremde ihm verbergen half. Leontine bat sie, die Aufmerksamkeit des Vaters von dem Maler abzulenken. Der Burghauptmann liebte berauschende Getränke und lebhafte Gespräche. In solchen Augenblicken sollte sie den Maler, unbemerkt von dem Alten, in den inneren Burghof führen, und auch Leontine hoffte sich dann dort zuweilen einschleichen zu können.
Es galt, alsbald den ersten Versuch zu machen, denn schon ward Edmond de Granville sichtbar, der heraufstieg und sich dem vorderen Thore näherte, in seinen Händen den leichten Feldstuhl des Malers und den Kasten mit Farben und Leinwand für die Skizzen, die er hier auszuführen gedachte.
Beide Mädchen erschienen alsbald am Vorthor und Leontine stellte ihrer Freundin den Maler Hartwig vor. Klärchen hatte sich immer einen Künstler mit blondem Gelock und schwärmerischem Augenaufschlag gedacht und war überrascht von dem dunklen Kolorit und dem feurigen Blick, dem schwarzen Haar und dem Knebelbart, der in Preußen fremdartig berührte. Doch der Maler kam ja aus Süddeutschland.
„Das ist mein Freund,“ sagte Leontine, „und hier diese Kleine wird uns in ihren Schutz nehmen. Sieh ihr nur nicht zu tief in die Vergißmeinnichtaugen; ja, solche Schutzengel sind gefährlich; doch du würdest zu spät kommen, sie hat bereits ihren Einzigen gefunden und sich gerüstet für den Erdenjammer, der in einer treuen Liebe besteht.“
Klärchen schüttelte dem Maler die Hand mit unbefangener Herzlichkeit.
„Sie ist unsere Pförtnerin,“ fuhr Leontine fort, „dort oben sitzt der alte Cerberus mit dem lebensgefährlichen Schnauzbart, ihr Papa, der Schloßhauptmann. Das ist unser geborener Feind und den mußt du zu meiden suchen. Geh’ seinen Blicken hübsch aus dem Weg; das ist nicht so schwer wie es scheint, denn er guckt immer ins Liqueurglas. Und jetzt, schnell über den Platz, dort in das Thor, das zu dem inneren Hof führt. Er ist leer, Klärchen?“
„Es sind jetzt keine Fremden darin.“
„Wenn sich heute oder ein anderes Mal Besucher nahen, so sorgst du also, daß er von niemand überrascht wird.“
„Ihr könnt sicher sein, ich führ’ es treulich durch, nun ich’s übernommen habe.“
Edmond war inzwischen in den zweiten Hof getreten, wo er sich eine geeignete Stelle suchte, um dem alten Gemäuer die am meisten malerische Seite abzugewinnen. Seinen Feldstuhl klappte er auf, öffnete seinen Malkasten und begann, mit einigen Pinselstrichen die Umrisse zu markieren, die er dem Mauerwerk auf seinem Bilde geben wollte. Ungeduldig lauschte er dabei, ob nicht Leontine käme, doch er billigte ihre Vorsicht: sie wollte ihm offenbar Zeit lassen, erst eine Probe seiner Künstlerschaft zu geben, um vor etwa hinzukommenden Neugierigen sich als Maler ausweisen zu können und seine geheimen Absichten zu [183] verbergen. Der Schloßhauptmann hatte sich erhoben und war vor dem Burgthor auf- und abpatrouilliert. Leontine wollte nicht gerade vor seinen Augen hindurchschlüpfen. Dann erschien sie mit Klärchen; doch diese verschwand bald wieder, um die Liebenden allein zu lassen.
Es war so traulich im Hofraum; um die auf dem Schutt blühenden Disteln schwebten farbige Schmetterlinge. Edmond kannte die Sagen der Burg, die Leontine ihm erzählt hatte, und er mußte daran denken, daß hier in diesem Hofe das böse Fräulein gewiß öfters mit ihren Freiern gewandelt sei, auf ihren Lippen das süße halsbrechende Lächeln. Damals standen die Mauern der Burg sturmfest, stolz und trotzig und kein fallendes Gemäuer bedrohte die Lustwandelnden. Doch Leontine war keine Kunigunde – so glaubte Edmond; für ihn war sie es nicht; sie verlangte nicht, daß er sein Leben aufs Spiel setze, um ihr Herz und ihre Hand zu gewinnen. Freilich, da, wo sie nicht liebte, war auch sie imstande, mit der siegenden Gewalt ihrer Schönheit den Kühnen Verderben zu bringen, die um sie zu werben wagten.
In leidenschaftlicher Hingebung hielt sie den Geliebten umschlungen, glühende Küsse drückte sie auf seine Lippen – was war ihr die ganze Welt in diesem Augenblick! Mochten sie kommen und sehen, staunen und verdammen – alle, alle! Sie bot ihnen Trotz, den Ihrigen, die sie bevormunden wollten, den Fremden, die Anstoß nahmen an so leidenschaftlicher Begegnung, und mochte ein Erdbeben die alte Burg zertrümmern, sie wäre froh gestorben an seinem Herzen!
Edmond war weniger übermütig und entschlossen; er bewegte sich hier unter einem falschen Namen in Feindesland; es konnte ihm durch irgend einen Zufall viel Unholdes begegnen. Den alten Burgherrn selbst hatte er von ferne gesehen; dieser hatte den Schnauzbart der preußischen Husaren, die beim Einhauen keine Schonung kannten! So griff er, sobald sich draußen am Thore etwas regte oder auch nur eine Eidechse durchs Gras raschelte, rasch wieder zu seinem Malkasten und seinem Pinsel. Aber Leontine gefiel sich nicht in der Rolle einer lauschenden Beobachterin, welche den Künstler und das Werk, das unter seinen Händen wuchs, bewunderte.
Sie nahm und schloß seinen Malkasten, warf ihn auf eine steile Rasenböschung, die sich in den Burghof hineinschob, und zog den Geliebten wieder stürmisch an sich.
Da zeigte sich Klärchen und verkündete, daß Fremde nahten. Leontine eilte zu ihr, um als ihre Begleiterin zu erscheinen, und Edmond griff rasch wieder nach seinen Farben.
Der erste Versuch eines Rendezvous im Reiche der Kunigunde und unter dem Schutz dieser zweideutigen Heiligen war gelungen; es lag zwar immer allerlei Bedrohliches in der Luft, doch ließen sich gewiß nach einiger Erfahrung Mittel zur Abwehr finden.
Und in der That wurden die Liebenden kühner in ihren Wünschen.
Das Erdgeschoß des runden Wartturmes war früher ein Gefängnis gewesen; der Turm, der für unbesteigbar galt, obschon mittels Leitern der einfallenden Treppe leicht nachgeholfen werden konnte, blieb von den Besuchen der Fremden verschont. Das Erdgeschoß war ein willkommenes Versteck, welches Klärchen, die Schlüsselverwalterin, allein öffnen und schließen konnte. Hier sollte sich Edmond gelegentlich auch vor dem Kastellan verstecken, der in letzter Zeit bisweilen die Burghöfe inspizierte, wahrscheinlich im Hinblick auf die etwa bevorstehende Einquartierung, und an der häufigen Anwesenheit des Malers leicht Anstoß nehmen konnte. Wenn sich Klärchen indes dazu verstand, dem harrenden Liebhaber hier eine erwünschte Gefängnisstrafe zu diktieren, so räumte sie doch niemals seiner Geliebten das Recht ein, die Haft zu teilen. Sie las bisweilen so vermessenen Wunsch in Leontinens Augen, aber sie wachte über die gute Sitte auf dem alten Schloß und nur einer bräutlichen Liebe wollte sie hilfreich zur Seite stehen.
(Schluß folgt.)
Brunnen- und Badekuren.
Es ist keine neue Mode, wie dies mancher brummige Ehegatte, dessen Frau ins Bad geschickt wird, oder mancher behäbige Sitzmensch, dem die Reise in einen Kurort verordnet wird, behauptet, sondern eine uralte Gepflogenheit der Aerzte, wenn sie mit ihrem Latein zu Ende sind, den Kranken eine Badereise anzuraten. So war es schon in der alten Römerzeit, als sich vor nahezu 1900 Jahren der Badeort Bajae eines ganz besonderen Rufes erfreute, so daß daselbst die vornehme Welt Villen baute, die bewährtesten gichtbrüchigen Feldherren Bäder nahmen und schöne Frauen auf Eroberungen ausgingen. So war es im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, als hochfürstliche Persönlichkeiten mit großem Pompe und riesigem Gefolge nach Baden in der Schweiz, nach Gastein und Karlsbad zogen.
Was aber die Badereisen der Gegenwart von jenen altvergangener Zeiten unterscheidet, ist vorerst das bedeutungsvolle Moment, daß durch die hochentwickelten Verbindungsmittel unserer im „Zeichen des Verkehres“ stehenden Zeit es nicht nur den oberen Zehntausend, sondern auch den breiten Schichten der Bevölkerung ermöglicht ist, an den Heilquellen Hilfe zu suchen; und dann die richtigere Erkenntnis von dem Wesen und der Wirkungsweise einer solchen Kur.
Wenn man ursprünglich glaubte, die Quellen ständen unter dem besonderen Schutze von Göttern, und dieser Anschauung gemäß das Wirken der Heilwässer als etwas geheimnisvoll Göttliches in mystischer Weise zu deuten suchte, wenn später den Mineralwässern eine besondere Kraft, welche von dem „Brunnengeiste“ ausging, zugemutet ward – so hat die naturwissenschaftliche Erkenntnis gegenwärtig auch dieses Dunkel aufgehellt und dargethan, daß die Mineralquellen nicht etwa eigens für sie ersonnenen, sondern den allgemein gültigen Naturgesetzen unterworfen sind.
Wir wissen jetzt ganz genau, daß die Mineralwässer, auch wenn sie noch so heilkräftig sind, nicht einem Wunder ihr Emporquellen verdanken, sondern daß sie aus Regen- und Schneewasser ebenso wie die gewöhnlichen Trinkquellen entstehen, nur verändert durch die festen und flüchtigen Bestandteile, welche sie dem Boden während ihres Laufes durch denselben entziehen. Der hohe Wärmegrad, durch den sich viele Heilquellen auszeichnen, ist nicht, wie man früher annahm, stets das Resultat vulkanischer Thätigkeit im Innern der Erde oder gar durch eine geheimnisvolle Hexenküche erzeugt; die Ursache dieser Erscheinung ist vielmehr in der Regel eine andere: die heißen Quellen entstammen einer größeren Tiefe, und da die Eigenwärme der Erde nach bestimmten Gesetzen mit der Tiefe zunimmt, so ist die Tieflage der Wasserkanäle die Bedingung, von welcher die Bildung der „Thermen“ (heißen Quellen) abhängig ist. Wenn man den eigentümlichen fleischbrühartigen Geschmack mancher Thermen früher mysteriös auf eine Beimengung von Fleischüberresten vorsintflutlicher Tiere zurückführte, so weiß man jetzt, daß an jenem Geschmacke zersetzte Pflanzen, wie Algen und Conferven, schuld tragen, die sich in dem Mineralwasser finden. Und auch der „wilde Geist“, welcher die Quellen beleben und ihr Brodeln verursachen sollte, wurde vom Chemiker wirksam beschworen und zumeist als kohlensaures Gas entlarvt.
Wie die Entstehung und Zusammensetzung der Heilquellen dem Gebiete des Ueberirdischen und Unfaßbaren entrückt worden ist, so hat auch die Wirksamkeit derselben, lange Zeit vom Vorurteil und Aberglauben verschleiert, mit den Fortschritten der Arzneikunde immer schärfere Aufklärung gefunden. Die chemische Untersuchung der Quelle giebt hierzu den Schlüssel, und in dem Gehalte des Mineralwassers an festen und gasförmigen Stoffen sowie in seiner Temperatur liegt der Erklärungsgrund für die Wirksamkeit der Quellen, mögen diese zum Trinken oder Baden gebraucht werden.
[184] Ist auch die Wirkungsweise mancher Quellenbestandteile noch nicht genau erforscht, so haben doch wissenschaftliche Untersuchungen wie praktische Erfahrungen über die meisten jener Bestandteile genügenden Aufschluß gegeben, um den Einfluß der Trinkkuren auf den gesamten Stoffwechsel wie auf einzelne Organe des Körpers zu deuten und abzuschätzen.
Der Umstand, daß die wirksamen Salze in den Mineralwässern nur in geringen, oft sogar ganz winzigen Mengen enthalten sind, hat Zweiflern vielfach Anlaß gegeben, die Heilquellen selbst als ein bedeutungsloses Nichts zu bezeichnen und nur der frischen Luft und der zweckentsprechenden Diät in den Kurorten einige Wirksamkeit zuzuerkennen. Mit Unrecht! Neuere Forschungen haben ergeben, daß gerade verdünnte Lösungen von Salzen, wie sich als solche die meisten Mineralwässer darstellen, eigentümliche Wirkungen auf die Lebensthätigkeit der Zellen des menschlichen (wie tierischen) Organismus und auf die chemischen Prozesse in denselben ausüben. Es haben ferner Erfahrungen am Krankenbette dargethan, daß besser als eine große Gabe eines bestimmten Heilmittels die Verbindung mehrerer nach gleicher Richtung wirkender Arzneien, in ganz kleinen Gaben zusammengestellt, sich wirksam erweist. Und solcher Art enthalten sehr viele Mineralwässer eine Summe ähnlich wirkender heilkräftiger Bestandteile in kleinen Gaben. Man braucht also durchaus nicht auf die Homöopathie zu schwören, um die Wirkung einer durch mehrere Wochen fortgesetzten Trinkkur mit Mineralwässern begreiflich zu finden.
Das natürliche Mineralwasser ist ein gar merkwürdiges und kompliziertes Heilmittel, und es wird noch langer Forschung bedürfen, um ganz genau und unwiderleglich über die Beschaffenheit aller seiner Bestandteile, über die Art der Zusammensetzung und über die Wirksamkeit desselben Aufklärung zu erhalten. Vorläufig müssen wir uns damit bescheiden, daß für bestimmte Gruppen von Mineralwässern, so für die Natronwässer, Glaubersalzwässer, Kochsalzwässer, Eisenwässer, Schwefelwässer, erdige Mineralquellen, gewisse grundlegende Wirkungen erkannt sind, welche dieselben auf Absonderung der Verdauungssäfte, auf Beeinflussung der Thätigkeit des Herzens und der Atmungsorgane, auf Aenderung der Blut- und Säftebestandteile ausüben.
Die Lücken der Erkenntnis muß vorläufig die Erfahrung der praktischen Aerzte sowie der an den Brunnen wirkenden Aerzte, auf zahlreiche und gute Beobachtungen sich stützend, auszufüllen bemüht sein.
Weniger als bei den Trinkkuren spielt bei den Badekuren die verschiedenartige Zusammensetzung der Bestandteile der Heilquelle die Hauptrolle; hier erweisen sich vielmehr als heilkräftig die Temperatur des Badewassers, die Dauer des durch das Bad auf die Haut geübten Reizes, die Menge der im Bad sich entwickelnden Gase und flüchtigen Stoffe, die Form der Anwendung, als Vollbad, Halbbad, Brause, Welle etc., die zum Bade verwendete Beimengung, wie bei Moorbädern, Fichtennadelbädern.
Seitdem es erwiesen ist, daß die Haut des Badenden von den in dem Badewasser gelösten festen Bestandteilen nichts oder wenigstens nahezu nichts aufsaugt, ist es vorzugsweise der Hautreiz, auf welchen man als wirksames Moment der Bäder den Hauptwert legt. Dieser Reiz ist bei den Mineralbädern größer als bei den gewöhnlichen Wasserbädern, denn bei jenen tritt zu dem Reize, welchen die Wärme auf das Hautorgan übt, zu dem mechanischen Reize der Wassermasse und ihrer Bewegung noch der chemische Reiz hinzu, welcher vorzugsweise von den in den Mineralwässern enthaltenen Gasen und flüchtigen Stoffen ausgeübt wird, wobei aber auch die festen Bestandteile nicht ganz ohne Einfluß sind. Dieser chemische Hautreiz, den die Mineralbäder verursachen, giebt sich dem Badenden durch das Gefühl von leichtem Prickeln, durch Empfinden von Brennen sowie durch Hautrötung kund; er beeinflußt, sich im Nervensysteme fortpflanzend, die Herzthätigkeit und Blutverteilung, die Atmungsarbeit, die Wärmeerzeugung sowie den gesamten Stoffwechsel des Körpers in wesentlicher Weise.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben auch des näheren die Beeinflussung des Organismus durch die mit großem Reichtum an Kohlensäure bevorzugten Säuerlingsbäder, durch die an Kochsalz sehr gehaltreichen Solbäder, durch die eisenhaltigen Stahlbäder, dann durch Schwefelbäder sowie Moorbäder und Gasbäder dargethan und darauf die Heilanzeigen der verschiedenen Bäderarten begründet. Auch die weder an festen noch gasförmigen Bestandteilen irgend hervorragenden, sondern nur durch natürliche Wärme ausgezeichneten Wildbäder haben sich als heilkräftig erwiesen, wenn auch die Art ihrer von gewöhnlichen warmen Wasserbädern gewiß wesentlich verschiedenen Wirkung noch der Aufklärung bedarf.
Außer dem Trinken und Baden kommen aber in den Kurorten noch andere Momente zur Geltung, welche für den Gesundung Suchenden von ganz wesentlicher Bedeutung sind. Das ist vor allem die Aenderung aller jener in der Beschaffenheit der Luft wie in der Bodenbeschaffenheit gelegenen Einflüsse, welche man mit der Bezeichnung Klima zusammenfaßt, die Versetzung in neue, von den gewohnten ganz verschiedene Lebensverhältnisse, die Einhaltung einer bestimmten, dem Einzelfalle entsprechenden Ernährung (Diät) sowie auch bestimmter geregelter Bewegungsformen und die Belebung des Gemütes durch eine neue hoffnungsreiche Behandlungsweise. Einen erfreulichen Einfluß übt auch der Umgang mit Leidensgenossen, welche schon am eigenen Leibe die günstige Wirkung der Quellen erprobt haben und nun zu Herolden des Ruhmes dieser Kurorte geworden sind, die aber auch anderseits ein aufmunterndes Beispiel geben, sich den strengen Kurregeln folgsam zu fügen und liebgewordenen, aber schädlichen Gewohnheiten zu entsagen.
Wenn man diese Hilfsmomente der Kuren an den Quellen erwägt, so wird man es begreiflich finden, daß es nicht gut möglich ist, denselben Heilzweck mit Mineralwässern zu erzielen, welche zu Hause unter den Alltagsverhältnissen des Kranken gebraucht werden; man wird aber auch verstehen, wie schwierig es für den Arzt oft ist, die richtige Auswahl des Kurortes in jedem einzelnen Falle zu treffen. Derselbe muß ja nicht nur auf die Beschaffenheit der Heilquelle Rücksicht nehmen, sondern auch auf alle örtlichen und geselligen Verhältnisse des Kurortes.
Eine Fülle von Erwägungen muß die Bestimmung der Badereise leiten. Der geistig überangestrengte Stubenhocker soll angenehme Zerstreuung und anregende Gesellschaft aufsuchen; der durch gesellige Verpflichtungen übermüdete Staatsmann braucht Waldeinsamkeit und erholende Ruhe; andere Kurorte eignen sich für fettleibige Personen, die in kühler Luft recht viel Bewegung auf Bergen und Höhen unternehmen sollen, und wiederum andere für blutarme schwächliche Damen, die, wärmebedürftig, nur sich schonen sollen und wenig spazieren gehen dürfen. Aber auch die materiellen Verhältnisse müssen bei der Wahl des Kurortes mitsprechen, wenn es heißt, die Ansprüche des Notwendigen mit dem Zustande des Geldbeutels in Einklang zu bringen. Zum Glück herrscht auch auf dem Gebiete der Bäder eine große, stets wachsende Konkurrenz, und es ist bei der riesigen Erleichterung des gesamten Verkehrs jedermann, auch dem minder Bemittelten, möglich, auf einige Wochen sich an einer Heilquelle niederzulassen und Gesundheit aus dem frischen Born zu schöpfen oder den Körper in einem erquickenden Bade zu stärken oder zum mindesten in einer der vielen Sommerfrischen gesunde, reine Luft einzuatmen und das Blut neu zu beleben.
Nur darf niemand von einer Kur Wunder erwarten und denken, mit der durch althergebrachten Glauben geheiligten Zahl von 28 Trinktagen oder 21 Badetagen alle Gebresten des Leibes hinweg bannen und dann, nachdem er den Quellen den Rücken gekehrt hat, sich gleich wieder in den Strudel der ernsten Geschäfte oder aufreibenden Vergnügungen hineinstürzen zu können, um sich nur recht bald für das schadlos zu halten, was er durch mehrwöchiges kurgemäßes Leben versäumt hat. Auch für die Brunnen- und Badekuren gilt des Dichters Wort:
„Wie arm sind die, die nicht Geduld besitzen,
Wie heilten Wunden, als nur nach und nach!“
[185]
Oesterreichische Ostereier.
In den Volksbräuchen der Osterzeit nimmt das Ei eine hervorragende Stelle ein. Vieles deutet darauf hin, daß das Osterei älter ist als das christliche Osterfest. Vermutlich war es der Frühlingsgöttin Ostara geweiht und spielte bei den heidnischen Frühlingsfesten eine hervorragende Rolle.
Noch heute knüpft sich an Eier, die am Gründonnerstag gelegt worden sind, allerlei Aberglaube. Solche Eier gelten in vielen Gegenden als besonders heilsam; sie sollen denjenigen, der sie am Osterfest verzehrt, vor allerlei Krankheiten schützen und auch zu manchem Zauber gut sein. Vergräbt z. B. ein Hirt ihre Schalen auf seinem Weideplatze, so kann er nach dem Volksglauben sicher sein, daß ihm im Laufe des Jahres kein Stück von seiner Herde verloren gehen werde.
Auf diesem Glauben an die besondere Wirkung der Ostereier beruht wohl die Sitte, dieselben an Freunde und gute Bekannte zu verschenken. Man begnügte sich aber nicht damit, die Eier, wie sie aus dem Neste kommen, zu verteilen, sondern versah sie mit besonderem Schmucke, indem man ihre Schale färbte. Auch diese Sitte ist uralt und reicht in heidnische Zeiten zurück. Ursprünglich wurden die Ostereier rot gefärbt, und dieses Rot war wohl für unsere Vorfahren das Symbol der aufgehenden Sonne. Später verwendete man zu diesem Zwecke alle möglichen Farben und versah die Eier mit bunten Mustern, Bildern und Sprüchen. Hier und dort hat sich dieser Brauch noch vollständig erhalten, und in den Dörfern verschiedener Gegenden leben geübte „Eiermaler“, welche zu Ostern kunstreich verzierte Eier liefern. Die Zahl dieser Künstler ist aber in rascher Abnahme begriffen; denn in der Neuzeit beschenkt man sich, namentlich in den Städten, lieber mit Eiern aus Zucker und Chokolade oder mit solchen aus Pappe und Holz, die als Bonbonnieren dienen. Um so mehr verdient eine Sammlung von Ostereiern unsere Beachtung, die sich in dem Museum für österreichische Volkskunde zu Wien befindet. Sie ist einzig in ihrer Art und infolge der bunten Völkerkarte Oesterreichs auch überaus mannigfaltig.
Besonders anziehend erscheinen uns die mährischen Ostereier. In Mähren, namentlich unter der deutschen Bevölkerung bei Iglau, steht das Osterei noch in hohem Ansehen. Dort giebt das Mädchen dem auserwählten Burschen ein Osterei, jung und alt beschenkt sich damit, und an Angehörige, die in der Fremde weilen, wird ein schön bemaltes, mit einem Spruch versehenes Ei als Ostergruß aus der Heimat versendet. Darum giebt es hier in einzelnen Dörfern kunstfertige Leute, von denen mancher über tausend Eier zur Osterzeit verziert und mit Sprüchen versieht. Neuerdings hat Franz Paul Piger über diesen Gegenstand eine interessante Abhandlung in der „Zeitschrift für österreichische Volkskunde“ veröffentlicht. Die Kunst des Schmückens der Ostereier – berichtet er – ist nicht so einfach, als es sich mancher vorstellen mag. Mit der Rinde des Apfelbaumes, die er in Wasser kochen läßt, färbt der Künstler zuerst das Ei gelb. Was gelb bleiben soll, das bedeckt er mit einer feinen Wachsschicht und färbt dann das Ei rot, indem er es mit Zwiebelschalen im Wasser kochen läßt. Ist dies geschehen, so wischt er das Wachs wieder weg und hat nun ein gelbrotes Ei. Jetzt greift er zum Rasiermesser oder Griffel und ritzt in die Eierschale seine Zeichnungen ein, die auf dem gelben oder roten Grunde in reiner Weiße schimmern. So stellt er Menschenfiguren, Tiere und Blumenranken dar. Das wichtigste an dem Osterei sind aber die Sprüche, die von den Bestellern oft besonders aufgegeben werden und mitunter mehrere Strophen lang sind. In diesen Sprüchen, die frei aus dem vorhandenen Schatze deutscher Sprüche gewählt werden, kommt verschiedenes zum Ausdruck: Versicherungen der Liebe und Freundschaft, Glückwünsche und auch Scherze. Es werden nicht nur Hühnereier, sondern auch Gänseeier zu diesem Zweck verwendet, sie sehen ja stattlicher aus und bieten den Vorteil, daß auf ihre Schalen längere Sprüche geritzt werden können.
Nicht allein Männer, sondern auch Mädchen und Frauen versuchen sich in der Kunst der Herstellung von Ostereiern, und unsere nebenstehende Abbildung zeigt uns eine mährische Frau bei der Arbeit des Einritzens.
Mehr als siebzig mährische Muster sind bekannt, die auf vorwiegend gelb-rotem Grunde so geschickt eingeritzte geometrische Figuren, Blätter, Blumen, Ranken, Sterne, Herzen u. dergl. darstellen, daß manches dieser Ostereier ein kleines Kunstwerk genannt werden kann. Besonders schön sind die dunkelblauen Ostereier mit Stiefmütterchen, die in der Gegend bei Lundenburg beliebt sind. Unsere Abbildung „Mährische Ostereier“ zeigt uns ein rotes mit Rasiermesser geritztes Ei (Nr. 1); das daneben befindliche (Nr. 2) ist gelb-rot; darunter sehen wir ein blaues mit einem Griffel geritztes (Nr. 4) und daneben wieder (Nr. 3) ein nur bemaltes Osterei.
[186] Das Schmücken der Ostereier ist auch bei den slavischen Volksstämmen der österreichisch-ungarischen Monarchie gebräuchlich und unsere nebenstehenden Abbildungen zeigen uns einige Proben galizischer Kunstfertigkeit. Bei den Polen pflegen die Frauen hier und dort gewöhnliche Ostereier auszublasen und sie sodann mit farbigem Sammet und allerlei Fäden und Flittern zu bekleben. Nr. 4 unserer Abbildung zeigt ein derart verziertes Ei, während Nr. 2 ein geritztes und gefärbtes darstellt. Die beiden übrigen Muster sind ruthenischen Ursprungs.
In Böhmen herrscht das lichtrote Osterei vor, während die Salzburger Ostereier auf den ersten Blick Gebilden aus Marmor oder jener Masse gleichen, aus der die Parfümeure ihre bunt geäderten Seifenkugeln verfertigen. Erst bei näherer Betrachtung entdeckt man, daß Hühnereier durch äußerst geschickte, sehr zarte bunte Färbung die Aederung erhielten.
Das Bemalen und sonstige Herrichten der Ostereier bildet auf dem Lande, insofern es im Hause für das Haus geschieht, vielfach noch ein Ereignis und wird hier und dort, zumal in Ungarn, auch mit Volksliedern begleitet. Dabei pflegen die Mädchen insbesondere das dem Auserwählten gewidmete Ei sorgsamst zu behandeln, es mit Herzen, sich schnäbelnden Tauben und ineinandergelegten Händen zu schmücken. Der ruthenische Bursche, der aus der Hand eines Mädchens das mitunter auch mit Wollfäden schön verzierte Osterei empfängt, kann ihrer Liebe und Treue versichert sein. Dasselbe ist in Kärnten der Fall. Doch muß dort, und zwar im oberen Rosenthale, das Mädchen ihrem Liebsten unbedingt zwei, im Gailthale, wo die Slovenen wohnen, sogar drei rote mit Inschriften versehene Ostereier schenken, um ihm hinsichtlich der Festigkeit ihrer Zuneigung jeden Zweifel zu benehmen.
Wie wir schon bemerkt haben, verdrängt immer mehr das künstliche Osterei jene kleinen Werke des Hausfleißes, und einmal wird wohl die Zeit kommen, daß Ostereier, wie die geschilderten, nur noch in Museen zu finden sein werden.
Heute aber und noch so manches Jahr werden sie beim Klange der Osterglocken in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit wieder erscheinen, sie werden Liebe und Freundschaft künden, Freude wecken, und manch ein Bursche aus Mähren, der ferne der Heimat in seiner Garnison weilt, wird wohl mit freudiger Beruhigung das ihm zugesandte Osterei betrachten, auf dem etwa das Sprüchlein steht:
In Iglau auf festem Lande,
Da fing unsre Liebe an.
Ewig, ewig soll sie dauern,
Bis ich nicht mehr atmen kann.“
Wie das erste Deutsche Parlament entstand.
Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
Die Wiener Märztage, die erst nach den Erfolgen des deutschen Südwestens – am 7. – begannen, zeigten den Frühlingscharakter der nationalen Bewegung in seiner ganzen frischen Jugendlichkeit.
Es war die deutsche Studentenschaft, von der in Wien der Antrieb zur zielbewußten Volkserhebung ausging. Eine von hinreißender Leidenschaft durchglühte Rede des ungarischen Volksmannes Ludwig Kossuth, die dieser am 5. März in der zu Preßburg versammelten Ständetafel gegen Metternichs System der Völkerbedrückung gehalten hatte, fand gleichzeitig mit den „Mannheimer Forderungen“ in der akademischen Jugend der österreichischen Hauptstadt begeisterten Wiederhall. Dem eisgrauen Großmeister der Reaktion, der die deutsche Jugend von 1813 um ihr Vaterland betrogen hatte, dem grausamen Verfolger der deutschen Burschenschaft war es vom Schicksal bestimmt, durch die geschlossene Schar der Wiener Studenten aus Amt und Würden zu kommen.
Wohl fehlte es dem Gewaltigen nicht an Gegnern in der Wiener Bürgerschaft und Beamtenwelt, ja es gab deren in der nächsten Umgebung des Staatskanzlers, wo Graf Kolowrat, Metternichs Kollege in der „Staatskonferenz“, und die Erzherzogin Sophie, die einflußreiche Mutter des Thronfolgers Franz Joseph, im geheimen auf seinen Sturz sannen. Aber der bürgerliche Freisinn, der sich in der Adresse des Niederösterreichischen Gewerbevereins an den Erzherzog Karl Franz, sowie in der vom Politisch-juridischen Leseverein veranlaßten „Eingabe österreichischer Bürger“ an die niederösterreichischen Stände wandte, war viel zu zahm, um Metternichs „System“ ins Wanken zu bringen; erst die Adresse der „Aula“ an den Kaiser selbst, die, von mehr als 2000 Unterschriften bedeckt, durch die Professoren Endlicher und Hye am 11. in der Hofburg überreicht ward, brachte die Bewegung in Fluß.
Mit Kossuths Forderung einer konstitutionellen Verfassung für alle Länder der Monarchie verknüpfte sie das „Mannheimer“ Verlangen einer Volksvertretung am Bundestag für die deutschen Landesteile. Von den Studenten ging dann auch der Ruf nach Entlassung Metternichs aus. Und als am 13. die Eröffnung der üblichen Frühjahrssitzung der niederösterreichischen Stände, für welche Anton Schmerling eine Adresse entworfen hatte, stattfand, da gab das kühne Auftreten der Studenten das Signal zu jenen stürmischen Scenen, welche von außen her die Stände zu einem energischen Eintreten für ihre Forderungen zwangen.
Die gewaltige Wirkung des Redners der Studenten, Dr. Fischhof, und ihr zähes Festhalten an dem Verlangen sofortiger Hilfe durch die Ständekammer bewirkten allein, daß noch an demselben Tage die Abgeordneten mitsamt dem Landtagsmarschall Grafen Montecuccoli sich zu ihrem Zug in die Hofburg aufrafften.
Als das Militär gegen die Zusammenrottungen vor dem [187] Ständehaus eingriff, als es zwischen den aus den Vorstädten herandrängenden Arbeitermassen und den Truppen bereits zu blutigen Zusammenstößen gekommen war, erhielt die zielbewußte Selbstbeherrschung der Studenten den Volksaufstand, dem gegenüber der Magistrat und die Bürgerwehr sich machtlos erwiesen, in der Bahn friedlichen Protestes.
Und als am Abend der Rektor Jenull als Abgesandter der „Aula“ in der Hofburg erschien, mit der Bitte der Studenten um Bewaffnung zur Aufrechterhaltung der Ordnung, da wurde er mit seinen Begleitern Zeuge eines Siegs, den so schnell, so voll niemand in Europa erwartet hatte: Metternich dankte ab. Das Erzhaus hatte ihn auf Betreiben der Erzherzogin Sophie und des volksbeliebten Erzherzogs Johann fallen lassen, nachdem diese beiden unter dem Eindruck der drohenden Revolution den Widerstand des Erzherzogs Ludwig, der den schwachsinnigen Kaiser in diesen stürmischen Stunden völlig vertrat, zu überwinden vermocht hatten.
„Die Saalthüren thaten sich auf,“ berichtet Scherr, „und die Abordnungen der Bürgerwehr und der Hochschule wurden hineingerufen. Aus dem Kreise der Erzherzöge, Staatsräte u. s. w. trat Fürst Metternich hervor und ließ sich, zu den Bürgerwehroffizieren gewendet, mit ‚ruhigem Anstand‘ also vernehmen: ‚Es ist die Aufgabe meines Lebens gewesen, von meinem Standpunkt aus für das Heil der Monarchie zu sorgen. Glaubt man, daß das Beharren auf jenem Standpunkte dieses Heil gefährde, so kann es für mich kein Opfer sein, meinen Posten zu verlassen. Sie haben erklärt, nur mein Rücktritt vermöge die Ruhe wiederherzustellen. Ich effektuiere denselben also mit Freuden. Ich wünsche Ihnen Glück zur neuen Regierung, wünsche Oesterreich Glück.‘ – ‚Durchlaucht,‘ entgegnete einer der Bürgeroffiziere, ‚wir haben nichts wider Ihre Person, aber alles wider Ihr System, und darum müssen wir wiederholen: nur durch Ihre Abdankung retten Sie den Thron und die Monarchie. Wir danken Ihnen also für Ihren Rücktritt. Vivat Kaiser Ferdinand!‘ Das Vivat hallte wieder im Saal, scholl in das Vorzimmer hinaus und wurde von dort durch die ganze Hofburg weiter gerufen.“
Metternich faßte noch einmal, nicht ohne Würde, seine Abdankung in bündige Worte, dann verlor er sich unter den Anwesenden, glitt unbemerkt aus der Burg und suchte heimlich im Palais Liechtenstein Zuflucht, da sein eigenes am Ballplatz von einer erregten Menge umlagert war, ebenso wie sein Landhaus, das noch in der folgenden Nacht vom Pöbel demoliert wurde. In einem Gepäckwagen der Prager Bahn entfloh er aus Wien, wo er 38 Jahre lang nahezu unumschränkt geherrscht hatte. Gleich Louis Philipp und Guizot fand er in London eine Zufluchtsstätte. Und zwei Tage später war durch Kaiser Ferdinand, den jetzt auf einer Umfahrt durch die Straßen von Wien das Volk umjubelte, auch der Sturz des Metternichschen Systems für ganz Oesterreich besiegelt, die Zusage von Preßfreiheit, Volksbewaffnung und einer konstitutionellen Verfassung für sämtliche Kronländer wurde feierlich verkündet. Das Militär war aus den Straßen gezogen und die Aufrechterhaltung der Ordnung in Wien besorgten die Bürgerwehr und die Studentenlegion.
Groß aber war die Wirkung von Metternichs Fall nicht nur auf Wien, auf Oesterreich – es war ein welterschütterndes Ereignis. Ueberall weckte die Nachricht hellen Jubel und kühnes Hoffen im Volke, an den Fürstenhöfen Erschrecken, Erstaunen, auch Aufatmen, nirgends aber wirkte sie so aufreizend wie in den Straßen Berlins, nirgends so niederschmetternd als im Berliner Königsschloß.
Am längsten hatte es in der preußischen Hauptstadt gedauert, bis der zündende Funke vom Pariser Revolutionsherd zur offenen Flamme ausschlug. Der dumpfen Unzufriedenheit, die sich hier im stillen immer weiteren Kreisen – bis in die Umgebung des Königs – mitgeteilt hatte, fehlte zunächst jedes Organ für gemeinsames Handeln. Erst die Nachrichten von den Vorgängen in Baden, Württemberg, Hessen, Bayern entfachten auch in Berlin einen Adressensturm, der vom 6. März an in täglich stärker anwachsenden Volksversammlungen unter den „Zelten“ im Tiergarten, dann auch vom Rathaus aus in Bewegung gesetzt ward, wo der Magistrat die erste Adresse noch „in Demut ersterbend“ unterschrieb. Friedrich Wilhelm IV nahm diese Petitionen anfangs nicht ernst; er konnte es nicht glauben, daß dem Thron seiner Väter von „seinen lieben Berlinern“ irgendwelche Gefahr drohe. Den Verfassungskonflikt mit den Ständen glaubte er am 5. beim Schluß der Sitzungen des Landtagsausschusses durch die feierliche Zusage periodischer Einberufung des Landtages beseitigt, die Anhänglichkeit „seiner Preußen“ an den Thron durch einen energischen Hinweis auf die drohende Kriegsgefahr und die stolzen Erinnerungen der Befreiungskriege befestigt zu haben. In dieser wiederum sehr „schwungvollen“ Thronrede rief er: „Man muß der Welt zeigen, daß in Preußen der König, das Heer und das Volk dieselben sind von Geschlecht zu Geschlecht!“ Auch die Tumulte, die ihm gleich in den ersten Tagen des März aus Köln und anderen Städten des Rheinlandes, sowie aus Schlesien gemeldet wurden, erschienen ihm noch nicht gefährlich. Die Meldungen des Polizeipräsidenten v. Minutoli, daß sich in Berlin ein bewaffneter Aufstand vorbereite, das Drängen seiner militärischen Ratgeber zu energischem Vorgehen beantwortete er mit halben Maßregeln: er ließ die Wachen verstärken, Volksaufläufe durch Militäraufzüge auseinandertreiben – an den Ernst der Lage glaubte er nicht. Doch gerade diese halben Maßregeln, gegen die sich Prinz Wilhelm, der Bruder des Königs, sehr energisch aussprach, erregten böses Blut in der Bürgerschaft, ohne den Geist der Volkserhebung irgendwie einzuschüchtern. Es entstand eine Stimmung in Berlin, die das völlige Gegenteil von jener Eintracht war, die zur Zeit der Befreiungskriege zwischen König, Heer und Volk in Preußen geherrscht hatte.
Die wirklich ernste Gefahr, gegen die sich Friedrich Wilhelms absolutes Herrscherbewußtsein mit aller Kraft aufrichtete, erblickte dieser in der Aufeinanderfolge der unerhörten Siege, welche die revolutionäre Bewegung der „Mannheimer und Heppenheimer“ mit ihrer Forderung eines Deutschen Parlaments in den deutschen Staaten des Südens und Westens errang. Während dort die Führer des Volks die Ministersessel einnahmen und die „Mannheimer Forderungen“ zu Beschlüssen der Regierungen machten, wußten die Anhänger der Bewegung in der preußischen Rheinprovinz den Oberpräsidenten Eichmann zum Organ derselben zu gewinnen. Hinter den Adressen, die aus Königsberg und Breslau einliefen, sah der König wieder die „Volksaufwühler“ Johann Jacoby und Heinrich Simon am Werke. Und neben die „Mannheimer Forderungen“ war bereits am 5. März, noch bevor Römer, Gagern, Hergenhahn und ihre Gesinnungsgenossen Minister wurden, die „Heidelberger Erklärung“ getreten, in welcher diese Männer nebst vielen anderen – 51 an der Zahl – es als Recht der Nation in Anspruch nahmen, für die baldige Einberufung eines Deutschen Parlaments selber zu sorgen.
[188]Es waren meist Mitglieder der Ständekammern von Preußen, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen und Nassau, welche zu diesem Zwecke in der Neckarstadt zusammenkamen; auch Frankfurt a. M. und Oesterreich waren vertreten – letzteres durch den in Heidelberg weilenden Dr. Wiesner. Die alten Führer der badischen Opposition hatten gleich nach dem Siege der Revolution in Paris ihre zunächst wohnenden Gesinnungsgenossen zusammengerufen. Eine Vertretung der Ständekammern beim Bundestag genügte jetzt nicht mehr der Stimmung der Zeit – ein Parlament, durch freie Wahlen direkt herbeigeführt, wurde zur Losung. Und so war denn noch in der ersten Woche der Bewegung die Erklärung der „Einundfünfzig“ von Heidelberg aus in die deutsche Welt hinausgegangen: „Die Versammlung einer in allen deutschen Landen nach der Volkszahl gewählten Nationalvertretung ist unaufschiebbar, sowohl zur Beseitigung der nächsten inneren und äußeren Gefahren wie zur Entwicklung der Kraft und Blüte deutschen Nationallebens! Um zur schleunigsten und möglichst vollständigen Vertretung der Nation das ihrige beizutragen, haben die Versammelten beschlossen: ihre betreffenden Regierungen aufs dringendste anzugehen, so bald und so vollständig als nur immer möglich ist, das gesamte Deutsche Vaterland und die Throne mit diesem kräftigen Schutzwalle zu umgeben. Zugleich haben sie verabredet, dahin zu wirken, daß baldmöglichst eine vollständigere Versammlung von Männern des Vertrauens aller deutschen Volksstämme zusammentrete, um diese wichtigste Angelegenheit weiter zu beraten und dem Vaterlande wie den Regierungen ihre Mitwirkung anzubieten. Zu dem Ende wurden sieben Mitglieder ersucht, hinsichtlich der Wahl und der Einrichtungen einer angemessenen Nationalvertretung Vorschläge vorzubereiten und die Einladung zu einer Versammlung deutscher Männer schleunigst zu besorgen... Bei besonnenem treuen und mannhaften Zusammenwirken aller Deutschen darf das Vaterland hoffen, auch in der schwierigsten Lage Freiheit, Einheit und Ordnung zu erringen und zu bewahren, und die Zeit einer kaum geahnten Blüte und Macht freudig zu begrüßen.“ Die sieben Mitglieder des Ausschusses waren Itzstein und Welcker für Baden, Willich für Bayern, Binding für Frankfurt a. M., Gagern für Hessen, Stedmann für Preußen und Römer für Württemberg. Der Entwurf eines Programms im besonderen ward Welcker, das Einladungswerk Itzstein übertragen. Frankfurt a. M., die alte Kaiserkrönungsstadt, ward zum Ort der geplanten Versammlung gewählt.
Friedrich Wilhelm IV sah durch dieses kühne Vorgehen, das in seinen Augen die helle Revolution war, sein ganzes Reformwerk in Frage gestellt. Er hatte die Gefahr kommen sehen, gleich nach den Heppenheimer Beschlüssen, und Metternich vergeblich für eine Gegenbewegung von seiten der Fürsten, eine Reform des Bundes durch den Bundestag selbst, zu gewinnen versucht. Jetzt sandte er seinen Vertrauten Radowitz aufs neue nach Wien, damit dieser dort unter den so veränderten Umständen die sofortige Einberufung eines deutschen Fürstenkongresses nach Dresden beantrage, zum Zwecke der Beratung seiner Vorschläge zur Bundesreform mit Rücksicht auf die drohende Kriegsgefahr. Gleichzeitig ließ er am Bundestag, wo in Abwesenheit der beiden österreichischen Gesandten Preußen das Präsidium führte, im Sinn seiner Pläne wirken. Während der Heidelberger Aktionsausschuß seine Einladung an alle deutschen Kammerdeputierten zu einer Versammlung in Frankfurt a. M. für die Vorbereitung eines Deutschen Parlaments ergehen ließ, während in Berlin die Nachrichten einliefen, wie die Forderung einer Nationalvertretung beim Bundestag von einer Regierung nach der andern bewilligt wurde, harrte der König ungeduldig auf das Ergebnis der Radowitz’schen Mission. Am 10. März hatte Metternich der Einberufung des Fürstentags zugestimmt; als Friedrich Wilhelm im Besitz dieser Nachricht war, empfing er endlich, am 14., eine Deputation der Berliner Stadtvertretung. Ihre Wünsche vertröstete er auf die Zukunft. Er versprach, an die „allmähliche Entwicklung des Verfassungslebens zu denken“, er rühmte noch einmal die „Gliederung der Stände“ als die „alte deutsche Ordnung“; was die in ihrer Adresse erwähnte deutsche Einigung betreffe, so liege sie „nicht in seiner Hand“.
[189] Inzwischen war das Unerhörte geschehen: Metternich hatte in Wien der Revolution weichen müssen, der gewaltige Staatskanzler war gestürzt und mit ihm sein ganzes Regierungssystem. Die neuen Zustände in Wien ließen den König alle Hoffnung auf einen Fürstentag aufgeben. Der Fortbestand von Metternichs „System“ war all seiner Pläne Voraussetzung gewesen. Er war in Verzweiflung. Der geplante Kongreß hatte nicht nur den deutschen Fürsten das Recht sichern sollen, die für nötig erkannte Bundesreform selbst auszuführen; er hätte auch für ihn ganz persönlich die Handhabe geboten, mit seinem Volk in der nie zur Ruhe kommenden Verfassungsfrage endlich die Verständigung zu finden.
Noch war ja nicht ein Jahr vergangen, daß er in feierlicher Rede vom Thron herab dem Verlangen nach einer Konstitution sein „Nie und nimmermehr!“ entgegengeschleudert hatte. Jetzt dennoch sie schlechthin bewilligen, nur weil das Volk es verlangte, das hieß für ihn, sein verpfändetes Wort preisgeben, das hätte sein stolzes Herrscherbewußtsein unter ein Joch gezwungen, gegen das es sich mit Macht aufbäumte. Der Fürstenkongreß dagegen hätte seiner Fürstenehre die Deckung geboten. Würde dieser um der Einheit willen die Durchführung des Verfassungswesens in ganz Deutschland gefordert haben, so hätte er dasselbe auch für Preußen gewähren können, ohne seiner königlichen Würde etwas zu vergeben. Der Sturz Metternichs hatte diese Brücke zerstört. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses wirkten die Vorstellungen von gerade jetzt eintreffenden Deputationen aus Breslau und Köln, die den Abfall von Schlesien und dem Rheinland in Aussicht stellten, wenn nicht die Forderungen des Volks Bewilligung fänden, mit niederschmetternder Wucht. Dagegen konnte er die Nachricht, daß die Regierungen mehrerer süddeutschen Staaten ihm gern die Leitung des deutschen Einigungswerks anvertraut sehen wurden, falls Preußen nun auch unter die Verfassungsstaaten träte, wie eine Erlösung begrüßen. Daß die Aktion gerade von denjenigen Höfen ausging, wo jetzt die „Heppenheimer“ am Ruder saßen, verschlug ihm nichts mehr. Er entschloß sich jetzt, offen mit seinen Bundesreformplänen vor sein Volk zu treten und „um der deutschen Einheit willen“ im Sinne der siegreichen Volksbewegung das Zugeständnis einer Verfassung für ganz Preußen zu machen. In einem Patent, das er am 17. März erließ, wurden als Hauptpunkte einer von ihm geplanten Reform die Umwandlung Deutschlands aus einem Staatenbund in einen Bundesstaat, eine allgemeine deutsche Wehrverfassung, ein allgemeines deutsches Heimatrecht, ein deutscher Zollverein bezeichnet. Dem Volke freilich fehlte die Einsicht in des Königs Gründe für die jähe Wandlung. Es hatte ja nie vorher von seinen Reformplänen erfahren. Die endliche Bewilligung der Verfassung in der verklausulierten Form, daß die von ihm angestrebte Neugestaltung des Deutschen Bundes eine konstitutionelle Verfassung in allen deutschen Ländern notwendig mache, war wiederum nur etwas Halbes. Aber im gebildeten Bürgertum war schon über des Königs „deutsche“ Politik die Freude groß. Und als am 18. März gegen Mittag die Patente bekannt wurden, welche auch noch ein freisinniges Preßgesetz, das die Censur abschaffte, und die sofortige Einberufung des Landtags zusagten, als man erfuhr, der König beabsichtige, Männer aus der liberalen Kammeropposition ins Ministerium zu berufen, da strömten die entzückten Bürger in Scharen vors Schloß, um dem König durch stürmische Hochrufe ihren Dank darzubringen.
Nun konnte auch Berlin seine Märzerrungenschaften bejubeln. Wohl war es schon in den Tagen vorher zu blutigen Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Volksmassen und dem gegen sie einschreitenden Militär gekommen, wohl war im stillen in weiten Volkskreisen die Empörung bis zum bestimmten Entschluß, dem Beispiel der Pariser zu folgen, gereift – jetzt schien dies vergessen. Am 17. hatten erregte Volksversammlungen beschlossen, durch eine Massendemonstration vor dem Schloß das Zurückziehen des Militärs aus den Straßen und die Bildung einer Bürgergarde vom Könige zu erwirken. Um Mittag am 18. sollte sie stattfinden. Die geplante Drohdemonstration wurde nun zur Freudenkundgebung, welche wuchs und wuchs. Um 2 Uhr erschien der König auf dem Balkon; er begann zu sprechen, doch er war zu bewegt. Der neben ihm stehende Bürgermeister Naunyn trat vor und rief mit lauter Stimme den Versammelten zu: „Der König will, daß Preßfreiheit herrsche; der König will, daß der Landtag sofort einberufen werde; – der König will, daß eine Konstitution auf freisinnigster Grundlage alle deutschen Länder umfasse; der König will, daß eine deutsche Nationalflagge wehe; – der König will, daß alle Zollschlagbäume in Deutschland fallen; – der König will, daß Preußen sich an die Spitze der Bewegung stelle!“
Die jubelnden Vivatrufe wollten nach dieser feierlichen Verkündigung kein Ende nehmen. Der König winkte dazu mit dem Tuche herab, bis er sich zurückzog. Er hatte sein Ziel, den Frieden mit seinem Volke, erreicht. So meinte er – und von der friedlichen Lösung des langjährigen Konflikts, der in den letzten Tagen auch in Berlin zur Volkserhebung geführt hatte, waren alle Anwesenden überzeugt.
Da führte ein „Mißverständnis“ zu einem entsetzlichen blutigen Nachspiel der Friedensfeier. Der König hatte durch Bodelschwingh vom Balkon herab den Wunsch aussprechen lassen, die Demonstrationen möchten nun aufhören. Da immer neue Volksmassen herandrängten, war dies nicht möglich. Es wurden jetzt Stimmen laut, daß die so froh bejubelten Bewilligungen der Not des Volkes nicht abhülfen. Es drängten sich Elemente aus den Arbeitervierteln ans Schloß, in denen ein tiefer Groll gegen den König bestand. Wahrscheinlich glaubte gar mancher der jetzt erst Anlangenden, es handle sich um die geplante Demonstration für die Bürgerbewaffnung. Der König, erzürnt über den Lärm, gab schließlich Befehl, die in den Schloßhöfen den Nachtdienst versehenden Truppen ausrücken zu lassen, um Ruhe zu stiften. Es waren Dragoner und Grenadiere, die von verschiedenen Seiten auf den [190] Platz hervordrangen. Die Mannschaften thaten dies in ungeschickter brutaler Weise, die dem Grimm entsprach, der sich in ihnen während der letzten acht Tage, wo man sich ihrer gegen die Volkskrawalle bediente, aufgespeichert hatte. Der Angriff wirkte auf die in Jubel schwelgende Menge wie ein Blitzschlag aus heiterm Himmel. Man rief empört: „Zurück!“ „Militär fort!“ „DerKönig soll sich unter den Schutz der Bürger stellen.“ Ein furchtbares Gedränge entsteht. Da plötzlich fallen zwei Schüsse. Der Lärm stockt. Ein jäher Schreck ergreift alle. Dann wilde Flucht. – „Wir sind verraten!“ „Waffen!“ „Rache!“ gellt’s durcheinander. Die Schüsse waren aus den Reihen der Grenadiere gekommen. Später hat sich herausgestellt, daß das eine Gewehr durch das Ungeschick eines Soldaten, das andere durch den Stoß eines Arbeiters auf den Hahn sich entladen hatte. Beide Schüsse waren in die Luft gegangen. Damals wußte das niemand, jeder glaubte an ein Einschreiten der Truppen mit der Schußwaffe, das Gerücht vergrößerte im Nu den Vorfall – die zwei Schüsse waren das Signal zu einem vierzehnstündigen Straßenkampf zwischen Volk und Heer, der in kurzer Zeit eine gewaltige Ausdehnung annahm und noch die ganze Nacht durch dauerte.
Die Erbitterung der Tausende, die sich jetzt am Bau von Barrikaden in allen gegen das Schloß hin mündenden Straßen beteiligten, war so groß, daß kein Vermittelungsversuch mehr Macht hatte über die erzürnten Gemüter. Wie durch Zauberschlag wuchsen die Barrikaden empor, das aufgerissene Steinpflaster, Droschken und Omnibusse, Tonnen, Warenballen, Brunnengehäuse, Verkaufsbuden boten das Baumaterial. Die Waffenhandlungen gaben auf den ersten Ruf alles, was zur Verteidigung dienen konnte, dem Begehren des Volkes preis. Auch Beile, Aexte, Brechstangen dienten als Waffe, die Studenten erschienen mit ihren Rapieren. Während der König, über den Ausbruch dieses Kampfes ganz entsetzt, nur mit Widerwillen die Befehle für die Erstürmung der Barrikaden erteilte, wurde auf diesen mit wilder Begeisterung gekämpft. Die Umgebung des Königs, der bald bitterlich weinte, bald in dumpfe Apathie versank, suchte ihm beizubringen, daß nur eine Rotte fremder Aufwiegler den Kampf veranstaltet habe. Inwieweit und von wem der Straßenkampf thatsächlich vorbereitet war, ist nie sicher festgestellt worden. Es waren aber echte Berliner, Handwerker, Studenten, Arbeiter, auch Bürger gelehrten Berufs, die da zur Waffe gegriffen hatten; die Namen der unglücklichen Opfer des Kampfes wie die der hervorragendsten Führer, des Mechanikers Siegrist, des Drechslers Hesse, des Tierarzts Urban, des Stadtverordneten Behrends, die Beteiligung zahlreicher Bürgerschützen sind dafür bezeichnend. Ein starkes Kontingent stellten die Arbeiter der großen Maschinenbau-Werkstätten am Oranienburgerthor. Wie tapfer sich das Volk schlug, geht aus allen Darstellungen, auch denen von militärischer Seite, hervor. Besonderer Heldenmut ward auf dem Alexanderplatz, in der Breitenstraße beim Köllnischen Rathaus, an der Ecke von Oberwallstraße und Hausvogteiplatz und in der Taubenstraße entfaltet. Als schier uneinnehmbar erwies sich der feste Barrikadenbau, welchen der Maschinenbauer Siegrist am Köllnischen Rathause aus dicken Holzmassen in der Höhe von 8 Fuß aufgeschichtet hatte. Vergeblich stürmten die Gardegrenadiere immer aufs neue das Bollwerk, bis ihnen ein starkes Bombardement mit Granaten genügende Bresche schlug.
Als auf Wunsch des Königs gegen Morgen von den Truppen das Feuer eingestellt wurde, war zu gunsten derselben der Kampf keineswegs entschieden. Die Barrikaden auf den nach dem Schloß mündenden Straßen waren freilich alle gestürmt. Doch hatte General v. Prittwitz, der gegen 13000 Mann und 36 Geschütze befehligte, die eigentlichen Arbeiterquartiere noch nicht in Angriff genommen. Der König aber wollte keinen Kampf mehr. Er hatte in der Nacht ein Manifest niedergeschrieben, in dem er „seine lieben Berliner“ beschwor, das furchtbare „Mißverständnis“ einzusehen und die Barrikaden zu räumen, wogegen er sogleich alle Truppen aus Straßen und Plätzen zurückziehen werde. „Hört die väterliche Stimme Eures Königs, Bewohner meines treuen und schönen Berlins, und vergesset das Geschehene, wie Ich es vergessen will und werde in meinem Herzen, um der großen Zukunft willen, die unter dem Friedenssegen Gottes für Preußen und durch Preußen in Deutschland anbrechen wird! Eure liebreiche Königin und wahrhaft treue Mutter und Freundin, die sehr leidend darnieder liegt, vereint ihre innigen, thränenreichen Bitten mit den Meinigen.“
Was nun folgte, waren lauter weitere Demütigungen des Königs. Er [191] gab trotz der lebhaften Einsprache des Prinzen Wilhelm nach, als eine Deputation von Bürgern in ihn drang, er solle die Truppen aus der Stadt ziehen, sobald mit Räumung der Barrikaden begonnen sei. Er bewilligte die Einrichtung einer Bürgerwehr, zu der sich die Stadtvertretung und die Studentenschaft gleich beim Ausbruch bedrohlicher Unruhen vergeblich erboten hatten, um dem aufreizenden Einschreiten des Militärs Einhalt zu thun. Damals wäre damit die Möglichkeit eines Straßenkampfes beseitigt gewesen, jetzt war es zu spät. Und schon trug man die Opfer des furchtbaren Kampfes heran, indes die Sonntagsglocken zur Buße mahnten und die helle Frühlingssonne auf die blutgeröteten Straßen schien.
Auf blumengeschmückten Bahren hatte man die gefallenen Barrikadenkämpfer gebettet; ein düsterer Trauerzug bildete sich und nahm seinen Weg zum Schlosse. „Die Volksmenge, durch welche die Träger hinschritten, stand lautlos; ehrfurchtsvoll nahm ein jeder den Hut ab, die Lippen bebten, in den Augen zitterten Thränen, nur die festen Schritte der Träger hallten im Schloßhof wieder und von Zeit zu Zeit der Name eines der Gefallenen, von einem der Träger ausgerufen.… Schon hatte sich der innere Hof,“ berichtet weiter ein Augenzeuge, „in welchen die Wendeltreppen zu den königlichen Gemächern führen, mit Bahren und blutigen Leichen gefüllt, als das Volk nach dem König zu rufen begann. Der Fürst Lichnowsky, welcher, nachdem der Kampf vorüber war, mit einigen der Barrikadenhäupter fraternisiert hatte, versuchte es, seine guten Freunde zu bedeuten, daß Se. Majestät sich zurückgezogen hätte und daß man ihr einige Ruhe gönnen möge. Aber der Ruf: ‚Der König soll kommen!‘ erscholl mit verzehnfachter Gewalt, daß die Schloßfenster davon erzitterten. Schon nahmen die Träger die Leichen wieder auf und schickten sich an, dieselben die Wendeltreppen hinauf in die königlichen Gemächer zu tragen, da erschienen oben auf der Galerie die Grafen Arnim und Schwerin, um zu beschwichtigen, vermochten aber nicht gegen die höher und höher schwellende Flut aufzukommen. ‚Der König! Der König soll kommen!‘ gellte und grollte es immer drohender. Da trat auf die offene Galerie heraus der tiefgebeugte Monarch, an seinem Arm die vor Angst und Entsetzen bleiche Königin. ‚Mütze ab!‘ Er entblößte das Haupt. Die Träger nahmen die blutigen Leichen wieder auf, sie hoben die Bahren hoch zu dem König empor unter schrecklichem Zuruf der Männer und dem Wehklagen der Frauen: ‚Gieb uns unsere Brüder! Unsere Väter, unsere Söhne, unsere Männer gieb uns wieder!‘ Der König und die Königin vermochten nur mit Thränen das tiefgefühlte Beileid des gebrochenen Herzens zu bezeigen. Da plötzlich stimmte das Volk den Choral an: ‚Jesus, meine Zuversicht‘ – der König verweilte mit unbedecktem Haupt, bis der feierliche Totengesang geendet, und führte dann die kaum sich noch aufrechthaltende Königin in ihre Gemächer zurück.“
Was in diesen Stunden Friedrich Wilhelm gelitten, er, der bisher mit dem Stolz eines Coriolan den berechtigtsten Volksforderungen gegenüber gestanden, hat sicher jedes Maß des Ertragbaren überstiegen. Er fand seine Aufrichtung in dem Gedanken, daß er auch diese Demütigung als Opfer dem gewaltigen Umschwung aller Verhältnisse in Deutschland habe darbringen müssen, der ihn jetzt nach seiner Ueberzeugung an die Spitze eines neuzugründenden Deutschen Reiches berief. Seine Phantasie berauschte sich, wie Sybel es ausdrückt, „mit glänzenden Bildern von der Wiederherstellung des heiligen römischen Reiches in seiner ganzen Pracht“. Es drängte ihn, die Aufmerksamkeit seiner Berliner, wie Deutschlands, der Welt, von dem Jammer des unseligen Straßenkampfes auf die neue Zeit zu lenken, die jetzt unter seiner Leitung für Deutschland anbrechen sollte. Das neue Ministerium, in das neben den genannten Grafen Arnim und Schwerin noch einer der Führer der Opposition im „Vereinigten Landtag“, A. v. Auerswald, und Heinr. v. Arnim eintraten, unterstützte ihn darin. Am 21. erließ er eine neue Proklamation und erklärte: „Rettung aus unseren Gefahren kann nur aus der innigsten Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker unter Einer Leitung hervorgehen. Ich übernehme heute diese Leitung für die Tage der Gefahr. Mein Volk, das die Gefahr nicht scheut, wird mich nicht verlassen, und Deutschland wird sich mir mit Vertrauen anschließen. Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und mein Volk unter das ehrwürdige Banner des Deutschen Reiches gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf!“
Das wollte er aber auch aussprechen in feierlicher Rede, persönlich, öffentlich! Er that es noch vor der Ausgäbe der gedruckten Proklamation. Durch den neuen Kultusminister Grafen Schwerin ließ er am Morgen des 21. den in die Aula zusammenberufenen Studenten verkünden, der König werde noch am selben Vormittag zu Pferde im Schmuck der „alten, ehrwürdigen Farben deutscher Nation“ in den Straßen Berlins erscheinen, um damit zu bezeugen, daß er sich an die Spitze des Gesamtvaterlandes zur Rettung desselben gestellt habe. Gegen 11 Uhr begann der Umzug. Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet. Vorm Schloß erwartete die Menge den König. In Gardeuniform, ein breites schwarz-rot-goldnes Band um den Arm geschlungen, sprengte er aus dem Schloßhof hervor, in der Hand eine schwarz-rot-goldne Fahne. Mit dem gleichen Abzeichen am Arm geschmückt, folgten ihm Prinzen, Minister, Generale. Ein Bürgerschütze in Civil übernahm die Fahne, um sie voranzutragen. Auch die Bürgerschaft hatte schwarz-rot-golden geflaggt. Der Zug bewegte sich über die Schloßfreiheit, durch die Behrenstraße und über die „Linden“ zurück. Ueberall sah sich der König umjubelt. An der Königswache redete er die Bürgerwehr an, am Universitätsgebäude die Studenten. Er betonte, daß er „nichts usurpieren“ wolle, nur deutsche Einheit und Freiheit wolle er schützen! Als jemand ein Hoch auf den neuen „Kaiser von Deutschland“ ausbrachte, sagte er ablehnend: „Nicht doch, das will, das mag ich nicht!“ Und wieder betonte er seine Ueberzeugung, daß ihm die Herzen der Fürsten entgegenschlagen und der Wille des Volkes ihn unterstützen werde.
Es war eine furchtbare Selbsttäuschung. Hatte ihn die blutige Nacht vom 18. März weitum im deutschen Volk um frisch grünende Sympathien gebracht, so brachte dieser Umritt vom 21. mit seinen Reden ihn um das Vertrauen auch jener Fürsten, die ihn sonst willig als Oberhaupt eines neuen Deutschen Reiches begrüßt hätten.
(Fortsetzung folgt.)
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[193] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [194]
Blätter und Blüten
Die erste deutsche Handelshochschule zu Leipzig. Die kolonialen Bestrebungen eines Volkes, die mit dem Blühen seines Handels Hand in Hand gehen, stellen immer höhere Anforderungen an die Tüchtigkeit seines Kaufmannsstandes. Dem Kaufmann liegt es ob, die Erzeugnisse ferner Zonen dem Vaterlande zugängig zu machen und denen der Heimat neue Absatzgebiete zu eröffnen. Zugleich soll er aber auch als Pionier für Bildung und Gesittung wirken und im Verkehr mit fremden Nationen das Ansehen seines Volkes heben und festigen. Und auch im Heimatlande selbst harren seiner ernste Pflichten. In den maßgebenden Kreisen, den Parlamenten und anderen staatlichen Einrichtungen soll er der Wichtigkeit entsprechend, die der Handel für die Volkswirtschaft bedeutet, größeren Einfluß gewinnen und so an der Gesetzgebung, der Leitung des Staatswesens zum Wohle des Ganzen teilnehmen.
Aber freilich, die Lösung so wichtiger Aufgaben ist nicht leicht. Sie erheischt ein umfassendes Wissen und einen weiteren Blick, als ihn die alleinige Ausbildung durch die Praxis zu geben vermag. Und diese Erkenntnis ist es denn, welche die Handelskammer zu Leipzig veranlaßte, mit Unterstützung des Sächsischen Ministeriums und des Leipziger Stadtrats und im Einvernehmen mit der Universität, in Leipzig eine Handelshochschule – die erste in Deutschland und in ihrer Art die erste auf der ganzen Erde – zu gründen. Auserlesene Lehrkräfte stehen der Anstalt zur Verfügung und gewährleisten die gewissenhafte Erfüllung des Lehrplans, dem eine zweijährige Dauer zu Grunde gelegt ist. Der Lehrplan, in dem der Besuch der einschlägigen Vorlesungen auf der Leipziger Universität inbegriffen ist, umfaßt Rechts- und Volkswirtschaftslehre, Handelsgeschichte, Handelsgeographie, Warenkunde, Technologie und Handelsbetriebslehre, ferner kaufmännisches Rechnen, Buchhaltung, Korrespondenz, Stenographie und endlich fremde Sprachen.
Der Besuch der Handelshochschule wird besonders solchen Kaufleuten von Nutzen sein, die einmal Leiter großer geschäftlicher Unternehmungen werden sollen, dann denjenigen, welche ausersehen sind, die Interessen des Kaufmannsstandes im In- und Auslande zu vertreten (Konsularbeamte, Mitglieder von Handelskammern u. a.), auch Juristen, die in kaufmännischen Verhältnissen bewandert sein müssen, ehemaligen Offizieren, die in kaufmännischen Betrieben, im Versicherungswesen etc. angestellt werden wollen, und ferner allen jenen jungen Leuten aus dem Kaufmannsstande, die sich durch Tüchtigkeit besonders auszeichnen und es bei entsprechender Ausbildung weiter als gewöhnlich in ihrem Berufe bringen können. Endlich wird es auch die Aufgabe der Handelshochschule sein, tüchtige Handelslehrer, an denen ein so großer Mangel herrscht, heranzubilden.
Wir sehen, die neue Hochschule stützt sich auf ein gar umfangreiches Programm, und darum muß sie auch höhere Anforderungen stellen, um das, was sie verspricht, halten zu können. Als Handelsstudenten sollen deshalb nur diejenigen Aufnahme finden, welche das Abiturientenzeugnis eines Gymnasiums, Realgymnasiums, einer Oberrealschule oder höheren Handelsschule beibringen können, seminaristisch gebildete Lehrer, dafern sie die Wahlfähigkeits-(2. Lehramts-)Prüfung bestanden haben, und Kaufleute, welche die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienst erworben, ihre Lehrzeit beendet haben und die erforderliche geistige Reife besitzen.
Zahlreiche Anmeldungen sind bereits auf der Handelshochschulkanzlei eingelaufen, und schon zu Ostern dieses Jahres wird die Handelshochschule ihre Pforten öffnen. Möchten alle, die da aus- und eingehen werden, das hohe Ziel, das sie sich gesteckt haben, erreichen, und möchte die Anstalt nicht nur zum Wohle des deutschen Handelsstandes, sondern des gesamten deutschen Vaterlandes blühen und gedeihen!
A. v. Liezen-Mayer †. (Mit Bildnis.) Immer mehr lichtet sich der Kreis jener Maler, die in ihrer Jugend als Schüler Pilotys in München zu Meistern wurden, um später selber den Ruhm Münchens als Pflegestätte der Kunst durch ihre Thätigkeit als Maler und Lehrer mächtig zu fördern. Auch Alexander v. Liezen-Mayer, der am 19. Februar in München nach schwerem Leiden starb, gehörte zu diesem Kreise. Er war am 24. Januar 1839 zu Raab in Ungarn geboren, erhielt die erste Ausbildung seines Talents in Wien, wo Anschütz sein Lehrer war, und kam 1862 nach München, um Pilotys Schüler zu werden. Er widmete sich, gleich diesem, der Historienmalerei. Für sein erstes großes Bild hatte er den Gegenstand aus der Geschichte Ungarns genommen: „Königin Maria von Ungarn mit ihrer Mutter Elisabeth am Grabe Ludwigs des Großen“; das nächste feierte jene ungarische Königstochter, die als Gattin des Landgrafen Ludwig von Thüringen so viel Thaten der Mildherzigkeit und Nächstenliebe verrichtete, daß später ihre Heiligsprechung erfolgte. Noch größeren Erfolg hatte „Maria Theresia im Garten zu Schönbrunn“, das die Kaiserin darstellt, wie sie das Kind einer kranken Bettlerin an die Brust nimmt und stillt. Die Volkstümlichkeit seines Namens errang sich Liezen-Mayer aber als Illustrator der bedeutendsten Lieblingsdichter unserer Nation, vor allem durch den prächtigen Bildercyklus zu Goethes „Faust“, die Illustrationen zu Schillers „Lied von der Glocke“, zu den Romanen von Gustav Freytag und Scheffels „Ekkehard“. Gleichzeitig gewann sich der Künstler einen bedeutenden Ruf als Porträtmaler sowie als Lehrer seiner Kunst. Als solcher stand er in München an der Spitze einer eigenen Kunstschule, bis er 1880 einer Berufung zum Direktor der neuorganisierten Kunstakademie in Stuttgart folgte. Als sich ihm drei Jahre später eine Professur an der Münchener Akademie bot, ergriff er diese Gelegenheit, nach dem geliebten München zurückzukehren, um fortan dort zu bleiben. Von seinen späteren Bildern brachte ihm „Die Erhebung des Matthias Corvinus zum König“ besonderen Ruhm: sein letztes größeres Werk war die dekorative Prachtleistung eines Vorhanges für das Theater von Hannover. Der liebenswürdige Charakter des Künstlers hatte ihm auch persönlich viele Freunde gewonnen.
Erdbrände. Vor kurzem brachten die Tagesblätter die Nachricht, daß im Kohlengebiet der Saar zwischen Dudweiler und Neuweiler der „brennende Berg“ sich einen neuen Ausgang geschaffen habe. Die Ausbruchstelle, die dicht unter einem Baume sich befindet, stößt eine starke Rauchsäule aus, während an einer alten Ausbruchstelle eine starke Buche stürzte, deren Wurzeln verbrannt waren. Dieser brennende Berg ist ein Hügel, in dessen Inneren sich ein Steinkohlenflöz befindet, welches um das Jahr 1660 durch Unvorsichtigkeit eines Hirten an einer Stelle in Brand geriet. Alle Versuche, den Brand mit Wasser zu löschen, blieben vergebens, und so dauert derselbe noch unter der Erdoberfläche seit 230 Jahren ununterbrochen fort. Der Ort bei Dudweiler ist aber nicht die einzige Stelle, wo Erdbrände eingetreten sind.
Zu Riccamari bei St. Etienne in Frankreich befindet sich eine Steinkohlenmine, von der schon vor einem halben Jahrtausend berichtet wird, daß sie brenne; 1765 war der Brand noch lebhaft, aus neuester Zeit liegen darüber keine Nachrichten vor. In einer Kohlenschicht am Flusse Tyne in England brach im vorigen Jahrhundert durch Nachlässigkeit der Arbeiter Feuer aus und dieses brannte ununterbrochen 30 Jahre lang; etwas Aehnliches ereignete sich 1746 bei Wettin in Sachsen.
Ein Brand im Zwickauer Steinkohlengebirge soll dadurch entstanden sein, daß 1641 der General Borry absichtlich in den Gruben Feuer anlegen ließ. Indessen läßt sich nachweisen, daß damals das Flöz schon seit Jahrhunderten brannte. In Herzogs „Chronik der Kreisstadt Zwickau“ heißt es: Die Steinkohlenlager ziehen sich dreiviertel Stunden südlich von der Stadt unter der Mulde hinweg bis nach Oberplanitz und sinken jenseit wie diesseit der Mulde bis zu einer Tiefe von 1000 Metern hinab. Das Auffinden der Kohlenflöze setzt die Sage bis in die Sorbenzeit zurück, im 16. Jahrhundert waren sie schon so bekannt, daß die Professoren der Universität zu Coimbra in Portugal ihrer in Schriften gedenken. Zwischen Nieder-Kainsdorf und Planitz brennt unterirdisch ein Kohlenflöz seit undenklichen Zeiten, indem dort abwechselnd an mehreren Stellen, die sich brennend heiß anfühlen, bald schwächer bald stärker Dampf aus der Erde kommt, bisweilen mit Geräusch. Selbst im härtesten Winter bleibt auf dieser Strecke kein Schnee liegen. Nach der Meißener Chronik des Albinus soll die Entzündung 1479 stattgefunden haben. Der berühmte Agricola, welcher von 1518 bis 1522 Rektor in Zwickau war, gedenkt des Brandes und bemerkt: Niemand wisse, wann und wie derselbe entstanden sei. Die Entzündung muß also lange vor 1479 stattgefunden haben, weil sonst nach 40 Jahren doch wohl die Entstehung derselben bekannt gewesen wäre. In den Jahren 1668 bis 1675 wütete das Feuer so heftig, daß die gesamte Steinkohlenförderung auf den Planitzer Revieren aufhörte. Man versuchte durch Wasser den Brand zu löschen, ebenso durch Verdämmung, aber alles war vergeblich. So zog sich dieser Erdbrand durch das ganze 18. Jahrhundert hin, und als auch 1812 erneute Löschungsversuche mißlangen, wurden alle Planitzer Schächte zugeschüttet, worauf nach 10 Jahren keine Spur des Brandes mehr bemerkbar war. Kaum aber waren die Schächte wieder geöffnet worden, als der Brand von neuem heftig ausbrach, worauf man das Flöz wieder sich selbst überließ.
Ein industrieller Mann verfiel auf die Idee, von der unterirdischen Wärme Nutzen zu ziehen, indem er bei Ober-Planitz eine Treibhausgärtnerei anlegte. In großen, über dem warmen Boden erbauten Räumen wurden Palmen, Orchideen und Ananas kultiviert und diese tropischen Pflanzen gediehen daselbst vortrefflich. Leider hatte aber die Herrlichkeit keinen langen Bestand. Der unterirdische Kohlenbrand blieb nicht dauernd an der nämlichen Stelle, sondern schritt weiter und mit ihm die Erwärmung des Bodens. Diesen Wanderzügen konnten die Treibhäuser nicht folgen, und so sah sich der Besitzer genötigt, die warme Luft durch Röhren seinen erkalteten Gebäuden zuzuführen. Auch das dauerte nicht lange und schließlich ging die Gärtnerei ganz ein.
Nachdem seit anderthalb Jahrzehnten keine Spur des Brandes mehr bemerkt worden war, wurde 1880 bis 1881 ein Schacht angelegt und ein regelrechter Betrieb der Kohlenförderung eingerichtet. An anderer Stelle brennt das Kohlenflöz unterirdisch noch fort. Daß man es bei diesen Erdbränden nicht mit einer Art von vulkanischen Erschütterungen zu thun hat, ist nach dem Vorhergehenden klar.K.
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Dämmerstunde. (Zu obenstehendem Bilde). Vom Morgen zum Mittag und vom Mittag zum Abend hat die fleißige Bregenzerwälderin ihre Hände unermüdlich am Stickrahmen gerührt; es gilt, einen großen reichgemusterten Vorhang fertig zu machen, und sie ist die geschickteste Stickerin unter den vielen zu Hause arbeitenden Frauen und Mädchen im Dorfe. Nun aber darf sie ein Weilchen rasten, bis der Tag vollends sinkt und die Arbeit bei der Lampe weiter geht. Die Hände in dem Schoß gefaltet, den Kopf ans Fenster gelegt, so genießt sie unbewußt den stillen Frieden ihres warmen Stübchens und spinnt sich in Gedanken einen Faden aus der gedrückten arbeitsreichen Gegenwart in bescheidene Hoffnungen und Zukunftsbilder hinein. Man sieht es ihrem Sehnsuchtsblick an: es dürfte einer da sein, der fern ist, und wenn er da und ihr eigen wäre, dann wollte sie freudig weiter schaffen, unermüdlich den ganzen langen Tag, und sich gewiß über nichts mehr beschweren. Nein, ganz gewiß nicht – aber da sein müßte er halt! …
Magnetisch gewordene Uhren und ihre Heilung. Die Anzahl der Uhren, die den Dienst versagen, weil einzelne ihrer Teile magnetisch geworden sind, ist nicht gering. Da wird es denn ein Trost für alle Besitzer solcher erkrankten Uhren sein, daß man auch diesem Schaden jetzt mit verhältnismäßig leichter Mühe vermittelst einer Entmagnetisierungsmaschine abzuhelfen versteht. Der nach Angaben des Redakteurs der „Deutschen Uhrmacher-Zeitung“, W. Schultz in Berlin, gebaute Apparat, der sich im Besitze des deutschen Uhrmacherbundes befindet, beruht auf folgendem Prinzip: ein magnetischer Gegenstand verliert seinen Magnetismus, wenn man ihn in den Mittelpunkt der von einem stärkeren Magneten ausstrahlenden Kraftlinien bringt, ihn hier in rasche Drehung versetzt und zugleich den auf ihn einwirkenden Magnetismus langsam abschwächt und zuletzt auf Null reduziert. Zur Ausführung dieser Idee dient in unserem Falle eine kleine, einer Uhrmacherdrehbank ähnliche Maschine, auf welcher die Taschenuhr im genauen Mittelpunkt der Drehungsachse eingespannt und in sehr schnelle Rotation gesetzt wird. Es ist dabei große Vorsicht und die Stützung der feinsten Mechanismen, wie z. B. der „Unruhe“, durch untergelegte Papierblättchen u. dergl., nötig, um die Taschenuhr bei der schnellen Rotation von 600 bis 700 Touren in der Minute vor anderweitigen Verletzungen zu bewahren. Der rotierenden Uhr gegenüber und in ihrer nächsten Nähe stehen die Pole eines von zwölf galvanischen Elementen erregten Elektromagneten. Eine mechanische Übertragung zwischen der Rotationsachse und dem Elektromagneten bewirkt, daß sich der letztere bald nach dem Beginn der Rotation ganz allmählich von der Uhr entfernt, bis nach einigen Minuten seine Kraft aufhört, auf sie zu wirken; jetzt hat auch die Uhr selbst ihren Magnetismus verloren und ihren normalen Gang wiedergewonnen.
Die ersten, freilich erst nach langen, mühseligen Versuchen gelungenen Resultate dieser Methode bewirkten einen starken Zulauf aller Uhrmacher, denen magnetisch gewordene Taschenuhren zur Behandlung übergeben waren, zur Entmagnetisierungsstelle des deutschen Uhrmacherbundes in Berlin (Jägerstraße). Vier Monate nach der etwa zu Beginn des vorigen Jahres erfolgten Aufstellung der Maschine waren dem Bureau 86 Uhren zur Heilung übergeben worden, und insgesamt mag sich die Zahl der bis jetzt an dieser Stelle und zwar völlig unentgeltlich behandelten Uhren auf 200 Stück belaufen. Jetzt hat man den Apparat, da sein Betrieb in den Thätigkeitsrahmen des Uhrmacherbundes nur wenig hineinpaßt, anderen bewährten Händen übergeben müssen. Bw.
Kindersymphonie. (Zu dem Bilde S. 192 und 193.) Alte fröhliche, ewig junge Symphonie des guten Vater Haydn! Ueber hundert Jahre sind es, daß ihm das Getöse eines Jahrmarkts mit seinem tollen Kinderlärm von Trompeten, Knarren und Rasseln den Gedanken der lustigen Komposition eingab. Er trug ein ganzes Septett der kostbaren Instrumente in den Rocktaschen heim, schrieb ein paar reizende Allegro- und Andantesätze für Cello und Violinen und verwebte alles hinein, was ihm auf dem Jahrmarkt in die Ohren gequiekt, geflötet und geklappert hatte. Sein kleines sonst so virtuoses Esterhazysches Orchester, das er ernsthaft zu „einer eiligen Probe“ hatte berufen lassen, konnte diese Komposition kaum spielen und warf wiederholt vor Lachen um; aber als die „Kindersymphonie“ in die Welt hinausging, erregte sie allgemeines Entzücken, und heute, nach einem ganzen Jahrhundert, ist sie ein Liebling der musikalischen Jugend. Wer von uns hätte sie nicht einmal gehört oder gar in glücklichen Jugendzeiten selbst dabei mitgewirkt, wie alle die hübschen Blond- und Braunköpfe hier, die uns der Künstler im festlich erleuchteten Gesellschaftsraume vor einer lauschenden Versammlung zeigt? Sie wenden die Blicke voll ängstlicher Achtsamkeit nach ihrem jugendlichen Kapellmeister, denn Triangel, Schellenbaum, Knarre, Wachtelschlag und Kuckucksruf sind doch sehr wichtige Bestandteile des Ganzen und dürfen beileibe nicht an unrechter Stelle ertönen! Die größeren Spieler handhaben ihre Geigen und Bratschen bereits mit Sicherheit, sie wissen, daß auf ihnen das Gelingen der Symphonie ruht, und haben soeben die schwerste Stelle glücklich überwunden. Zahllose Male hat der junge Dirigent, der talentvolle Sohn des Hauses, in den Proben an dieser Stelle abklopfen müssen; nun atmet er erleichtert auf und mit ihm sein Lehrer, der rechts dort an dem Pfeiler lehnt. Besteht das Publikum
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auch durchgehends aus festlich und nachsichtig gestimmten Verwandten und Freunden, so wäre ein Umwerfen doch für den beiderseitigen Künstlerstolz recht fatal gewesen! .. Nun, davon kann keine Rede mehr sein; die muntere Schar der kleinen und großen Musiker hat ihre Sache wirklich gut gemacht; in rauschenden Klängen naht sich die Symphonie ihrem Ende und zum Schluß trillert, flötet, klingelt, schmettert und geigt alles im vollen Chor zusammen, bis der mächtige Schlußaccord erklingt und mit ihm zugleich ein allgemein ausbrechendes donnerndes Bravo die jugendlichen Künstler belohnt. Bn.
Der Seealpsee im Säntisgebirge. (Mit Abbildung.) Inmitten der Riesen des Alpsteingebirges, das der Sprachgebrauch nach seiner höchstm Erhebung, dem Säntis, benennt, ist der kleine grüne Seealpsee gelegen, der von den Abflüssen des ewigen Schnees am Säntis gespeist wird. Ihm selbst entströmt die muntere krystallklare Sitter, die von hier, an Appenzell und St. Gallen vorbei, dem Bodensee zufließt. in dessen Nähe sie sich mit der Thur vereinigt. Von welcher Seite der aus Appenzell kommende Tourist den Säntis besteigt, ob über das Wildkirchli und die Ebenalp zur Rechten, oder über die Meglisalp zur Linken des Sees, immer wieder wird sein Blick aufs neue durch die Biegungen des Wegs zum Hinunterschauen auf den blauleuchtenden Wasserspiegel gemahnt, der tief unterhalb der steilen Felswände ruht. Nur wenige Fischerhütten liegen auf seinen waldumkränzten Ufern verstreut. Die Ruhe des abgrundtiefen Gewässers, seine einsame entlegene Lage inmitten der gewaltigen Hochlandsnatur geben einer Fahrt über seine Flut einen poetisch ergreifenden Zauber. Dieser Poesie konnte sich auch der Dichter des „Ekkehard“, Joseph Viktor Scheffel, nicht entziehen, als er sich im Jahre 1854 droben beim Aescherwirt auf der schwindelnden Höhe des Wildkirchli einnistete, um die letzten Kapitel seines Romans, die in dieser Gegend spielen sollten, zu schreiben. Den vielen Lesern der ergreifenden Erzählung, die das frühere Leben im Kloster St. Gallen und die schöne Alpennatur des Appenzeller Landes so farbenfrisch schildert, wird die Scene erinnerlich sein, in welcher der von Liebesqual gepeinigte Ekkehard zu nächtlicher Stunde vom Wildkirchli zum Gestade des Sees hinabeilt. Als könne dessen reine Flut ihm die Erinnerung an Frau Hadwig aus Herz und Hirn spülen, taucht er in das Wasser des Bergsees – „wohlthätig kühlend drang ihm dessen Frische durch Mark und Bein“. Die dort geschilderte Scenerie zeigt unser Bild: die spitzaufgipfelnde Bergwand in der Mitte ist die Roßmad, links und rechts davon sieht man im Hintergrund Altmann und Säntis. Jetzt führt ein gepflegter Pfad vom Wildkirchli hinunter zum See, und von dem beliebten Molken- und Luftkurort Weißbad, an welchem die Sitter so lustig vorbeischäumt, ist der zweistündige Weg zum forellenreichen See ein bequemer Spaziergang, an dessen mannigfachen Reizen sich die Sommergäste dankbar erfreuen.
Zu unserer Kunstbeilage und den Bildern S. 169 und 172. Unruhige Märztage sind es. Der Sturm braust und dunkle Wolken jagen am Himmelszelt; Schnee und Regen wechseln ab und bald strahlt die Sonne auf eine blendend weiße Winterlandschaft, bald spiegeln sich ihre Strahlen in Millionen von Wasserperlen der triefenden Wälder und verregneten Auen. Das ist die unbeständige wechselvolle Zeit, in welcher der Frühling auf den Schwingen des Westwindes herbeieilt und in hartem Kampfe den grimmen Winter verdrängt. Allmählich siegt er. Wer an solchen Tagen, wenn in dem stürmischen Ringen der Elemente eine Pause eingetreten ist, hinauswandert in die freie Natur, in den stillen schwarzen Wald, den umfängt der Zauber des ersten Frühlingserwachens.
Im Westen ist die Sonne gesunken und die Wolkenschichten über dem dunklen Hochwald glühen in den Purpurtönen der Abenddämmerung; in dem Jungwald sind die weißen Birkenstämme mit rosigem Hauch übergossen, tiefer im Dorngebüsch glänzen die schwellenden Knospen und von der hohen Krone der finstern Fichte schallen die letzten Strophen des Abendliedes, das eine Drossel zum Himmel emporsendet. Dann wird es still im Walde. Doch horch! „Flapp, flapp!“ rauscht es in den Lüften und „Bist, bist! Psit, psit“ schallt es von der Höhe nieder. Da schweben wie Schatten an dem matt erleuchteten Himmel zwei balzende Waldschnepfen, die auf einander „stechen“, während tief im Gebüsch das versteckte Weibchen mit zwitschernden und pfeifenden Tönen die beiden Gegner zu weiterem Liebesstreite anspornt. Heute richtet sich kein Jagdgewehr gegen die eifernden Nachtvögel; kein Hund verscheucht den langsam durch das Gebüsch streichenden Rehbock. Ungestört dauert das Liebeswerben zwischen Bäumen und Zweigen, bis der Ruf des Käuzchens den ersten Tag des Vorfrühlings beschließt.
Am andern Morgen ist der warme Lenzeshauch, der die Natur belebt hat, vielleicht wieder dem eisigen Nordwind gewichen, aber immer kürzer und immer schwächer werden die Vorstöße des Winters. Lauer und wärmer werden die Lüfte, heiterer und sonniger lacht der Himmel nieder, und in der Erde regen sich tausend Keime; frisches Grün sprießt empor, die ersten Blumen schmücken die Flur und Baum und Busch prangt in schneeigem oder rosigem Blütengewande. Wenn über eine solche Frühlingslandschaft von Kapellen und Kirchtürmen der Klang der Osterglocken dahinschwebt, dann gehen den Menschen die Herzen auf, dann feiern sie doppelt fröhlich das große Fest der Auferstehung.
Lenzeswehen und Osterstimmung werden trefflich durch unsere Bilder „Vorfrühling“ und „Osterläuten“ wiedergegeben. Ob auch zu ihnen das farbige Bild „In Erwartung“ paßt? Wir glauben es wohl. Ostern ist ja auch eine Reisezeit. Der Strom der Reisenden wendet sich aber in diesen Festtagen nicht dem Gebirge oder dem Seegestade zu. Ostern ist die Zeit, in welcher man Verwandte und Freunde aufsucht. Wie viele, die durch den Lebensberuf von ihrer Heimat getrennt worden sind, benutzen nicht die Feiertage, um ihre Lieben wieder aufzusuchen? Fragt nur die Eisenbahnbeamten, und sie werden euch sagen, wie gewaltig die Schar der Urlauber vom Heere und von der Bureaustube ist, die gerade zu Ostern das Dampfroß in Anspruch nimmt. An diesem Festtage drückt so manche Mutter ihren Sohn wieder an ihr Herz, und wer weiß es, ob das schmucke Bauernmädchen auf unserm Bilde nicht gerade am Ostermorgen auf die Straße blickt „in Erwartung“, daß ihr Schatz just an der Ecke auftauchen muß? So wird es gewiß kommen und dann wird sie ihm entgegeneilen und unter blühendem Baum werden sie sich in die Arme fallen, vergessen wird der Winter der langen Trennung sein und Frühling in ihren Herzen blühen!
Im Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart ist soeben erschienen:
Der Ertrag ist für das in München zu gründende Mädchengymnasium bestimmt.
Vielfach ist der Wunsch ausgesprochen worden, von „Martha’s Briefen an Maria“, die zuerst im Jahrgang 1897 der „Gartenlaube“ veröffentlicht wurden, auch eine Buchausgabe zu veranstalten. Indem wir diesem Wunsche entsprechen, gereicht es uns zur besonderen Befriedigung, einem hochinteressanten Beitrage Paul Heyses zur Lösung der Frage von der Frauenbildung, der in die anmutige Form der Novelle gekleidet ist, nun auch noch weitere Verbreitung als Buch schaffen zu können.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[196 a]
Abgetragene schwarze und bunte Strümpfe, die in ihren Längen fast stets noch recht brauchbar sind, lassen sich zu mancherlei Gegenständen gut verwerten, zum Beispiel zu Wandteppichen hinter das Bett, Fußläufern, Wäsche- und Schuhbeuteln, Fußsäcken etc. Man schneidet hierfür die besten Stücke heraus und näht sie mosaikartig auf der Rückseite mit überwendlichen Stichen zusammen. Die Umrandung des Ganzen geschieht durch eine Bandeinfassung, der noch eine Häkelspitze angefügt werden kann. Auf der Vorderseite verdeckt man die Nähte durch Gräten- oder Kreuzstich und bringt zur weiteren Verzierung wohl auch noch einige leichte Kreuzstichmuster mit bunter Seide an. Eine hübsche Abwechslung erreicht man, wenn man die einzelnen Stücke so arrangiert, daß die Wirkreihen teils senkrecht, teils wagerecht verlaufen. Wo nötig, muß die Arbeit mit Grauleinen oder einem sonstigen haltbaren Stoff hinterfüttert werden.
Zu warmhaltenden Bettfußsäcken heftet man mehrere Strumpfteile erst übereinander und näht sie hiernach taschenartig zusammen. Hat man nur wenige abgetragene Strümpfe zur Verfügung, so vermag man sie zur Anfertigung von Staubtüchern, Waschflecken für gestrichene Holzgegenstände, Topflappen etc. zu verwerten.
Auch kann man die Strümpfe auftrennen und aus den gekräuselten Fäden ganz reizende Pompons und Quästchen herstellen.
Für erstere schneidet man aus Pappe zwei runde Scheiben mit einem größeren Loch in der Mitte, umwickelt sie durch das Loch hindurch ringsherum dicht aneinander mit den Wollfäden, schneidet die so entstehenden Schlingen mit einer Schere zwischen den Pappen auf, wie es die nebenstehende Abbildung zeigt, knüpft die Fäden, ebenfalls zwischen den Pappen, in der Mitte fest zusammen, zieht die Pappscheiben über die Fäden heraus und stutzt das Ganze nun zu einem runden Bällchen zu.
Aehnlich fertigt man die Quästchen an. Das Verfahren ist aus unserer Abbildung rechts zu ersehen. Man umwickelt hier eine steife Pappe 15- bis 20mal mit den Wollfäden, bindet sie bei 2 zusammen, schneidet die Schlingen bei 3 auf und knüpft bei 1 beziehentlich 4 noch ein Köpfchen ab.
Die aufgetrennten Wollfäden eignen sich ihres krausen Aussehens wegen auch sehr gut zur Anfertigung von Wollblumen, deren Formen man aus Draht zurechtbiegt und sodann ganz wie bei Filigranblumen mit den Fäden in hin und her gehenden Reihen überspannt. Allerdings muß man für solche Blumen genügende Farbenauswahl haben. Was sonst nicht verwendbar ist von abgetragenen Wollstrümpfen, sammelt man mit anderen Wollsachen und läßt sich bei genügendem Vorrat in einer Weberei neue Stoffe daraus herstellen.
Plastische Schmetterlinge sind eine neue reizende Verzierung für Briefbogen, Tischkarten, Glückwunschkarten, Photographien u. v. a. Man zeichnet sich die Form irgend eines schön gefärbten Falters – aus Naturgeschichtsbüchern etc. – in ausgebreiteter Gestalt auf ein dünnes, festes Kartonpapier, schneidet dieselbe dann aus und bemalt nun sowohl die Ober- als Unterseite recht naturgetreu mit Wasserfarben, mischt auch wohl für gewisse Stellen etwas Diamantpuder oder Bronze in die Farbe. Nun ritzt man auf der Unterseite zu beiden Seiten des Körpers die Flügel ein wenig ein, so daß sich diese leicht nach oben umbiegen lassen, und klebt den Schmetterling mit der Unterseite des Körpers auf die Glückwunschkarte etc., läßt aber die Flügel nach oben stehen. Es sieht dann aus, als ob der Schmetterling eben herzugeflogen wäre. Ein paar davorgemalte Blumen machen die niedliche Sache noch natürlicher.
Löschpapierdrücker aus rotem Saffian- oder rotgefärbtem Schafleder. Durch Brandarbeit und Vergoldung ist auf dem roten Grund eine ganz aparte Wirkung zu erreichen. Nachdem man die Zeichnung auf das fest gespannte und angefeuchtete Stück Leder vermittelst des Pausstiftes übertragen hat, brennt man die Konturen kräftig nach; mit spitzem Pinsel füllt man dann die dunklen Linien mit Goldbronze aus, doch so, daß rechts und links noch ein schmales dunkles Rändchen sichtbar bleibt. Die Formen werden teils enger, teils weiter mit solchen vergoldeten Linien in verschiedener Richtung schraffiert, die dunkelsten kleinen Flächen mit rotbrauner Farbe oder Beize ganz gedeckt. Der Lederfleck wird dann ausgeschnitten und genau auf die kleine Holzplatte festgeleimt, deren Rand man vorher dunkel gebeizt hat. Nußbeize und Karmin (Wasserfarbe) giebt einen guten Ton. Auch auf größeren Flächen läßt sich die hübsche Technik gut verwenden; die orientalischen Muster eignen sich am besten dafür. J.
Eierserviettchen. Das Osterfest mit seinen Eierscherzen und Eieressen bringt eine hübsche Mode: die Eierserviettchen. Man macht sie aus altdeutschem Leinen in der Form eines großen Eies, umrandet sie mit einem schmalen Spitzenbändchen oder mit Languettenzacken und stickt innen mit einfachen Stielstichen ein passendes Muster ein, dem füglich auch ein kurzer Osterspruch beigefügt werden kann.
Die Serviettchen werden als Tafelzierde benutzt oder zum Servieren.
Osterei als Tischkartenhalter. Man öffnet ein rohes oder weichgekochtes Ei nicht allzu viel, aber gleichmäßig rund an seiner unteren, breiten Spitze, gießt den Inhalt heraus, spült mit heißem Wasser nach, trocknet die Schale vorsichtig in einem Ofen, schwenkt sie dann mit Oel aus und füllt schließlich dicken Gipsbrei ein, den man erhärten läßt.
Andern Tags blättert man die Schale ab und hat nun ein festes Gipsei; durch Reiben auf Sandpapier wird die breite Spitze eben gemacht, so daß das Ei auf derselben stehen kann. Nunmehr lackiert man das Aeußere und stäubt kurz vor dem Trocknen Gold- oder Silberbronze auf oder bringt mit Pinsel und Farbe oder mittelst Abziehbildchen eine kleine Malerei darauf an oder schreibt das Menü in zierlichen Buchstaben darauf.
Letzteres kann man auch, auf eine passende Karte geschrieben, in die obere Spitze des Eies einklemmen, nachdem man mit einer Laubsäge eine etwa 2 cm tiefe Furche eingeschnitten hat. Als Tafelschmuck nehmen sich dergleichen Ostereier sehr niedlich und amüsant aus.
Scherzrätsel.
Mein Rätselwort einst muß ich ganz durchdringen
Gebrauche du’s, um es herauszubringen. E. S.
Rätsel.
Gering nur ist es an Gewicht;
Wenn ihm der fünfte Teil gebricht,
So drückt’s jedoch mit Bergeslast
Manch starken Mann zu Boden fast.
Oscar Leede.
Zauberquadrat zur Jahreszahl 1898.
In ein Quadrat von 13 mal 13 gleich 169 Feldern sind alle Zahlen von 62 bis 230 so einzutragen, daß die Summe der Zahlen in jeder wagerechten und senkrechten Reihe und auch in den beiden Eckenlinien 1898 betragt; diese Summe sollen auch die Zahlen von je zwei schrägen Reihen ergeben, die zusammen 13 Felder haben und auf entgegengesetzten Seiten einer Eckenlinie liegen. Aus je 13 zusammen gehörigen Zahlen muß man also die Jahreszahl 1898 im ganzen 52mal als Summe erhalten. Dabei sind folgende Bedingungen zu erfüllen:
1) in den wagerechten Reihen werden die Zahlen von links nach rechts stets um 25 kleiner oder, wenn dies nicht mehr geht, um 144 größer; aber auf jede Zahl, die beim Teilen durch 13 den Rest 9 ergiebt, folgt die um 38 kleinere oder, wenn das unmöglich ist, die um 131 größere Zahl;
2) in den senkrechten Reihen ist von zwei übereinauder stehenden Zahlen die untere um 41 größer oder, wenn die nicht mehr genommen werden darf, um 128 kleiner als die obere; eine Ausnahme bilden hier die Zahlen, die beim Teilen durch 13 die Reste 8 und 9 ergeben, denn unter diesen stehen die um 28 grötzeren oder, wenn man dabei über 230 steigt, die um 141 kleineren Zahlen;
3) im Eckfelde links oben steht 62. A. Stabenow.
Der Spieler in Hinterhand hat Null ouvert angesagt und folgende Karten aufgelegt:
Wie muß nun der Gegner in Vorhand mit diesen Karten:
Homonym.
Es wirkt als Ding nur mit Gewicht;
Als Mahnwort gilt’s dem Feigen nicht.
Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 5.
1. d 6 – e 7 d 8 – f 6 +
2. D h 6 – f 4 g 3 – e 5 +
3. e 1 – g 3 + D h 2 – f 4 +
4. D b 4 – c 3 D a 1 – d 4 +
5. D f 8 – d 6 e 5 – c 7 +
6. D a 8 – c 5 + + + + und gewinnt.
Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 5.
Auflösung des Bilderrätsels: „Das Trinkhorn“ auf dem Umschlag von Halbheft 5.
Man lese zuerst im oberen, dann im unteren Bandteile jene Buchstaben ab, bei welchen die Noten oberhalb derselben stehen, dann bei der zweiten Ablesung jene Buchstaben, bei denen die Noten unterhalb stehen. Es ergiebt sich dann der Spruch:
1. Ein guter Trank
2. ein guter Sang.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 5. Flanke, Planke.
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 5. Nie, ob, Ni–ob–e.
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