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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[877]

Nr. 53.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Zum Jahreswechsel


     Zum Jahreswechsel

In der Sankt Sylvesternacht
Werden kleine Geister munter,
Tauchen auf und tauchen unter,
Und gescherzt wird und gelacht

5
In der Sankt Sylvesternacht.


Draußen liegt die Welt im Schnee!
Einst bei linder Lüfte Kosen
Wird aufs neu’ der Schnee zu Rosen,
Schmilzt des Winters Leid und Weh.

10
Draußen liegt die Welt im Schnee.


In dem Glase perlt der Wein,
Funkelnd in dem Licht der Kerzen,
Herzen neigen sich zu Herzen.
Neues Jahr, wohlan, tritt ein!

15
In dem Glase perlt der Wein.


Auf viel Glück im neuen Jahr,
Nun das alte ist versunken,
Angeklungen, ausgetrunken,
Frisch das Herz, das Auge klar:

20
Auf viel Glück im neuen Jahr!

 J. Trojan.

[878]

Einsam.

Roman von O. Verbeck.

     (Schluß.)

Endlich brach Rettenbacher das Schweigen, das sich nach Hannas ablehnenden Worten seiner bemächtigt hatte. Er mußte ihr Rede stehen. „Gut,“ sagte er, sich wieder ganz aufrichtend, in einfachem, herzlichem Ton. „Zu erzählen hab' ich allerdings genug. Ein ganzes Haus voll. Und zum Freuen ist es ganz besonders eingerichtet. Also: Ich verändere’ mich, wie die Dienstboten sagen. Ich gehe von unserer Schule ab.“

„Was? Von Ihrem geliebten Direktor Kühnemann? Nach all diesen Jahren?“

„Ja, der Gedanke wollte mir zuerst auch durchaus nicht in den Kopf, noch weniger ins Herz. Aber er selbst hat mich mit seiner guten und starken Hand vors Thor gesetzt und mich nach allen Kräften weggelobt. Seit die Sache unwiderruflich feststeht, nennt er mich nur noch Kollege. Ich werde nämlich – hören Sie – selber Direktor! Sie dürfen sich wundern, ich hab’s ja auch gethan, hätte mir's ebensowenig zugetraut wie Sie –“

Hanna errötete.

„Was sagen Sie da,“ wehrte sie hastig ab. „Zugetraut! Alles hätt’ ich Ihnen zugetraut. Nur daß es mir wundersam vorkommt, dieses Glück vor Ihrer Thür, nur daß ich mich erst zurechtfinden muß – Sie dürfen nicht vergessen, es liegen Jahre zwischen heut’ und damals. Wenigstens für mich.“

Nur für Sie? Ich denke doch nicht. Ein Unterschied ist zwar: Sie müssen die Strecke überspringen, ich bin sie gegangen. Insofern haben Sie ganz recht. Der arme Magister von Anno siebenundachtzig hätte sich dergleichen Märchen freilich nicht träumen lassen. Aber auch der von heute stand vor einem Vierteljahr verblüfft bis zur Fassungslosigkeit vor diesem Göttergeschenk. Wirklich ein Göttergeschenk, das ist der Name! Denn alles, was ich mir je gewünscht habe, versuchen zu dürfen, durchsetzen zu können, durch eigene Erfahrung bestätigt zu sehen – das wird mir in diesem Geschenk zu teil. Und auch sonst – kurz, ich bin allerwege sehr froh. – Warum schütteln Sie den Kopf?“

„That ich das?“ fragte Hanna etwas verwirrt. „Ich war mir dessen nicht bewußt. Ich freute mich nur fortwährend.“

Im stillen kam ihr dann eine Art Erklärung für dieses unwillkürliche Kopfschütteln. Es war das tiefe Erstaunen über den Mann da vor ihr, diesen so gänzlich verwandelten Mann. Nicht nur die Stimme hatte Klang bekommen, auch die Augen Glanz, die Haltung der Schultern, ehemals immer leicht nach vorn geneigt, war straffer geworden, sie erschienen dadurch breiter, waren es auch wohl. Seine Blässe hatte nichts Krankhaftes mehr, sie zeigte nur noch die natürliche, schwer zu vergröbernde Zartheit der Haut, die dem lichtblonden Haar und Bart entsprach. Der ihr da gegenübersaß, war nicht mehr der kümmerliche, gedrückte, abgearbeitete Sorgenmensch, den sie – ach wie gut – gekannt hatte. Dieses warm leuchtende Feuer der blauen Augen war ihr fremd, diesem tiefen Klang der befreiten Stimme horchte sie verwundert zu. Aber sie sah und hörte gleichsam von weit her, schaute aus ihrer Höhle ins blühende Leben hinaus. Freilich konnte sie nicht wissen, daß die innere, also die recht eigentliche „Aufrichtung“ des Freundes erst wenige Monate alt war und daß sie mit ihrem persönlichen Geschick in engem Zusammenhang stand. Sie sah nur die überraschende Vollendung, nicht den Weg, den sie genommen hatte. Sie sah: Er war in diesen fünf Trennungsjahren rastlos aufwärts gestiegen, so rastlos wie sie abwärts. Meilenweit waren sie auseinander. Sie ahnte nichts von der beklemmenden Bangigkeit, die ihn ihrem stillen, stummen Gesicht gegenüber befallen hatte, und die nur sein fester Wille nicht zu Atem kommen ließ.

„Nun erzählen Sie aber auch ausführlich,“ sagte sie nach einer kleinen Pause mit dem freundlich mütterlichen Ausdruck der Teilnahme, den früh gealterte, müde Frauen für die Erlebnisse der jung gebliebenen Gefährten vergangener Zeiten haben, und der wohlthun möchte, aber meistens sehr schmerzlich ist.

Rettenbacher zerdrückte einen schweren Seufzer.

„Ich fange bei Adam und Eva an, wie es sich für einen gewissenhaften Chronisten geziemt,“ sagte er lächelnd. „Also geben Sie acht. Vor etwas länger als drei Jahren hat sich ein sogenanntes ,Konsortium' von gescheiten, warmherzigen und reichen Männern zusammengethan, um eine Erziehungsanstalt zu begründen, die klassische und moderne Ansprüche möglichst vereinigen soll. Eine Knabenschule, die ihre Zöglinge nicht nur reif fürs Abiturientenexamen, sondern auch reif fürs praktische Leben macht. Eine Anstalt, in der nicht nur das Gehirn, sondern der ganze Körper gleichmäßig ausgebildet wird. Ein Haus, das nicht nur kluge, sondern auch gesunde Söhne an Deutschland abliefert. Ein solcher Idealbau hatte nicht Platz in den Straßen einer Stadt, und wenn es die schönste der Welt gewesen wäre. Er mußte draußen errichtet werden, in der Natur, in der Freiheit. Da steht er nun. Im Thüringer Wald, wohl an seinem schönsten Fleck, in der Nähe von Schwarzburg. Ein stolzes, prächtiges, weitschichtiges Haus, den rauschenden Buchenwald zu Häupten, zu Füßen die schäumende Schwarza. Platz ist für zweihundert Schüler und das ganze Lehrerkollegium und überhaupt für alle Leute und Dinge, die in so ein Schulhaus, das zugleich Heimat sein will, hineingehören. Die klugen Männer haben für alles gesorgt: für große, helle Lehrsäle, für eine prächtige Küche, für Gemüsegarten und Kuhstall, für Turnhalle und Handwerkerschule und Schwimmbad. Als feinsten Kopf in ihren Beratungen, nachdem die Sache geschäftlich feststand und die staatliche Konzession gesichert war, hatten sie Direktor Kühnemann. Sie wußten, was sie thaten, als sie ihn als Oberhaupt in ihr Kollegium setzten. Und es war bei der ganzen Sache ihr klügster Streich, daß sie schließlich ihn zum König wählten für das junge Reich. Er sagte nun eine Weile nicht Ja, noch Nein, spielte den Unentschlossenen – er, der Willensklare – und versparte die endgültige Entscheidung auf den letzten Termin. Dann – plötzlich niemand war darauf gefaßt, erklärte er mit der äußersten Bestimmtheit, daß von seiner Person für diesen Posten nicht die Rede sein könne, daß er nicht daran denke, die Schule, die er seit fünfzehn Jahren leite, im Stich zu lassen – es falle ihm denn der Bakulus aus der Hand. Er habe aber schon lange einen anderen statt seiner im Sinn. Der Grund, weshalb er ihnen den Mann bisher nicht genannt habe, sei sehr einfach. Er habe ihnen die Tauglichkeit seines Schützlings ad oculos demonstrieren wollen, ohne daß sie es ahnten. Die sogenannten grundlegenden Gedanken, nach denen die Anstalt eingerichtet worden sei, stünden alle gedruckt, seien aber nicht von ihm geschrieben, er sei nur bis ins Herz hinein mit ihnen einverstanden und habe sie zu den seinigen gemacht. Wäre er den Herren von vornherein mit seinem Hauptplan gekommen, so würden sie diesen noch wenig Bekannten mit Mißtrauen betrachtet haben, schon allein seiner Jugend wegen, die übrigens in seinen Augen ein Vorzug sei. Jetzt bäte er sie, zu lesen was in dem Büchelchen da stünde, und ihm alsdann zu sagen, was sie von seinem Vorschlag dächten. Und schickt ihnen – merken Sie auf diese rührende Heimtücke – meine Schrift über die Gesundheitspflege in der Schule! Aber verzeihen Sie, davon wissen Sie natürlich nichts.“

„Doch, ich habe sie gelesen, mit Bewunderung und Freude, freilich auch mit viel Wehmut. Denn wo, so sagt’ ich mir, kann dergleichen begonnen und durchgeführt werden? Jetzt freilich – dies ist eigentlich märchenhaft –“

„Märchenhaft, das ist das Wort! Es giebt noch immer Stunden in denen ich es selbst nicht glaube. Also, die Herren lasen und wunderten sich und steckten die Köpfe zusammen. Und eines schönen Morgens – vielmehr eines regnerischen, kalten Morgens im März erhielt ich die Berufung. Wie ich auf meine Dampfbahn und hinein in die Stadt und zu Kühnemann gekommen bin, weiß ich heut’ noch nicht. Bei ihm kam ich dann allmählich wieder zu mir – –“ Rettenbacher stockte, es schien ihm die Kehle eng zu werden. Dann fügte er mit etwas wankender Stimme hinzu „Ueber dem Portal meiner Schulheimat soll der Spruch stehen, der von je her mein, meines lieben [879] Meisters Wahlspruch war und auch meiner geworden ist: Der Mensch hat nichts unter der Sonne, als daß er fröhlich sei in seiner Arbeit’.“

Hanna streckte ihm die Hand hin; „Ich wünsch’ Ihnen Glück!“ sagte sie leise und ergriffen.

Arnold drückte die blassen Finger fest an seine Lippen. „Ich danke Ihnen,“ murmelte er.

„Erzählen Sie mir nun Einzelheiten,“ bat Hanna, sacht ihre Hand zurückziehend.

„Einzelheiten! Lieber Gott! Dazu reichte ja der Tag nicht aus. Dazu müßten wir –“ er hielt inne, es flog ihm eine schwache Röte übers Gesicht „Die müßte ich Ihnen an Ort und Stelle zeigen können.“ Und als sie schwieg, er auf ihrem leblosen Gesicht keine Schrift zu lesen fand, fuhr er zögernd fort: „Einige Haupteinzelheiten könnte ich Ihnen ja schon nennen. Unser Plan also umfaßt sämtliche Gymnasialklassen und die Vorschule. Auch Realschüler können ausgebildet werden, für die dann unter anderm der englische statt des griechischen Unterrichts eintritt.“

„Erlauben Sie eine Frage, ehe ich's vergesse,“ unterbrach ihn Hanna. „In so einem riesigen Hauswesen kann doch nicht immer alles gesund bleiben. Wo finden Sie nun schnell ärztliche Hilfe?“ Rettenbacher lächelte froh überrascht. „Ein kluger Einwand. Wie mich das freut. Besonders, da ich auch eine Antwort darauf habe. Ein leibhaftiger Mediziner wird einen Teil des naturwissenschaftlichen Unterrichts leiten, zum Beispiel die Anatomie. Dieser Herr, der auch Kurse in der Wundpflege und in anderen wichtigen praktischen Dingen erteilen kann, wo sich die Gelegenheit bietet und persönliche Begabung darauf hinweist, ist als Hausarzt amtlich angestellt und wohnt natürlich auch in der Anstalt. Aber nun schnell noch etwas Schönes! Jeder der Knaben soll sich, nachdem man ihn erst ein wenig kennen gelernt hat, nach dem Ideal unseres armen Kaisers Friedrich für ein Handwerk entscheiden, das er nebenher zu erlernen hätte. Die Meister dazu finden sich leicht, in der Umgegend und im Hause selbst, um nur allein den Gärtner zu nennen. Meine Jungen sollen erfahren, daß es keine Handarbeit giebt, bei der nicht jeder Gebildete eine Masse lernen kann, und daß der am freiesten ist, der am wenigsten Hilfe braucht, und der am vornehmsten, der mit Kopf und Händen arbeiten kann. Meinen Sie nicht?“

„Gewiß,“ bestätigte Hanna ernsthaft und herzlich nickend. „Und weiter, was ich noch fragen wollte. Als unumschränkter Herrscher in Ihrem Staat werden Sie doch auch die Uniform bestimmen können?“

„Freilich werd’ ich das. Es schmeichelt meiner Eitelkeit gewaltig, daß Sie da auf mein Schriftchen hindeuten. Unsre Tracht wird also das Matrosengewand sein, mit bloßer Brust für Sommer und Winter. Mit Vorsicht und unter ärztlicher Kontrolle wird begonnen und nichts mehr aufgegeben, was erreicht ist. Allen ist natürlich zu Anfang der wollene Brustlatz gestattet und es wird Sache des Ehrgeizes werden, ihn entbehren zu können, sollen Sie sehen. O, wenn ich sie nur schon laufen sähe, meine Kerle!“

„Im Oktober, denk’ ich, fangen Sie an?“

„Im Oktober. Aber ich muß jetzt schon hin, um die letzten Vorbereitungen zu leiten und die noch ausstehenden Aufnahmen zu erwarten. Für das kleine Vierteljahr von August bis Michaelis hat mich Kühnemann schon freundlichst beurlaubt.“

„Da hat ja Ihre Schwester Grete prächtig Zeit, den Haushalt zu verpacken und dort wieder einzurichten, Ihnen überhaupt zur Hand zu gehen. Denn selbstverständlich zieht sie doch mit Ihnen nach Thüringen?“

„Die?“ Rettenbacher lachte hell auf. „Sie denkt nicht daran. Läßt mich elend im Stich. Dieser nichtsnutzige Musikante, der Günther, hat sie mir abspenstig gemacht. So sind die Schwestern!“

„Was sagen Sie da? Günther und Grete?“

„Ja, ja, heiraten wollen sich die zwei, nichts Geringeres. In den Herbstferien. Die Hochzeitsreise machen sie gütigst nach Schwarzborn zu mir. Wollen mir zu guter Letzt noch das Herz recht schwer machen. Das heißt, nein. Schwer ist mir bei dieser Sache das Herz gewiß nicht. Nur bewegt. Ich gönne ihnen ihr Glück, denn es wird eines werden, das sich gewaschen hat’,“ sagte Günther. Ich hab’ den Bruder Heinrich sehr lieb. Grete ist in guter Hut bei ihm.“

„Wie mich das freut,“ sagte Hanna. „Gewiß ist sie bei ihm in guter Hut! Bitte, grüßen Sie ihn sehr herzlich von mir und ich ließe ihm Glück wünschen, und der Grete auch, unbekannterweise.“

„Darf er sie Ihnen nicht einmal bringen?“

„Aber freilich, gern. Recht bald. Nur soll er sich vorher melden, damit ich mich ein bißchen darauf vorbereiten kann. „Ich werd’s ihm sagen. Ja, ja, so komm’ ich also als gänzlich im Stich gelassener Einsamling in mein neues Reich. „Ihren Hans aber nehmen Sie doch mit?“

„Versteht sich. Er ist als mein erster Schüler eingeschrieben. „Wie viele haben Sie bis jetzt? Doch nicht schon bald alle zweihundert?“

„Bewahre! Sechsundsiebzig. Aber es kann bis zum Herbst noch eine ganze Anzahl Meldungen eintreffen. Die Anzeigen sind nicht so schnell herausgekommen, wie die Herren beabsichtigten. Aber das thut nichts, ist mir sogar ganz lieb. Ich muß doch erst lernen regieren, und wenn ich es in meinen einzelnen Klassen auch leidlich zuwege gebracht habe – so als König über alle, das ist noch etwas ganz anderes.“

„Es wird schon gehen, da ist mir nicht bange. Kühnemann wird Ihnen das auch gesagt haben.“

Rettenbacher antwortete nicht gleich. In seinem Gesicht kam und ging wieder die Farbe. Jetzt hob er die gesenkten Augen mit einem dunkel strahlenden Blick.

„Es wird besonders dann gehen,“ sagte er leise und beugte sich etwas zu Hanna vor, „wenn die Frau, die seit langen Jahren die Königin meines Herzens ist, sich entschließen kann, auch die Königin dieses meines großen Hauses zu werden. Liebe Hanna – wollen Sie mit mir kommen? Vielleicht zu Weihnachten? Als Christkindchen?“

Hanna schüttelte den Kopf. Sie war sterbensblaß geworden. Angstvoll, ganz unfähig zu sprechen, sah sie Rettenbacher an, der ihr mit flehender, völlig enthüllter Zärtlichkeit tief in die Augen blickte.

„Nein?“ fragte er leise. „Warum nicht? Wir haben uns doch einmal lieb gehabt. Sehr lieb. Wenn wir es uns auch nie gesagt haben, wir wußten es. Früher hat es nicht sein sollen, daß wir zusammenkamen. Hart war es, aber wir trugen keine Schuld. Jetzt könnt’ es sein! Das Schicksal hat sie gelüftet, die schwere Hand. Wir sind frei, wir sind jung. Warum nicht zusammen fort?“

„Niemals,“ brachte Hanna mühsam, heiser heraus.

„Warum nicht?“

„Ich kann nicht mehr – und ich will auch nicht mehr. Ich fürchte mich.“

Und als ob die Angst sie überkäme, er möchte sie anrühren, schlang sie die Arme fest ineinander und schob sich in ihrem Sessel ein wenig zurück. Er sah diese fluchtähnliche Bewegung und zuckte leicht zusammen; aus seiner vornüber geneigten Haltung richtete er sich sofort in die Höhe.

„Ich will Sie ja nicht ängstigen und quälen,“ sagte er mit so viel Ruhe, als ihm sein heftig schlagendes Herz übrigließ. „Vielleicht hab' ich es sehr dumm angefangen, daß ich Ihnen so mit der Thür ins Haus gefallen bin. Aber ich bitte, bedenken Sie nur! Seit Monaten, seit ich von Günther weiß, daß Sie frei sind, ich meine, in dem ganz bestimmten Sinne für mich frei, als Sie das Teufelsgeld, das Ihnen zum Unheil geworden ist, ins Meer geworfen haben. O, wie segne ich Sie dafür! Seit all diesen Monaten steh’ ich da, mit der Faust auf dem Herzen und schreie mich an: sei still, laß ihr Zeit, laß sie aus diesem Elend zur Ruhe kommen, warte, warte, warte! Wenn Sie wüßten, wie entsetzlich schwer mir dieses letzte halbe Jahr geworden ist! Denn auch schon ehe das Märchen da draußen im Thüringer Wald sein Schloß aufgebaut hatte, war der Jubel in meiner armen Seele groß. Zu dem Leben, wie ich es mir für uns zwei gedacht habe, war auch damals schon Brot genug im Haus. Nur, daß es jetzt noch so viel schöner werden mußte! Ich hätte vielleicht noch länger warten sollen. Aber es ging einfach nicht mehr. Meine Ruhe war verbraucht, meine Geduld

[880]

Fern der Heimat.
Nach dem Gemälde von H. Volkmer.

[881] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [882] ganz und gar in Fetzen. Ehe ich mich aufmachte in die neue Heimat, wollte und mußte ich Gewißheit haben. Freilich – als ich beim Hereinkommen Ihr Gesicht sah, da sank mir schon der hohe Mut. Ich hätte mich davon warnen lassen, hätte es für heute beim Erzählen bewenden lassen sollen. Aber es war eben stärker als ich. Verzeihen Sie mir. Und bitte, sagen Sie nicht Nein; Sagen Sie: Noch nicht, später! Aber sagen Sie nicht Nein!“

Hanna schüttelte aufs neue den Kopf, nicht mehr furchtsam, nur traurig. Sie war wieder ruhig, konnte auch wieder sprechen.

„Es thut mir von ganzem Herzen leid, Sie zu kränken. Aber es muß dabei bleiben. Ich kann nicht mehr. Ich hab’ mich tot gelebt. Was von mir noch übrig ist, muß hier in der Stille zu Ende gehen. Sie kennen mein Leben dieser Jahre nicht, ich kann es Ihnen auch nicht schildern. Sie müssen mir nur glauben, wenn ich Ihnen sage: Es geht nicht mehr.“

„Liebe Hanna,“ bat er eindringlich, „Wie alt sind Sie? Meines Wissens noch nicht dreißig. Und Ihre Ehe hat nur vier Jahre gedauert.“

„Nur vier,“ wiederholte sie trübe. „Es giebt Jahre, sehen Sie, die man zählt, und Jahre, die man mißt. Diese vier waren lang. Ausreichend. Ich bin eine alte Frau, glauben Sie mir.“

Er schüttelte mit einem liebreichen Lächeln rasch den Kopf.

„Sie sollten mir wohl wieder jung werden da draußen. Das wäre meine geringste Sorge! In der Waldfreiheit würden Sie aufleben in unsrem Bubenschloß, in unsrem Ameisennest. Man ist ja nur so alt, als man sich fühlt. Das ist zwar ein bekannter Satz, aber Sie wenden ihn verkehrt an, scheint mir. Man kann sich nämlich auch künstlich alt machen, und das darf man nicht. Im Thüringer Wald wären Sie übers Jahr sechzehn, hier freilich werden Sie bald siebzig sein, das ist sicher. Fürchten Sie nicht, daß ich Sie etwa nicht verstünde, ich verstehe Sie viel besser, als Sie wissen. Aber ich fühle, daß es das Richtige für Sie nicht ist, hier eingesponnen zu sitzen. Immer allein sein, sehen Sie, das ist noch keine Ruhe, auf die Dauer, meine ich, ist es keine, keine für Sie. Und nichts zu thun zu haben, nichts für andre zu thun zu haben, das ist auch keine Ruhe. Die innerliche Beschäftigungslosigkeit muß Sie nach und nach aufreiben, statt Ihnen wohlzuthun. Die wird Sie erst ganz alt machen. Ist es nur der Gedanke an die verlorene Jugend, der Sie quält? Glauben Sie, Sie arme Märtyrerin, Sie wären mir in Ihren Leidensjahren über den Kopf gewachsen? Lange nicht! Gegen meine herangedarbten Sechsunddreißig kommen Sie immer noch nicht auf. Und dann: Eine geliebte kranke Frau ist auch immer das Kind ihres Mannes. Merken Sie sich das.“

Ein ganz andrer Gedanke schien ihm plötzlich durch den Kopf zu fahren und machte ihn erblassen.

„Das ist so recht ein Stückchen vom gewöhnlichen Mannesegoismus,“ murmelte er. „Weil mir so zu Mute ist, als könnt’s nicht anders sein, weil ich bitte Sie, sagen Sie mir rund heraus: So wie Sie einstmals für mich gefühlt haben, das ist vorbei? das ist gestorben? das ist verschüttet? Im Augenblick, wo Sie mir das sagen – und warum sollt’s nicht sein! –- geh' ich meiner Wege und komme nicht wieder. Ich sehe ein, das hätte meine erste Frage sein müssen. Ich bin offenbar verrückt.“

Es lag ein solcher Ausdruck von Qual in seinem Gesicht, daß es sie erschütterte, sie brach in Thränen aus.

„Sprechen Sie,“ bat er mit gepreßter Stimme, „weinen Sie nicht, sprechen Sie!“

Warum schüttelte sie den Kopf. – Es war ja doch aus. Noch heute vormittag hatte sie so genau gewußt, daß es aus sei. Aber sie schüttelte den Kopf. Wie eine verborgene heiße Quelle brach es aus dem tiefsten Innern ihrer Seele hervor, strömte über sie hin, machte sie zittern. Sprechen konnte sie nicht, wollte auch nicht. Zurückgelehnt in ihrem Sessel, eine Hand über den Augen, saß sie und weinte und schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein, es war nicht aus! Wie hätte sie das nur je glauben können!

„Hanna,“ murmelte Rettenbacher mit erstickter Stimme. Er nahm ihre freie Hand und küßte sie leidenschaftlich, küßte jeden einzelnen Finger, drückte sie an seine Stirn, an seine Augen und wieder an den brennenden Mund. „Hanna! Liebling! Mich ansehen, bitte, bitte, nicht mehr weinen, mich ansehen!“

Er hielt jetzt auch ihre andre Hand. Und sie sah ihn an.

„Mein Liebling“, wiederholte er leise. „Mein einziger Herzensliebling! Wie lange – wie lange –. Dem Schweigsamen lösten sich auch jetzt die Worte nur schwer von der Zunge. Aber ihr fast schmerzlich inniger Klang redete von den Jahren der Entbehrung, von den Jahren der Hoffnungslosigkeit. In seinen Augen lag die hinreißendste Bitte um Glück. „Es ist also nicht aus?“

Dies Letzte rüttelte Hanna wieder wach. Sie erschrak; mit einer angstvollen Gebärde machte sie ihre gefangenen Hände frei.

„Bitte, nicht böse sein,“ sagte sie heiser, „es kann nicht sein, was Sie wünschen.“

In Arnolds Gesicht schien eine Flamme zu erlöschen. „Es kann nicht?“ wiederholte er in rauhem Ton. „Sie haben mich lieb und es kann nicht sein? Wie in aller Welt soll ich das verstehen?“

„Hätten Sie sein Sterben mit erlebt, so verstünden Sie es schon. Sie starrte vor sich hin, ihre Finger wanden sich rastlos umeinander. Rettenbacher sah sie mit Besorgnis an, aber er sagte kein Wort, er wartete, ob sie weitersprechen werde.

„Sie müssen nicht denken,“ fuhr Hanna nach einer Weile mühsam fort, „daß ich allerwege nur zu bedauern gewesen wäre. Ich habe es nicht gut bei ihm gehabt – o nein – aber er bei mir auch nicht. Was ich verschuldet habe, das lastet auf mir, das kann ich nie mehr abschütteln. Und darum – darf ich auch nichts mehr vom Leben für mich verlangen –, auch wenn ich's noch wollte, auch wenn ich nicht so sterbensmüde wäre.

Arnold schüttelte ganz leise den Kopf. In seinem ernsten Gesicht stand jetzt nichts von Zärtlichkeit zu lesen er sah etwa so aus wie ein Arzt, der einen Schwerkranken vorsichtig beobachtet.

„Möchten Sie nicht versuchen,“ fragte er sanft, „sich einmal über diese Ihre ,Verschuldung' auszusprechen? Ich muß gestehen, ich kann mir kein rechtes Bild von ihr machen.“

Hanna antwortete nicht gleich. Aber er bedrängte sie nicht, er rührte auch ihre Hand nicht mehr an Ganz still saß er da und wartete.

„Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären,“ fing sie endlich, tiefer aufatmend und mit festerer Stimme wieder an. „Sehen Sie – es giebt zwei Arten von Geduld. Sie gleichen sich gar nicht. Aber zu Anfang sieht man das nicht. Vielmehr zu Anfang weiß man davon überhaupt nichts. Gewöhnlich erkennt man es erst, wenn's schon zu spät ist. Mir wenigstens ist es so ergangen. Die eine Geduld, die ist stumpfsinnige, die krümmt sich zusammen und macht die Augen zu, die würgt ihr Grauen und ihren Ekel in sich hinein, die nimmt alles hin, ohne sich zu wehren, und denkt dabei, mehr könnte man nicht verlangen. Das ist die blinde Geduld, die feige. So nenn’ ich sie. Die andre Geduld, die ist nicht darum still, weil sie stumpfsinnig ist, sondern weil sie sanftmütig ist und weil sie mitleidig ist, und weil sie denkt: Kehr’ auch vor deiner Thür, und weil sie zusieht, wie zu helfen ist, nicht nur zu ertragen und sie würgt wohl auch ihren Ekel und ihr Grauen hinunter, aber sie versucht, dabei zu lächeln, denn sonst hätte es ja keinen Sinn. Das ist die thätige Geduld, die mutige, die nicht müde wird. Sie, glaub’ ich, überwindet die andre nicht. Die andre aber hab’ ich in meiner Ehe geübt, und mit meiner stumpfsinnigen Feigheit hab’ ich meinen Mann unglücklich gemacht. Er liebte mich, obwohl er mich so viel quälte. Und mir graute vor ihm. Still halten, war alles, was ich fertig brachte. Ich hätte mehr thun müssen, ganz etwas andres. Aber als ich meinen Fehler einsah, da war es zu spät, da starb er. Und ich blieb zurück mit dieser Reue. Was das ist, solche Reue an einem Grab – das wissen Sie nicht.“

Sie schwieg erschöpft, bleich, mit zitternden Lippen. Rettenbacher sah sie in tiefem Mitleid an.

„Sie Aermste,“ sagte er leise –“ So glauben Sie also, wenn er diese Krankheit überstanden hätte und Ihnen erhalten geblieben wäre, Ihr Verhältnis hätte noch glücklich werden können?“

„Glücklich. Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Dazu paßten wir zu schlecht zusammen. Aber besser. Auch dies weiß ich nicht. Was weiß man, ehe es geschehen ist. Hätten Sie mich das an seinem Totenbett gefragt, ich hätte gesagt: Ja, ja. In jenen Tagen war ich ganz zerschmettert. Heute – daß sich noch manches hätte mildern lassen, glaub’ ich wohl. Obschon ich nicht wissen kann, wie mir zu Mute gewesen wäre, wenn er als der Alte wieder vor mir gestanden hätte. Es war der nahende Tod, denk’ ich mir, der ihn so weich machte. Und weil mir das [883] an ihm fremd war, erschütterte es mich so entsetzlich. In einer langandauernden Krankheit würde er wohl vor Ungeduld rasend geworden sein. Und wieder genesen, hätte er seine eigentliche Natur gewiß nicht verleugnet. Nein, es ist nicht das. Es ist nicht die Erkenntnis dessen, was noch hätte anders werden können, die mich zu Boden drückt, sondern die Erkenntnis dessen, was ich von Anfang an versäumt und verfehlt habe. Ich sage ja nicht, daß es leicht mit ihm zu leben gewesen ist – ach nein! – er hat es arg mit mir getrieben und schuldig war er wohl auch in manchem Sinn. Aber dadurch wird meine Schuld nicht kleiner. Seines Geldes wegen hab’ ich ihn genommen,während er mich liebte, hab’ mich ihm verkauft, und bei diesem Handel hab’ ich ihn betrogen.“

„Halt! Halt!“ wehrte Rettenbacher mit starker Stimme und hob die Hand. „Wohin geraten Sie! Das ist ja Selbstmord! Wem erzählen Sie eigentlich diese Dinge! Wer auf der Welt weiß besser als ich, wie sich diese unselige Geschichte, dieser ‚Handel' zugetragen hat. Wollten Sie etwas für sich? Es war ein Opfer der Kindesliebe, das Sie gebracht haben! Und nicht umsonst. Denn hat sie das Ende erlebt, auch nur die erste Fortsetzung. Hat sie nicht trotz alledem schlafen gehen dürfen mit der tröstlichen Zuversicht. Nun ist alles gut. Seines Geldes wegen hätten Sie ihn nicht genommen, denk’ ich, wenn die arme Mutter ein halbes Jahr früher gestorben wäre. Oder – Also, sehen Sie. Dies sind Krankhaftigkeiten, die Ihr alter Freund Ihnen strengstens verbieten muß. Das andre – ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich schmerzt, für Sie. Aber ich habe die feste Zuversicht, eines Tages werden Sie auch hierüber ruhiger denken, werden sich sagen. Was in meinen Kräften stand, habe ich gethan, über sich hinaus kann kein Mensch. Sie werden besonders dann ruhiger werden, wenn Sie Ihr Leben nicht hier in der Einsamkeit kümmerlich vergrübeln, sondern wenn Sie es in thätiger Liebe für andre weiterleben, an andern thun, was Sie an dem Verschwundenen versäumt haben. Ich meine, es läge noch ein weites Feld vor Ihnen. Geben Sie mir die Hand. Kommen Sie mit auf Ihren Platz!“

„Nein, nein!“ wehrte Hanna angstvoll ab. „Ich will nicht, ich kann nicht mehr, ich fürchte mich. Es giebt kein Glück und keinen Segen, wo ich dabei bin, das sehen Sie doch! Einem hab' ich nun schon das Leben verbittert, das ist ganz genug. Nun muß. ich allein bleiben. Lassen Sie mich – ich bitte Sie von Herzen, lassen Sie mich!“

Rettenbacher schwieg auf dieses Letzte. Es blieb nach ihrer heftigen Rede beklemmend still im Zimmer. Er war bleich und schaute mit starren Augen geradeaus an ihr vorbei.

„Sie sollten sich doch hüten,“ sagte er endlich, „vor so einem Nein. Sie sprechen von Dingen, die nicht mehr gut zu machen sei es vor Reue, die niemals schweigen werde. Sie sprechen davon, daß Sie schon einem das Leben verbittert hätten, und daß das genug sei. Das denk’ ich auch. Sie stehen nämlich im Begriff, es mit dem zweiten nicht viel besser zu machen. Wie, glauben Sie wohl, werde ich heute von Ihnen gehen, wenn Sie auf Ihrem Nein beharren! Ist Ihnen nicht ein wenig bange vor der neuen Schuld, die Sie damit auf Ihr Gewissen laden?“

Hanna erschrak besorgt nicht nur über das, was er sagte, sondern auch über den Ton seiner Stimme, über sein düsteres Gesicht. „Sie werden mich vergessen,“ stieß sie heraus.

„Glauben Sie? Mir scheint, wenn ich zu dieser Kunst einiges Talent hätte, dann hätt' ich in all den Jahren doch wohl genügend Zeit gehabt, es auszuüben. Dann stünd' ich heute nicht hier. Also die Hoffnung geben Sie nur auf. Damit ist es nichts. Die Liebe zu Ihnen wurzelt zu tief in mir, sie ist nicht mehr herauszureißen. Aber freilich – sie kann all ihre Blüten verlieren, es können Dornen dazwischen wachsen. Die hätten dann Sie gepflanzt.“ – Er schwieg einen Augenblick, das Weiterreden schien ihm schwer zu werden. – „In den Zeiten der Armseligkeit,“ fuhr er dann mit etwas gedämpfter Stimme fort, „als ich mich schinden und plagen mußte – Sie wissen, wie sehr und für wen, da hab’ ich meine Ehre dreingesetzt, zu schweigen, nichts von dem zu verraten, was mich peinigte, was ich wünschte ohne die leiseste Hoffnung auf Erfüllung. Ich hätte mich auch gescheut, Ihnen mein Herz zu zeigen, da ich von dem Ihren nichts wußte. Als dann der – andere kam, als er Sie davonführte, an mir vorbei, dem Bettelprinzen, als im Augenblick des Scheidens der dichte Schleier zwischen uns niedersank – –, da hab’ ich böse Stunden zu bestehen gehabt. Gewiß waren Sie von uns zweien am unglückchsten, ich weiß, aber leicht wurde mir mein Leben auch nicht, glauben Sie mir das! Hätt’ ich nichts zu thun gehabt, es wäre wohl anders mit mir gekommen. Zum Glück behielt ich aber keinen Augenblick Zeit, an mich zu denken, weil da jemand war, mehrere jemande, die mich brauchten, die von mir abhingen. So hab’ ich denn die Zähne aufeinander gebissen und mich nicht lumpen lassen, hab’ meinen Posten, auf den ich einmal gestellt war, nach Kräften ausgefüllt. Und als die drückende Last auf meinen Schultern gelinder wurde, als ich anfangen durfte, aufzuschauen, da war ich schon so weit, einzusehen, daß das Leben auch lebenswert sein könne, ohne daß man für sich selber Früchte pflückte. Hanna Wasenius, die Eine, hatte es nicht sein sollen – also überhaupt keine! Daß mein inwendiger Mensch noch lebte, war mir nach und nach gar nicht mehr so recht bewußt. Wenigstens redete ich mir das ein.“

Er hielt inne und hob die gesenkte Stirn. Aus seinen Augen traf sie, die ihm wie gebannt zugehört hatte, ein Blick tiefer Zärtlichkeit. „Es ist unglaublich,“ fuhr er mit einem strahlenden Lächeln fort, „was man sich alles einreden kann, wenn man sich Mühe giebt. Ich mußte mich wirklich selber auslachen, so schulbubenhaft dumm stand ich vor meinen eigenen großen Künsten da, als eines Tages die sämmtlichen Mauern umgefallen waren, mit denen das Schicksal mir mein Lebensglück hatte zubauen wollen. Hanna Wasenius war wieder da, frei von allen Fesseln, frei von dem fürchterlichen Geld, das sich noch zuguterletzt als Schanze aufgetürmt hatte. „Mein zusammengedrücktes Herz wurde plötzlich unsinnig groß, es wollte heraus aus mir, es hatte gar keinen Platz mehr. Ich mußte ihm nur drohen und drohen, daß es noch bis heute aushielte. – Und nun – wollen Sie mich fortschicken? Thun Sie das nicht! Nehmen Sie das nicht auf sich! Es endet nicht gut, glauben Sie mir.“

Hanna konnte nicht sprechen, sie war tief erschüttert. Mit fest verschlungenen Händen und bebenden Lippen saß sie da. Sie sah ihn jetzt auch nicht an, sie horchte nur; seine Stimme umspielte sie wie lang’ entbehrte Musik. Endlich hob sie einen scheuen, flehenden Blick zu ihm.

„Was könnt’ ich Ihnen jetzt noch sein?“ murmelte sie. „Ich tauge ja zu nichts mehr.“

Eine lichte Röte stieg ihm ins Gesicht.

„Was Sie mir noch sein könnten?“ wiederholte er langsam. „Das wollt’ ich Ihnen wohl zeigen, das sollten Sie bald genug wissen.“ Seine Augen strahlten sie an. – „Ich will Sie aber heute nicht mehr quälen,“ setzte er sanft hinzu, als er sah, daß sie am ganzen Körper zu zittern begann. „Ich sehe, Sie sind noch krank. Dies hat Sie angegriffen. Im Augenblick wüßt’ ich auch nichts mehr zu sagen. Denn von dem, was mir zutiefst das Herz bewegt, kann ich in Worten nicht ordentlich reden. Und was ich Ihnen sagen müßte, um Sie aufzurütteln, um Sie wachzurufen, – das hab’ ich alles gesagt. Ob Sie alles gehört haben? Ob es etwas geholfen hat? Ich weiß nicht. Aber ich hoffe.“ Er betrachtete sie einige Augenblicke schweigend. „Sie sagen mir kein Wort. Sie sehen mich auch nicht an. So muß ich also noch ein bißchen länger Geduld haben. Warum schütteln Sie den Kopf?“

„Ich fürchte, so viel Geduld giebt es gar nicht, wie Sie mit mir haben müßten,“ sagte sie ganz leise.

„Da irren Sie sich sehr,“ entgegnete er gelassen lächelnd. „Ich hatte ja schon die Geduld, es mit dem ganzen Leben ohne Sie aufzunehmen, damals, als Sie mir geraubt wurden. Und ich sollte jetzt nicht nach Hause gehen können und mich trösten: Nur noch ein Weilchen, so ruft sie, wart’s nur ab!“

Er stand auf.

„Fürchten Sie nichts,“ beruhigte er sie, als sie heftig zusammenzuckte, „Ich rühre Ihre Hand nicht mehr an, ehe Sie sie mir freiwillig geben. Für heute leben Sie wohl!“ Er hatte seinen Stuhl zur Seite gestellt und ging langsam zur Thür. Von dort aus nickte er ihr zu, etwas bleich, aber heiter.

„Ich komme wieder. Nicht morgen oder übermorgen. Erst im Herbst. Ich lasse Ihnen Zeit. Aber ich komme!“


[884]

Das Goldland Alaska.

Von M. Hagenau. Mit Illustrationen von A. Richter.

Vor dreißig Jahren machten die Vereinigten Staaten von Amerika einen großartigen Landkauf. Für den Preis von 7 200 000 Millionen Dollars erwarben sie von Rußland dessen Besitzungen im Nordwesten Amerikas, das gegenwärtige Territorium Alaska, das etwa zweieinhalbmal so groß ist wie das Deutsche Reich. Der Wert dieses unter dem nördlichen Polarkreis gelegenen Landes ist gegenwärtig durch die Entdeckung reicher Goldfelder über alle Erwartungen gestiegen. Wenn dieses Gebiet heute unter den Hammer kommen sollte, so würde man für dasselbe Hunderte von Millionen bieten.

Lager von Goldgräbern am Klondyke.

Vor dreißig Jahren galt Alaska als armes unwirtliches Land. Wohl konnte man an seinen Küsten Fischfang treiben und in seinem Innern kostbare Pelztiere jagen, aber eine Niederlassung in dem äußersten Winkel Amerikas erschien den civilisierten Weißen nichts weniger als verlockend. Das Land ist wohl reich an Naturschönheiten. Es wird von Gebirgen durchzogen in denen sich wahrscheinlich die höchsten Bergspitzen Nordamerikas zum nördlichen Himmel erheben. Der Sockel dieser Berge ist bis zu einer Höhe von 300 m über dem Meeresspiegel mit dichten Waldungen bestanden, im Westen an der Beringsee und im Norden an dem Eismeer, wo das Terrain sich abflacht, gedeiht auf den Tundren ein üppiger Graswuchs. Malerisch ist besonders die Küste Alaskas gestaltet. Sie wird von Inseln umsäumt, die noch niemand gezählt hat, deren Gesamtzahl aber mindestens auf 10 000 geschätzt wird. Durch prachtvolle Kanäle nähert man sich der Festlandküste, über der gewaltige von Schneehäuptern gekrönte Berge emporragen. Mächtige Gletscher ergießen sich krachend und donnernd in das Meer. Der Naturfreund und der Tourist findet hier des Sehenswerten genug, er kann im Bewundern einer eigenartigen, majestätischen Natur aufgehen – aber nur wenige mochten sich bis vor kurzem entschließen, hier für immer Hütten zu bauen.

Das Klima Alaskas ist so rauh, daß nur an einigen wenigen Küstenorten mit Notdurft Sommergetreide gebaut werden kann. Das Land ernährt also den Ansiedler nicht, er müßte denn sonst die Lebensweise der Eingeborenen, der Eskimos und Indianer, annehmen, von Fischen und Wildbret und von allerlei Beeren des Waldes leben. So bestand auch die Bevölkerung dieses großen Gebietes noch im Jahre 1880 nur aus etwa 30 000 Menschen, darunter 20 000 Eskimos und 10 000 Indianer, während die Zahl der Weißen nur 430 betrug. – Die Amerikaner ließen jedoch das einmal erworbene Gebiet nicht brach liegen und gingen eifrig daran, die Schätze des Landes zu heben. Der Pelzhandel wurde fortgesetzt und lieferte beachtenswerte Erträge. Im Jahre 1896 betrug noch der Wert der erlegten Jagdtiere rund eine halbe Million Dollars (etwa 2 Millionen Mark). Erbeutet wurden Füchse aller Farben, rote wie weiße, Silber- und Blaufüchse, Biber, Marder, Hermeline, Moschustiere, Luchse und von Bären wurden noch 1200 zur Strecke gebracht. Zugleich wurden auf den Pribylowinseln Pelzrobben gejagt, von denen nach neueren Gesetzen jährlich 7500 Stück abgeschossen werden dürfen.

Wichtiger noch als die Jagd erwies sich für die amerikanischen Unternehmer die Fischerei, denn der Fischreichtum der Gewässer von Alaska ist geradezu erstaunlich. Nach wie vor wird Walfischfang betrieben; zu besonderer Blüte ist in neuester Zeit der Lachsfang gediehen; schon im Jahre 1893 gab es in Alaska gegen vierzig Etablissements, welche Lachse in Büchsen präservierten, und im letzten Jahre allein betrug der Wert dieser Lachsausfuhr gegen 4½ Millionen Dollars. Außerdem werden Guano und Fischöl erzeugt, und Alaska darf sich rühmen, zu Kilisnoo auf den Admiralityinseln die größte Fischölfabrik der Welt zu besitzen, die übrigens von einem Deutschen geleitet wird. Wie erfreulich diese Entwicklung des Landes auch war, es stand ihm eine noch größere Zukunft bevor, denn es ging die Kunde, daß in dem Schwemmlande an den Ufern seiner Flüsse sich Gold vorfinde. Zu Zeiten der russischen Herrschaft war aber, wie einst auch in der Transvaalrepublik, das Goldsuchen verboten. Die Amerikaner waren anderen Sinnes und bald nach der Uebernahme des Landes erschienen Prospectors oder Goldsucher in Alaska. Anfangs waren die Funde nicht bedeutend, später aber gestalteten sie sich glücklicher, so daß ein regelmäßiger Bergbau auf Gold eingeführt werden konnte.

Ansicht von Juneau in Alaska.

Es war im Jahre 1880, als zwei Prospektors an den Ufern des Lynnkanals goldhaltigen Sand fanden. Sie ließen sich hier nieder und nannten die kleine Bucht, an der sie das erste Blockhaus bauten, „Goldbucht“. Andere folgten ihnen, und so entstand die Stadt Juneau, die heute gegen 9000 Einwohner zählt und den Mittelpunkt für alle Goldunternehmungen in Alaska bildet.

Wie in anderen Gebieten, so kommt auch hier das Gold im Schwemmlande, in Form von Goldklumpen und [885] Goldsand vor. Es wird dadurch gewonnen, daß der Goldsucher in einer Pfanne oder Wiege das Erdreich auswäscht und das zurückbleibende schwerere Gold sammelt. Solche Goldfelder können von einzelnen Goldgräbern ausgebeutet werden, sind aber in der Regel rasch erschöpft. Außerdem kommt das Gold im Quarzfelsen eingeschlossen vor, das Gestein ist mit Goldadern durchsetzt. Um das Edelmetall daraus zu gewinnen, muß man das Gestein zuerst zerkleinern und dann das Gold auswaschen. Pochwerke und größere Anlagen sind zu diesem Bergbau nötig, und diese werden gewöhnlich nicht von einzelnen Goldgräbern, sondern von Gesellschaften, die über größere

Aufstieg von Goldgräbern im Küstengebirge.

Kapitalien verfügen, ins Leben gerufen. In den achtziger Jahren wurde der Bergbau auf Gold in Alaska in Angriff genommen und ist namentlich auf der Douglasinsel gegenüber Juneau zu großer Blüte gelangt. Dort befindet sich auch das Pochwerk der Treadwell Gold Mining Company, das mit 240 Stampfern arbeitet und die größte Goldstampfmühle der Welt ist.

Die Prospektors drangen indessen von der Küste in das zumeist unbekannte Innere des Landes vor. Ihre Mühe blieb nicht vergeblich, an vielen Orten fanden sie das gesuchte Edelmetall und gründeten vor drei Jahren an den Ufern des Yukonstromes im Herzen des Landes Cercle-City, die ihren Namen vom Cercle, d. h. Polarkreis, erhielt, weil sie ungefähr unter demselben liegt. Die Wahl des Ortes für diese Niederlassung war insofern günstig, als der Yukonstrom, einer der größten Flüsse der Welt, als Verkehrsstraße benutzt werden konnte. Freilich beträgt die Länge dieses Wasserwegs von der Mündung des Yukon in die Beringsee bis zu Cercle-City etwa 2200 km. Diese Niederlassung war ein Stapelplatz, nach dem die nötigen Vorräte, Lebensmittel, Kleidungsstücke usw. den Strom aufwärts gebracht wurden, sie war der Stützpunkt der Goldgräber und ihr Winterquartier, in dem sie sich von den Sommerstrapazen des Goldschürfens ausruhten. Und leicht war dieses Gold fürwahr nicht erworben. Fernab von jeder Kultur, inmitten der Wildnis mußte der Goldgräber Entbehrungen aller Art ertragen, in dem kurzen Sommer, wo er arbeiten konnte, war das Klima nicht weniger verderblich als in dem langen Winter, in dem Fröste von 40° C sich einstellten. Trotzdem harrten die Pioniere aus und Cercle-City zählte 2000 bis 3000 Einwohner.

Dieses Centrum der Goldgräberbewegung im Innern Alaskas sollte indessen bald überflügelt werden.

Im August des Jahres 1896 kamen einige Prospektors an einen Nebenfluß des Yukon, der von den Indianern Klondyke, d. h. Fischfluß, genannt wird und an der Grenze von Alaska und Britisch-Nordamerika bereits auf englischem Gebiete liegt. Hier stießen sie auf Goldlager, die alles bisher Gefundene weit übertrafen, die reichsten Funde von Kalifornien schienen überflügelt zu sein. Die Kunde von dem neuen Dorado verbreitete sich zunächst unter den Goldsuchern Alaskas, die alsbald an den Klondyke eilten. An manchen Stellen lag hier das Gold offen zu Tage, so daß die glücklichen Finder es nur aufzulesen brauchten. In Hunderten von Fällen gewannen die Prospektors mit einer Pfanne Flußsand Gold im Werte von 200 bis 400 Mark, in Dutzenden von Fallen ergab eine Pfanne 800 bis 1000 Mark, ja ausnahmsweise betrug die Ausbeute sogar bis 3000 Mark für die Pfanne, dabei ist zu beachten, daß die in Alaska gebräuchlichen Goldgräberpfannen einen Durchmesser von etwa 40 cm bei einer Tiefe von 10 cm haben. Als die glücklichsten unter den Findern im Sommer des Jahres 1897 nach San Francisko mit ihren Schätzen heimkehrten, erregten ihre Berichte von dem neuen Goldlande das größte Aufsehen. Ein wahres Goldfieber erfaßte Tausende und aber Tausende, die nach dem oberen Yukon ziehen und dort ihr Glück versuchen wollten. Die Dampfer der Kompagnien, die den Verkehr mit Alaska vermitteln, konnten alle Passagiere, die sich herandrängten, nicht befördern, und es wurden Segelschiffe zur Fahrt nach dem neuen Dorado ausgerüstet.

Am Klondyke machte indessen das Goldgraben weitere Fortschritte, man drang in die Thäler zweier Nebenflüsse vor, die man Bonanzacreek und Eldoradofluß nannte, beide zeichneten sich durch gleichen Reichtum an Edelmetall aus. Die Indianer, die bis jetzt den gelben Klümpchen und Blättchen keinen Wert beigemessen hatten, erzählten den Weißen, daß es weiter flußaufwärts am Klondyke Schluchten gebe, die noch reicher an Gold seien, namentlich von einer rühmen sie, daß in ihr „alles“ Gold sei.

Außerdem wurden am Klondyke Quarzberge entdeckt, deren Goldreichtum demjenigen der berühmten Mine auf der Douglasinsel bei Juneau durchaus gleichkommt. Mag in den Berichten der heimgekehrten Goldgräber manches auch übertrieben sein, so viel steht doch fest, daß im Yukonthale ein Goldgebiet aufgeschlossen worden ist, das zu den reichsten der Welt zählt.

Am Klondyke, im Mittelpunkte der Goldgegend, ist indessen rasch eine „Stadt“, Dawson-City, erstanden, die bald nach ihrer Gründung im letzten Sommer gegen 6000 Einwohner zählte. Sie ist im großen Stil mit breiten Avenuen und Straßen angelegt, aber die Häuser sind selbstverständlich nur einfache Blockhütten. Bedenkt man, daß das Land fast gar nichts erzeugt, was zum Lebensunterhalt nötig ist, so wird man die Teuerung, die in Dawson-City herrscht, erklärlich finden. Ein Handarbeiter erhielt dort einen Lohn von 8 bis 10 Mark für die Stunde, aber zu derselben Zeit mußte man für ein Pfund Mehl 10 bis 12 Mark bezahlen.

Dawson-City ist reich an Goldgräberschenken, in welchen das sauer erworbene Gold nicht nur vertrunken, sondern auch verspielt wird. Unter den Goldgräbern befinden sich viele Leute mit dunkler Vergangenheit, trotzdem ist bis jetzt die Sicherheit im Yukongebiete nicht gefährdet. Dafür sorgt nicht nur die berittene [886] kanadische Polizei, die im Fort Cudahy in der Nähe der Dawson-City stationiert ist, sondern auch die strenge Zucht, welche die Goldgräber selbst ausüben.

Zu allen Zeiten und in allen Ländern war das Goldgraben ein Wagnis, bei dem Hunderte gewannen, andere Hunderte aber zu Grunde gingen. In Alaska ist das Risiko noch größer als in Südafrika oder Australien. Das Goldgebiet ist schwer zugänglich. Man kann es auf zwei Wegen erreichen. Zunächst führt dorthin der Wasserweg. Von einem der westamerikanischen Häfen, San Francisko, Portland oder Dacoma, reist man zu Schiff nach St. Michael an der Mündung des Yukonflusses und dann mit Flußdampfer den Riesenstrom aufwärts nach Dawson-City. Die Fahrt dauert etwa einen Monat. Diesen Weg benutzen auch die heimkehrenden Prospectors, indem sie auf selbstgezimmerten Flößen rasch stromabwärts treiben um nach dem Klondykegebiet zu gelangen, benutzen sie aber mit Vorliebe den direkten Landweg von Juneau aus, ungeachtet der vielen Beschwerden, die sie auf ihm erleiden müssen. Der Goldgräber kann in das Innere Alaskas keineswegs, wie er geht und steht, vordringen, sondern muß ein großes Gepäck mit sich führen. Es ist unbedingt notwendig, daß er Lebensmittel für mindestens sechs Monate mitnimmt, da er sonst Gefahr läuft, auf den Goldfeldern zu verhungern; auch muß er die nötige Kleidung mit sich führen und darf allerlei Werkzeuge, nicht nur zum Goldgraben, sondern auch zum Holzfällen, Zimmern von Flößen usw. nicht vergessen. Diese Ausrüstung kann er sich in Juneau anschaffen oder auch schon in einer der Hafenstädte an der pacifischen Küste der Vereinigten Staaten besorgen.

Fahrt von Hundeschlitten.

Besondere Vorsicht ist bei der Wahl des Anzuges für den amerikanischen Winter geboten; er besteht außer wollenem Unterzeug aus einem Pelzanzug, Pelzmütze, Pelzstiefeln, über die noch Gummistiefel kommen, seidenen und Pelzhandschuhen und kostet 400 bis 500 Mark. Drei bis vier Centner wiegt die Gesamtausrüstung des Prospektors, die er natürlich selbst nicht tragen kann. Mit Pferden und Hundeschlitten kann er auch nicht überall vorwärts kommen, er muß vielmehr indianische Gepäckträger mieten. Die erste Schwierigkeit, die sich den von Juneau aus in das Herz von Alaska Vordringenden entgegenstellt, ist der Uebergang über den 1300 m über dem Meere gelegenen Chilkoot-Paß. Für einen geübten Bergsteiger bietet der Paß an sich keine besondere Gefahr, obwohl in ihm kein richtiger Weg und Steg angelegt ist. Es ist schon vorgekommen, daß Reisende ihn in zwei Tagen glücklich überwanden. Das ist aber nur bei klarem Wetter möglich. Stellen sich Nebel ein oder herrscht auf der Höhe Schneetreiben, oder gehen Schnee- und Steinlawinen in dem Paß nieder, dann kann der Uebergang acht und vierzehn Tage lang dauern. Oft sind dabei Reisende zu Grunde gegangen, so daß der Paß in bösem Rufe steht. Nicht viel besser ist ein anderer Uebergang über die Gebirgskette, der Weiße Paß, beschaffen. Doch verlautet es, daß er in den letzten Monaten geebnet worden sei und daß nunmehr sogar Reiter über ihn setzen können. Hat der Goldsucher einen dieser Pässe überschritten, so setzt er seine Reise weiter bald zu Lande, bald zu Wasser fort; auf selbstgezimmerten Flößen muß er über Seen, benutzt, wo es angeht, Flußläufe, wobei er Gefahr läuft, von reißenden Stromschnellen und Strudeln erfaßt zu werden. Auf dem Grunde der Gewässer haben schon viele ein vorzeitiges Ende gefunden. Dieses harte Ringen mit den elementaren Gewalten der Natur wird noch durch Scharen von Moskitos erschwert, die den Reisenden peinigen; in dem rauhen Klima stellen sich auch allerlei Krankheiten ein, Fieber und Skorbut bedrohen den Wanderer. Fürwahr, nur abgehärtete Naturen können diese Reise wagen. Nur während des Sommers ist sie möglich. Tritt im Oktober der Winter ein, dann lassen sich wohl kürzere Strecken in Hundeschlitten zurücklegen, aber die Pässe sind verschneit, das Goldland ist von der Kulturwelt so gut wie abgeschnitten. In dem strengen, durch lange Nächte gekennzeichneten Winter muß auch die Arbeit in den Goldwäschen ruhen. Nur die Monate Mai bis September sind wirkliche Erwerbsmonate auf den Goldfeldern von Alaska.

So ist die Reise nach dem neuen Dorado beschwerlich und kostspielig zugleich. Nur der darf's wagen, unter die Goldgräber zu gehen, der neben eiserner Gesundheit über ein Kapital von mindestens 4000 bis 5000 Mark verfügt. Es scheint aber, daß im vergangenen Herbst Tausende, die nicht genügend ausgerüstet waren, in zu später Jahreszeit sich nach dem Goldlande begeben haben. Haben sie alle ihr Ziel glücklich erreicht? Finden sie in Dawson- und Cercle-City genügende Lebensmittel, um über den Winter durchzukommen? Mit Besorgnis sieht man den neuesten Nachrichten aus Inner-Alaska entgegen.

Goldgräberfloß auf dem Yukon.

Inzwischen rüstet man sich in den Vereinigten Staaten und in England zum Erschließen des goldreichen Landes. In das Herz der Wildnis hinein sollen Eisenbahnen gebaut werden, um im Fluge die märchenhaften Goldfelder erreichen zu können. Allem Anschein nach steht Alaska eine glänzende Zukunft bevor, denn nicht nur die Goldwäschereien im Flußsande werden reiche Erträge abwerfen. Auch in den goldhaltigen Quarzgängen dürften viele Millionen stecken, und wenn die Eisenbahn Maschinen zur Goldgewinnung an den Klondyke schafft, dann wird unter dem Polarkreis voraussichtlich für lange Jahre ein lohnender Bergbau erblühen.

Bis aber geordnete Zustände eintreten, werden diese Goldfelder Tausenden schweres Ungemach bringen, denn das Goldgraben bleibt immer ein gewagtes Glücksspiel, in dem wenige gewinnen, viele aber alles verlieren.


[887]

Unsere Neujahrsbriefe bei der Post.

Von Ernst Niemann.

Wenn das alte Jahr seinen Gang vollendet hat und ein neues mit dem Füllhorn seiner Gaben über die Menschen dahinzuziehen beginnt, dann pflegen Verwandte, Freunde und Bekannte ihre Glückwünsche auszutauschen; alte Beziehungen knüpfen sich von neuem an, den Gefühlen der Freundschaft und treuen Erinnerung wird aus schriftlichem Wege Ausdruck gegeben. Dieser in alle Bevölkerungsschichten eingedrungene Gebrauch veranlaßt alljährlich eine gewaltige, von Jahr zu Jahr steigende Hochflut des Briefverkehrs bei der Post. Kaum ist der Strom der vielen Millionen Weihnachtspakete vorübergebraust, da stellen sich auch schon, rasch anwachsend, die Vorboten des Neujahrsverkehrs ein.

Ein seltener Anblick bietet sich uns um diese Zeit beim Eintritt in die Briefabfertigungshalle eines großen deutschen Postamts. Briefe, nichts als Briefe! Auf den langen Tischen sind sie zu Bergen aufgehäuft, füllen die großen Fachwerke der Sortierspinde, bedecken die Arbeitsplätze, daß keine Holzfaser mehr sichtbar bleibt, und in Säcken stehen sie in den Gängen und Winkeln aufgestapelt. Soldaten schleppen gefüllte Körbe von einem Platz zum andern, aller Augenblicke öffnet sich die Thür und unablässig kommen und gehen die Briefkastenleerer. Wie die Stempel in der geschlossenen Rechten der Unterbeamten fliegen und stampfen vom Farbekissen auf die Briefmarken, indes die Linke mit gleicher Geschwindigkeit Briefe unter- und wieder fortschiebt!

Ein halbes Dutzend Eisenbahnlinien strahlt von der Stadt nach allen Richtungen aus - wie nur Ordnung bringen in dieses wilde Durcheinander der Briefe? Sie verschwinden zunächst zwischen den großen Fachregalen, wo die Zunft der „Grobsortierer“ haust. Hier werden die Briefschaften nach den Hauptrichtungen und Ländern getrennt, mit denen jedes der großen Fächer bezeichnet ist. Bei den Grobsortierern beginnt der spätere Abfertigungsbeamte und „Fahrer“ als „Säugling“ seine Laufbahn für den Speditions- und Bahnpostdienst er lernt hier die postalische Geographie in ihren Grundrichtungen kennen, ehe er in die Mysterien des „Feinsortierers“ eindringt. Es besteht in dieser Abteilung eine eigentümliche etymologische Speditionskunst, die sich in der Hauptsache auf den Wortklang der Ortsnamen gründet. Dem Anfänger prägt die Praxis gar bald ein, wo die Orte aus „leben“, „rup“, „städt“, „stedt“, „grün“ etc. zu suchen sind; die polnischen und lithauischen Ortsnamen haben ihren eigentümlichen geographischen „Geruch". Auch die Namen der Flüsse sind schätzenswerte Hilfsmittel, wie z. B. die Saar bei den Orten Saaralben, Saarbrücken, Saarunion, Saargemünd, Saarlouis, Saarburg, Saarwellingen, Saarau - halt! Saarau liegt in Schlesien! Man sieht, mit der Regel allein geht’s doch nicht, man muß auch die Ausnahmen kennen, sonst könnte die Unwissenheit den Briefen leicht verhängnisvoll werden. Wirklich verhängnisvoll wird vielen Briefen aber die unglaubliche Oberflächlichkeit der Adressenschreiber und die Undeutlichkeit der Handschriften, von mundartlichen Kunststückchen der Provinz ganz zu schweigen.

Es giebt ganze Ortsnamen-Familien, deren Mitglieder bis zu einer Zahl von 25 über - Deutsche Reich verstreut liegen. Die Neustädte sind darunter die Müller und Schultze. Aber auch schon Neukirchen (20), Neukirch (15), Reichenbach (13), Schönau (15) u. a. m. sind recht neutrale Ortsnamen und ein wahres Kreuz für den Sortierer. Dann ist ein großer Unterschied zwischen Mühlhausen (10) und Mülhausen (1), wie auch zwischen Mühlheim (3) und Mülheim (4). Trotzdem gehen viele Adressenschreiber mit souveräner Verachtung alles Kleinlichen darüber hinweg. Wer also viele Briefe zu schreiben hat, der sollte sich doch ohne Zagen in die Unkosten stürzen und sich ein „Verzeichnis gleichnamiger und ähnlich lautender Postorte“ zulegen das ihm jedes Postamt mit dem größten Vergnügen für 15 Pf. verkauft. Es handelt sich bei den obigen Ortsnamen nur um Postorte, viele Briefschreiber verlangen aber gar von unsern „Groben“, daß sie jedes kleine Dörflein oder Rittergut im weiten Deutschen Reich kennen, und verschmähen es in dieser liebenswürdigen Voraussetzung, durch den Namen des nächsten Postortes die Ortslage näher zu bezeichnen. Da ist es denn kein Wunder, wenn sich neben den „Grobsortierern“ ein ganz an. sehnliches Häuflein „Fauler“ aufbaut, dem bald die Sekte der „Aufklärer“ mit umfangreichen Lebenswerken auf den Leib rücken wird.

Jedes Fach des Grobsortierspindes hat einen Feinsortierer hinter sich, dem die für seine Kursrichtung vorsortierten Briefe in Körben zugetragen werden. Er gehört einer höheren Ordnung der Speditionsbeamten an und genießt die unbegrenzte Bewunderung aller bescheidnen Anfänger. An seinem Arbeitstisch mit mehrstufigem Aufsatz wird die Briefmasse des Kurses - nehmen wir an, es wäre die Strecke Leipzig – Eisenach – Frankfurt a. M. - bis in das einzelnste und genaueste durchgehechelt und zum Versand gebracht. Nach jedem Orte im Verbindungsnetz der Hauptlinie, für den mehr als 5 Briefe vorliegen, muß ein Briefbund gefertigt werden, das übrige wird zu Kursbunden für die zahlreichen Anschlußlinien, auch für die ausländischen, verarbeitet. Der Feinsortierer muß wissen, wie überallhin die schnellsten Verbindungen auszunutzen sind, nicht bloß der Eisenbahnen, sondern auch der Fahrposten, und darf sich daher z. B. nicht irreführen lassen, wenn der Absender einen Brief nach Roßdorf bei Dermbach gerichtet hat er muß ihn über Wernshausen leiten. Das lernt sich freilich nicht aus dem „Daniel“, es erfordert ein langes unermüdliches Studium der besonderen postalischen Geographie, des weitverzweigten Verbindungsnetzes von 26 000 deutschen Postorten.

Die großen und kleinen Briefbunde, die jetzt noch offen nebeneinander auf Tisch und Borden vor dem „Feinsortierer“ ausgebreitet liegen, zählen nach Hunderten, und darüber fahren die Hände des arbeitenden Beamten hinweg wie die eines Klaviervirtuosen über die Tasten. Das „Kleistern“, d. h. Nachsehen in Büchern und Kartenwerken ist eines rechtschaffenen „Feinen“ unwürdig. „Schluß! Abbinden!“ ruft es jetzt. Unterbeamte treten heran, und jedes einzelne Briefbund wird mit einem Titelschilde versehen und kreuzweise umschnürt. Die Arbeit des Feinsortierers hat den Erfolg gehabt, daß die Bunde mit 10, 50 bis 100 Briefen vorläufig auf ihrer Reise mit der Vereinfachung behandelt werden können, als wären es einzelne Briefe. Es leuchtet ein, von welcher Wichtigkeit für die glatte Abwicklung des Neujahrsverkehrs die Thätigkeit dieses Beamten ist; denn das Hauptbestreben der Postämter muß darauf gerichtet sein, durch sorgfältige Bearbeitung der Briefmassen die Bahnposten zu entlasten, damit dort keine Stockungen eintreten. Sehr erschwert wird die Anfertigung der Bunde durch die ungleichen Formate der Briefe. Gerade zu Neujahr werden besonders gern Visitenkartengrößen verwendet; dazu kommen noch die andern abenteuerlichen Formen, von Briefmarkengrößen bis zu Dreieckzipfeln und „Strumpfbändern“ und was die Dame Mode sonst noch in der Papierindustrie ausheckt! Der Postbeamte betrachtet diese wunderlichen Dinger mit feindseligen Blicken, denn er wird durch sie gezwungen, anstatt festgefügte Briefbunde verächtliche „Kapuziner zu bauen“, unförmliche Wickelbunde, auf die jeder „anständige Fahrer“ mit dem Ausdruck nachsichtigen Bedauerns mit dem Finger weist.

Die „Fahrer“ sind ein merkwürdiges Völkchen. Wenn sie in den Briefmassen schier umzukommen scheinen, befinden sie sich in ihrem Element. Der Bahnpostwagen hat die dickbauchigen Briefsäcke aufgenommen und ebenso vollgepfropfte für die Ortspostanstalt abgegeben. Mit blitzartiger Geschwindigkeit sind die neu hinzugekommenen Säcke geleert und der Inhalt in Körbe, Säcke und Fachwerke verteilt; in einer Ecke bearbeitet der Postschaffner das „Langholz“, das sind unförmlich große Drucksachen, Warenproben etc., die nicht briefpostmäßig verpackt werden können. Der Zug hält wieder. Briefsäcke werden ausgeladen, neue hereingenommen - es ist ein ewiger Wechsel. Sie türmen sich auf bis unter die Wagendecke, beengen den großen Raum, daß nur ein schmaler Gang in der Mitte bleibt.

Von allen deutschen Städten hat die Reichshauptstadt natürlich den größten Anteil am Neujahrsverkehr. Gegen 7 Millionen aus allen Richtungen zusammenströmender Briefe muß das Briefpostamt zu Neujahr in die Hände ihrer Adressaten bringen. Das ist keine leichte Arbeit, die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß diese Unmasse von Briefen der Post nicht langsam zufließt, sondern sie überflutet wie ein urplötzlich hereinbrechender Gebirgsstrom. Sehen wir nun zu, wie die Berliner damit aufräumen.

Es kommen zunächst 2 Millionen Berliner Stadtbriefe in Betracht, das sind solche, die in der Stadt ausgeliefert und an Bewohner der Stadt gerichtet sind. Einen großen Teil derselben schafft man sich dadurch vom Halse, daß Neujahrsbriefe schon vom 26. Dezember ab entgegengenommen und für die Neujahrsbestellung fix und fertig vorgearbeitet werden. Für die Stadtbriefe ist eine besondere Centralbriefverteilungsstelle eingerichtet, in der eine Garde von 170 Mann an mächtigen Sortierspinden die heranströmenden Briefmassen zunächst nach Postbezirken trennt. Es ist das ein besonders für diesen Zweck geschaltes, durch Erfahrung und Probedienst vorgebildetes Personal, dessen Brauchbarkeit durch körperliche Gewandtheit, leichtes Fassungsvermögen und gutes Gedächtnis bedingt wird. Aus allen Stadtteilen, von der Peripherie anfangend, rollen die Wagen allstündlich heran, gefüllt mit vollgepfropften Briefsäcken, deren Inhalt sich unablässig auf breite, durch die ganze Länge des Saales streichende Packtische ergießt. Von hier teilt sich der Strom in 9 Richtungen (Postbezirke); große gefüllte Weidenkörbe verschwinden zwischen den Parallelreihen von Fachwerken, wo die Briefe jeder der 9 Postbezirke wieder nach Bestellpostanstalten getrennt werden. So schnell wie sie gekommen, fließt die Flutwelle auch wieder ab. Auf dem Posthofe kommt plötzlich Bewegung in den Wagenpark, Karriole fliegen davon und durch die Straßen den verschiedenen Postanstalten entgegen. Gegen Mitternacht steigt die Hochflut zu einer beängstigenden Höhe, die Abflußkanäle vermögen die Menge nicht mehr zu fassen. Das Arbeiten der Sortierer gleicht dem Verzweiflungskampfe gegen eine Uebermacht - ein mehrstündiges hartes Ringen noch und dieser Teil des Berliner Neujahrsverkehrs ist bewältigt.

Aber dies war nur der kleinere Teil; zweiundeinhalbmal so groß ist die Zahl der Briefe, die von auswärts, aus aller Herren Ländern, aus allen Richtungen in dem Sammelbecken des Berliner Briefpostamts zusammenströmen. Die Hauptschwierigkeit liegt auch hier in dem Sortiergeschäft, denn die Briefe kommen zum großen Teil „wild“ nach Berlin. Die Absender verschmähen gar zu oft die Unbequemlichkeit, die mit dem Hinzufügen der Bezirksbuchstaben N., O., W., C., NW, etc. zu dem Ortsnamen verbunden ist, so daß es den Ausgabepostanstalten und Bahnposten unmöglich ist, solche Briefe für Berlin bezirksweise vorzusortieren. Um die Wucht der Verkehrsanschwellung abzuschwächen schickt das Berliner Briefpostamt zwei Tage vor Neujahr ein paar Dutzend ortskundige Beamte den Bahnposten auf den Hauptlinien entgegen. Diese besetzen in den Zügen einen eigens für den Berliner Verkehr eingestellten Postwagen und sortieren die Briefschaften schon im voraus für die Bestellung, ehe sie nach Berlin hereinkommen. Aber es bleibt gleichwohl noch ein gewaltiges Stück Arbeit für das Berliner Briefpostamt. Der große Verteilungssaal bietet ein ähnliches Bild wie die Stadtbriefabteilung, doch noch bedeutend großartiger und bewegter. Man sieht dort in gerader Linie nebeneinander vor den großen Sortierspinden [888] gegen 40 Grobsortierer. Mit der sicheren Hand eines Taschenspielers werfen sie die Briefe aus einiger Entfernung in die Fächer; das wirbelt nur so vor ihren Augen von pfeilschnell durch die Luft fliegenden Briefen. Der Grobsortierer stellt hier die höchste Stufe in der Briefbehandlung dar. Das Amt erfordert die Anspannung aller Nerven, ein scharfes Auge, das im Nu schlecht und gut geschriebene Adressen entziffert. Daneben muß der Mann das ganze Straßenbild der Reichshauptstadt und die posttechnische Begrenzung im Kopfe haben von jedem Hause ohne langes Besinnen angeben können, wohin es gehört. Die Feinsortierer haben dagegen ein begrenzteres Arbeitsfeld, sie trennen nur innerhalb der verschiedenen Postbezirke nach Bestellpostanstalten.

Mitten in das emsige Schaffen ertönt um Mitternacht das Glockengeläut der nahen Domkirche. Die ehernen Klänge vereinigen sich mit den mächtig widerhallenden Choraltönen der Posthorngruppe draußen auf den Posthofe. Eine kleine Pause feierlicher Stille, für einen Augenblick ruht die Arbeit, dann wird der Kampf von neuem aufgenommen. Zwölf bis vierundzwanzig Stunden später als in der Abteilung für Stadtbriefe tritt hier die Hochflut ein, die von den Verhältnissen der Entfernungen bestimmt wird.

Abseits von dem großen Strome der regulären Neujahrsbriefe fließt träge das kleine trübe Bächlein der „faulen“ Briefe mit unvollständigen und unleserlichen Adressen. Man sollte es nicht für möglich halten, daß es noch Leute giebt, die nach einer Stadt wie Berlin Briefe richten mit der Aufschriften „An Herrn Apotheker Schmidt in Berlin“, „Herrn Studiosus Schulze in Berlin“ u. s. w. Und doch gehen zu Neujahr in Berlin nicht weniger als 90 bis 100 000 solcher Briefe ein, die erst nach mühsamem Nachschlagen der Adreßbücher, Firmenverzeichnisse, Listen der Studierenden, Architekten, Künstler oder der Vereinsverzeichnisse wieder flott gemacht werden können. Schon für den gewöhnlichen Jahresverkehr besteht beim Briefpostamte eine „Aufklärungsstelle“ mit 12 Beamten, zu Neujahr tritt daneben eine besondere Zweigstelle mit 100 Beamten in Kraft, die tagelang nichts anders zu thun haben, als die Flüchtigkeiten und Nachlässigkeiten der Absender wieder gut zu machen, soweit sie es überhaupt vermögen. Dabei gestaltet sich die Aufgabe so schwierig, daß ein Beamter in der Stunde durchschnittlich nicht mehr als 20 bis 25 Briefe in einen bestellbaren Zustand bringen kann. Und dann müssen noch die schwerbeladenen Briefträger treppauf, treppab laufen, überall umherfragen und suchen nach dem Apotheker Schmidt oder dem Studiosus Schulze.

Es herrscht schon Freude bei der Post um einen solchen „faulen“ Brief, wenn er nach langen Irrfahrten endlich doch seinen Platz an irgend einem Herde findet, und alle Mühe und Arbeit erhält dadurch ihren Lohn.


Der Stoandlnarr.

Eine tiroler Geschichte von Rudolf Greinz.

     (Schluß)

Romedi!“ ließ sich die Emerenz mit leiser, halb erstickter Stimme vernehmen, indem sie versuchte, die Hand des Burschen zu ergreifen. „Was thust du an mir, Romedi!“

Er entzog ihr hastig seine Hand und meinte, während sie scheu einen Schritt zurückwich: „Beim Altvorsteher mußt dich bedanken, Emerenz. I hätt’ ja allein doch nix ausg’richtet!“

Sie hatte eine Entgegnung auf der Zunge, wagte jedoch kein Wort mehr, sondern ergriff beide Hände des alten Bauern, die sie lautlos drückte, während ihr die hellen Thränen übers Gesicht liefen. Der Hochlechner geleitete sie auf eine Bank beim Haus und sprach freundlich auf sie ein.

Die Leute begannen sich allmählich „zu verlieren“. Auch der Hochlechner ging, nachdem er von der Emerenz Abschied genommen und mit dem Romedi einen kurzen Gruß ausgetauscht hatte.

Der Luis ballte dem Altvorsteher die Faust nach. „Es kommt schon noch a Tag!“ würgte er wütend hervor.

„Freilich kommt a Tag!“ höhnte der Romedi. „Da sagst mir gar nix Neues. Is alleweil noch a Tag kommen, sobald die Nacht vorbei war. Und du wirst wahrscheinlich koa andere Weltordnung aufbringen. Jatz schaust aber’, daß du schleunig aus dem Anger außi kommst! Du hast da herein gar nix mehr z’ suchen! Und wenn d’ nit glei’ schaust, daß du Füß’ kriegst, dann mach’ i dir welche! Oder Flügel auch, wenn d’ willst! Kannst dir ’s g’rad’ aussuchen! Mir kommt’s nit drauf an. Wenn d’ nit durch die Thür durchgehn willst, wo der Zimmermann ’s Loch g’macht hat, dann wirf i dich übern Dachstuhl außi, daß d’ bis zum jüngsten Tag in der Luft droben hangen bleibst, du Gaudieb, du elendiger!“ Der Romedi krempelte sich mit nicht zu verkennender Absicht die Hemdärmel auf, so daß es der Kramer für angezeigt fand, eilig das Weite zu suchen. Schallendes Gelächter der Anwesenden folgte ihm.

So mancher drückte dem Romedi zum Abschied die Hand, der früher an ihm vorübergegangen war und ihn kaum gegrüßt hatte. Der Anger war bald von den Leuten geleert. Der Romedi merkte es gar nicht, als er zuletzt allein war. Er stand wie verloren da und starrte an dem alten Nußbaum hinauf. Plötzlich spürte er auf seiner Hand etwas Feuchtes. Er schreckte zusammen und wandte sich jäh um.

Die Emerenz lag vor ihm auf den Knieen im Grase und bedeckte seine Hand mit Küssen. Er riß sich los. „Was thust da! Steh’ auf! Man kniet nur vor unserem Herrgott!“

„Nit, bevor du mir verziehen hast!“ entgegnete das junge Weib mit leiser, thränenerstickter Stimme. „I mein, i muß mi ja vor Scham vor dir in die Erd’ eini verkriechen, wenn i an alles z’ruck denk’!“

„So denk’ halt nit z’ruck!“ erwiderte der Romedi rauh. „I denk’ auch lieber nit z’ruck!“

Das junge Weib erhob sich mühsam vom Boden. Die beiden waren allein auf dem weiten Anger. Den Romedi schien seine abweisende Antwort zu reuen. Er fuhr mit milderer Stimme fort. „Was i than hab’, Emerenz, dös hab’ i darum than, damit dem Schuften sein Plan nit aufgeht und weil i wirklich mit ganzem Herzen an dem Hof da g’hangen bin.“

„I kann dir’s nie vergelten,“ erwiderte die Emerenz. „I hab’s ja nit verdient um dich. Recht wär’ mir g’schehen, wenn sie mich von Haus und Hof g’jagt hätten!“

„Verdient oder nit verdient,“ entgegnete der Romedi, „darum handelt’s sich jetzt nit. Und Vergeltung brauch’ i auch keine! Am besten kannst mir’s vergelten, wenn du nimmer davon red’st!“

„Hast recht,“ sagte sie dumpf. „I bin’s ja gar nimmer wert, daß du an Dank von mir annimmst, was d’ sonst von an jeden Bettler auf der Straßen annehmen kannst.“

„So hab’ i ’s nit g’meint,“ beschwichtigte sie der Romedi.

„Reden wir von allem nimmer. I werd’s morgen am G’richt schon ordnen, und alles, was weiter is, kannst ja dann auf’m G’richt erfragen. Wir brauchen deswegen einander nit im Weg umz’gehen. Mein Geld is mir sicher g’nug auf dem Hof da. Und Kramer Luis bin i auch keiner. Und wenn’d was brauchst, schickst mir a Brieferl aufi in Berg. Was G’schrieben’s gilt heutzutag’ bei den meisten Leuten mehr als a einfach’s Wort allein!“

Sie schien den bewußten oder unbewußten Vorwurf, der in der letzten Rede des Romedi lag, zu fühlen und zuckte schmerzlich unter demselben zusammen.

„Romedi!“ stammelte sie und sah mit angsterfüllten Augen zu ihm auf. Doch er wich ihr aus und ging mit einem flüchtigen Gruß durch das offen stehende Hofthor, das vom Anger auf den Kirchenweg führte, davon.

Als der Romedi am späten Nachmittag in seine Werkstätte hoch droben im Gebirg heimkam, betrachtete er mit einem gewissen Galgenhumor eine auffallende leere Lücke in einem der Balken, die früher das geheime Schubfach enthalten hatte.

„Möchtest es nit meinen,“ sprach er vor sich hin, „daß in dem klein Lückerl da a ganzer Hof Platz hat!“ Daß er seinen ganzen Stolz, die mühselige Arbeit von Jahren geopfert hatte, um die Tochter seines ehemaligen Dienstgebers vor dem Bettelstab zu retten, das hatte der Romedi im Dorf drunten freilich verschwiegen. „Macht nix,“ tröstete er sich selbst, „der Herrgott laßt alleweil wieder neue Stoaner wachsen!“ …

Im Praxmarerhof brannte in der Kammer der Emerenz noch lange nach Mitternacht das Licht. Drinnen wälzte sich das junge Weib schlaflos auf den Kissen und schluchzte herzbrechend. „Heilige Mutter Anna, laß’ mich nit so hart büßen für mein Sünd’! Und es hätt’ alles anders kommen können! Jetzt is aber alles aus, alles verloren! Laß’ mich lieber sterben, heilige Mutter Anna!“ – – – –

November war’s worden. Ein rauher Winter war ins Land gezogen. Der Sturmwind heulte über die Jöcher, im Thale lag fußhoher Schnee, und noch immer wirbelte es in den Höhen in wildem Tanze. Um die Bergspitzen schien die tolle Jagd selber los zu sein. Man sah nur noch – wenn sich das Wetter überhaupt lichtete – die grauweißen breiten

[889]

Sylvester-Orakel.
Nach einer Originalzeichnung von Oscar Gräf.

[890] und schmäleren Striche, die sogenannten Schneebesen, die der Sturm dort oben in unwirtlicher Höhe zusammenpeitschte. Das kleine Haus des Romedi hatte es fast eingeschneit. Er mußte mit seinem Bruder in den letzten Tagen immerwährend Schnee aufschaufeln, damit ihm die weißen Massen nicht bis über die Fenster hinaufwuchsen.

Heute war es am ärgsten. Draußen pfiff und tobte es, daß es manchmal tönte wie gewaltige Orgelmusik, dann wieder wie mächtiges Läuten, das die ganze Welt erfüllte. Es ging schon gegen Mitternacht. Der Romedi war noch wach, während sich sein Bruder schon längst in die Federn begeben hatte. Der „Stoandlnarr“ lag in der kleinen Stube, in der er sich spät am Abend noch einmal bacherlwarm eingeheizt hatte, auf der Ofenbank. Neben sich auf einen Stuhl hatte er die kleine Petroleumlampe mit dem grünen Schirm gestellt und las eifrig im „Landboten“, einem Wochenblatt und zugleich der einzigen Zeitung, die sich der Romedi hielt. Nach seiner Ansicht kam das Blatt ohnedies viel zu oft heraus. „Alle Monat hätt’ sich’s auch than. Guat’s steht ja nie in a Zeitung drein. Und das Schlechte erfragt man früh g’nua. Und wenn der Papst oder der Kaiser stirbt, erfragt man’s ganz glei, da braucht man nachher überhaupt koa Zeitung!“

Deswegen war der Romedi aber doch neugierig, was in der Welt passierte. Da er seit einer Woche des schlechten Weges halber nicht mehr ins Dorf gekommen war, um sich seine Zeitung beim Posthalter abzuholen, las er mit einer gewissen Andacht den „Landboten“ von voriger Woche noch einmal durch, obwohl er ohnedies das Meiste schon auswendig wußte.

Bei dieser Beschäftigung begann er allmählich „einzuludeln“. Im Halbschlaf kam ihm das Gelesene alles durcheinander … die landwirtschaftliche Ausstellung und das beste Mittel zum Fleckputzen, eine Reise des Statthalters und ein Brand im Oberinnthal, Waldaufforstung und Tiroler Landstube. Zuletzt saß er mit dem Statthalter selbst beim Sternwirt drunten im Dorf und machte einen „damischen Perlagger“ (ein Kartenspiel), gewann dem „Erlenzherrn“ den letzten Knopf Geld ab und kaufte sich darauf beim Kramer Luis um zehn Kreuzer „Boxhörndeln“, wie die Tiroler statt Johannisbrot sagen. Plötzlich schreckte der Schläfer empor. War das nicht ein Schrei gewesen? Träumte er noch oder war es Wirklichkeit? Er richtete sich auf und lauschte angestrengt. Jetzt wieder ein vom Sturm halbverwehter Schrei! Der Romedi sprang mit beiden Füßen zugleich auf den Stubenboden. Nun war er vollkommen munter. Der Sturm machte eine kleine Pause. Er konnte ganz deutlich ein Wimmern vor seinem Hause vernehmen.

Ein Mensch befand sich in Not. Da galt es rasch hinaus! Er ergriff die Lampe, eilte durch den Hausflur zur Thür, schob den Balken zurück. Es gelang ihm nur mit Anstrengung zu öffnen. Hatte ihm das „Malefizwetter“ jetzt gar die Thür auch noch zugeschneit!

Mit einem kräftigen Ruck stieß er sie endlich auf. Ein schwerer Körper, der vor derselben gelegen hatte, rutschte dadurch in die Schneemassen vor der Hausthür zurück. Mit einem Satz war der Romedi im Freien. Er griff nach dem starren Körper. Ein Weib!

Und als er ihr ins Gesicht leuchtete, wollte ihm die Lampe schier aus den Händen fallen. Er umfaßte dieselbe krampfhaft. Im nächsten Augenblick verlöschte ein Windstoß das Licht. Der Romedi stellte die Lampe in den Schnee, hob das ohnmächtige Weib mit kräftigen Armen empor und trug es im Finstern in die Stube. Dann holte er die Lampe, schloß den Riegel vor der Thür, trat wieder in die Stube und machte Licht. Er zitterte so, daß er mehrere Schwefelhölzer anbrennen mußte, bis er den Docht der Lampe fand.

Er hatte das junge Weib in der ersten Bestürzung auf die Ofenbank gebettet. Jetzt schlich er auf den Zehen zu ihr und leuchtete ihr wieder ins Gesicht. Sie war es – die Emerenz! Die Augen hatte sie geschlossen. Ein schwaches Atmen hob ihre Brust. Ihre langen Zöpfe, die losgegangen waren, fielen von der Bank bis zum Boden nieder. Ihr Gesicht erschien in dem grünen Schimmer der Lampe nur noch bleicher.

Eine unsägliche Angst überkam den Romedi. unwillkürlich erfaßte ihn das dumpfe Gefühl, daß er an dem allen schuld sei. Und wenn sie jetzt sterben sollte, dann wäre er ihr Mörder!

Wieder und wieder hatte er seit jenem Tag an sie gedacht, als sie im Anger beim Praxmarerhof voneinander schieden. Und immer milder und versöhnlicher waren seine Gedanken geworden. Immer mehr hatte die Erinnerung an die wenigen schönen und lieben Stunden, die er mit ihr verlebt, die Einsamkeit und Verbitterung der nachfolgenden Jahre verscheucht. Oefter ertappte er sich bei der geheimen Absicht, die Emerenz doch wieder einmal aufzusuchen und zu fragen, wie es ihr gehe. Aber sie würde ihm ja schreiben, wenn sie etwas brauchte. Gespannt wartete er auf das erste Lebenszeichen von ihr – sie schrieb nicht. Da war noch einmal wilder Trotz über den Romedi gekommen. Was er für sie gethan, hatte sie vielleicht nur als etwas Selbstverständliches von dem ehemaligen Knechte hingenommen! Vielleicht lachte sie den „guat’n Lapp’n“ hinter seinem Rücken noch dazu aus!

Jetzt, als er auf das bleiche Weib vor sich niedersah, schämte er sich solcher Gedanken. Da war kein Hochmut mehr! Das war das Elend, gebrochen, niedergedrückt, mit einer stummen Bitte in den Zügen! Doch was stand er da, statt zu helfen! Ein Fieberschauer ging durch den Körper des jungen Weibes. Der Romedi rannte in die nebenliegende Kammer und brachte Bettzeug, in das er die zitternde Gestalt hüllte. Unter den Kopf schob er ihr ein Kissen. Er holte die Flasche mit dem Enzian aus dem Wandkasten, goß sich davon in die hohle Hand und rieb der Ohnmächtigen damit die Schläfen. Der scharfe Geruch mochte die Lebensgeister wieder anfachen. Das junge Weib that einige tiefe Atemzüge und schlug dann die Augen langsam auf. Erstaunt sah sie um sich. Sie schien sich erst langsam zurecht zu finden. Als sie den Romedi erblickte, flog eine jähe Röte über ihr Gesicht.

„Du bist da, Romedi?“ murmelte sie mit kaum hörbarer Stimme und versuchte ihren Kopf zu heben, ließ ihn aber gleich wieder kraftlos auf das Kissen sinken.

„Emerenz!“ sagte er, „mein armes Hascherl!“

Ein glückliches Lächeln verklärte ihre Miene. Daß er so gut zu ihr sprach, schien sie mehr zu stärken als alles andere.

Sie faltete langsam ihre Hände über der Brust und sah ihn geraume Zeit still und selig an. Er wagte nicht, zu sprechen. Es war, als ob auf leisen Sohlen ein Engel durch die niedere Stube schwebte, um den zwei hartgeprüften Menschenkindern himmlischen Frieden zu bringen!

„Bist mir nit bös, Romedi?“ fragte sie endlich scheu und kindlich.

„Warum soll i dir bös sein?“ entgegnete er, indem er ihre kalten Hände ergriff und sie in den seinen wärmte. Er fühlte es, wie sein Herz pochte, als ob etliche Hammerschmiede darin ihr Handwerk betrieben. „Wie kommst denn eigentlich bei dem Wetter da aufer?“ frug er.

Sie schwieg eine Weile, als ob sie sich’s erst überlegen müßte, wie alles zugegangen war. Dann antwortete sie mit fester Stimme. „Weißt, Romedi, mein Willen is ’s nit g’wes’n. I hab’ dir wahrhaftig meiner Lebtag nimmer unter die Augen kommen wollen. I kann wirklich nix dafür.“

„Ja, wo hast denn nachher hin wollen?“ fragte er.

„Das weiß i selber nit!“ bekannte sie. „Fort, in die Welt außi, nur fort von da! Weil’s mich nimmer g’litten hat mit all meiner Schand’ in deiner Näh’. I will dir nit lang’ lästig fallen“, meinte sie mit einem müden Lächeln. „Es geht schon wieder besser. I werd’ mich bald ausg’rastet haben, und dann mach’ i mich wieder auf’n Weg.“

„Also fort hast wollen?“ entgegnete er gedrückt.

„Ja!“ versicherte das junge Weib mit einer eigentümlichen Festigkeit. „I wär’ iatz schon über alle Berg’ aus, wenn i mich nit verirrt hätt’ und vom Weg abkommen wär’!“ Sie hatte sich von der Bank erhoben und stützte sich mit einer Hand an den Fensterbalken. „I weiß nur mehr, daß i nix mehr g’sehen hab’ vor lauter G’stöber und Sturm, daß i Reu’ und Leid erweckt hab’, weil i glaubt hab’, mein letztes End’ sei kommen. Dann hat sich alles um mich dreht, der Himmel, der Wald und die ganze Welt! I werd’ wohl hing’fallen sein im Schnee, weil i mich nimmer hab’ auf die Füß’ halten können – und z’letzt bin i da bei dir aufg’wacht. Eine flüchtige Röte flog über ihr Gesicht.

„Na, g’scheiter is ‘s doch, du bist da aufg’wacht, als du wärst draußen gar nimmer aufg’wacht!“ meinte der Romedi mit einem Anflug von Humor.

[891] „I weiß nit, ob’s nit besser g’west wär,“ entgegnete sie halblaut.

„Laß dich nit auslachen! Dös is a dummes G’red’ und a sündhaftig’s G’red’ auch noch dazu!“ sprach sich der Romedi in völligen Eifer hinein. „Und a Narretei is ’s, daß du in so ei’m Wetter in Berg aufi rennst. Hättest ja den Tod davon haben können! Und was hätt’ denn nachher i ang’fangt?“

„Du?“ fragte sie aufhorchend.

„Ja, i!“ rief er. „Oder bin i vielleicht der Niemand auf der Welt? Hätt’ i vielleicht noch a ruhige Stund’ haben können, wenn du mir da draußen verfroren wärst? Daß i ’s g’rad’ außer sag’, Emerenz, oft g’nuag hat’s mich trieben, amal nachz’schauen, wie ’s dir geht! Aber der Eigensinn hat mich nit lassen. Doch wenn du mir heut’ z’ Grund gangen warst und i wär’ die Schuld dran g’wesn, i weiß nit, was mit mir geschehen wär!“

Er schöpfte tief Atem. Sie hatte sich weit vorgebeugt und lauschte in atemloser Spannung seinen Worten. Sie glaubte zu träumen. So sprach nicht jemand, der sie verachtete, der ihr noch etwas nachtrug. Hatte er ihr verziehen? Der Romedi maß einigemal mit hastigen Schritten die Stube. Er rang offenbar nach den richtigen Worten und fand sie doch nicht. Endlich trat er auf das junge Weib zu, faßte sie an beiden Händen und zog sie langsam an sich: „Außer muß es! Zu was sollen wir uns noch lang verstecken. Schau’, i weiß es, Emerenz, daß du dein Hochmut schwer g’nuag büßen hast müssen, daß du neben dei’m Mann nit z’frieden warst. Und i hab’ dich nimmer vergessen können. Der Herrgott hat uns beide in a harte Schul’ g’nommen. Lass’n wir’s jatz guat sein! Vergessen hast mich auch nit, Emerenz, das merk’ i! Und wie i dich eben g’funden hab’, draußen im Schnee, da is mir a Stich durchs Herz gangen, und g’schworen hab’ i mir’s, mein mußt sein, wenn d’ noch amal lebendig wirst! Und davonlaufen hast du wollen? G’rad’ so mir nix dir nix davonlaufen?“ meinte er lachend und drückte das junge Weib an sich. „Davonlaufen über alle Berg’! So was! Lauf’ jatz davon, wenn d’ kannst!“

Sie lehnte ihren Kopf wie betäubt an seine Schulter. „I verdien ’s ja nit, Romedi!“ sagte sie kaum hörbar.

Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen. „Gelt, wir bleiben beisammen, Emerenz? Es giebt kein Auseinandergehen mehr zwischen uns beiden?“

Sie schüttelte leise mit dem Kopf. Sie schien es noch immer nicht recht glauben zu wollen.

Da ging die Stubenthür auf. Der Bruder des Romedi trottete mit der Stall-Laterne herein. „Sein der Viech in der Stall gans wild,“ tutto furioso von der Wetter. Aber ick mussen bissel nachsau –“ Erst jetzt bemerkte der „Krautwallische“ die Emerenz, die ihre Arme um den Hals des Romedi geschlungeu hatte. Er ließ ein verblüfftes: „Ostia! Madonna!“ hören und wollte wieder zur Thür hinaus, als ihm der Romedi zurief: „Bleib’ nur da. Bist grad’ recht kommen, daß du deine zukünftige Schwägerin kennen lernst!“

Der Bruder stellte die Laterne eilig auf eine Bank, wischte sich die rechte Hand umständlich an seiner Schürze ab, ging dann auf die Emerenz zu, der das Glück aus den Augen strahlte, und schüttelte ihr kräftig die Hand. Die Thränen liefen dem ehrlichen Burschen vor lauter Freude über das Gesicht. „Dio mondo!“ rief er aus. „Du sein wollen Swagerin? Va ben’! Du sein eine brave Weibele. Iste nix mehr gewest mit die Romedi! Sein gewest die ganse Tak gans traurik! Aber nix mehr wollen fress’, nix mehr wollen trink’. Aber ik immer sak, sempre, sempre – du, aber ik sak, Romedi, stecken dir der Wittiben drunten in deine Goff! – Drum aben du niente Unger, niente Durst und gehen erum tutt’ il giorno – die ganse Tak – wie einer Kuh, der aben perdutto – verlor’ – Kalbel. Sein besser du heirat’- dann du wieder könn’ trink’ und fress’ und tanz’ und spring’. Warum du nit heirat’ der Wittiben? Nun sein gut! Du werden Swagerin! Sein eine gute Kerl, meine fratello, die Romedi!

Emerenz mußte trotz der Aufregung der letzten Minuten über das Kauderwelsch des sonst wortkargen Burschen herzlich lachen.

„Da siehst es, wie man dasteht, wenn alles aus’plauscht wird!“ meinte nun auch der Romedi lachend, indem er der Emerenz vor seinem Bruder einen lauten Schmatz gab. „Das wird a Aufsehen geben drunten im Dorf, wenn der ,Stoandlnarr’ Hochzeit halt’t! – Weißt, Emerenz, daß du mir eigentlich den Namen aufbracht hast, wie i damals alleweil mit dö Stadtherrn umanand’ g’stackelt bin? In seinen Augen blitzte es schalkhaft. Ein fröhlicher Uebermut war über ihn gekommen. „Es thät’ mir so viel gut g’fallen, wenn i den Nam’ justament iatz von dir wieder hören könnte.“

Sie sah ihn einen Augenblick wie verdutzt an. Dann meinte sie mit einem hellen Lachen: „Das kannst ja hören, du, du – Stoandlnarr!“ Dabei war sie ihm mit den Händen in die buschigen Haare gefahren, bedeckte seinen Mund mit Küssen und rief ein über das andere Mal wie ein mutwilliges Kind: „Stoandlnarr! Stoandlnarr!“

„Jatz hab’ i mein Diandl wieder, wie ’s war!“ jubelte der Romedi und tanzte mit ihr durch die Stube, daß der Boden zitterte. Der „Wallische“ aber hatte eine Mundharmonika aus der Leibeltasche gezogen, blies dazu auf und stampfte mit den Füßen den Takt. Er glänzte im ganzen Gesicht vor Freude, weil er den Bruder glücklich sah und er sicher sein konnte, daß er wieder anfangen werde, zu „freß’ und trink“.

Schlafen gegangen wurde in dieser Nacht nicht mehr, da es ja gar nicht der Mühe wert gewesen wäre. Der Romedi heizte selber noch in dem Kachelofen tüchtig ein. Alle drei blieben in der heitersten Stimmung in der Stube beisammen, bis es Tag ward. Die Emerenz hatte Kaffee gekocht, obwohl der Romedi behauptete, das könne er selber auch. Sie ließ es aber nicht gelten.

Das Wetter hatte über Nacht seine ärgste Gewalt ausgetobt, der Sturm legte sich fast gänzlich. Ein herrlicher Wintermorgen war angebrochen. Trotzdem hatte der Weg ins Dorf immer noch seine großen Beschwerlichkeiten. So lud der Romedi das junge Weib auf einen leichten Holzschlitten. Und er und sein Bruder zogen sie thalab, teilweise auch, wo der Schnee mehr Halt gewährte, in rasendem Fluge über diese und jene Böschung abfahrend.

Einige Holzhauer, die sich des günstigen Wetters halber schon zeitig in der Frühe auf den Weg gemacht hatten, schauten ganz verdutzt, als sie dem seltsamen Fuhrwerk begegneten, an dessen Spitze der Romedi einem jeden zujuchzte. Wenn sie schon früher an dem Verstand des „Stoandlnarr“ gezweifelt hatten, so waren sie nunmehr der festen Ueberzeugung, daß ihm heute das letzte Radl auch noch abgelaufen sei.

Und dennoch hatte der Romedi heute seinen gescheitesten Tag. Das bewies er damit, daß er seine Last direkt vor dem Pfarrhause ablud, kräftig an der Glocke zog und sich dem alten Herrn Pfarrer gleich darauf als einen vorstellte, der baldmöglichst in den heiligen Ehestand treten wolle.

Der „Wallische“, der heute gesprächig geworden war wie noch nie zuvor, versicherte dem geistlichen Herrn zu wiederholten Malen, was für „eine gute Kerl seine fratello sei und wie es absolut notwendig sei, daß „die Romedi eiraten!“ - - -

Der alte Nußbaum im Anger beim Praxmarer sollte noch vergnügte Tage zu sehen bekommen, da im Laufe der Jahre eine ganze Schar von kleinen Buab’n und Diandln unter ihm spielte und sich um die Nüsse rauften, die er auf den grünen Rasen warf, manchmal auch einem allzu Lauten auf den Kopf. So ein alter Baum hat auch seine „Mucken“.

Der Hochlechner aber und das Weib des Altvorstehers haben bei allen Kindern Pate gestanden. Zu heiligen Zeiten schleppte dann die alte Hochlechnerin stets eigenhändig einen großen Korb voll „Godelzeug“ – Patengeschenken, Backwerk und Spielzeug, für die Patenkinder nach dem Praxmarerhof. Und der Altvorsteher selbst kam gewöhnlich noch mit einem neuen „Goaselstiel“ (Peitschenstiel) für den ältesten Sprößling des Romedi und mit einem halben Dutzend hölzerner Kühe und Schafe für die jüngeren hinterdrein.

Sein Geschäft hatte der Romedi keineswegs aufgegeben, wenn er sich auch mehr der Bauernarbeit widmete und die „Stoaner“ zum größten Teil seinem Bruder überließ, der das einsiedlerische Leben schon so gewöhnt war, daß er aus der Behausung am Berg gar nicht mehr heraus wollte. Er machte sich des Titels „Stoandlnarr“, der von Romedi allmählich auf ihn überzugehen begann, in vollstem Maße würdig.

Der Kramer Luis ist bald nach der Hochzeit des Romedi und der Emerenz gestorben. „Den hat die Gall umbracht!“ meinten die Leute.


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Blätter und Blüten.



 Wir gratulieren.
 (Zu unserer Kunstbeilage.)

Neujahr – Neujahr –
Ein froh Neujahr!
Thut auf die Thüren:
Wir gratulieren!

5
Wir sind zwei Englein vom Himmel gefallen

Und bringen die fröhliche Botschaft allen:
Es dauert nicht lange, Hallelujah!
Dann ist der Frühling schon wieder da.
Wir haben schon tausend Blumen gesehn

10
Fix und fertig im Himmel stehn:

Maßliebchen und Veilchen traut,
Anemonen und Lungenkraut,
Stiefmütterchen und Löwenzahn,
Waldmeisterlein dazwischen gethan –

15
Alle Englein sitzen

Und schwitzen,
Weben Sonnenstrahlen
Und malen –
Ein bißchen noch warten,

20
Ist fertig der Garten,

Ueber Nacht
Fällt die ganze Pracht –
Pardauz! – von oben
Und hier sind die Proben!   Victor Blüthgen.

Fern der Heimat. (Zu dem Bilde S. 880 u. 881) Es ist ein Kind des Südens, das hier fern der Heimat seine Weisen ertönen läßt, und die schönen Zuhörerinnen, welche die arme Straßensängerin in den Park einließen, sind im deutschen Norden daheim. Aber die Empfindung, welche den Gesang der Italienerin beseelt, ist ihnen wohl vertraut. Zu den Klängen der Mandoline singt jene das Lob der Heimat; die Sehnsucht nach dem sonnigen Süden bebt in dem schwermütigen Liede. Ergriffen lauschen ihm beide. Die jüngere, die in Gedanken versunken auf den Stufen sitzt, weilt selber hier fern der Heimat; und wenn auch Liebe und Freundschaft ihr genug frohe Stunden bereiten, so hat doch auch ihr Herz in diesen Tagen die Macht des Heimwehs erfahren. Die andre aber muß gleich der Sängerin voll Sehnsucht des fernen Südens gedenken. Wohl ist Italien nicht ihre wirkliche Heimat; aber seit sie an der Seite des geliebten Gatten die Wunder seiner Schönheit geschaut hat, hegt sie die Erinnerung daran wie einen Schatz und das Land, „wo die Citronen blüh’n“, ist ihr zur zweiten Heimat geworden.

Das Sylvester-Orakel. (Zu dem Bilde S. 889.) Die beiden Freundinnen Hedwig und Emmi hatten am Silvesterabend des vorigen Jahres „Blei gegossen“. Während mit dem Metallgebilde Emmis auch die kühnste Phantasie nichts anzufangen wußte, hatte sich das flüssige Blei Hedwigs im Wasser zu einem geschlängelten Etwas ausgestaltet. Nach Emmis Ansicht konnte es nur die wohlgeformte Schlange des Aeskulapstabes sein und deutete unverkennbar auf den ärztlichen Beruf von Hedwigs künftigem Ehegemahl hin. Hedwig vermied es jedoch hartnäckig, mit Emmi über dieses Thema zu sprechen; schlug es die letztere in vertrauter Stunde doch einmal an, so stieg eine brennende Glut in die Wangen Hedwigs und ihre Lippen schwiegen dazu.

Wieder neigte das Jahr seinem Ende zu und wieder ward der Wunsch, den Schleier der Zukunft ein wenig zu lüften in den jungen Damen rege. Vom Bleigießen wollte Hedwig nichts mehr wissen. Aber es gab ja noch andere Wege, das Orakel nach guter deutscher Sitte zu befragen. Und bald war man einig. Die Freundinnen stellten sich Kugeln aus feuchtem Thon her, in deren Inneres sie einen mit ihrem Namen beschriebenen Zettel bargen. Nachdem die Kugeln auf dem Ofen gut getrocknet waren, mußten sie sorgsam bis zum Silvesterabend aufbewahrt werden, an dem die eigentliche Orakelbefragung in besonderer Weise vor sich gehen sollte.

Des Jahres letzte Stunde war herangekommen und in Hedwigs Elternhause war eine kleine Gesellschaft versammelt, um in weihevoller Stimmung beim Glase Punsch das neue Jahr heranzuwachen. Eben hatten sich die beiden Freundinnen, die mitten drunter waren, mit den Augen zugezwinkert, das Zeichen, um draußen im geheimen die große Frage ans Schicksal zu stellen, als plötzlich Hedwigs jüngerer Bruder mit schlauer Miene hervortrat. Er hatte das Geheimnis der beiden längst entdeckt und erschien nun mit den erforderlichen Requisiten – einem Gefäß voll Wasser und den aufgefundenen Thonkugeln – um die Leitung des Orakels selbst und zwar „öffentlich“ in die Hand zu nehmen. Gern wären die zwei Freundinnen entwischt, aber es war schon dafür gesorgt, daß sie nicht entkommen konnten. Und nun saßen sie alle im Kreise um den runden Tisch herum, an dem die Handlung in Scene gesetzt wurde. Mit feierlich ernster Gebärde versenkte der Bruder die beiden Kugeln in das schon lange nicht mehr benutzte Fischglas, das seiner Bestimmung getreu auch heute in den Dienst zweier Goldfischlein gestellt wurde. Und das feuchte Element that seine Schuldigkeit – langsam aber sicher bewirkte es die Auflösung der beiden Thonklöße. Alles sah dem Schauspiel erwartungsvoll zu. Als die Spannung der Umsitzenden bereits aufs höchste gestiegen war – da begab sich endlich das Wunderbare. Einer der Zettel tauchte, der Thonhülle entkleidet, im Wasser auf. Und das Orakel besagte: diejenige, deren Name zuerst zum Vorschein kommt, wird sich im neuen Jahre verloben. Auf dem Zettel aber stand deutlich der Name Hedwig. Wieder hatte sich das Schicksal für sie entschieden.

Unser Bild von Oscar Gräf stellt die heitere Scene, in welcher Hedwigs Bruder eben den Orakelspruch verkündet, mit vielem Humor dar. Die Eltern schmunzeln vergnügt dazu und der Großvater nickt lachend Beifall, während die übrigen Geschwister huldigend ihre Glückwünsche darbringen. Auch Emmi streckt ihrer Freundin neidlos die Hände entgegen und fast scheint es, als wenn ein verschmitztes Lächeln um ihre Lippen spielte. Hat sie etwa vorher die Kugel der Freundin gelockert und so dem Schicksal ein wenig vorgearbeitet? Jedenfalls ist der Herr mit dem dunklen Schnurrbärtchen hinter Hedwigs Stuhle Emmis Bruder. Und die verschämte Art, mit der Hedwig sich von dem jungen Manne wegwendet, läßt ahnen, daß er zugleich der ihr vom Schicksal versprochene „Medizinmann“ ist, dessen unverhohlene Freude über den Orakelspruch auch die baldige Erfüllung des letzteren in Aussicht stellt. M. H.     

( Prosit Neujahr
1898! )


manicula      Hierzu Kunstbeilage XXVIII: „Wir gratulieren.“ von E. Rosenstand.

[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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An unsere Leser.

Mit der vorliegenden Nummer schließt der laufende Jahrgang der „Gartenlaube“.

Was unser allerorten im deutschen Vaterlande und über die ganze Welt verbreitetes Blatt während der fünfundvierzig Jahre seines Bestehens dem deutschen Volke, der deutschen Familie geworden ist, das bestätigen in herzlicher Sympathie Millionen von Lesern und Leserinnen aller Stände und aller Altersklassen, welchen es anregende Belehrung, Erweiterung des geistigen Gesichtskreises und herzerhebenden Genuß gebracht hat und dadurch ein lieber, geschätzter Hausfreund geworden ist.

Als ein weithinwirkendes Organ freimütiger Aufklärung, echter Volksbildung und warmer Vaterlandsliebe soll die „Gartenlaube“ auch künftig bestrebt sein, die Fortschritte der Zeit auf allen Gebieten des Wissens und des praktischen Lebens zu verfolgen, für den deutschen Nationalgedanken innerhalb und außerhalb der Reichgrenzen einzutreten und Fragen zu erörtern, die für das Wohl der Familie und für das Gemeinwohl von Bedeutung sind.

Nach wie vor werden wir in der Darbietung ausgesuchter fesselnder Romane und Novellen der besten deutschen Erzähler sowie belehrender interessanter Beiträge hervorragender Männer der Wissenschaft und der Praxis unsre Hauptaufgabe erblicken.


Der neue Jahrgang wird eröffnet werden mit dem neuesten, eben vollendeten Roman

„Antons Erben“ unserer allbeliebten W. Heimburg.

An den Heimburgschen Roman wird sich das neueste Werk einer Meisterin der Erzählkunst

Marie v. Ebner – Eschenbachs größere Erzählung „Die arme Kleine“

anreihen. – In die Welt der Alpen, sein eigenstes Gebiet, führt uns

Ludwig Ganghofer mit dem Roman „Das Schweigen des Waldes“.


An größeren und kleineren Erzählungen und Novellen werden folgen:

„Der Lebensquell“ von E. Werner.       „Ein Sommernachtstraum“ von A. Sewett.
„Maskiert“ von Hans Arnold.       „Böse Zungen“ von Ernst Müllenbach. (Ernst Lenbach.)
„Schloß Josephsthal“ von Marie Bernhard.       „Stella“ von Johannes Wilda.

„Wieder allein“ von Klaus Zehren.

Diesen werden sich anschließen Romane und Erzählungen von O. Verbeck, Ernst Eckstein, Ida Boy-Ed, Sophie Junghans, Rudolf Lindau, Eva Treu, Victor Blüthgen, Carl Wolf-Meran etc.

Auch auf dem von der „Gartenlaube“ stets mit Erfolg und Glück bebauten Felde der populären Darstellung der Wissenschaft haben wir für gute Beiträge gesorgt. Hervorragende Gelehrte und bedeutende Fachmänner bethätigen gerne in der „Gartenlaube“ ihre Mitarbeiterschaft und machen ihre Forschungen zum heilsamen Gemeingut des Volkes. Aus dem Vorrat von Artikeln dieser Art nennen wir:

Die Reform der Frauenkleidung von Prof. Dr. Eulenburg. – Der Aberglauben vor Gericht von Dr. Hans Groß. – Der Stern Sirius von Dr. H. J. Klein. – Die Volkstribunen von Hamburg von Rudolf v. Gottschall. – Karoline v. Günderode von Moritz Necker. – Die Marienburg von Ernst Wichert. – Deutsches Vereinswesen in Amerika von Dr. M. E. Flössel. – Die Bodenseeforschung von Prof. Dr. Kurt Lampert. – Brunnen- und Badekuren von Prof. tt>Dr. E. Heinrich Kisch. – Das Acetylengas von W. Berdrow.

Die fünfzigjährigen Gedenktage der großen Bewegung von 1848 werden eine gebührende Würdigung in Wort und Bild, zum Teil in persönlichen Schilderungen noch lebender Zeugen jener bewegten Zeit finden.

Außerdem wird die Rubrik der kleinen illustrierten Mitteilungen und Winke für allerlei nützliche Beschäftigungen und Arbeiten im Hause sorgfältig weiter gepflegt werden.

So dürfen wir denn nicht zweifeln, daß die „Gartenlaube“, gehoben durch einen reichen und künstlerisch wertvollen Bilderschmuck, auch im kommenden Jahre wieder eine gute Aufnahme und ihren alten Ehrenplatz im deutschen Hause finden wird.

Glückauf zum Neuen Jahre!
Redaktion und Verlag der „Gartenlaube“.
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(Prosit Neujahr)

Nach einer Originalzeichnung von Frank Kirchbach.