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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[773]

Nr. 47.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(16. Fortsetzung.)

35.

Helene Imhoff ging eben über den Vorplatz, als es klingelte, darum öffnete sie gleich selber. „Hanna,“ rief sie freudig überrascht, du oder dein Geist?“. „Nur ich. Du bist doch zu Hause?“

„Und wie! Du liebe Gute, wie freu’ ich mich nach so langer, langer Zeit einmal wieder! Und so schnell bist du auf meinen Zankbrief gekommen!“

„Ich wollte schon gestern gleich, weil ich mich so sehr schämte. Aber mein Mann war nicht wohl und wir sind beim Arzt gewesen.“

„Dein Mann – unwohl? Das klingt wie ein Witz. Was fehlt ihm denn?“

Vor der Jägerhütte im Hochgebirge.
Aus dem Prachtbuch „Das deutsche Jägerbuch“ von C. W. Allers und L. Ganghofer.
Verlag der Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig.

[774] „Er klagte über Herzklopfen und Angstgefühle und der gleichen. Es scheint nach der Untersuchung eine beginnende Herzverfettung zu sein.“

„Ach geh!“

„Ja, und ihm fällt jetzt ein, daß er diese Pulsunruhe schon mehrmals, vor Wochen schon, vorübergehend gespürt hat. In den letzten Tagen nahm es zu. So haben wir denn einen ‚Spezialisten‘ konsultiert.

„Ist denn euer Hausarzt – – wart’, ich hänge das hier auf, gieb her, soll ich dir den Schleier aufbinden?“

„Danke, danke.“

„Ist denn euer Hausarzt nicht mehr zuverlässig?“

„O, nach meiner Meinung schon. Ich wünschte mir keinen bessern. Aber mein Mann bekam plötzlich große Angst und traute unserem alten Herrn nicht mehr. Das ist Ansichtssache, dagegen läßt sich nichts sagen. Meinhardt nahm es auch nicht im mindesten übel, dazu ist er zu klug und zu gütig. Zu meinem stillen Vergnügen brachte dann aber das große Tier mit seiner Diagnose auch nicht mehr heraus als unser gewöhnlicher Doktor. Doch nun glaubt Ludwig wenigstens daran und wird sich der vorgeschriebenen Kur unterziehen, während er Meinhardt vorher nur einfach ins Gesicht gelacht hatte. Ja, es ist mit dem Autoritätenglauben ein eigenes Ding.“

Sie waren mittlerweile schon in Helenens winziges Wohnzimmerchen eingetreten.

„Wie hübsch warm scheint die Sonne hier herein, das thut wohl,“ sagte Hanna, nach einem kleinen Frostschauer die Hände umeinander reibend.

„War dir denn kalt? Es ist doch herrliches Wetter. Wenigstens fand ich die Luft reizend, als ich heut' vormittag mit den Kindern aus war.“

„Das mag schon sein. Aber mich friert eigentlich immer. Ich brauche viel Sonnenwärme. Laß mich da am Fenster in dem Korbstuhl ein Weilchen sitzen, ja?“

„Gern. Aber drinnen im Kinderzimmer haben wir's ebenso sonnenwarm, da scheint sie gar zu zwei Fenstern herein.

Hanna saß schon und lehnte sich mit ineinandergeschobenen Armen fest an.

„Ein kleines Weilchen, ja?“ bat sie mit einem fast ängstlichen Streifblick auf die Thür, nach der Helene schon die Hand ausgestreckt hatte. „Komm, setz dich her zu mir! Du siehst vorzüglich aus, rosig und blühend.“

„Ich wollte, ich könnte dir das zurückgeben,“ erwiderte Helene, an der Freundin auf und absehend. Hier im hellen Licht erschien sie ihr erschreckend großäugig, schmal und bleich. „Dir sieht man’s nicht an, daß du erst kürzlich von einer langen Erholungsreise heimgekommen bist.“

„Gott, weißt du, mit unsern Reisen – – zum Erholen sind sie im Grunde nicht sehr geeignet. Wenigstens für mich nicht. Zu dem Zweck müßte ich ganz allein viele, viele Wochen lang in einem stillen Winkel sitzen – er brauchte nicht einmal überirdisch schön zu sein – und mich nicht vom Fleck rühren und thun, nur was mich freut.“

„Nun, das könntest du dir doch einmal einrichten.“

„Das könnte ich nicht. das wäre nichts für meinen Mann –“

„Ja also, dein Mann. Sag’ doch, ist es schlimm, das mit seinem Herzen?“

„Nein. Meinhardt versichert mich, daß von Besorgnis vorläufig keine Rede sei. Das Uebel ist noch ganz in seinen Anfängen entdeckt worden und kann mit Vernunft und Energie vollkommen beseitigt werden.“

„Ich kann auch gar nicht finden, daß er, was man so nennt, dick ist.

„Das ist er freilich nicht. Doch würde man bei seiner mächtigen, kraftvollen Gestalt eine stärkere Zunahme auch wohl nicht sehr bald sehen. Uebrigens kann eine solche Verfettung auch ganz örtlich auftreten, hab' ich mir sagen lassen. Aber Ludwigs Konstitution ist im allgemeinen so großartig, daß der Krankheitsstoff bald wieder ausgestoßen sein wird, sagt Meinhardt.“

„Daß er überhaupt krank werden kann, ist kaum zu glauben. Was hat er angestellt?“

„Gar nichts Besondres. Aber er lebt zu gut. Er ißt viel und sehr üppig, trinkt schwere Weine, raucht schwere Cigarren und so weiter. Das muß nun eingeschränkt werden. Flüssigkeitsentziehung, so eine Art Oertelscher Kur, weißt du. Dann alle Speisen leicht, reizlos. Keine pikanten Würzen mehr. Rauchen ist einstweilen ganz verboten.

„O! O! Fügt er sich in das alles?“

„Nicht gern. Er ist sogar sehr entrüstet. Aber er muß wohl. Wenigstens hoffe ich, daß es gelingen wird, ihn standhaft zu erhalten. Endlich soll er sich auch stark bewegen, spazieren, rennen. Das trifft mich am härtesten.“

„Wieso?“

„Ich muß mit. Er langweilt sich allein. Nun kann ich schon so, weil er soviel größer ist als ich, schlecht mit ihm Schritt halten. Wie das nun werden soll, wenn er erst tüchtig ausgreift, das weiß ich nicht.“

„Aber Hanna! Das sind ja Tollheiten! Das darfst du nicht thun. Das darf dein Arzt nicht erlauben.“

„Ich habe ja auch die Absicht, mich hinter ihm zu verschanzen. Hoffentlich hilft es. Im allgemeinen gilt bei uns aber des Herrn Wille als oberstes Gesetz.“

Helene wollte etwas erwidern, sie unterdrückte es aber nach einem Blick in Hannas Gesicht. Armes Tierchen, dachte sie. „Mach keine Geschichten,“ bat sie laut. „Du warst ja ganz atemlos vorhin von dem bißchen Treppensteigen. Solche Gewaltkuren verträgst du nicht. Was soll daraus werden?“

Hanna errötete in der peinlichen Empfindung, viel zu viel gesagt zu haben.

„Gut, gut, sei nur ruhig,“ sagte sie hastig, mit der Hand winkend. Sie stand dann auf. „Laß uns jetzt zu den Kindern gehen!“

Das war eine Aufforderung, die sich die kleine rosige Mutter nicht zweimal machen ließ! Sie hatte ohnehin nicht ruhig auf ihrem Stuhl gesessen, und ein Ohr war beständig auf der Lauer nach dem Nebenzimmer hin gewesen.

„Ja, komm,“ sagte sie erleichtert, „Düttila muß im Augenblick aufwachen. Mit seinen Schlafbäckchen mußt du ihn sehen -

„Was ich schon fragen wollte,“ unterbrach Hanna lächelnd und die Freundin noch einmal zurückhaltend „Düttila! Was ist denn das nun wieder für ein unglaublicher Name? Mit Heidi bin ich ja ganz einverstanden, er hat sich selbst so genannt, als er zu sprechen anfing, und es wird schon einmal Heinrich daraus werden. Aber was ist Düttila für eine Verquatschung? Und wie heißt der Junge in Wirklichkeit? Oder steht er so im Geburtsregister auf dem Standesamt?“

„Das nicht,“ erwiderte Helene mit einem zärtlich verlegenen Lächeln. „Wenn man den Schaden besieht, heißt er Otto. Nach Bismarck. Nur daß der von seiner Patenschaft nichts ahnt. So wenig wie vor fünfunddreißig Jahren, als mein Mann aus Verehrung für ihn so getauft wurde. Meine Schwiegermama hat es dem Fürsten damals zwar geschrieben, und eine Liebeserklärung dazu, aber was er dazu gesagt hat, wissen wir nicht, denn sie hat keinen Namen daruntergesetzt. Nun haben wir schon die zweite kleine Durchlaucht in der Familie. ‚Durchläuchting’ haben wir zu Anfang immer zu dem Kleinen gesagt. Und dann kam eben immer ein neuer Liebesname dazu, einer immer unverständlicher als der andere. Wer an Düttila schuld ist, kann nicht mehr festgestellt werden. Es thut ja auch nichts. Wenn er nur darauf hörte. Komm herein! Da ist Heidi.“

„O, wie ist er groß geworden!“

Der goldhaarige Bub’ war beim Eintritt der beiden Damen von seinem kleinen Stuhl aufgestanden und hatte sich langsam hinter das Kindertischchen, an dem er gerade spielte, zurückgezogen; von diesem Wall gedeckt, betrachtete er aus seinen übergroßen, meerblaustrahlenden Augen ernsthaft den Besuch.

„Heidi!“ rief seine Mutter, „kennst du die Tante nicht?“

„Nee,“ sagte Heidi energisch, mit tiefer Stimme.

„Es heißt ja Nein, du kleiner Straßenjunge. Aber was bist du für ein Dummer. Kennst Tante Hanna nicht mehr? Komm, gieb die Hand und ein Küßchen!“

Der Kleine machte ein sehr erstauntes, entschieden zweifelndes Gesicht. Er gehorchte zwar, kam heran und gab die Hand. Als Hanna ihn aber, sich niederkauernd, an sich ziehen [775] wollte, um ihn zu küssen, machte er sich steif und drehte den Kopf weg.

„Aber Heidi!“ sagte Helene verweisend, trotz Hannas stummer Abwehr. „Du wirst doch nicht unfreundlich sein? Es ist ja die liebe Tante Hanna, die du immer im Album suchen darfst. Geh, gieb ein schönes Küßchen.

Der Kleine drehte sich verlegen hin und her. Endlich sagte er beklommen, halblaut. „Ich hab’ ja noch Zeit!“

Beide Frauen mußten lachen.

„Er hat recht,“ sagte Hanna. „Quälen wir ihn nicht. Das kommt alles von selbst. Ich werde schon nach und nach wieder mit ihm bekannt werden. Schließlich ist es ja meine eigene Schuld. Laß. Kümmere dich nicht um uns.“

„Gut. Ich seh’ also schnell nach dem Paul. Setz’ dich derweilen. Wenn er noch schläft, bin ich in einer Minute wieder da, sonst in zehn.

Hanna wählte sich einen niedrigen Stuhl. Sie kannte ihn schon von früher her. Otto Imhoff hatte ihm ein großes Stück von den Beinen abgesägt. Man saß darauf wie auf einem Schemel, und doch angelehnt.

„Zeig' mir doch dein Bilderbuch, Heidibubi, ja?“ sagte sie dann. „Das hab' ich so furchtbar lange nicht gesehen, und es sind so schöne, lustige Tiere drin, das weiß ich noch.“

Der Bub’, der sie unverwandt betrachtet hatte, nickte, noch etwas zögernd; er kramte aber dann doch sein Buch aus der Schieblade des Tischchens.

„Soll Tante Hanna dich auf den Schoß nehmen?“

Heidi sah sie unschlüssig an, es schien ihm immer noch nicht recht geheuer in der unmittelbaren Nähe dieser Tante. Nach einem tiefen Atemzug sagte er, die kleinen Schultern hebend, mit ganz roten Wangen …

„Ich kann ja auch bei dir stehen –“

„Gewiß kannst du das. Dann gieb nur her das Buch. So. Klapp auf!“

Er öffnete es auf ihren Knieen, sichtlich erleichtert durch die Erhaltung seiner Selbständigkeit. Und nun blätterten sie. Da war die Muhkuh. Und das Knuffschwein. Und der große Hund.

„Ei, was macht denn der für ein Gesicht? Der will wohl seine Suppe nicht essen?“

„Hm,“ bestätigte Heidi, eifrig nickend. „Ein ganz brummiges Sicht macht er. So!“ Er runzelte die Stirn, warf das rosige Mäulchen auf und drückte das kleine Kinn aus Hälschen heran. Hanna betrachtete entzückt die reizende Grimasse.

„O du Süßes,“ murmelte sie ganz leise. Es stieg ihr heiß die Kehle hinauf. Sie hatte es ja gewußt, hatte sich davor gefürchtet. Aber sie nahm sich zusammen.

„Ei was,“ sagte sie rasch und heiter, die unsichere Stimme zwingend. „So brummig sieht er aus?“ Sie streichelte dem „brummigen Hund“ die seidenfeinen Locken, die an den Schläfen bis auf die Schultern niederfielen und in der Sonne leuchteten wie gesponnenes Gold. Heidi wischte die liebkosende Hand ab. Sie hatte seinen Gedankengang unterbrochen.

„Du, kuck aber mal diesen kleinen Hund an. Der is lieb, nich?“ sagte er.

„Jawohl, und da ist ja auch ein Bachstelzchen. siehst du, wie es mit seinem Schwänzchen wippt? Gleich wird es über das Wasser fliegen.“

„Und da is der eklige Wolf.“

„Mir scheint, das ist eine Hyäne.“

„Eine Chijäne?“ wiederholte Heidi verblüfft. „Neee!“ sagte er dann gedehnt und seiner Sache völlig sicher. „Das weißt du gar nich. Das is der Wolf, der frißt alle arme Bähschäfchen auf. Pfui, ekliger, böser Wolf!“

Er hieb mit seinem runden, dicken Fäustchen ein paarmal kräftig auf das Bild. Der Wolf schien das gewohnt zu sein, er trug schon deutliche Spuren früherer Züchtigungen. Dann schien dem Kind etwas anderes einzufallen; es sah Hanna forschend an.

„Is eine Chijäne auch bös?“ fragte es.

„O, noch viel böser. Die frißt alle Leute auf.“

„So? Alle? Dich auch?“

„Freilich. Das ist doch garstig von ihr, was?“

„Mich auch?“ fragte Heidi sehr nachdenklich weiter.

„Ich glaube, ich glaube, wenn eine herkäme, dann fräße sie am Ende gar auch unser Heidibubi auf. So bös ist sie. Aber wir lassen sie nicht herein.“

Ein paar Augenblicke stand der Kleine ganz beklommen da; mit seinen erstaunten, ernsthaften Augen sah er unverwandt in Hannas Gesicht. Endlich atmete er tief auf. „Wenn nu aber mal eine Chijäne kommt, die mich lieb hat?“

„Ja dann!“ rief Hanna, entzückt und hingerissen von der rührenden Logik dieser Frage. „Dann thut sie dir nichts, du lieber, kleiner Kerl!“

Sie hob ihn, der sich nicht mehr sträubte und nur eifrig das Buch festhielt, auf ihren Schoß und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

Jetzt kam Helene mit ihrem Jüngsten herein.

„Aha,“ sagte sie erfreut, „schon wieder alles in Ordnung?“

„Er läßt sich wenigstens lieben,“ antwortete Hanna mit einem nochmaligen Kuß auf Heidis Stirn. Sacht ließ sie ihn dann zu Boden gleiten, während sie aufstand. „Seine Gegenwart verbietet mir, zu sagen, was ich von ihm denke,“ fügte sie, eine neue Rührung niederzwingend, heiter lächelnd hinzu. „Also da hätten wir ja die kleine Durchlaucht. Mein Gott, was ist das wieder für ein Riesenkind! Das will erst acht Monate alt sein? Unglaublich!“

„Ja, er steht seinen Mann,“ sagte Helene strahlend. Sie drückte ihren prachtvollen, blühenden Riesenjungen, der vor Lebensfreude mit Armen und Beinen hampelte, fest an sich. „Und was das schönste von allem ist, was meinst du, was er bekommt? Was er ißt und trinkt? Nur mich!“

„Wieder? Wie bei Heidi?“

„Noch besser. Den ich werd' es noch länger können. Ich esse aber auch mit wahrer Todesverachtung meine greuliche Hafersuppe in mich hinein und trinke Porter wie ein alter Zecher. Gieb nur acht, wie ich ihm schmecke.“

Sie hatte sich mittlerweile auf den niedrigen Stuhl gesetzt und einen andern für die Freundin ganz nahe herangezogen.

36.

„Ja, ja,“ sagte Hanna leise. Sie saß, den Arm um Heidi geschlungen, der, an ihr Knie gelehnt, tiefsinnig dem Brüderchen zusah, wie es sich da an seinem süßen Lebensquell wohlsein ließ. Sie saß und schaute auf dieses liebliche, sonnenbeschienene Bild von Mutter und Kind.

„Was ist dir?“ fragte Helene, erschrocken über das plötzlich von Thränen überströmte Gesicht der Freundin. „Verzeihe mir,“ sagte sie dann aber gleich sanft verstehend, demütig. Mit der freien Hand streichelte sie ihr den Arm. Am liebsten hätte sie sie ja um den Hals genommen und das arme Gesicht recht zärtlich geküßt. Aber Düttila war mit seiner Mahlzeit noch nicht fertig, er hätte eine solche Aenderung seines Programms jedenfalls sehr übel vermerkt. Die ungewohnte Zuschauerin kam seinen verwunderten, braunen Glanzaugen ohnehin schon merkwürdig genug vor. Auch Heidi ward aufs neue sehr beklommen zu Mute. Das Zittern, das er in Tante Hannas Arm fühlte, und daß sie, die mit einmal so arg zu weinen anfing, ihre Stirn an seinen Kopf lehnte, machte ihm bange. Er duckte sich und kroch aus der Umschlingung heraus. Fest an seine Mutter gelehnt, sah er zu, wie Tante Hanna ihr Taschentuch an die Augen drückte und sich zusammennahm. Das Wehweh schien vorbei zu gehen.

„Verzeih' mir, du Arme,“ wiederholte Helene leise.

„Was soll ich dir verzeihen?“ brachte Hanna mühsam heraus. Sie weinte nicht mehr; es lief aber ein nachträglicher, rüttelnder Schauder über sie hin.

„Ich möchte wirklich sagen, verzeih’ mir mein Glück. Zum wenigsten verzeih' mir, daß ich so vor dir damit geprahlt habe.“

„Wie sprichst du denn?“ wehrte Hanna mit einer matten Handbewegung; vornübergeneigt saß sie mit aufgestütztem Kopf, mit verdeckten Augen. „Rede nicht so. Du prahlst nicht. Du lebst Glück, warum sollte es da nicht sprechen? Ich vielmehr muß dich um Entschuldigung bitten wegen dieser kindischen Heulerei. Es ging so mit mir durch. Im allgemeinen bin

[776]
Datei:Die Gartenlaube (1897) b 776.jpg

Beim Würfelspiel.
Nach dem Gemälde von E. Forti.

[777] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [778] ich ein sehr gemäßigter Mensch. Aber dies – warum bin ich auch hergekommen Ich hab's ja im voraus gewußt, daß ich das nicht aushalte.“

„Aber liebes Herz!“ sagte Helene, lauter als bisher. Düttilas wegen hatte sie so lange mit gedämpfter Stimme gesprochen. Durchläuchting war auch sofort ganz Ohr; er stemmte die Füßchen an und drückte den Kopf ins Genick.

„Mmmmma –“ sagte er, um doch auch ein Wort mitzureden. Er war übrigens satt, sonst hätte er sich doch nicht so ganz ruhig unterbrechen lassen.

Helene, der das Herz vor Mitleid brannte, gab ihrem geliebten Dütt nur schnell einen Kuß auf sein milchfeuchtes Mäulchen. Dann nahm sie ihn, Heidi nach einem mitleidsvoll verstehenden Blick auf die Freundin loslassend, unter den Achseln auf ihrem Schoß in die Höhe und stand auf.

„Jetzt geht mein Ditzidatzi aber in seine Hürde und spielt mit dem lieben Ele, ja? Guck', da ist er schon.“ Sie drückte ihm den rotgesattelten tuchenen Elefanten in den Arm. „Und mein Heidi baut einen gräßlich hohen Turm und dann wirft er ihn um – plautz! – und dann fällt Mama vor Schreck an die Wand.“

„Hm, aber ganz furchtbar toll mußt du hinfallen.“

„Ganz furchtbar toll,“ versicherte Helene.

Düttila, in sein Gehege gesetzt, erwischte seinen grauen Freund, dem er beizeiten die Stoßzähne ausgebrochen hatte, am Rüssel und schlenkerte ihn daran hin und her, hieb auch mit ihm auf den überpolsterten Hürdenzaun.

„Mmmmm! Bummmm!“

Die Mama, die noch neben ihm knieen geblieben war, nickte ihm mit zärtlichem Lächeln zu; sie schaute dann aber schüchtern forschend zu Hanna hinüber. Die hatte den Kopf schon wieder aufgerichtet. Nur der Blick der trocknen, aber heißen Augen war noch irgendwo anders. Erst als Helene sich auf ihrem niedrigen Stuhl dicht neben sie kauerte und begann, ihr die im Schoß ruhenden eiskalten Hände zu streicheln, kehrte er mit einem leichten Zucken der Lider aus der öden Ferne, in die er sich verloren hatte, zurück.

„Wenn du dich einmal ganz aussprächest,“ sagte Helene, liebreich zuredend. „Ich glaube, du vergrübelst dich zu sehr. Fürchte nicht, ich würde dich nicht verstehen – weil ich glücklich bin.“

Es war hauptsächlich der gute, warme Ton dieser gedämpften Stimme, der Hanna wohlthat und für den sie der Freundin zu danken suchte, indem sie die streichelnde Hand in ihrer festhielt.

‚Aussprechen‘, dachte sie dann. ‚Daß Gott erbarm! Und verstehen? Du kleines Ding. Wie ginge das wohl zu?‘

„Ich danke dir,“ sagte sie leise. Und um die Eifrige nicht zu kränken: „So eigentlich auszusprechen giebt es da nichts, siehst du. Das bißchen, was da ist, hab' ich dir ja vorhin schon in Musik gesetzt. –“ Als Helene schwieg und vor sich niedersah, fuhr sie lebhafter fort: „Fühl’ du nur recht dein Glück. Jeden Tag, jede Stunde! Vergiß es nie. Was auf der Welt kann dir ernstlich wehthun, wenn die Zwei da gesund sind!“

„Was auf der Welt?“ wiederholte Helene mit tiefem Erröten. „Wenn Otto mich nicht mehr lieb hätte – oder mir stürbe. Ihn hab' ich doch auch lieb.“

„Sogar sehr, wie mir scheint,“ sagte Hanna, ihr sacht über die glühende Wange streichend. „Aber doch nur auch. Zu oberst stehen doch die Kinder.“

Helene schwieg einige Sekunden lang, verwirrt, beklommen. Daun erhob sie ihre blauen, feuchtgewordenen, rührend jungen Augen.

„Das mußt du nicht sagen, nur auch. Er nimmt den Kindern nichts, und sie nehmen ihm nichts. Das ist zweierlei Liebe. Beide stark. Um beide kann man bluten. So lieb, wie ich ihn habe – auch ohne die Kinder wäre ich namenlos glücklich mit ihm geworden.“

„Namenlos glücklich,“ sprach Hanna leise nach.

Sie wandte dann den Kopf zur Seite, preßte die Lippen zusammen. Unaussprechbare Fragen brannten ihr qualvoll auf der Zunge. Unaussprechbar und unlösbar. Unlösbar vor diesem Forum wenigstens. Diese Frau liebte ja ihren Mann. Von dem, was sie von ihrem Mann trennte, ahnte sie nichts. Es wäre eine Roheit gewesen, ihr davon zu sprechen. Es war überhaupt unmöglich, davon zu sprechen. Zu wem denn?

„Namenlos glücklich,“ wiederholte sie noch einmal, langsam mit dem düstern Blick zu Helene zurückkehrend. „Aber wenn du ihn verlörest, so oder so, und hättest die Kinder noch, so hättest du das Liebste und Köstlichste doch behalten, scheint mir.“

„Wenn er mir stürbe, so wäre ein Stück von meinem Herzen ab, trotz der Kinder.“

„Aber ohne die Kinder wäre dann vielleicht dein Herz ganz tot. Sie hielten dich am Leben fest, um ihretwillen müßtest du es lieben. Das ist's ja, was ich meine, siehst du. Wer Kinder. hat, kann nie ganz unglücklich werden. Sie entschädigen für alles. Auch wenn sie Sorgen machen. Sorge und Angst, auch wirklicher Kummer, so denk' ich mir, vertiefen die Liebe nur. Ist es nicht so? Sag' doch!“

„Ganz gewiß,“ entgegnete Helene, „das glaub' ich auch. Obwohl ich bisher nicht das eine, nicht das andre von ihnen erfahren habe. Ich meine, weder Sorge, noch Kummer.“

Eine Pause trat ein. Hanna starrte vor sich hin. In ihre Augen kam wieder ein heißer Glanz.

„Kennst du das,“ fragte sie halblaut, „daß einem derselbe Traum immer wieder kommt? Nicht jede Nacht, aber oft?“

„Nein,“ entgegnete Helene, „das könnt' ich nicht sagen.“

„Aber ich. Mir träumt, ich höre – –“ sie hielt inne mühsam atmend – – „mir träumt, ich höre zum erstenmal das kleine, kleine Stimmchen. Und von dieser unsinnigen Freude wach' ich auf – –“

Helene hob sich auf ihrem niedrigen Sitz in die Kniee und umschlang die Freundin fest mit beiden Armen.

„Du Aermste,“ murmelte sie erschüttert. Mit der Befangenheit und Scheu des unerfahrenen Gesunden sah sie ihr in das blasse Leidensgesicht: „Du Aermste,“ wiederholte sie mit erstickter Stimme.

Ein dröhnendes Gepolter und Gekrache – Heidis Turmeinsturz – unterbrach die dumpfe Stille.

Hanna fuhr erschrocken zusammen, aber Helene, mitten aus ihrer Ergriffenheit heraus, war sofort bei der Sache. Mit einem kleinen Schrei fiel sie erst rücklings gegen ihre Stuhllehne und dann gar noch – mit einiger Vorsicht – ganz vom Stuhl herunter.

Jubelnd kam Heidi angestürzt, um seiner furchtbar toll erschrockenen Mama auf die Beine zu helfen. Düttila kreischte hinter seinem Zaun vor allgemeiner Wonne. Das Zimmer war im Nu ganz erfüllt von Lachen Schreien und Lebensfreude.

Ueber Hanna kam diese plötzlich hereinbrechende heitere Luft wie ein erlösender unwiderstehlicher Zauber, wie eine mitreißende Musik. Sie lachte hell auf, so herzlich, wie sie seit langer Zeit nicht mehr hatte lachen können.

„Reizend ist das,“ sagte sie zu Helene, die, „ganz kaputt von diesem gräßlichen Bums, mühsam wieder auf ihrem Stuhl gelandet war und sich nun das verwirrte Haar glattstrich.

„Nicht wahr?“ sagte sie strahlend und sehr beglückt, als sie in Hannas gänzlich verwandeltes Gesicht sah. „Wir können es. Sie nahm Heidi beim Kopf und drückte ihn an sich. „Sag' mir, Bubi, bist du nun nicht mehr dumm? Kennst du nun die Tante Hanna wieder?“

„Hm,“ machte er nickend. „Nu kenn’ ich ihr wieder.“

„Und krieg' ich denn nun auch einen lieben Kuß von dir?“ fragte Hanna, sich zu ihm neigend. „Ganz von selbst?“

Zutraulich hielt er jetzt sein Kußmäulchen hin, schlang auch kräftig die Arme um Hannas Nacken, als sie ihn auf den Schoß hob. Er hatte es dann aber doch ziemlich eilig, wieder zu seinen Spielsachen zu kommen. Helene war indessen auf einige Minuten mit Durchläuchting zwecks notwendiger Kammerverhandlungen im Schlafzimmer verschwunden.

„Weißt du, du könntest mir den Schnitt von Heidis Schürze geben,“ sagte Hanna, als Mutter und Kind zurückkamen. „Sie scheint mir höchst zweckmäßig. Ich brauche so etwas für eine ganze Reihe von kleinen Gesellen aus meiner Keller- und Dachstubenpraxis. Mit den Zurüstungen für Weihnachten kann man nicht früh genug anfangen.“

[779] „Gern,“ sagte Helene, erfreut, daß Hanna sich wieder so hübsch beisammen hatte. „Du kannst ihn mitbekommen. ich hab' ihn hier in meiner Schneiderschieblade. Komm, wir setzen uns da an das Fenster.“ Und nach einem kleinen Zögern: „Ich hüte nämlich die Kinder immer selbst, sonst würde ich dich in das andere Zimmer führen. Aber zudem hat das Mädchen auch draußen zu thun mit Abwaschen –“

„Was auch ganz das Richtige ist,“ unterbrach Hanna. „Sie gehört zu ihren Kochtöpfen, du zu deinen Kindern. Sei unbesorgt, heute mach' ich dir keine Scene mehr.“

Helene, in der Furcht, durch ein wenn auch noch so gut gemeintes Wort zu verletzen streichelte die Freundin nur sacht an Wange und Kinn. Am Fenster saßen sie dann so, daß Helene den freien Blick auf das Schlachtfeld behielt. Ihre zärtlichen Augen wanderten fast beständig zwischen Hanna und den Kindern hin und her; die Näherei lag meistens im Schoß.

„Du hast wohl ganz viele Weihnachtstische zu bedenken?“

„O ja. Kinder giebt es dies Jahr einundvierzig.“

„Gott bewahre!“

„Nun, auf neunzehn Familien verteilt, ist es noch nicht einmal so arg. Freilich ungleich genug verteilt. Heidis Schürze wird mir bei neun oder zehn von meinen kleinen Spatzen zugute kommen.“

„Ich finde es so hübsch, wie du das alles machst und dir sorgfältig ausdenkst. Sie müssen dich ja schrecklich lieb haben deine armen Leute! Wenn ich nur mehr Zeit hätte, ich käme gar zu gern einmal mit auf so einen Besuch. Bringst du deine Weihnachtsbescherungen denn direkt in das Haus zu jedem einzelnen?“

„Nein, das wäre doch zu weitläufig. Ich habe mir von Ludwig ausgewirkt, daß sie einmal im Jahr zu mir, also in das Haus kommen dürfen. eben zu Weihnachten. Im Billardzimmer bescher’ ich ihnen. In dem Zimmer, in dem meine Mutter gestorben ist. Damit doch von Zeit zu Zeit etwas wie Liebe hineinkommt. Auch Freude, an der sie Freude gehabt hätte. Und Tannenduft, Weihnachtsduft, den sie so sehr liebte! Ich lasse den Baum immer noch ein paar Tage stehen, nachdem er geplündert worden ist. Und ich stecke Zweige in alle Gardinen und in jeden Winkel, hinter die Bilder und wo es nur irgend geht. Ein Weilchen bleibt der liebe Duft noch so haften – dann – –“

Mit heiser werdender Stimme brach sie ab. Auch Helene blieb stumm, sie beugte sich nur vor, um Hanna wieder zärtlich zu streicheln. Diesmal half kein Poltern über die Stille hinweg. Beide Kinder waren ausnahmsweise lautlos beschäftigt. Heidibubi hockte knieend vor seinem aufgeschlagenen Bilderbuch auf der Erde und betrachtete tiefsinnig den Wolf, der eine Chijäne hatte sein sollen, und Düttila bohrte seinen dicken, kleinen Zeigefinger so tief er konnte in das zackige Loch am Bauch seiner Gummimütze, der der große Bruder heute morgen die Quietschflöte ausgerissen hatte.

Hanna war es dann selbst, die der beklommenen Pause ein Ende machte. Sie zog die Uhr.

„In zehn Minuten etwa muß ich gehen.“

„O, wie schade. Es kann noch keine Stunde her sein, daß du gekommen bist. Ich wage freilich nicht, dir zuzureden; du bist ja nicht dein eigener Herr. Und Unpünktlichkeit verträgt kein Mann, auch meiner nicht! Aber Liebchen! Das versprich mir, daß du bald wiederkommst. Nicht erst nächstes Jahr.“

„So lange will ich gewiß nicht wieder warten, das kann ich dir ja wohl versprechen. Aber du mußt viel Nachsicht mit mir haben. Im Augenblick ist mir es ja, als käme ich gern bald wieder. Ich weiß aber nicht, wie lange das dauert. Als ich herkam, dacht’ ich. „Wäre es schon überstanden! Du bist mir nicht bös darum? Du verstehst’s?“

„Alles,“ sagte Helene weich. „Aber halte das Gefühl fest, das jetzt in dir ist. Es ist ganz gewiß gesund. Und – weißt du was? Nächste Woche schreib’ ich dir eine Zeile, um dich zu erinnern, und du antwortest mir dann: „Ja, morgen!“

Nächste Woche! Du lieber Gott! Für die nächsten fünf, sechs Wochen bin ich völlig dingfest gemacht und kann mich keinen Fußbreit selbständig rühren. Darum kam ich ja noch geschwind vorher zu dir. Uebermorgen kommen die Breslauer. Die Schwester meines Mannes, weißt du, mit beiden Töchtern und beiden Schwiegersöhnen, dem ganzen und dem halben. Das Brautpaar will die Ausstattung von A bis Z hier besorgen. Als wenn sie in Breslau auf dem Dorfe lebten. Natürlich muß Linchen auch mit dabei sein.“

„Das ist die Aelteste, schon Verheiratete?“

„Ja. Und da Linchen nicht ohne ihren Männe leben kann, kommt Männe auch mit. Der Schwiegervater und Chef hat ihn beurlaubt; ich glaube, er ist leicht zu entbehren. Seine Haupteigenschaft ist, daß er viel Geld in das Geschäft gebracht hat. Das giebt nun eine Zeit der Unruhe, der Regellosigkeit, der Abhetzung, vor der mir graut. Denn außer den Besorgungen, die endlos sein werden – Evchen ist schwer zu befriedigen – wird ein Amüsement das andere ablösen. Jeden Tag muß etwas ,los’ sein. Jeden Abend mehreres. Aus dem Theater in das Restaurant, aus dem Restaurant in das Cafe! Die halbe Nacht ist weg, ehe man sich umsieht. Morgens steht dann das Frühstück bis Elf auf dem Tisch. Tropfenweis kommen sie an, wie es ihnen paßt. Von Gemeinschaftlichkeit ist keine Rede. Ganz wie in einem Hotel. Und der eine trinkt Kaffee, der andere Kakao, der dritte Thee, der vierte Weinschokolade. Linchen frühstückt überhaupt im Bett. Der eine will die Eier hart, der andere weich. Der eine das Beefsteak durchgebraten, der andere blutig. Der eine ißt nur rohen Schinken, der andere nur gekochten. Wenn ich meine brave Pauline nicht hätte, die durch nichts aus der Fassung zu bringen ist, ich wüßte nicht, wie ich mich durchfinden sollte. Ich glaube, im stillen bekreuzigen sich alle meine Leute.“

„Ist denn dein Mann mit dieser Unruhe und diesem rücksichtslosen Getreibe einverstanden?“

„Ach, weißt du – es ist seine Familie, da ist man immer nachsichtig. Und ich klage ihm ja auch nicht. Und dann hat er gern recht viel vor. Immer etwas Neues. Freilich, wie er es jetzt machen wird, bei seinen Diätvorschriften? Er wird sich kaum halten lassen.“

„Einen schweren Stand wirst du haben.“

„Nu, es wird schon vorübergehen. Alles geht vorüber. Ich werde dir es melden, wenn die Heuschrecken weg sind. – Und jetzt ist es hohe Zeit für mich. Leb’ wohl!“

Sie stand auf.

„Also wirklich, auf baldiges Wiedersehen?“

„Ja doch, du Kind. – Ade, Heidi, mein Herzblatt. Einen Kuß. Noch einen. Zum Abschied gieb mir auch einmal den Paul auf den Arm. Komm, du entzückender Schatz!“

Sie küßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die schon wieder vom Schauen des Leides verdunkelt war. Das süße, warme Körperchen des kleinen Kindes an sich zu fühlen, that ihr wohl und weh zugleich.

„Wie unsinnig glücklich mußt du sein,“ sagte sie ganz leise, mit den Lippen die braunen Löckchen streifend, die traurigen Augen zu Helene erhoben.

Die atmete beklommen. Was durfte sie der Einsamen darauf antworten? Sie begann sich wahrhaftig vor diesen seelenkranken Blicken zu ängstigen. Düttila half ihr aus der Not. Er hatte genug von der Geschichte, er wollte zu Mama, er streckte sein Händchen aus und machte ein bedenkliches Schüppchen mit der kleinen Unterlippe.

„Komm, Dicker,“ sagte sie schnell, ihn zu sich nehmend. „Du wirst uns doch nicht zu guter Letzt noch etwas vorsingen? Das wäre!“

Sie setzte ihn aber geschwind in seine Hürde, denn Hanna war schon aus dem Zimmer. Jählings war die schmerzhafte Unruhe der Angst über sie gekommen, der Angst vor sich selber. Sie fühlte, ihre Fassung war wieder hin. Sie begriff nicht mehr, daß sie vorhin fröhlich hatte lachen können. Sie war aufs neue wund, über und über.

Ihr Abschied glich einer Flucht. Auf Helenens Ruf über das Treppengeländer hinunter: „Also bald wieder, du!“ antwortete sie nicht mehr.

(Fortsetzung folgt.)
[780]
Marthas Briefe an Maria.
Ein Beitrag zur Frauenfrage, mitgeteilt von Paul Heyse.

(2. Fortsetzung.)

Vierter Brief.
W. 7. Oktober     

Ich habe der Versuchung widerstanden, Liebste, gleich am andern Tage in meinem „Lebensläuflein“ fortzufahren. Ich erschrak denn doch, als ich den korpulenten Brief ins Couvert steckte, über seinen unvernünftigen Umfang und wollte Deine Antwort abwarten. Wenn ich den leisesten Verdacht daraus geschöpft hätte, Du begriffest nicht, daß diese Dinge mir selbst jetzt nicht als abgethan erscheinen könnten, zumal sie noch so vielen in ähnlicher Lage zu schaffen machen, hätte ich den Faden nicht weitergesponnen.

Nun aber bist Du so liebevoll auf alles eingegangen, hast es als Dein Recht in Anspruch genommen, jedes Blatt im Lebensbuch Deiner Martha zu lesen, daß ich getrost in meinen helldunklen Erinnerungen fortfahren kann.

Die helle Seite daran ist nur das Bewußtsein, redlich das Meinige gethan zu haben. Wenn wenig damit erreicht wurde, wer trug die Schuld als unsere hergebrachte Erziehung, die uns zum Lebenskampf so unzulänglich ausrüstete!

Denn jetzt, da ich ganz auf meine eigene Kraft angewiesen war, wo sollte ich ein mir gemäßes Feld der Thätigkeit finden. Ich war gesund, aber zu schwerer körperlicher Arbeit nicht kräftig genug. Die weisen Männer, die kein Bedenken tragen, in Bergwerken, Fabriken und zum Mörtel- und Steinetragen bei Bauten das schwächere Geschlecht den Männern gleichzustellen, haben so stets die zarteste Sorge geäußert, ob wir Mädchen den Beschwerden eines gründlicheren humanistischen Studiums gewachsen wären. Als ob wir in unseren Töchterschulen nicht auch zuweilen von Ueberbürdung zu erzählen gewußt hätten, wenn wir bis in die Nacht hinein einen Haufen Schreiberei zu bewältigen und uns am Memorieren eines bunten Gedächtniswustes abzuquälen hatten!

Und alle diese Plage hatte uns nur dazu verholfen, in einer Salon-Konversation nicht eine gar zu unglückliche Rolle zu spielen.

Jetzt aber, da sich’s darum handelte, mein Brot zu erwerben – denn von dem Verkauf unserer Möbel und des Silberzeugs waren nach Bezahlung aller Schulden nur ein paar hundert Mark auf mein Teil gekommen –, was sollte ich beginnen.

In verschiedenen Häusern, wo ich mich um eine Gouvernantenstelle bewarb, fand man mich nicht genügend dazu vorgebildet. Mein bißchen Französisch und Englisch reichte zum Sprechen dieser Sprachen nicht hin. Meine Kenntnisse in Geschichte und Geographie waren lückenhaft, mein dilettantisches Klavierspiel befähigte mich nicht zum Unterricht in der Musik, und für mein Porzellanmalen hatte man nur ein mitleidiges Lächeln.

Ich taugte allenfalls zur Bonne; aber ich hatte ein Grauen vor der weißen Sklaverei der unglücklichen Geschöpfe, denen die Sorge für unmündige Kinder anvertraut ist, ohne daß sie die Macht haben, ihre Erziehung nach eigenem Ermessen zu leiten, die allen Launen und Unarten der süßen Kleinen wehrlos preisgegeben sind und kaum, wenn diese zu Bett gebracht sind, sich selbst angehören dürfen.

Nun, ich war ja fürs Haus erzogen worden. „Das Weib gehört in die Familie. Wenn sie keine eigene hat, soll sie sich in einer fremden nützlich machen.“

So versuchte ich es denn, mich als „Stütze der Hausfrau irgendwo unterzubringen. Und da ich mit gutem Gewissen versichern konnte, daß ich, was die Wissenschaft von Küche und Keller betraf, die Behandlung des Weißzeugs und das Einkochen von Früchten, jede Prüfung mit Ehren zu bestehen vermochte, fand ich auch bald Aufnahme in einem sehr angesehenen wohlhabenden Hause, dessen Herrin durch ein langes Leiden an die Chaiselongue gefesselt war.

Sie war eine freundliche arme Seele und kam mir vertrauensvoll entgegen. Ich dachte einen Augenblick, ich sei im Hafen angelangt.

Zwar für meine geistigen Bedürfnisse bot sich mir hier nicht die geringste Nahrung, es herrschte in der Familie ein frivoler, durchaus konventioneller Ton, den der Hausherr, ein kaum halbgebildeter Geldmann, für das richtige Kennzeichen der höheren Gesellschaft hielt und der von seinen zwei Kindern, einem jungen Gecken, der sich zur diplomatischen Carriere vorbereitete, und seiner achtzehnjährigen unhübschen, aber desto eitleren Schwester, eifrig nachgeahmt wurde.

Zwar übersah und überhörte ich alles, was mir widerwärtig war, da ich doch in den Abendstunden, nachdem ich den Thee bereitet hatte, auf mein Zimmer flüchten und mich in ein Buch vertiefen konnte.

Nicht volle drei Monate aber hatte ich dies bescheidene Glück genossen, da erklärte mir die gute Frau eines Tages mit sichtbarer Befangenheit, es thue ihr leid, mich entlassen zu müssen. Sie habe aber zu bemerken geglaubt, daß Sohn Alfred sich mehr für mich interessiere, als für seine Ruhe erwünscht sei, und auch mit ihrer Elsa hätte ich mich nicht zu stellen gewußt. „Mir selbst, liebes Kind, sind Sie sehr wert geworden. Aber lassen Sie mich Ihnen, da ich Sie gern glücklich sähe, den mütterlichen Rat geben: suchen Sie sich einen anderen Beruf. Zum Mitglied einer Familie, wie die unsere, sind Sie zu jung und hübsch. Das führt immer zu unliebsamen Verwicklungen.“

Ich küßte der wohlwollenden Dame die Hand und verließ ihr Haus ohne sonderliches Bedauern. Nicht nur der Herr Sohn hatte sich für mich zu „interessieren“ angefangen, auch die Gunst des Hausherrn drohte mir lästig zu werden, und die kleine Eifersucht der Tochter war bereits in einen förmlichen Haß ausgeartet. In kurzem hätte ich selbst den Entschluß fassen müssen, den Dienst zu kündigen.

So stand ich denn wieder auf dem Pflaster und überlegte, welche Form wohl das neue Joch haben möchte, unter das ich meinen geduldigen Rücken beugen sollte.

Die Wahl wurde mir erleichtert, da mich die Dame, die ich eben verlassen, einer ihrer älteren Bekannten empfahl, die eine Gesellschafterin und Reisebegleiterin suchte. Ich besann mich nicht lange und nahm die Stelle an.

Ein ganzes Jahr harrte ich in dieser neuen Fron aus. Was ich da erlebte, würde sich in einem englischen Roman der bekannten Sorte gut verwerten lassen. Meine neue Herrin war erst sechzig Jahre alt, machte aber den Eindruck einer hexenhaften Urgreisin mit scharfen, verblichenen Zügen, die aber noch erkennen ließen, daß sie einst eine gefeierte Schönheit gewesen war. Von jenen Tagen ihrer Triumphe, die sie in ihrem frühen Witwenstande ohne jedes sittliche Vorurteil genossen haben sollte, war ihr noch das Bedürfnis unbedingter Herrschaft und beständiger Huldigung geblieben und eine grenzenlose Selbstsucht. Da ich mich nur zu blindem Gehorsam, nicht aber zum Götzendienst ihrer Eitelkeit verpflichtet fühlte, rächte sie sich in dem „Stolz“, den sie mir beständig vorwarf, durch eine Menge kleiner Tücken, mit denen sie mich in meinen Wünschen und Neigungen zu verwunden, meine Geduld zu ermüden hoffte. So erlaubte sie mir auf der Reise, wenn wir in die sehenswürdigsten Städte und Gegenden kamen, niemals, das Hotel ohne sie zu verlassen, um meine Schaulust zu befriedigen. Sie selbst kannte bereits alles und fuhr dann mit mir nur im halbgeschlossenen Wagen aus, um etwas frische Luft zu schöpfen.

Ich hielt aber ohne Murren bei ihr aus. Eine innere Erschöpfung jedes eigenen Willens, eine Lähmung meines Ich war über mich gekommen, ich erschien mir selbst, wie ein pendelnder Automat, der sich geduldig jeden Tag aufziehen ließ.

Uebrigens war der Umgang mit dieser bösen alten Frau nicht ganz ohne Reiz. Sie hatte einen hellen Verstand und eine scharfe Zunge und fand ein besonderes Vergnügen daran, mein

[781]

Kleine Krankenwärter.
Nach einem Gemälde von Herm. Kaulbach.

[782] sittliches Gefühl durch Erzählungen von bedenklichen Erlebnissen oder cynisches Aussprechen sehr unbedenklicher Maximen zu empören.

Ich betrachtete das als einen Kursus in der höheren Welt- und Menschenkenntnis und machte ihr nicht die Freude, mich als Unschuld vom Lande von ihr verhöhnen zu lassen.

Wer weiß, wie lange ich es bei ihr ausgehalten hätte! Da fanden wir sie eines Morgens tot in ihrem Bette, auf dem kalten weißen Gesicht noch den Zug von rücksichtsloser Selbstsucht und um die eingesunkenen Lippen, die ein ziemlich starkes Bärtchen beschattete, eine ironische Falte.

In ihrem Testament aber hatte die seltsame Frau mir ein Legat von zweitausend Mark ausgesetzt, begleitet von ein paar freundlichen Worten für mich, die ich mit Rührung las und dabei der Widersprüche gedachte, die ein Charakter, der uns offen zu liegen scheint, in seinem Innersten verbergen kann.

Jetzt aber war ich frei und schwor mir zu, mich nicht wieder in eine persönliche Dienstbarkeit zu schmiegen. Zum Studium einer Wissenschaft war ich zu alt geworden, auch hätten meine Mittel dazu bei weitem nicht ausgereicht. Aber für ein paar Jahre war bei meiner frugalen Lebenweise ausgesorgt, und in dieser Zeit konnte ich mich zu einem praktischen Beruf vorbereiten.

Ich kehrte nach Berlin zurück und trat in eine Handelsschule ein. Mein Ehrgeiz ging nicht höher, als Buchhalterin zu werden. Ich war so eifrig bei diesem neuen Bestreben, so vollständig mein Verzicht aus Beschwichtigung meiner höheren geistigen Triebe, daß ich mir selbst ganz fremd vorkam, wenn ich mich im Spiegel betrachtete. Das Leben freilich, das ich führte, war von einem Scheintode nur dadurch unterschieden, daß die junge Leiche von Zeit zu Zeit das Bedürfnis fühlte, ihr altes Sterbekleid mit einem nach neuerer Mode zu vertauschen.

Mein Bruder war indessen als Assessor nach Berlin gekommen und hatte das Ziel seiner innigsten Wünsche, die Verlobung mit einem reichen Mädchen, erreicht. Er wollte nichts davon wissen, daß ich ferner darauf ausging, mir in einer subalternen Stellung meine Unabhängigkeit zu wahren. Es schien ihm wohl hauptsächlich gegen die Ehre zu gehen, eine Schwester zu haben, die als Buchhalterin in seinen jetzigen Kreisen sich nicht sehen lassen dürfe.

Ich blieb aber auf meinem Willen und erklärte ihm, daß mir „seine Kreise“ nicht verlockend genug seien, um die Genugtuung, mir selbst mein Leben zu verdanken, dafür aufzugeben.

Und so säße ich heute wohl, statt diesen Brief zu schreiben vor einem dicken rotregistrierten Kassabuch und malte schöne Zahlen in die Rubriken von Soll und Haben, hätte nicht ein gütiger Zufall sich ins Mittel gelegt und mich nach dem ersten Lehrjahre der doppelten Buchführung abtrünnig gemacht.

Davon in meinem nächsten Brief, liebster Schatz. Du wirst ihn ruhiger erwarten können, da Du jetzt „Land siehst“. Einstweilen lege ich Dir die Photographie des lieben Steuermannes bei, der mein Lebensschifflein aus allen Stürmen und Klippen herausgelenkt hat.

Yours truly

Martha.     


Fünfter Brief.
13. Oktober abends.     

Es hat mir sehr wohlgethan, liebste Freundin, daß mein lieber Gemahl auch vor Deinen Augen Gnade gefunden hat, obwohl er kein sogenannter „schöner Mann“ ist und es dem Photographen versagt war, ihn „sprechend ähnlich“ zu machen. Denn wenn Du ihn sprechen hörtest, würdest Du begreifen, wie er in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft mein Herz für immer gewinnen konnte.

Es macht aber Deinem physiognomischen Scharfblick Ehre, daß Du aus diesem stummen Konterfei die Grundzüge seines Wesens herausgelesen hast, seine Kraft und Güte, seinen Seelenadel und Wahrheitssinn, und trotz der dicht zusammengewachsenen Brauen und des Bartgestrüpps um den Mund hast Du ihm sogar den kindlich harmlosen Humor zugetraut, der ihn in lichten Intervallen zwischen seiner aufreibenden Thätigkeit so besonders liebenswürdig macht.

Du bist eben als Aerztin eine Seelenkundige, die sich nicht bloß auf die Diagnose leiblicher Zustände versteht.

Ja, Liebste, er ist ein seltener Mensch, und ihn zu besitzen, wäre eine himmlische Belohnung, selbst wenn ich ein weit schlimmeres Fegefeuer überstanden hätte, als mir verhängt war.

Wie wir uns gefunden haben, ist zum Glück so kurz erzählt, daß Du nicht zu fürchten brauchst, mit einem langen Liebesroman voll „Langen und Bangen“ in schwelender Pein behelligt zu werden.

Ich besuchte in Berlin zuweilen die Vorträge, die in einem Volksbildungsverein gehalten wurden, wenn mich die Themata reizten. Freilich trug ich oft genug nun erst recht eine brennende Sehnsucht mit heim, die Anregung, die ich empfangen, gründlicher auszubeuten und die Trauer darüber, daß dazu keine Aussicht war. Doch war’s immerhin eine Birne für den Durst, eine kleine geistige Erfrischung nach den ermüdenden Stunden in meiner Handelsschule.

An einem der Abende sollte ein fremder Arzt einen Vortrag halten über das Verhältnis des Willens zu unserem Nervenleben. Das interessierte mich sehr und ich ging zeitig mit einer Bekannten hin.

Das erste Auftreten des Redners versprach nicht eben viel. In einen solchen Lehrer, sagt’ ich mir, würden wir uns in unserer höheren Töchterschule nicht verliebt haben.

Er hatte aber kaum fünf Minuten gesprochen, so hing ich an seinen Lippen und als er nach fünf Viertelstunden geendet hatte, saß ich wie in einen Traum verloren, in dem mir der Klang seiner Stimme noch immer im Ohre forttönte und der feste, helle Blick seiner Augen mich mit Licht und Wärme zugleich überflutete.

Man pflegte in dem Saale, wo die Vorträge gehalten wurden nach ihrem Schluß noch zusammenzubleiben, die Herren vom Vorstand mit ihren Familien und wer sonst ihren Kreisen näher stand. Ich war immer fortgegangen, aus Sparsamkeit, da mein bescheidenes Abendessen zu Hause mich weniger kostete. Diesmal blieb ich mit meiner Begleiterin. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, zu deuten, daß der Mann, der es mir so mächtig angethan, nächster Tage verreisen sollte und ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Ich blieb also und bestellte mir ein Glas Bier und ein Brötchen, und wir setzten uns an ein leeres Tischchen in schicklicher Entfernung von der ansehnlicheren Gesellschaft. Wir sprachen eifrig von dem eben Gehörten, ich äußerte meine Unklarheit über einiges, was mir dunkel geblieben war oder was mit früher gefaßten Meinungen im Widerspruch stand, und ließ dabei kein Auge von ihm, der sich in heiterer Unterhaltung bald zu diesem, bald zu jenem wandte.

Indem er so, alte Bekannte begrüßend, durch den Saal ging, kam er einmal unserem Tische ganz nahe. Da erkühnte sich meine Begleiterin, die mich schon mit meinem Interesse für ihn geneckt hatte, ihn anzureden und zu meiner tödlichen Bestürzung ihm zu verraten, daß hier eine Zuhörerin sitze, die nicht mit allem, was er gesagt, einverstanden sei.

Er richtete sogleich freundlich das Wort an mich, erbot sich ohne jede überlegene Herablassung zu dem beschränkten Weiberverstande, mir auf meine Fragen Rede zu stehen, und setzte sich zutraulich auf den Stuhl mir gegenüber. Ich faßte mich dann auch rasch nach der ersten Verwirrung, und nun hatten wir ein sehr angeregtes Gespräch, das ihn selbst zu fesseln schien. Wenigstens verabschiedete er sich nicht eher, als bis einer der Vorstände an unseren Tisch kam, ihn an die Polizeistunde zu erinnern, die seine Damen nach Hause trieb.

Beim Abschied hatte er noch versprochen, mir eine kleine Schrift von Kant zu schicken, die ein ähnliches Thema behandelte und die er in seinem Vortrage citiert hatte, „Ueber die Macht der Vernunft“, unserer krankhaften Zustände Herr zu werden oder wie der Titel genauer heißen mag.

Statt sie zu schicken, brachte er sie mir selbst. Als er nach [783] drei Tagen Berlin verlassen müsse; er war von einem reichen Manne dorthin berufen worden, der ihn bei einem leichten Erkranken auf der Reise durch seine Stadt kennengelernt und ein so großes Zutrauen zu ihm gefaßt hatte, daß er in einer neuen Krankheit ihn wieder zu Rate ziehen wollte, und seine Freunde und Studiengenossen hatten die Gelegenheit wahrgenommen, ihn zu einem Vortrage im Verein zu werben, nach drei kurzen Tagen also – verließ er mich als mein Verlobter.

Du kannst denken, daß ich ihm nichts verschwieg, was ihn, den schon reifen Mann – er ist zwölf Jahre älter als ich – von diesem leichtsinnigen Jugendstreich abschrecken konnte, meine Armut (die schöne Aussteuer, die ich mir selbst gemacht hatte, war längst mit ihrem großen Schrank verkauft worden), meine konfuse Bildung, meinen Hang zum Grübeln, der mich wohl nicht befähigte, ihm eine immer heitere Lebensgefährtin zu werden. Er lächelte zu dem allen und erwiderte, auch ich würde als Frau eines Armenarztes in einer bayrischen Mittelstadt kein großes Los ziehen. Und dann fügte er so liebevoll überschätzende Worte hinzu, daß mir ein Glücksgefühl heiß wie nie übers Herz lief und ich so unbedenklich mit zugedrückten Augen den Sprung ins Dunkle machte, wie wenn sich mir die Pforten des Paradieses aufgethan hätten.

Ich habe es keine Stunde meines Lebens zu bereuen gehabt, in dem ganzen Jahre, das wir nun verbunden sind. Und wenn mich doch oft genug an der Seite dieses besten Mannes, der mich auf Händen trägt, ein Ungenügen quält. Du wirst mich nicht für eine der unersättlich begehrlichen Närrinnen halten, die das schönste Glück sich durch bloße Grillen aber hochfahrende Ansprüche verbittern, oder gar für eine jener weiblichen Karikaturen die sich selbst „unverstandene Weiber“ nennen und mit ihrem wahren Namen unverständige und unausstehliche heißen sollten. Was mir fehlt, ist Arbeit, harte, rechtschaffene geistige Arbeit im Schweiße meines Angesichts. Mein Herz sitzt an voller Tafel, mein Geist hungert nach wie vor. Vielleicht ist das eine Krankheit, aber sie zehrt nun einmal an meiner innersten Natur und ist nicht mit kleinen Palliativmitteln zu heilen.

Laß Dir das noch ein wenig näher erklären.

Als ich meinen Mann heiratete, diesen Mann, glaubte ich, nun sei alles gewonnen, was ich je ersehnt hatte. Er wüßte alles, vor seinem klaren Auge konnte keines der Welträtsel sich in seine Schleier hüllen und da wir als Mann und Frau keine Geheimnisse voreinander hatten, würde mir in der geistigen Gütergemeinschaft, in der wir lebten, alles zufallen, wonach ich nur je Verlangen getragen.

Ich mußte bald erkennen, daß dies eine Illusion gewesen, die aus inneren und äußeren Ursachen sich nicht verwirklichen konnte.

Zunächst, weil er beim besten Willen mir nicht so viel von seinem Leben widmen konnte, wie ich hatte und bedurfte. Jean Paul, wenn ich nicht irre, hat einmal gesagt, der Unterschied der Liebe bei den beiden Geschlechtern bestehe darin, daß das Weib in einem fort liebe, während der Mann dazwischen zu thun habe. Ich halte das für einen jener geistreichen Sprüche, die nur zur Hälfte oder zu einem Drittel wahr sind. Auch das Weib, wenn es nicht ein ganz stumpfsinniges, geistesarmes Wesen ist, hat „dazwischen“ zu thun, und wäre es nur zu lachen, zu waschen und ihre Kleider zu flicken, was bei der leidenschaftlichen Natur schwerlich von einem ununterbrochenen Liebesgefühl begleitet sein wird. Wo aber zwei Menschen mit höheren geistigen Anlagen sich fürs Leben angehören, wird es die Frau sich nicht nehmen lassen, sich zu einem vollen Menschen auszubilden, in dem keine seiner Geistes- und Seelenkräfte schlummern oder neben dem thätig wirkenden Manne ein bloßes Schattendasein führen.

Nun sah ich meinen Mann dermaßen von seinem Beruf in Atem gehalten, daß für mich nur die kurzen Pausen übrig blieben, die mit unseren hastigen Mahlzeiten ausgefüllt wurden. Auch in diesen Ruhestunden gehörte er nur halb mir an, die Gedanken an seine Patienten ließen ihn oft nicht los, und am Abend, wenn alle Besuche hinter ihm lagen, war er meist so erschöpft, daß es grausam gewesen wäre, wenn seine Frau ihm zugemutet hätte, nun noch für ihre Bildung zu sorgen.

Unser junger, kleiner Haushalt machte mir nicht viel zu schaffen, obwohl ich überall selbst mit angriff. Dann kamen die langen Stunden, wo ich über mir allein saß und in den Büchern meines Mannes herumstöberte, „ob etwas käme und mich mitnähme“. Es waren meist medizinische Werke, die ich nicht zu lesen begehrte. Einige historische, die ich schon kannte. Dann philosophische, die ich zuerst mit heller Freude in die Hand nahm, da ich glaubte, hier hätte ich endlich den Schlüssel gefunden, der mir die Thore zu den Geheimnissen der Unter- und Oberwelt öffnen würde. Aber ich merkte bald, daß meine Hand zu schwach war, ihn zu gebrauchen. Die Sprache, in der die meisten geschrieben waren, klang wie eine Art Geheimsprache die nur solche leicht sich aneignen können, die mit Griechisch und Latein vertraut sind. Und selbst, wo die Dichter sich Mühe geben, in der allgemeinen Menschensprache zu reden, versagte mir bald das Verständnis. Wir waren ja nie dazu angehalten worden, eine strenggegliederte Kette von Schlüssen zu verfolgen, unter dem Vorwande, unser Gehirn sei zu schwach dafür. Als ob selbst das stärkste Gehirn nicht auch einer geistigen Gymnastik bedürfte, um schwereren Aufgaben gewachsen zu sein. Und was den Mangel an natürlicher Logik betrifft, den man uns vorzuwerfen pflegt, wie oft hatte ich im Disput mit Männern erfahren, daß auch viele von ihnen mit dieser edlen Gabe der Götter nicht eben reichlich gesegnet sind, da sie sich der Mühe überhoben glauben, uns mit Gründen zu überzeugen, wenn wir unsere Menschenrechte verteidigen, und nicht imstande sind, unsere Gründe zu widerlegen.

Ich hatte Tage, wo ich in meiner drückenden Unthätigkeit wahrhaft verzweifelt herumging.

Die leeren Stunden durch Geschwätz mit Nachbarinnen auszufüllen, konnte mir schon darum nicht in den Sinn kommen, weil wir sehr zurückgezogen lebten. Der Beruf meines Mannes und unsere beschränkten Mittel erlaubten uns nicht, an der ziemlich lebhaften Geselligkeit teilzunehmen, die mir von seiten der Männer wohl manche Anregung geboten hätte. Die Frauen, zumal der Professoren, die ich gelegentlich kennengelernt hatte, zogen mich wenig an. Ein gewisser Zunfthochmut machte die meisten der letzteren unliebenswürdig, und daneben betraf ich auch sie darauf, daß sie mit Vorliebe von ihren Kindern und Mägden sprachen.

Ja wenn ich selbst ein Kind hätte –! Vielleicht wäre auf einen Schlag all meinem heimlichen Ungenügen abgeholfen. Da mir dies Glück bis jetzt versagt ist, was gäbe ich darum, mit irgend einer ernsten Thätigkeit mir das Gefühl zu erringen, daß ich nicht so gar tief unter meinem Manne stehe! Hätte ich auf einer Universität Botanik studieren dürfen oder Chemie, Physik, irgend eine der Naturwissenschaften – ich hätte doch von fern an seinem geistigen Leben teilnehmen können! Und am schönsten, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, auch meinerseits etwas zu erwerben, unsere beschränkte Lage dadurch zu erleichtern, etwa durch Unterricht in einer Mädchenschule, wenn mein Talent und Wissen auch nicht ausgereicht hätte, die Wissenschaft selbst zu bereichern!

Nun habe ich Dir genug vorgeklagt, liebste barmherzige Schwester.

Da ich meinem ohnehin so vielgeplagten Manne das Herz nicht noch schwerer machen mag durch solche unfruchtbaren und hoffnungslosen Bekenntnisse, sondern, wenn ich ihn haben darf, ihm ein heiteres Gesicht zeigen muß, mußt Du schon still halten. Dies aber soll das letzte Mal gewesen sein, daß ich Deine Güte mißbraucht, und der längste Brief, mit dem ich mich über den Kanal hinweg an Dein mir immer nahes, verstehendes Schwesterherz geflüchtet habe.

Lebewohl!

Deine M.     
(Fortsetzung folgt.)
[784]
Das Kind.
Roman von Adolf Wilbrandt.

(7. Fortsetzung)

19.

Die Drei, die zu den Mandarinen gegangen waren, kamen vom Hause her zurück, Schilcher hatte jetzt statt der Serviette etwas wie einen Brief in der Hand, das er wie eine Fahne schwenkte. „Eine Depesche!“ rief er, während sie näher kamen. „Ein Telegramm! An dich!“

„Endlich!“ sagte Rutenberg und nahm es ihm aus der Hand. „Du, Alter! Errätst du, von wem es ist?“

„Hab' so eine Ahnung!“

Rutenberg öffnete die Depesche und las sie vor: „Heute, mit dem Dampfer. Whist, Wild, Lugau.“

„Siehst du wohl, sie sind es! Lakonisch, aber deutlich. Schilcher, wir haben sie! Wo ist die Hotelkanone, um sie zur Begrüßung abzufeuern, wo ist eine deutsche Flagge! – ,Mit dem Dampfer‘ steht da. Nach meiner Uhr muß der schon da sein. Schilcher, sie sind schon da!“

Fritz deutete mit dem Arm hinaus. „Der Dampfer hält bei der Marine –“

„Richtig!“ rief Rutenberg, der an die Brüstung stürzte und hinuntersah. „Da rudert auch schon eine Barke vom Dampfschiff her. Sie sitzen ja auch drin! Sie sind‘s!“ – Er zog sein Taschentuch heraus und wedelte damit. Schilcher und Gertrud, von seiner Freude angesteckt, thaten es ihm nach. „Kinder!“ rief Rutenberg und blickte triumphierend herum. „Nun werden wir also wieder Lugaus Imitationen und Wilds Erfind – –“

Er sprach das Wort nicht zu Ende. Eben kam ihm Arthurs Gesicht vor die Augen, das rosige, glatte, gleichsam abgeleckte; dabei fielen ihm Fritz Waldecks Worte wieder ein ‚jede Gefahr vermeidet er meilenweit, wenn es möglich ist!‘ – Wilds Erfindungen, dachte er. Ah! Wild wäre mein Mann!

Schilcher war auch an die Brüstung getreten, noch immer sein Taschentuch schwenkend. „Sie sehn uns!“ rief er jetzt. „Bei Gott, sie sehn uns. Sie ziehn auch ihre Flaggen auf. – Rutenberg, ich geh‘ hinunter, geh‘ ihnen entgegen, diesen alten Jungen!“

Er wollte sich schon in Bewegung setzen, doch Rutenberg hielt ihn fest. „Nein, nein,“ sagte er. „Ich! – Laß mich, Schilcher,“ flüsterte er hastig, ihn ein paar Schritte weiter führend. „es ist eine Idee über mich gekommen, von diesem Wild soll sie ausgehn; ich führ‘ ihn herauf und sag‘ sie ihm. Gieb dann acht, gieb dann acht!“

Er stieß seinen Schilcher freundschaftlich zurück und ging allein zur Felsentreppe. „Ich bin der Hausherr!“ rief er noch über die Schulter. „Ich begrüße sie!“

Schilcher sah ihn hinuntersteigen, sah die andern landen. Pasquale und dessen Gehilfe Antonio schifften das Gepäck aus. „Gepäck!“ summte er und wandte sich zu Gertrud. „Die müssen also doch auch wohnen, das ist nicht zu leugnen. Wo sollen sie wohnen, Kind? Das kleine Hotel ist voll. Wir müssen vorläufig zusammenkriechen wie die Mäuse!“

„O nein, sagte Fritz Waldeck. „das müssen Sie nicht. Mein Zimmer wird frei. bald. in einer Stunde.“

„Was? Sie wollen fort?“

Auch Schilcher war erschrocken. Gertrud sah den jungen Mann herzlich an und schüttelte den Kopf. Indem er that, als bemerk‘ er das nicht, indem er ihr seine Gefühle mit Gewalt zu verbergen suchte, entgegnete Fritz auf Schilchers Fragen „Ja, natürlich. Was ich hier zu thun hatte, das ist ja gethan! …“

Wie rührend freundlich schauen Sie mich an, Herr Oberappellationsrat. Sie drücken mir gar die Hand. Sie schütteln den Kopf … Ich muß ja fort.“

„Warum müssen Sie? …“

„Meine Reisegesellschaft, in Pompeji … morgen wollen sie nach Neapel zurück. Von da dann nach Rom … – und von Rom wieder nach Haus!

Schilcher ließ verzagend den Kopf hängen. So gefällt mir‘s! dachte er. „Der andre“ geht uns durch und wir sitzen wieder da – er warf einen grimmigen Blick auf Arthur, der über die Brüstung dem Ausschiffen zusah …. mit dem Wasserhuhn, der Taucherente allein!

„Und was wollen Sie dann zu Hause? fragte er verdrießlich.

Fritz Waldeck lächelte, ihm war selber nicht gut dabei. „Was ich will? Was lernen.“

„Und was lernen Sie denn eigentlich, wenn ich fragen darf?“

„So ungefähr Kunstgeschichte,“ erwiderte Fritz, die Achseln zuckend. „Das sieht ja nicht nach Broterwerb aus. aber mein Professor – der uns jetzt nach Neapel und Rom führt – der macht mir auf jede Weise Mut. Er glaubt an mein Talent, mein Auge, meinen – und so weiter. Ich soll an seiner Zeitschrift mitarbeiten, Mitredakteur werden, sobald ich so weit bin. Ein Lehrstuhl, meint er, wird mir dann auch nicht fehlen. Er will mir auf jede Weise beistehn,“ sagt er. Fritz zuckte wieder lächelnd die Achseln. „Er hat mich eben merkwürdig gern!“

„Kann ich ihm gar nicht verdenken,“ brummte Schilcher. „Und das nötige Geld haben Sie einstweilen?“

„Mein Onkel hat's, er will aber durchaus Vater an mir spielen. Studier' du nur drauf los, sagt er, ich lass' dich nicht im Stich, darauf kannst du Gift nehmen! – Kurz – es ging mir früher so schlecht – aber seit einiger Zeit geht's unsinnig gut. Auch dieser Onkel hat mich sehr lieb – wie ein eignes Kind –“

„Kann's ihm auch nicht verdenken,“ fiel Schilcher ein. „Aber daß Sie uns so ventre à terre wieder verlassen wollen – – das hatt' ich mir schöner gedacht!“

Man hörte jetzt Wilds und Rutenbergs Stimmen, die beiden stiegen voran herauf, Lugau folgte mit den gepäcktragenden Schiffern. Der kleine Oberappellationsrat lief ihnen entgegen, auf der obersten Stufe der Treppe blieb er stehn, mit beiden Armen zum Willkomm grüßend.

„Aber das ist ja ein Felsenmärchen“ sagte Wild, der entgegenwinkte, „wie aus dem alten Vater Homer. Nu, was sagen Sie, Gottfried Schilcher? Auf Tassos heiligem Boden sehen wir uns wieder!“

Schilcher drückte ihm die Hand, dann streichelte er ihm mit drolliger Zärtlichkeit das volle, humoristisch behagliche Gesicht. „So gescheit waren Sie noch nie, lieber Wild, wie in dieser Sache. – Ich freue mich! Sehr! – Lugau! Mensch!“

Etwas atemlos keuchte. nun auch Lugau zur Terrasse hinauf; er winkte mit dem Taschentuch, mit dem er sich die Schläfen getrocknet hatte. „Man hat uns gerufen,“ sagte er, „und wir sind gekommen. Uebrigens, Sie sind noch am Geben, Schilcher!“

„Bin ich noch am Geben?“

„Ja. – Sehen Sie mich an. Wild behauptet, ich wär' auf der langen Fahrt von der Ostsee bis Neapel um hundert Pfund magerer geworden. Finden Sie das auch?“

Schilcher betrachtete den kleinen dicken Mann mit ernsten Naturforscheraugen. „Ich kann keinen Unterschied wahrnehmen, Lugau, aber es mag ja doch sein!“

Alle hatten die Höhe erreicht, alles begrüßte sich, Rutenberg schickte die Schiffer, die mit Handkoffern und Reisetaschen beladen waren, einstweilen in sein Zimmer hinauf. Er stellte die jungen Männer vor, „junge Wandervögel“, er drückte dann vor Vergnügen die wohlbeleibten alten Herren gegeneinander und an seine Brust. „So, und nun seht euch hier gefälligst um, so wohnen wir und so leben wir. Unter uns die Brandung, vor uns der Vesuv!“

„Bei Gott, ein Irrtum ist nicht mehr möglich,“ sagte Wild, der die vertretenden Schelmenaugen rundum wandern ließ, „wir sind wirklich hier. Vierzig Jahre lang hab' ich mir's gewünscht, auf diesem Felsen zu stehn, vierzehn Tage lang hab' ich euch beneidet, jetzt steh' ich da! Das ist schon der Mühe wert, meine Freunde, sich in Gefahr zu begeben, da werden wir uns denn auch mit dem nötigen jugendlichen Leichtsinn –“

„Gefahr? Wieso?“ fragte Schilcher.

Rutenberg, der Schilcher gegenüberstand, winkte ihm heimlich, fast nur mit den Augen. der andre bemerkte es auf der Stelle. „Wieso?“ antwortete Wild, mit seinem unerschütterlich behaglich ernsten Gesicht. „Nu, in Neapel war man heute früh

[785]

Ein Tischlein deck dich.
Nach einem Gemälde von Paul Reiffenstein.

ziemlich aufgeregt. Vom Observatorium am Vesuv waren nicht sehr erbauliche Nachrichten gekommen. Der Vesuv da – – er dampft ja heute mächtig, meine Freunde, oder thut er das immer?“

„So wie heute noch nie,“ erwiderte Rutenberg.

„Na, das wär' ja wohl auch egal. Aber vom Observatorium telegraphieren sie, der Vesuv macht Anstalten, wieder ein paar von den Städten da zu verschütten, – oder so was dergleichen. Der wackere Palmieri –“

„Wer ist Palmieri?“ fragte Schilcher.

„Wer Palmieri ist? Der Professor da oben auf dem Observatorium, der dem Vesuv auf die Finger sieht, ihn mit seinen Instrumenten und Seismographen Tag und Nacht beobachtet, ein sehr braver und sehr berühmter Mann. Der meldet ja ganz absonderliche Sachen! Im Krater ist der Teufel los. Der alte Feuerberg da hat heute nacht gebebt und gezuckt, wie seit Menschengedenken nicht, wohl an zwanzigmal –“

„Ja,“ warf Lugau dazwischen, „er soll sich förmlich geschüttelt haben. So soll er gebebt haben!“ Lugau versuchte es nachzumachen, mit Armen und Beinen. Rutenberg brach in Lachen aus.

„Sie übertreiben, Lugau!“ sagte er dann – „Gebebt? Merkwürdig, man sieht doch dem alten Burschen nichts an – Bis auf das bißchen Qualmen – lammfromm sieht er aus.“

Wild nickte überlegen „Stille Krater sind tief!“ Ich versteh's ja nicht, ich bin nur ein Doktor der Medizin, für Herzbeben und Bauchgrimmen; aber der Professor, der große Palmieri erwartet ja einen Ausbruch wie damals, – als Pompeji und Herculaneum verschüttet wurden. Du sollt’st also nicht mehr lachen, Rutenberg, es ist ’ne ganz verteufelt ernsthafte Geschichte. Wenn wir das erleben sollten, daß dieser ganze Golf wieder, wie damals, von Erdbeben geschüttelt, mit Asche und Steinen bedeckt würde –“

Arthur von Wyttenbach trat näher mit einer jähen Armbewegung. „Der ganze Golf?“ fragte er. Wild nickte. Nun schüttelte Arthur doch lächelnd den Kopf. „Uns hier in Sorrent, so weit davon, wird ja doch nichts geschehn!“

Wild durchbohrte den jungen Mann mit seinen ernsthaften Augen: „Ja, das sagen Sie wohl, junger Herr. Das mögen die guten Sorrentiner auch damals gesagt haben, im Jahr neunundsiebzig – bis die Asche kam – jawohl! bis die Asche kam! Lesen Sie Plinius nach, den alten Plinius! Um so ein paar Meilen Entfernung kümmert sich ein tüchtiger Wind nicht … Bis die Asche kam und ihnen so lange auf die Dächer, in die Häuser, auf die Köpfe fiel, bis sie ganz genug hatten!“ – Wild sah Gertrud und dann die andern mit seinen wohlwollendsten Blicken an: „Ich will hier um Gottes willen niemand bange machen, aber verhehlen, was wahr ist, und uns in Sicherheit einwiegen, das ist denn doch auch nicht meine Sache, denk’ ich!“

„Nein, da haben Sie recht,“ sagte Lugau und schüttelte den Kopf.

Rutenberg war, wie in beginnender Unruhe, um Wild und dann um Schilcher herumgegangen, er flüsterte jetzt an Schilchers Ohr. „Sie ahnen nicht, was ich eigentlich im Sinn habe, nur so ein Spaß, denken sie …“

„Also auch Sorrent?“ begann Arthur wieder; er lächelte jetzt nicht mehr…. „Sie meinen, auch Sorrent – ?“

Wild zuckte mit den Achseln. „Lieber Herr, ich meine nichts; ich [786] sage nur nach, was die alten Bücher sagen. Auch das schöne Sorrent, Surrentum, ging damals bekanntlich größtenteils zu Grunde, – wieviel Menschen mit umkamen, davon erzählt allerdings die Geschichte nichts. Der Historiker Dio Cassius berichtet nur – – Aber wir haben da eine junge Dame. Ich glaube, unser Fräulein Gertrud wird blaß. Schweigen wir jetzt vom Vesuv!“

„O nein,“ sagte Gertrud ruhig, „Sie irren. Ich bin nicht so bange. So schlimm wird's wohl auch nicht werden –“

Arthur fiel ihr ins Wort. „Bitte, Herr Doktor, was berichtet der Historiker Dio Cassius?“

„Dio Cassius?“ antwortete Wild, den diese Frage ein wenig in Verlegenheit setzte. „Ja, der alte Dio Cassius … Es ist mir im Augenblick nicht ganz gegenwärtig. Er oder andre Geschichtsschreiber nehmen aber an das unglückliche Stabiä, das ja damals auch vom Erdboden verschwand, hat nicht bei Castellamare gelegen, wie einige glauben, sondern hier bei Sorrent! – Na, die Hauptsache ist ja in solchen Fällen sich nicht überrumpeln zu lassen, denn daß man wenigstens mit dem Leben davon kommt, ist ja doch zu wünschen. Das möchte’ ich dir nur noch sagen, lieber Rutenberg, – ohne dich zu kränken – deine liebenswürdige Einladung in allen Ehren – wir sind sehr gerührt – aber du hast uns da eigentlich in eine schöne Mausefalle gelockt. Denn sag’ mir gefälligst, wo sollen wir hin wenn das Wetter losbricht? So weit ich mich auf der Landkarte orientiert habe – ich hab’ sie ziemlich gründlich studiert … Uebers Meer zurück? Das ist dann unmöglich, das Meer wird von Erdstößen hin- und hergeschleudert –“

„Von Erdstößen!“ rief Arthur aus.

„Natürlich. – Zu Lande zurück, nach Castellamare – das hieße dem Löwen in den Rachen laufen! – Hier bleiben und abwarten – bis man vor Dampf und Asche und Bimssteinen am hellen Tag nicht mehr seine Hand sehen kann – das gefällt mir auch nicht, muß ich ehrlich sagen. Da könnte man also nur vom Vesuv hinweg in die Berge klettern – na, und diese kleine Halbinsel, die ist bald zu Ende!

Rutenberg ging wieder unruhig umher, was Arthur nervös machte, er stand jetzt vor dem Doktor still. „Wild – mach’ uns nicht toll. Mit deiner verwünschten Logik und deinen schwarzen Phantasien.“ –

„Ich hab' durchaus keine schwarzen Phantasien. dazu neig’ ich bekanntlich gar nicht! Aber wenn Palmieri sagte: ich fürchte einen Ausbruch, wie noch keiner da war, allerdings, junger Herr, in seinem letzten Telegramm drückt er sich so aus, buchstäblich wie noch keiner da war – dann muß ich mir doch die Bemerkung erlauben weiter weg wär’ besser!“

Arthur kämpfte noch immer gegen seine beklemmenden Gefühle. Er trat nur einen Schritt näher auf den Doktor zu. „Sie glauben, daß Palmieri – –“

Plötzlich stand Schilcher auf, der sich auf eine Steinbank gesetzt hatte, Arthur fuhr zusammen. „Sag’ mal,“ fragte Schilcher, um die Sache doch auch ein bißchen zu fördern, „war das eben schon ein kleiner Erdstoß, oder irr’ ich mich?“

Gertrud hob den Kopf. Sie warf einen unwillkürlichen Blick auf Fritz Waldeck. der saß etwas weiter weg auf der Brüstung und hörte in lebhafter, aber offenbar völlig furchtloser Erregung zu. Darüber wuchs ihr auch der Mut. „Ich hab’ nichts gespürt“, antwortete sie ruhig.

„Doch, doch,“ meinte Lugau. „Ich glaube, es war so ein leises Zucken –“

Rutenberg unterbrach ihn geschwind. „Haben Sie die Güte, Lugau, es nicht nachzumachen. das regt uns auf!“

Unterdessen hatte Arthur den Erdboden rechts und links mit argwöhnischen Augen beobachtet. Er wandte sich wieder an Wild. „Sie glauben, daß Palmieri – –“

„Das Meer wird unruhiger, fiel Schilcher ein, der über die Brüstung guckte, „das ist keine Frage.“

„Natürlich wird es unruhig,“ entgegnete Wild, „wenn man unter ihm zittert. Damit fängt die Sache an. Palmieris Instrumente empfinden ja mit mathematischer Genauigkeit, was sich vorbereitet. Nach Palmieris Meinung bricht es noch heute los –“

„Aber um Gottes willen“ brach es nun aus Arthur heraus, „so sollten wir doch etwas thun – etwas thun – um uns beizeiten zu retten!“

Gertrud, schon eine Weile durch sein Benehmen gereizt, sah ihm scharf ins Gesicht. „Haben Sie denn Angst, Herr van Wyttenbach?“

„Ich?“ sagte er und suchte sich zu fassen. „Nicht für mich, für die andern; für Sie!“

„Für mich? Das lassen Sie nur. Ich fürcht’ mich nicht sehr. Einen ordentlichen, tüchtigen Ausbruch wünscht’ ich mir immer zu erleben und ich denke, uns thut er nicht viel, wir sind weit davon!

„Das sagen Sie, Fräulein Gertrud, weil Sie die Gefahr nicht kennen.“ Arthur lächelte ein wenig. „Sie sind eben noch sehr jung!“

„Und wie alt sind Sie denn?“

Er bemühte sich, wieder zu lächeln. „Ich glaube, wir sollten uns jetzt nicht über solche Nebendinge unterhalten. Die Hauptsache ist ja doch, daß wir diesem Vesuv da aus dem Wege gehen. Sein wohlklingender Baryton hob sich vor Aufregung. „Mein Gott, so ein feuerspeiender Berg hat ja keine Vernunft! Wir müssen sie haben, wir!“

Doktor Wild nickte bedächtig: „Dem zu widersprechen, wär’ gewiß sehr thöricht –“

„Nicht wahr?“ sagte Arthur rasch. „Ich schlag' ja nur vor, aus dem Wege zu gehn nach der andern Seite der Halbinsel – oder bis zum Vorgebirge – oder wie Sie denken. Das Schauspiel eines großen Ausbruchs mag ja sehr interessant, sehr romantisch sein, aber man will doch vor allem als verständiger Mensch sich am Leben erhalten …“

Er sah rund herum, blickte jedem nach den Augen. Keiner rührte sich. „Also –!“ fuhr er unruhiger fort. „Also – gehn wir! Machen wir uns davon! – Auch Sie, Fräulein Gertrud, die Sie jetzt noch so zuversichtlich sind, nachher werden Sie uns danken, wenn wir Sie gerettet haben –“

„Bitte, bemühen Sie sich nicht,“ unterbrach sie ihn kalt. „Ich hab’s gar nicht eilig. Ich bleibe!“

Er starrte sie fassungslos an; das begriff er nicht.

Gertruds Hände ballten sich. „Junge Leute, dacht’ ich, lieben die Gefahr, statt davonzulaufen. Warten Sie doch wenigstens ab, bis sich die älteren Herren aus dem Staube machen!“

Dem Vater Rutenberg lachte das Herz im Leibe, die Sache geht ja gut! dachte er, und mein Mädel ist ganz famos! – „Na,“ warf er dann hin, um den Wagen nun rollen zu lassen, wie er rollte, „ich hoffe immer noch, Wild sieht zu schwarz! Palmieri irrt sich! Bis wir darüber klarer werden, sollten wir vorläufig ins Haus gehen, unsern lieben Gästen Quartier schaffen, sie erfrischen, stärken.“ Er lächelte: „Auch das ist ja Lebensrettung. Lugau, kommen Sie. Wild, Schwarzseher, voran!“

„Meinetwegen,“ sagte Wild, indem er sich mit scheinbar widerstrebendem Gehorsam in Bewegung setzte. „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

„Warten wir’s noch ab,“ rief Schilcher im Gehn „mit Philosophie!“

Die drei Whistbrüder und Rutenberg marschierten dem Hause zu. Arthur sah ihnen kopfschüttelnd mit heimlicher Erbitterung nach. Mit Philosophie! dachte er. Dieser Unsinn! – Der eine ist ein alter Phlegmatiker, der andre ein Optimist. – Sich beizeiten aus dem Staube machen, das ist Philosophie!

Er wandte sich zu Gertrud zurück, die sich in einiger Entfernung von Fritz Waldeck auch auf die Brüstung gesetzt hatte und ihr Ideal schmerzlich zornig betrachtete. „Sie wollen also nicht fort?“ fragte er.

Sie schlug ihre Füße gegeneinander. „Nein,“ sagte sie.

„Fräulein Gertrud, Sie sind unbesonnen. Sie sind unvernünftig!“

„Kann sein. Wohl möglich. Und ich will es auch bleiben. Retten Sie sich!“

Er trat ihr näher, so gut es ging. So leise wie möglich, mit schmerzlichem Vorwurf, hauchte er ihr zu: „Sie wollen mich kränken –“

„Ich Sie?“ gab sie ihm zurück. – „Retten Sie sich!“

„Mit Ihnen ist jetzt nicht zu reden, seh’ ich …“

Er trat wieder zurück, sie schwieg. – So werd' ich mit einem andern reden, dachte er, mit dem Marinajo, dem Pasquale. Verschütten lass’ ich mich nicht! Nachdem er flüchtig mit [787] dem Hut gegrüßt hatte, ging er mit großen Schritten davon, hinter den Männern her.

Gertrud lächelte bitter, so lange sie ihn mit den Augen verfolgte. „Na, und Sie?“ fragte sie dann, den Kopf auf die Seite wendend.

Fritz stand auf, ohne zu antworten.

„Wohin?“ fragte sie.

„Fliehen nicht!“ erwiderte er mit einem sonderbaren Lächeln. „Vor dem Berg da nicht!“

„Sie haben keine Furcht?“

„Nein. – Im Gegenteil.“

Er murmelte das nur und brach ab.

„Sie glauben, es ist keine Gefahr? – Wenn wir hier nun aber wirklich zu Grunde gingen – alle miteinander –“

„Das wär’ es ja, was ich mir wünschte, mein Fräulein,“ fiel er ihr ins Wort, wieder mit so einem sonderbaren, ernsthaften Lächeln. „Ich mit Ihnen …“

„Warum?“ fragte sie, da sie plötzlich etwas durchflog, und sah ihn mit großen Augen an.

Ihr erregtes, holdes Gesicht, ihr Blick riß ihn hin. „Warum? – Weil es für mich die einzige Möglichkeit wäre, mit Ihnen vereint zu werden, und weil ich – –“

Mit einer zornigen Bewegung, aber wie gegen sich selbst unterbrach er sich. „Adieu!“ stieß er nur noch heraus. Nach einer Art von Verbeugung ging er. Plötzlich war er fort. Hinter den Oelbäumen und den Mandarinen sah sie ihn verschwinden.

„O Gott!“ dachte sie, regungslos auf ihrem Platz. Was hat er? Was will er? – „Mit Ihnen vereint zu werden“ … „Und weil ich“ – – Was wollt’ er noch sagen? – Mit den schwermütigen Augen sah er, wie durch mich hindurch – daß mir bange wurde … Und nun will er fort! fiel ihr auf einmal aufs Herz. – Sie stand auf. Sie mochte nicht mehr denken. Ihr war so wirr und wunderlich zu Mut, wie noch nie im Leben und sie hatte doch schon viel erlebt! Sie fühlte nur – ach, nicht ungern – daß ihr etwas Schweres, Trauriges, Süßes auf der Seele lag. So stand sie noch da, wer weiß wie lange …

29.

Schilcher ging durch den Speisesaal, wo die Whistbrüder aus der Heimat sich eben setzten, um auf Rutenbergs Verlangen einen kleinen Imbiß zu nehmen. Ihm fiel ein, daß er seine Serviette noch in der Tasche hatte; er zog sie heraus, winkte damit dem Pepino, dem jungen, krausköpfigen Kellner, und legte sie auf den Tisch. In diesem Augenblick hörte er draußen, im kleinen Garten bei dem Hause, Herrn van Wyttenbachs Stimme nach Pasquale rufen. Es wiederholte sich bald, mehrmals. Es klang so verlangend, so aufgeregt, daß eine spitzbübische Heiterkeit über Schilcher kam, die ihn schüttelte. Na, na! dachte er. Am Ende hat Rutenberg recht, und es hat genügend gewirkt! Es hört sich so an, als wollte der Adonis seine langen Beine unter die Arme nehmen!

„Pasquale!“ rief der Jüngling wieder. In Schilcher ging etwas vor, als hätte der Ruf ihm gegolten und einen Gedanken in ihm geweckt, einen Gedanken, den er in aller Eile beguckte; er gefiel ihm, er schien ihm gut. Heimlich, während die andern mit dem Kellner verhandelten, schlüpfte er aus der Thür, ins Vorzimmer, wo er beim Eintreten Pasquale gesehen hatte. Da stand auch der schwarzbärtige Schelm noch, wohl auf Gäste wartend, die er zu Meerfahrten bereden konnte. „Pasquale!“ sagte Schilcher mit vorsichtig schwacher Stimme und nahm seinen Vertrauten am Arm.

Eccomi!“ entgegnete Pasquale. Schilcher führte ihn sacht in eine Ecke, vom Gartenfenster hinweg.

„Ich hab' eben Herrn van Wyttenbach – den Seekranken mein’ ich – nach Ihnen rufen hören –“

Jetzt rief Arthur wieder. „Ja, ja!“ sagte der Schiffer. „Ich hör’ ihn. Ruft meinen Namen. Erlauben Excellenza, ich will zu ihm gehn.“

„Gehn Sie etwas später, Pasquale! Und thun Sie als mein Amigo das, was ich Ihnen sage, ich drücke Ihnen dafür nachher einen harten Dank in die Hand!“ – Pasquale lächelte, nickte. – „Wenn dieser junge Seefahrer, wie ich vermute, mit Ihnen davongehn will, Sie als Führer nehmen – diesmal nicht aufs Wasser, sondern in die Berge – so führen Sie ihn gefälligst an der tiefen Schlucht entlang, dann, bei der nächsten Biegung, nach links – und zwischen diesen verwünschten hohen Gartenmauern, wo kein vernünftiger Mensch weiß, wohin er kommt, führen Sie ihn im Bogen zurück, bis Sie wieder hier sind!“

Pasquale stutzte, seine schwarzen Augen fragten: geht das? darf ich das?

„Es ist Ihr Schade nicht,“ antwortete Schilcher trocken auf diese Frage. „Und sein Schade auch nicht, edler Mann, seien Sie ganz ruhig. Ein paar lustige Spaßvögel, che fanno una buria, haben ihm eingeredet, der Vesuv wird ausbrechen und Sorrent verschütten, er wird aber nicht ausbrechen – und Sie werden den Spaß nicht verderben, denk' ich, Sie durchtriebener Spitzbube!

Der Italiener lachte mit dem ganzen Gesicht.

„Pasquale! Wo sind Sie? Wo sind Sie?“ rief es draußen wieder.

„Sie haben verstanden?“ raunte Schilcher.

Pasquale nickte. „Excellenza kennt mich. – Für Excellenza alles, verlassen Sie sich auf mich!“

Schilcher schob ihn gegen die Thür; er ging hinaus. Als er in den Hausgarten kam, sah er Arthur unter einem Orangenbaum stehn, einen Mantel über den Arm geworfen, es war wenig Farbe in seinem Gesicht. „In des Teufels Namen,“ fuhr Arthur ihn an, „wo haben Sie sich versteckt? Wenn man euch nicht braucht, zieht ihr einen fast am Arm in die Barke oder in die Kutsche, und wenn man euch haben will, starrt ihr in eurem dolce far niente blind und taub in die Luft!“

Etwas beleidigt hob Pasquale den Kopf. „Der signor tedesco ist ein wenig hart gegen uns arme Marinai. Ich bin unschuldig, Herr. Ich suchte den Padrone: warum? Weil ich den Vesuv angesehen habe, da sind böse Zeichen. Es ist zu fürchten eine große Ausbruch – mir scheint –“

Arthur faßte ihn an einem Knopf seiner Sammetjacke. „Bemerken Sie das auch schon? Sie?“

„O, da ist nicht zu spaßen,“ entgegnete der Schiffer, an dem alle Gliedmaßen lebendig wurden und jedes seiner Worte zu malen suchten, besser noch als Lugau. „Wird sich machen eine höllische Eruption – Ausbruch – hoch, hoch in die Luft – dann durch den ganzen Himmel, weit, lang – und dann – o, herunter. Wird großen Unglück machen –“

„Eben darum will ich fort! Darum ruf' ich mir ja die Kehle aus dem Halse. Sie sollen mich dahin führen, wo es am sichersten ist, auf die andern, die ,Philosophen' werde ich nicht warten! Dann nehmen wir dort Quartier – Wohnung – – und Sie holen die andern nach!“

„Hole die andern, ich verstehe. Also nach Tirmini hinaus, wenn Ihnen ist angenehm –“

„Mir ist alles angenehm, wo mir nichts geschieht. Also nach Tirmini! Fort!“

Er riß seine Brieftasche heraus, um ein paar Worte für Gertrud zu schreiben um ihr zu sagen der Undankbaren wie er die Sache in die Hand nehme, was er für sie thue. Während er hastig mit seinem Bleistift schrieb, schien Pasquale nachzudenken. Arthur blickte einmal auf und staunte über das tiefversonnene Gesicht. „Da ist noch die Frage,“ sagte der Schiffer dann, „ob Sie wollen fahren. Rate nicht, zu fahren;“ er unterstützte seine Worte wieder durch Gebärden, „denn wenn ein Stoß kommt – di terra – Erdstoß – was thut der Wagen? Fällt um. Und fällt über den Signor –“

„Fassen Sie mich nicht an,“ rief Arthur, der zusammenfuhr, „das macht mich nervös. Ihr Süditaliener habt alle eine Lebhaftigkeit –!“

„Also gut,“ sagte Pasquale, sich durch eine Bewegung entschuldigend. „Andiamo! Gehn wir!“

„Ja freilich. Vorwärts!“

Pasquale ging schon, der Schurke blieb aber noch einmal stehn: „Wenn Sie nicht wollen nach Capri, in der Barke“ – „Hole der Teufel Ihre Barke und Capri! Zu Fuß will ich gehn und nach Tirmini. Nur erst noch diesen Zettel – lettera – an den Kellner geben …“

„Bitte, das besorg' ich. Coragio. junger Herr. In einer Stunde oder nicht viel mehr sind Sie in Tirmini, und weit, weit vom Vesuv!“

(Schluß folgt.)

[788] 0


Blätter und Blüten.

Beim Würfelspiel. (Mit Abbildung S. 776 und 777.) Der kleine Gott Hazard ist eine der ältesten Gottheiten, mochte er auch im Olymp nicht hoffähig sein; aber die Römer und Griechen huldigten ihm in der Stille. Im Grunde ist er doch nur ein kleiner Page der großen Göttin Fortuna, der ja bei den Römern prächtige Tempel errichtet worden waren, wie bei der Stadt Präneste. Auch die Weisheit der Auguren hing von den Launen des Zufalls ab. Und ob rechts die Vögel stoßen oder links dahinter steckte doch der kleine Gott Hazard, der die Zeichensprache in den Lüften veranlaßte und den Zeichendeutern erst den Stoff gab zur Ausübung ihrer Kunst. Der glückliche Wurf aber ist nicht bloß im Altertum, sondern zu allen Zeiten die Bürgschaft des Erfolges; ja oft des Ruhmes. „Der Würfel ist gefallen,“ sagte Cäsar, als er über den Rubikon schritt und dies war ein glücklicher Wurf. Dies Würfelspiel aber geht durch die ganze Weltgeschichte und nicht immer steht das Glück im Einklang mit dem Gewinn oder auch nur mit dem Verdienst, und nur allzu oft ist es den Dummen hold. Der erstaunlichste Glückswechsel vollzog sich im Leben der berühmten Männer! Da heißt es: hie Jena und Austerlitz, hie Leipzig und Waterloo im Leben des ersten Napoleon und noch größer war der Schicksalswechsel im Leben des dritten, der von Hause aus ein verwegener Hazardspieler war. Doch mit dem blutigen Würfelspiel der Weltgeschichte haben die Würfel nichts zu thun, die auf unserem Bilde aus dem Becher gerüttelt wurden. Der Könner, der hier im Familienkreis weilte, befaßt sich nicht mit Staatsgeschäften. Ein glänzendes Gastmahl oder ein Ausflug in ein Bad dürfte der ausgesetzte Preis sein, den der Verlierende wird zahlen müssen. Mit leicht erklärlicher Spannung verfolgen darum die Mädchen den Gang des Spieles. †     

Vor der Jägerhütte. (Zu dem Bilde S. 773.) Ins Hochgebirg versetzt uns das lebenswahre und stimmungsvolle Bild C. W. Allers' – vor einer der Jägerhütten, wie sie an guten sich anbietenden Punkten für Jäger und Förster errichtet werden. Ludwig Ganghofer hat in dem soeben erschienenen von C.W. Allers und Hugo Engl trefflich illustrierten Prachtwerke „Das deutsche Jägerbuch“ (Union deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart) der Schilderung des Hüttenlebens im Hochgebirge ein besonderes Kapitel gewidmet. Er nennt das tage- und wochenlange Verweilen „auf der Hütte“ eine der richtigen Hochschulen für die Erkenntnis der Bergnatur. Unter dem breiten Schutzdach einer solchen Hütte hat C. W. Allers zwei Jägergestalten dargestellt. Der Mann mit der Brille ist Ganghofer selbst, der hinaufschaut in das rastlose Strömen und Gießen. Zu seinen Füßen senkt sich der waldige Berghang nieder ins Thal, das von dichten wirbelnden Nebeln erfüllt ist. Keuchende Windstöße rütteln die triefenden Tannen und peitschendem Regen, der mit klatschendem Knattern über das Schindeldach fällt. Aus der Hütte läßt sich aber das Prasseln des Feuers und das Klappern der Pfanne vernehmen. Das versetzt die beiden Jäger in eine gar behagliche Stimmung und sagt der eine zum andern: Gelten S’, nach so ei’m Marsch und bei so ei’m Wetter, da thut ei’n d’ Hütten wohl!“

Deutschlands merkwürdige Bäume: Der Weiden- und Erlenbaum
bei Groß-Gerau.

Nach einer Photographie von H. Ohnacker in Groß-Gerau.

Deutschlands merkwürdige Bäume: Der Weiden- und Erlenbaum bei Groß-Gerau. (Mit Abbildung.) Unsere Abbildung zeigt uns einen interessanten Doppelbaum, eine Erle, die auf einer Weide wächst. Der Weidenbaum ist noch in vollem Wuchse und ungefähr 2 m hoch, der daraufstehende Erlenbaum hat dagegen eine Höhe von 4 bis 5 m und einen Stammesdurchmesser von etwa 30 cm. Noch vor zwei Jahren war der Stamm des Weidenbaumes völlig unbeschädigt, jetzt aber haben ihn die Erlenbaumwurzeln allmählich gesprengt. Die Bäume stehen am Rande einer Wiese, die Groß-Gerau bei Darmstadt von Trebur, dem ehemaligen Tribur scheidet. *      

Kleine Krankenwärter. (Zu dem Bilde S. 781) So gut sollten es alle Kranken haben; drei teilnehmende Seelen zur Aufwartung, die einzig mit Anschauen, Zudecken und Füttern beschäftigt sind! Und nichts ist zu kostbar, um das teure Leben zu retten; der Mutter schöne Steppdecke, des Vaters Lodenmantel und das allerfeinste Bettkissen waren gerade recht, um den mutwilligen Lockenkopf zu beherbergen, der den ganzen Unfug angegeben hat und nun voll Spannung beobachtet, ob das gute kleine Schwesterlein, die Einzige, welche den Fall ernsthaft nimmt, ihr Süppchen richtig auf den Boden schütten wird. Auch der im Stuhl daneben gravitätisch sitzende „Herr Doktor“ scheint diesem Problem bedeutend mehr Interesse zu schenken als seinen verschiedenen Krankheitsfällen, denn hartherzig läßt er die offenbar vom Lande hereingekommene Patientin zu seinen Füßen warten, welche mit dem dickverbundenen Hals noch schlimmer dran zu sein scheint als das im Bett liegende leidende Fräulein. Die eigentliche Heilung wird jedenfalls erst in einigen Minuten beginnen, wenn die Thüre aufgeht und die Mutter hereinkommt. Himmel, wie schnell dann Krankheit, Patienten, Pfleger und Arzt verflogen und verschwunden sein werden. Bn.     

Gruben- und Gichtgase. Die Menge der in Kohlengruben während des Aufschließens der Schichten sich entwickelnden Gase ist weit größer, als man gewöhnlich denkt. Die gelegentlich auftretenden schlagenden Wetter, der schreckliche Beweis für ihr gehäuftes Vorhandensein, kommen ja glücklicherweise nur in den seltenen Fällen vor, wenn die Ventilationsmaschinen vorübergehend stillstehen oder wenn sich bei der Aufschließung eines Kohlenflößes ausnahmsweise gewaltige Gasmengen entwickeln, die vom Wetterschacht nicht mit gleicher Schnelligkeit bewältigt werden können. Unendlich viel größer als in diesen vereinzelten Fällen der Konzentration sind aber die Gas- oder Wettermengen, die im täglichen Betrieb der Gruben von dem Ventilator abgesogen und durch frische Luft ersetzt werden. Nach Untersuchungen des bergmännischen Laboratoriums in Saarbrücken, die sich auf 23 Kohlenzechen des Saargebiets erstrecken, werden hier auf jede Tonne gewonnener Steinkohle 500 bis 30 000 l Gas entwickelt, ja vereinzelte Vorkommen steigen bis auf 60 cbm oder 45 kg Gas auf die Tonne Steinkohlen. Das täglich freiwerdende Gasvolumen jener Gruben beträgt über 60 000 cbm, und wenn man es, anstatt vermischt mit der Luft der Wetterschächte rein auffangen könnte, so würde seine Heizkraft größer sein als diejenige der gleichzeitig produzierten Kohlenmengen. – Bessere Erfolge hat man mit der Bemühung gehabt, eine andere unerschöpfliche Gasquelle des Hüttenbetriebs, die Gichtgase des Hochofenprozesses industriell zu verwerten. Diese Gase, hauptsächlich Kohlenoxyd enthaltend, entstehen bei der Reduktion der Eisenerze in jedem Hochofen in großen Mengen und zählten früher zu den lästigsten Produkten des Hochofenbetriebs. Man ließ sie, um der Luftverunreinigung vorzubeugen, beim Austritt aus der oberen Oeffnung oder der sogenannten Gicht des Ofens lange Zeit einfach in mächtiger Flamme verbrennen, aber endlich fing man sie auf und leitete sie durch große Röhren ins Eisenwerk zurück, um mit ihrer Verbrennungswärme Dampfkessel zu heizen oder den Gebläsewind zu erwärmen. Jetzt haben die Leiter des „Hörder Vereins“ jenes bedeutenden Hüttenwerkes in Hörde bei Dortmund, gelungene Versuche angestellt, die Gichtgase, die ebenso explosiv wie luftuntermischtes Leuchtgas sind, auch direkt zum Betriebe von Gasmotoren zu verwenden. Zur Ausnutzung dieser Erfahrungen im großen werden zunächst zwei 600pferdige Gasmotoren gebaut, welche die größten bisher vorhandenen Maschinen der Art um das Doppelte übertreffen. Die Kraft derselben soll zum Antrieb von Dynamomaschinen benutzt werden, deren Strom die beim Hochofenbetrieb freiwerdende Kraft im Form elektrischer Energie anderen entfernteren Betrieben übermitteln soll. Bw.     


Inhalt: Einsam. Roman von O. Verbeck (16. Fortsetzung). S. 773. – Vor der Jägerhütte im Hochgebirge. Bild. S. 773. – Beim Würfelspiel. Bild. S. 776 und 777. – Marthas Briefe an Maria. Ein Beitrag zur Frauenfrage, mitgeteilt von Paul Heyse (2. Fortsetzung). S. 780. – Kleine Krankenwärter. Bild. S. 781. – Das Kind. Roman von Adolf Wilbrandt (7. Fortsetzung). S. 784. – Ein Tischlein deck’ dich. Bild. S. 785. – Blätter und Blüten: Beim Würfelspiel. S. 788. (Zu dem Bilde S. 776 und 777.) – Vor der Jägerhütte. S. 788. (Zu dem Bilde S. 773.) – Deutschlands merkwürdige Bäume: Der Weiden- und Erlenbaum bei Groß-Gerau. Mit Abbildung. S. 788. – Kleine Krankenwärter. S. 788. (Zu dem Bilde S. 781.) – Gruben- und Gichtgase. S. 788.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.