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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[709]

Nr. 43.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(12. Fortsetzung)

27.

Aus dem Besuchemachen wurde fürs erste noch nichts. Hanna erkrankte. Schon einige Stunden nach der Ausfahrt stellte sich die Unbehaglichkeit eines leichten Fiebers ein. Da Ludwig zu einem seiner regelmäßigen Skate ausgegangen war und nicht zum Abendbrot erwartet wurde, so konnte sich Hanna den Luxus gestatten, schon um acht Uhr zu Bett zu gehen. Schauernd, mit frierenden Gliedern, aber heißem Kopf, duckte sie sich in die Kissen. Das rasch wachsende Gefühl der körperlichen Elendigkeit umschleierte die schmerzhafte Schärfe der seelischen Leiden. Wie Nebel, der die Umrisse der Gestalten verwischt, den Stimmenschall abdämpft, so lag die Fieberwolke über ihrem armen, gequälten Kopf, und durch das sausende Hämmern der Pulsschläge hindurch hörte sie nur wie in der Ferne den Klang der verhaßten Stimme: Ich habe dich und ich halte dich, nie geb’ ich dich wieder her.

Atembeschwerden begannen sie zu ängstigen, dazu kam ein trockener Husten, erst in kurzen, vereinzelten Stößen, dann in heftigeren Anfällen. Immer wieder scheuchte er den leichten, schwebenden Schlummer auf, der ihr rastlos arbeitendes Hirn in traumreiche Betäubung hüllen wollte, verscheuchte ihn endlich ganz. Ludwig, der spät in der Nacht heimgekommen war und sich niedergelegt hatte, ohne mit einem Wort von ihr Notiz genommen zu haben, warf sich ungeduldig seufzend in seinem Bett hin und her, so oft er von den dumpfen Tönen geweckt wurde, die unter der heraufgezognen Decke noch immer laut genug hervorklangen. Hanna stand endlich auf – es war kurz nach Vier – und schlich in ihr Ankleidezimmer wo sie sich, in ihren Pelz gehüllt, auf der Chaiselongue zusammenkauerte. Ruhe fand sie so zwar nicht, aber sie störte den Mann nicht mehr, und das war vorläufig die Hauptsache.

Ludwig holte das Versäumte reichlich nach und schlief bis in den hellen Morgen. Er erstaunte sehr, als er beim Erwachen das Bett neben sich leer fand.

Am Frühstückstisch traf er seine Frau wieder, wo sie ihm bleich, mit dunkelumschatteten, auch etwas geröteten Augen entgegensah.

„Nanu? Was ist denn mit dir los?“ fragte er, auf das seidene Tuch deutend, das sie um Nacken und Schultern geschlungen hatte.

Sie zog es fröstelnd fester.

„Ich bin etwas erkältet,“ antwortete sie mit heisrer Stimme. „Ich dachte, du wüßtest es; mit meinem Husten hab’ ich dich ja sehr gestört.“

„Seppl“.
Nach einem Gemälde von Fr. Prölß.

[710] „Richtig, das stimmt,“ gab er zu. „Besonders zu Anfang hast du dich recht wenig beherrscht. Frauen sind ja darin unglaublich.“

Er erwartete ihre Verteidigung, es kam aber keine. Mit unbeweglichem Gesicht sah sie an ihm vorbei.

„Jetzt ist dir aber doch wohl besser?“

Sie nickte; ein heftiger Hustenanfall strafte sie jedoch in dem selben Augenblick Lügen.

„Na, na!“ wehrte er, horchte aber dann doch auf die rauhen, harschen Töne aus der offenbar schon wunden Kehle.

„Das ist ja recht nett. Weiß der Teufel, wo du dir das wieder geholt haben magst.“

Sie antwortete nicht; schweratmend, mit schmerzlich verzogenem Gesicht lehnte sie in ihrem Sessel.

Sie dauerte ihn aber doch, gar zu jämmerlich sah sie aus.

„Thut der Hals dir weh?“ fragte er mitleidig.

Sie nickte wieder, diesmal glaubwürdiger als zuvor.

„Hm,“ machte er „Armes kleines Tier. Er trat näher auf sie zu, anstatt sich zu Tisch zu setzen. „Was thut man da? August kann ja meinetwegen an Meinhardt telefonieren, er soll kommen und dir was verschreiben.“

„Nicht nötig“, wehrte Hanna ab, der Spottreden eingedenk, die ihr ihre „Pimpelei“ schon eingetragen hatte.

„Quatsche nicht, mein Kind. Du hustest ja wie ein alter Gaul. Denkst du, ich wollte mir noch mal eine Nacht um die Ohren schlagen? Aber nicht allein deshalb, wie deine elegischen Mundwinkel eben andeuten, sondern auch, weil du mir wirklich leid thust, weil es mir wirklich nötig erscheint. Siehst ja förmlich angegriffen aus. Na, komm’ her, ich werd’ dir einstweilen zum Trost einen Kuß geben.“

Sie hatte nicht zu ihm aufgesehen während er sprach, sonst wäre sie jetzt nicht so erschrocken über diesen Schluß seiner Anrede. War denn das möglich? Nach dem, was gestern zwischen ihnen geschehen war? Sie streckte abwehrend die Hand gegen ihn aus und lehnte sich weit zurück.

„Na? Was soll das? Halt’ den Schnabel her. Ach du heulst – i bewahre, ich bin nicht bange vor Ansteckung.“

„Laß mich,“ sagte sie mit ihrer heisern, in diesem Augenblick fast erloschenen Stimme. „Du sollst mich nicht mehr küssen. Du sollst mich nicht mehr anrühren.“

„Gotts Donner, was fällt dir ein?“

Sie sah ihn starr an. „Ich begreife dich nicht,“ erwiderte sie dann. Nach dem von gestern – Aber ich lerne von dir. Das von gestern vergesse ich niemals, verlaß dich darauf. Und darum – geh’ weg da von mir!“

„Du bist wohl toll?“ fuhr er auf.

„Noch nicht, Aber daß mein Kopf sehr gesund bleiben wird bei diesem Leben mit dir – das bezweifle ich.“

„Du bist nicht bei Trost,“ knurrte er ingrimmig, verbissen, nicht so heftig wie zuvor. Etwas in ihren Augen warnte ihn, war ihm unheimlich.

„Nein ich bin nicht bei Trost“, hauchte sie, kaum vernehmlich, „ganz und gar ohne Trost bin ich.“ Ein neuer Hustensturm nahm, was sie noch hätte sagen können, mit sich hinweg.

Ludwig ging im Zimmer auf und ab. Ihm war etwas schwül zu Mute. Sogar nach Reue. Ein sehr ungewohntes, sehr unbequemes Gefühl. Hatte ihn die Wut gestern doch zu weit geführt? Hatte er es doch zu grob gemacht? Daß der Satan aber auch gerade den Menschen daherführen mußte. Der unerwartete Anblick hatte ihm die Fassung vollständig geraubt. Und dann Hannas Gesicht bei der Begegnung –

Er trat rasch auf sie zu, die wieder still dasaß, den Kopf auf die Hand gestützt.

„Schwöre mir,“ sagte er dumpf, „daß zwischen euch nichts ist!“

Sie antwortete nicht gleich. Vor dem Blick, mit dem sie ihn ansah, zitterten ihm aber die Augenlider. Sie schüttelte dann den Kopf.

„Ich schwöre dir nichts. Seit ich dir am Altar Treue gelobt habe, schwöre ich dir nichts mehr. Für mich ist es nicht nötig. Für dich wäre ja alles, was ich noch sagen könnte, nutzlos.“

„Meinst du? Als ob ich dich nicht durchschaute. Du weichst mir nur aus. Du liebst ihn. Sage mir daß du ihn nicht liebst, so will ich dir auch alles andere glauben.“

„Ich antworte dir auf keine solche Frage mehr,“ erwiderte sie zitternd, mit einem angstlos ins Leere flüchtenden Blick. Was hätte sie darum gegeben, jetzt kaltblütig ober zornig Nein sagen zu können, nein, ich liebe ihn nicht. Vielleicht, wenn sie dazu imstande gewesen wäre, hätte sie seinen Argwohn noch verscheucht. Aber auch nur vielleicht. Kaum vielleicht. Ihr Schreck über den Angriff gestern, aus dem Hinterhalt, ihr entsetztes Schweigen hatten sie in seine Hand gegeben. Und sie hatte in demselben Augenblick gewußt, daß sie sich niemals von dieser Niederlage erholen werde, daß dieses Zugeständnis die Schlinge geworden sei, die, ihr über den Kopf geworfen, sie halten und schnüren werde, lebenslang. Das arme Körnchen Wahrheit in dem wüsten Knäuel schnöder Anklagen, ihre uneingestandene, sorgsam verhüllte, kummervolle Liebe zu Arnold sank schwer wie Blei in die Tiefe ihrer erschütterten Seele hinab, erdrückte den Mut zur Gegenwehr, erblickte die helle Flamme der Entrüstung über erlittenes Unrecht.

Sie fühlte den glühenden Blick seiner Augen, ohne ihn zu sehen; sie wand sich darunter wie in körperlicher Qual.

„Siehst du wohl, siehst du wohl,“ sagte er schneidend, nur mühsam beherrscht. Er ließ sich schwer in seinen Sessel fallen, ihr gegenüber am Tisch, und umklammerte mit beiden Händen die Seitenlehnen.

„Warum hast du mir das gethan, du –“ schrie er sie an, jetzt fast so heiser wie sie. „Warum hast du mich genommen, wenn du doch den andern liebtest!“

„Für die Mutter,“ schluchzte sie auf; sie drückte die Hände ins Gesicht und weinte bitterlich.

„Ah!“ sagte er erstaunt, als überraschte ihn diese Auskunft sehr. Mit einem rauhen, kurzen Auflachen fügte er dann hinzu; „Na, dann bist du aber – –“ er brach wieder ab. – Eklig reingefallen, hatte er sagen wollen. Ein dumpfes Gefühl warnte ihn vor dem Aussprechen dieser Rohheit. Die alte Frau war ja tot. Er wußte im Augenblick wieder nicht, ob leider oder gottlob! Seine Eifersucht hieb besinnungslos um sich, wußte kaum mehr, wen und was sie traf.

„Nur deshalb?“ fragte er nach einer Pause. „Für dich selber lag dir nichts dran? An meinem Gelde, meine ich. Aus dem hast du dir keinen Pfifferling gemacht, nein?“

Sie weinte heftiger, ohne zu antworten. Das Schluchzen reizte aber den wunden Hals, sie hustete zum Erbarmen, minutenlang.

„Trink’ doch was Heißes,“ sagte er ungeduldig, aber wider Willen mitleidig gestimmt. Er drehte selbst den Hahn an der Kaffeemaschine auf, unter dem schon eine Tasse bereit stand, that Zucker und Sahne dazu und schob ihr die volle Tasse hin.

„Vorwärts, trink’!“

Sie gehorchte, wenn auch ohne viel Erfolg; sie zwang auch das Weinen nieder.

„Entschuldige,“ murmelte sie abgebrochen „du hast ja noch gar nichts.“ Eifrig sorgte sie für ihn, von Hustenstößen unterbrochen, erschüttert. Nach einem finstern Blick in ihr verweintes, von diesen allerhand Leiden verstörtes, entstelltes Gesicht schwieg er jetzt still. Gewohntermaßen nahm nun auch das Frühstück seine Aufmerksamkeit in Anspruch, lenkte sie wohlthätig ab. Zum Glück befriedigte es ihn. Die kleinen Pastetchen, auf ihrer verdeckten Nickelplatte durch ein Spiritusflämmchen heiß erhalten, „befanden sich durchaus auf der Höhe“. Bisher war noch keine Gemütsbewegung imstande gewesen, Ludwigs gesunden Appetit zu beeinträchtigen. Wieder ein Vorteil, den er vor seiner Frau voraus hatte. Er redete ihr übrigens heute nicht zu, etwas zu genießen. Schweigend ließ er sie gewähren, bis nachdem sie ihn bedient hatte, nun wieder starr vor sich hinbrütete zuweilen von einem heftigen Frösteln erschüttert. Auch ohne wörtliche Bestätigung wußte er, daß ihm da eine Besiegte gegenübersaß, die von seiner Gnade abhing. Mit einem dumpfen Gefühl der Befriedigung machte sich nun aber ein anderes, ein suchendes, tastendes, ein unruhvolles Nachdenken, wie er zunächst über all diese Greulichkeiten zur Tagesordnung übergehen könne, ohne sich etwas zu vergeben. Daß sie so still und stumm dasaß, sich nicht rührte, sich nicht verteidigte, war für den Augenblick gut, aber nicht für alle Tage. Sie sollte wieder lebendig werden, sie sollte ihn lieben lernen! Teufel auch! Dieses Zurückweichen, dieses [711] „Weg da!“ wär ihm in die Glieder gefahren; es gab ihm noch nachträglich einen Ruck.

Er stand vom Tisch auf – er war ohnehin fertig – und begann wieder auf und ab zu gehen. Diese Stille im Zimmer, zwischen zwei lebendigen Menschen, diese seltsame Stille, in der es wie mit schweren Flügelschlägen zu sausen schien, wurde ihm immer unheimlicher – oder war dieser Ton nur in seinem Ohr, war es sein eigenes Blut, das so klang, wie das „Rauschen des Meeres“ in den großen Muscheln, an denen die Kinder horchen?

Das Eintreten des Dieners weckte ihn aus seinem Brüten.

„Ich muß jetzt fort,“ sagte er rasch, „es ist ohnehin später als sonst geworden. – August, telefonieren Sie an Sanitätsrat Meinhardt, die gnädige Frau sei erkältet, ich bäte um seinen Besuch im Lauf des Tages.“

„Sehr wohl!“

„Also adieu!“ Von der Thür aus winkte er seiner Frau mit der Hand. „Halt dich ruhig, pfleg’ dich. Zu Tische wirst du dann schon wieder muntrer sein.“

„Gewiß,“ versicherte Hanna nickend, des Dieners wegen mit einer Art von verbindlicher Abschiedsbewegung.

August schloß hinter seinem Herrn die Thür. Durch sie hindurch schickte er ihm ein spöttisches Lächeln nach. Eilfertig räumte er alsdann den Frühstückstisch ab. Zehn Uhr vorbei. Der Sanitätsrat konnte jeden Augenblick kommen. Zu telephonieren war nicht mehr nötig. Es war bereits geschehen, vor zwei Stunden. Nach Henriettes Bericht: Wie ein „Klümpchen Elend“ habe sie die arme Gnädige in der Sofaecke gefunden, ganz in sich zusammengekrochen unter dem Pelzmantel, bloß um „Ihn“ nicht zu stören – hatte er es laut Parlamentsbeschluß in der Küche auf seine Kappe genommen, den Doktor anzurufen nur mit der Anmerkung, der Herr Sanitätsrat mochte doch scheinbar von selbst kommen, wie zufällig, denn die gnädige Frau werde gewiß nicht um ihretwillen zu ihm schicken wollen. – Schon! Um zehn Uhr etwa würde er da sein.

… Sie brauchen es mit dem Telephonieren nicht so eilig zu machen, August. Nur, wenn der Herr Sanitätsrat heute doch gerade in unsere Gegend käme. Wichtig sei es nicht.

„Sehr wohl, gnädige Frau.“

Mit dem Theebrett in der Hand, that er einen Schritt gegen das Fenster hin.

„Eben biegt ein Wagen herein. So ein Zufall! Der Herr Sanitätsrat selbst. Als wenn er's geahnt hätte, daß gnädige Frau recht krank sind. Ich will nur schnell hinunter, aufmachen.

28.

„Eine recht anständige akute Bronchitis,“ erklärte der alte Herr, der auf der Treppe erst von August, dann von Henriette angefallen worden war und sich ihre Berichte hinters Ohr geschrieben hatte, nach sorgfältiger Untersuchung. „Wo haben Sie sich denn die geholt, meine liebe gnädige Frau?“

„Nun, die Herkunft, die wird ja wohl ziemlich gleichgültig sein,“ gab Hanna mit einem abwehrenden Lächeln zur Antwort. „Die Hauptsache ist, daß ich sie habe.“

„Nicht doch. Die Hauptsache ist, daß Sie sie wieder los werden. Und zu diesem Zweck werden Sie sich freundlichst sofort zu Bett verfügen und sich für die nächsten acht Tage nicht herausrühren.

„O, das geht nicht,“ sagte Hanna beinahe erschrocken. „Das würde meinem Manne sehr unbequem sein.“

„Ihr Mann ist augenblicklich Nebenperson und interessiert mich gar nicht,“ entgegnete der alte Herr mit seinem strengsten Doktorgesicht.

„Aber ich kann unmöglich – –“

„Sie werden bedingungslos parieren, meine verehrte gnädige Frau, oder ich lege augenblicklich meinen Kommandostab in diesem Hause nieder. Verstanden? Na, sehen Sie mich nur nicht so ängstlich an. Ich bin ja auf Sie nicht böse. Ich sehe nur – übrigens lassen wir das. Also Sie wollen doch gern von diesem garstigen Husten und von diesen Brustschmerzen befreit werden, nicht? Nun, dazu sind vor allen Dingen nasse Einwicklungen und gleichmäßige Bettruhe unbedingt nötig. Sonst kriegen wir das nicht. Etwas Ernstliches möchten Sie sich durch Widersetzlichkeit doch nicht zuziehen, nicht? Schon. Sie werden also nun die Güte haben, sich mit der Geschwindigkeit eines Mokkakäfers zu Bett zu legen, damit ich Ihrer Jungfer Bescheid zeigen kann. Sie nickt, sie ist schon brav. Zur Belohnung verschreib’ ich Ihnen dann auch noch eine Medizin.“

„O bitte! Daß ich nur in der Nacht nicht huste. Mein Mann verträgt es nicht, im Schlaf gestört zu werden.“

„Ja, was ich übrigens sagen wollte. Natürlich quartieren wir Sie aus. Patienten sollen nicht mit Gesunden die Räume teilen, wenn man’s so einrichten kann. Hier können wir uns das ja leisten.“

Ludwig erstaunte nicht wenig über die „Bescherung“, die er vorfand, als er zu Tische heimkam. Er mußte sich aber wohl oder übel in die vollendete Thatsache fügen, der Sanitätsrat, der seinen Mann seit vielen Jahren kannte, hatte ihm einen unmißverständlichen Mahnzettel zurückgelassen und eine Wiederholung seines Besuches für den Nachmittag angekündigt.

Gerade als wenn sie mit allen Mitteln vor mir geschützt werden müßte, brummte Ludwig in sich hinein.

Zu sehen bekam er seine Frau fürs erste nicht, auf seine ungeduldige Frage hieß es, sie schlafe. So setzte er sich denn allein zu Tisch. Es wollte ihm nicht gefallen. Er spürte eine starke Sehnsucht nach seinem lieblichen Gegenüber.

Es ist ja eigentlich eine Schande, wie ich dieses Weib liebe, dachte er. Förmlich unsinnig. Darum bin ich auch so wütend auf sie. Erschlagen möcht’ ich sie manchmal, wahrhaftig. Sie muß auch wieder fügsam werden – – es lief aufs neue, wie heute morgen, ein Schauer über ihn hin, als er an ihre starre Abwehr dachte. Sie muß wieder fügsam werden, wiederholte er fast laut, sonst nimmt das kein gutes Ende mit uns beiden. Uebrigens – er griff in seine Rocktasche – Donnerwetter, hab’ ich das verloren? Das wäre des Teufels. Aber nein, es muß ja im Pelz stecken Ich bin wohl schon halb dämlich.

Er pfiff den Diener wieder zurück, der eben die letzte Schüssel hinausgetragen hatte.

„Aus meinem Pelz – Brusttasche – das Päckchen in Seidenpapier. Und – schläft die gnädige Frau immer noch?“ Nein. Gerade habe die Henriette ausgerichtet, die gnädige Frau sei wach und bitte den Herrn um seinen Besuch.

„Wahres Glück“, murmelte Ludwig, der sich sofort erhob und hinausging. Aber immer nobel, sein! Bittet um meinen Besuch. Ich möchte mal zu ihr reinkommen – das wäre wohl – wieder nicht vornehm genug gewesen.

Die „Krankenstube“ lag sehr bequem, Thür an Thür mit Hannas Ankleidezimmer, am Ende des Korridors, nach dem Garten hinaus. Zur Aufnahme bevorzugten Logierbesuchs bestimmt, zum Beispiel der Breslauer Geschwister, war es schön und kostbar eingerichtet, reicher und eleganter als die übrigen Gastzimmer, die im Sollergeschoß lagen, und die zu Hannas stillem Mißfallen die leblose, unpersönliche Physiognomie gewöhnlicher Hotelräume trugen. Bisher war keiner von ihnen allen benutzt worden. Eggebrechts verschoben ihren ersten Besuch bis nach der „Haustrauer,“ bis „Madame“ wieder einigermaßen menschlich geworden sein würde. Wenn sie nach Berlin kämen, wollten sie sich „amüsieren“, nicht wie die Asketen umeinander herumsitzen. Thomas hätte seiner Frau diesen schwesterlichen Erguß lieber nicht zeigen sollen, unmöglich konnte sie sich nun auf die nähere Bekanntschaft mit der Schwägerin freuen.

„Was wollen Sie?“ fragte Ludwig, als ihm dicht vor der Thür Henriette entgegentrat.

„Ach, die gnädige Frau sollte eigentlich gar nicht sprechen, hat der Herr Sanitätsrat gesagt. Und wenn die gnädige Frau auch selbst nach dem Herrn geschickt hat – ich dürfte von Rechts wegen niemand ins Zimmer lassen.“

Für ihre kranke Herrin sofort ganz Mitleid, überwand das Mädchen die Scheu, die sie, wie alle Dienstboten im Hause, vor „ihm“ fühlte, sie hatte aber kein Glück mit ihrer Rolle als Cerberus.

„Warten Sie gefälligst bis Sie gefragt werden,“ schnauzte Ludwig sie an. „Im übrigen bleiben Sie hier draußen, bis ich Ihnen klingle.“

Hanna, die seine grobe Stimme gehört hatte, sah ihm ängstlich entgegen.

[712] „Na?“ sagte er, nachdem er die Thür ziemlich unsanft hatte ins Schloß fallen lassen. „Was machst du denn für Streiche? Meldest dich einfach krank?“

Er trat an ihr Bett und beugte sich über sie. Bis zum Kinn war sie zugedeckt, ihr heute morgen noch bleiches Gesicht war jetzt fieberich gerötet, in den Augen ein unruhiger Glanz.

„Du mußt schon entschuldigen,“ sagte sie fast tonlos – sie war noch heisrer geworden – „daß ich dich so vernachlässige.“

„Natürlich muß ich entschuldigen, was soll ich sonst anfangen? Bleibt mir ja nichts weiter übrig.“

„Gegen den Doktor war eben nichts zu machen. Ich mußte gehorchen.“

„Ja, wenn der sich auf die Hinterbeine setzt! Aber – steht dir ganz gut, die Krankheit. Niedlich siehst du aus mit so einem bißchen Fieber.“

Er stützte die Hände zu beiden Seiten auf ihr Kopfkissen und beugte sich tiefer zu ihr herab. Angstvoll sah sie ihn so nahe über sich. so groß, so breit und mächtig, und mit diesem Lächeln – –

„Bitte,“ hauchte sie, den Kopf zur Seite wendend, „mir ist so beklommen –“

„Ja, warum bist du auch so fürchterlich zugedeckt, da mußt du ja ersticken.“

Er griff nach ihrer Decke.

„Nicht – das will der Doktor so.“

„Lächerlich. Runter damit von Hand wenigstens gieb her. Ich hab –“

Aus der Rocktasche zog er das Päckchen, an einem Zipfel des Seidenpapiers anfassend, ließ er es sich auf der Bettdecke auswickeln und öffnete mit einem Fingerdruck die rotlederne Kapsel. Ein kostbares Armband lag darin.

„Sofort anzuprobieren. So heißt mein Rezept. He? Wie behagt das der kleinen Putzdocke?“

Er streifte ihren spitzenbesetzten Aermel in die Höhe und legte den juwelengeschmückten Reif um das zarte Gelenk. Es hätte ihr nichts geholfen, wenn sie sich dagegen gewehrt hätte, es hätte ihr nichts geholfen, wenn sie gesagt hätte: „Was soll ich mit dem Ding? Ich mache mir aus solchen Sachen gar nichts, du weißt das ja recht gut.“ Sie hielt schweigend still, zupfte nur sacht mit der freien Hand den emporgeschobenen Aermel herab.

„Na? Was ist das für ’ne leblose Miene? Wirst du gleich ein freundliches Gesicht machen?“

Es gelang ihr nun, zu lächeln, sie nickte ihm auch zu. Ein Hustenanfall ersparte ihr das Sprechen für den Augenblick. „Wär’ er nur schon wieder draußen,“ dachte sie. „Ich lieg’ hier so elend hilflos, kann nicht fortgehen. Warum hab’ ich ihn nur hereingerufen? Ja, um mich zu entschuldigen. Wär’ er nur schon weg!“

„Gieb zu,“ sagte Ludwig, wieder nahe über ihr, „daß du einen guten, netten, lieben Mann hast. Und bedank’ dich auch.“

„Gewiß bedank’ ich mich,“ flüsterte Hanna, nur auf das letzte antwortend. „Es ist sehr schön.“

„Das ist kein ordentlicher Dank“, unterbrach Ludwig, der wohl spürte, wie sie seinen Augen auswich. „Das macht man ganz anders. Ich muß es dir wahrhaftig zeigen. Und schnell drückte er seine Lippen auf ihren Mund.

Der Klang der Hausglocke scheuchte ihn auf. „Wahrscheinlich der olle Brummkater, der Meinhardt,“ sagte er verdrossen. „Da drück’ ich mich lieber hier heraus. Wenn er mich nachher sprechen will, ich bin drüben, rauche noch eins. Uebrigens eß ich heut’ abend bei Uhl, mit Rönneberg zusammen. Ich komme noch, dir Gute Nacht sagen. – –“

In ihrem stillglühenden Abendfieber lag Hanna allein. Sie wollte es so. Sie hatte das Mädchen hinausgeschickt, das nun im Nebenzimmer nähend saß, für jedes Klingelzeichen bereit.

Der Doktor war dagewesen, hatte die Einwicklung zu erneuern befohlen, über die unnötige Höhe der Temperatur und die Verschlimmerung des Hustens gezankt und dem zärtlichen Ehemann, der sich viel zu lange mit ihr unterhalten hatte, für die nächsten zwei Tage jeden Besuch des Krankenzimmers überhaupt verboten.

Neun Uhr vorbei. Ludwig ausgegangen. Alles still ringsum.

Sie hatte sich nach dieser Stille sehr gesehnt. Auch nach der Nacht und ihrer Dunkelheit. Nicht lange mehr, nachdem sie allein gelassen worden war, hatte sie die kleine elektrische Nachttischlampe, die mit ihrem rosenfarbenen Schirmchen das Zimmer in warme, weiche Dämmerung hüllte, brennen lassen. Mit ihren ruhelos weitoffenen Augen sah sie nun nichts mehr, sie hätte sich einbilden können, blind zu sein. Diese leblose Finsternis war ihr aber gerade recht. Hätte sie nur in ihr bleiben können. Hätte sie nur nie mehr an den hellen Tag herausgemußt. Sie sehnte sich sehr, heute nacht ein für allemal einzuschlafen. Wie dankbar wäre sie gewesen, wenn diese Erkältung etwas Ernstes, Entscheidendes geworden wäre, dem sie hätte erliegen müssen. Aber dieses kleine Katarrhfieber that ihr nichts, der Husten und die Heiserkeit verschwanden in einigen Tagen. Eine Woche weiter – und alles war wie sonst. Die Scham peinigte sie bis zum Gefühl von körperlichem Herzweh. Für Augenblicke ging ihr in dieser zwiefachen Nacht das Bewußtsein davon verloren, daß sie da in ihrem Bett lag. Sie glaubte sich niedergestürzt, niedergeworfen, am Boden liegend, mit Wunden bedeckt, mit ruhmlosen, brennenden, unheilbaren Wunden. Niemals, sie wußte es wohl, konnte nie mehr gesund werden, befreit werden von dieser Schmach. Sie mußte es hinnehmen, daß er sie heute küßte und morgen beschimpfte. Um ihrer einen Lüge willen mußte sie es hinnehmen. Warum nur war ihr damals, als sie ihren Opferweg beschritt, diese Lüge nicht wie ein Unrecht erschienen? Warum bedrückte sie sie jetzt, als sei sie ein Verbrechen? War es jener Augenblick in der Kirche, wo Arnold sich verriet und die Erkenntnis ihres Verlustes sie überwältigte – war es jener Augenblick, der sie und ihn zu gemeinsamer Trauer verkettete und dann für immer trennte – war er es, der sie erst zur Sünderin gemacht hatte? Vielleicht, wenn Ludwig arglos und gütig geblieben wäre, daß sich dann die verschwiegene, sorgsam verhehlte Wunde langsam ausgeblutet und sacht geschlossen hätte. Aber er war schon damals nicht arglos gewesen.

Der Schmerzensruf der armen Königstochter in Grimms Märchen fiel ihr ein ‚Wenn das meine Mutter wüßte, das Herz im Leib thät ihr zerspringen!'

Wie gut, daß sie tot war. An diesem wäre ihr armes Herz in Stücke gegangen. Wie gut, daß sie nicht wissen konnte, wie tief begraben auch ihre liebe, unsterbliche Seele lag. Der Talisman war zersplittert. Aus seinen armen Scherben fügte sich ihr kein neuer Trost, kein neuer Schutz zusammen.

Es geht nicht, Mutter. – Sie faltete ihre heißen, zitternden Hände. Es ist nichts damit. Du hast mir zu viel zugetraut. Du hättest dableiben müssen. Lebendig hättest du mir geholfen. Ich weiß ja nun doch, daß es dich nicht freut, wenn ich oben bleibe, daß es dich nicht kränkt, wenn ich zu Grunde gehe. Ich kann mich doch nicht selber anlügen. Niemals seh’ ich dich wieder. Und niemals mehr kann ich sagen: Sieh', Mutter, so traurig bin ich. Ganz und gar – – in ihrem fieberischen, schmerzlichen Sinnen kamen ihr gedruckte Buchstaben vor die Augen. Ganz und gar bin ich – wo war das gewesen? Aber ja. Goethe. In den Sprüchen. Das war für mich: Ganz und gar bin ich ein armer Wicht. Meine Träume sind nicht wahr und meine Gedanken geraten nicht. – Wär’ ich auch tot. Nur die Toten sind glücklich. – – –

Eine Woche später war die Bronchitis beseitigt, Hanna aus dem eigentlichen Krankenzimmer entlassen. Doch betrachtete der Doktor sie andauernd mit starkem Mißfallen. Dem Grund ihrer allgemeinen, tiefen „Depression“, die in gar keinem Verhältnis zu der oberflächlich verlaufenen Erkältungskrankheit stand, konnte er nicht auf die Spur kommen. Etwas aber mußte geschehen, um dieser zunehmenden Mattheit, die jedes vitale Interesse verleugnete, entgegenzuarbeiten. Eine Reise blieb das beste Auskunftsmittel. Eine Reise nach dem Süden. Die aufgeschobene Hochzeitsreise.

Ludwig war mit diesem Vorschlag des Doktors sehr einverstanden. Er erhoffte allerlei von dem ungestörten Zusammensein dort unterwegs.

So dauerte es denn auch nicht lange mit den Vorbereitungen.

Anfang März waren sie schon in Verona.

(Fortsetzung folgt.)
[713]

Das Washington-Denkmal in Philadelphia.

[714]
Jagdleben im Herbste.[1]
Von Ludwig Ganghofer.

Ein Herbsttag im sterbenden Wald! Da liegt es wie zitternder Feuerschein über allen Wipfeln in der Luft, über das falbe Grün des moosigen Grundes webt die Sonne eine wundersame Mosaik von goldigen Lichtern und zuckenden Schatten; wo sie ihren Weg durch das gelbe und rote Laub der welkenden Buchen und Ahornbäume nimmt, scheinen alle Zweige in hellem Brand zu stehen, und wenn von den Bäumen, durch die ein seufzendes Rauschen gleich dem schweren Atmen eines Sterbenden geht, zuweilen ein welkes Blatt gemächlich zur Erde niederflattert, so ist das anzusehen, als hätte sich von den brennenden Zweigen ein Flämmlein losgelöst, um auf den seidendünnen Fäden zu tanzen, welche blitzend und gleißend durch den ganzen Wald gesponnen sind. Die kleinen Vögel huschen mit erregtem Gezwitscher durch die Wipfel, als galt’ es ein hastiges Abschiednehmen oder ein Sammeln für die kommende Zeit der Not, Käfer schwirren auf und surren wieder hinab in das Versteck der gefallenen Blätter, und zahllose Ameisen, krabbeln in emsiger Eile über alle Stöcke und Steine, als wüßten sie, daß sie den schönen Tag mit doppeltem Fleiß zu nützen haben, da schon der nächste Morgen den Winter bringen kann.

Und sinkt nach solchem Tag die Sonne – welch’ wundersamen Zauber bringt dann der Abend mit der bunten Dämmerung, mit der sanft verschwimmenden Glut all dieser Farben, mit der lautlosen Schlummerstille des todmüden Waldes! Und steht der neue Tag wieder auf, so sind alle Farben noch mehr gebrochen, noch milder getönt, und über allen Zweigen und Gräsern schimmert mit Perlenglanz der weiße Reif, der in der kalten Nacht gefallen.

Der Wald kann nie schöner sein als in solcher Zeit! Oder urteilt nur so der Jäger in mir – weil der sterbende Wald auch dem Weidmann gesteigerte Freuden bietet, weil die Zeit des Herbstes die lärmende, lustige Hochsaison des Weidwerks ist?

Wie im Frühlinge das Jägerjahr eröffnet wird durch die von jedem Weidmann heiß ersehnte Heimkehr der Schnepfe, so eröffnet die Südlandsreise des Langschnabels und seiner jungen Brut das fröhliche Jagdgetriebe des Herbstes. Die Freude, die ein Jäger an der Buschierjagd auf Schnepfen findet, ist eine Probe für seine weidmännische Tüchtigkeit und Ausdauer. Vom Morgen bis zum Abend durch wirr verwachsene Gräben auf und nieder zu klettern, sich unermüdlich durch Dorngestrüpp und stachliche Brombeerstauden zu winden, den gutgeschulten Hund mit erfahrenem Geschick zu führen und bei all dieser Mühe immer bereit sein für den schwierigen Schuß – das ist nicht die Sache des Sonntagsjägers, der von der Buschierjagd auf Schnepfen zu reden pflegt wie das Füchslein von den sauren Trauben. Schon auf dem Abendanstand verlangt der Schuß auf die hastig und lautlos ziehende Herbstschnepfe einen geübten Schützen. Aber ein firmer Meister in der Handhabung seiner Waffe muß der Jäger sein, der gute Schußerfolge beim Buschieren erzielen will, mitten in zäher Dickung, deren Gezweig den Ausblick verschleiert und jede Bewegung stört. Wohl kündet die von der feinen Nase des Hundes aufgestöberte Schnepfe ihre Flucht durch lautes „Wuchteln“ an, aber klug jede Deckung benutzend, huscht sie mit flinkem Zickzack und niedrigen Fluges davon. Da gilt es, schnell wie der Blitz das Feuer zu werfen. Ein Augenblick in ratlosem Zögern – und wo ist die Schnepfe? Verschwunden auf Nimmerwiedersehen!

Die Schwierigkeit solch eines Schusses macht auch das Erlegen einer Schnepfe zu einer Pikanterie der herbstlichen Treibjagden. Wenn da im Bogen das „Tiro, tiro!“ der Treiber erschallt, zuckt auf den Ständen heiße Erregung durch alle Jägerherzen, jede Hand schließt sich energisch und die Flinte, und aller Augen suchen in den Lüften. Holt einer den Langschnabel glücklich herunter, so fühlt er sich den ganzen Tag als Heros der gesamten Jagdgesellschaft – fehlt er aber die Schnepfe, so möchte er vor all den schadenfrohen Blicken, die ihn von der Seite messen, in seines Nichts durchbohrendem Gefühl am liebsten in den Waldboden versinken.

Eine ähnliche Rolle – himmelhoch jauchzend oder zum Tode betrübt – spielt der Jäger, der auf der Treibjagd einen Fuchs zur Strecke brachte oder den roten Schleicher „ungekränkt“ passieren ließ. Das letztere ist nun allerdings ein weidmännisches Kapitalverbrechen, das die Verachtung, mit der es bestraft wird, vollauf verdient. Deshalb wird der Verbrecher auch immer zum verstockten Leugner. Ein Fuchs wird im Treiben nie gefehlt – er ist immer „angeschossen“, und darauf schwört der verdächtige Schütze die heiligsten Eide. „Ganz unbegreiflich, daß er nicht liegen blieb! Er roulierte im Feuer wie ein Hase! Aber na, seinen Treff hat er, die Bestie muß eingehen!“ Das ist so das Schema für die übliche Ausrede. Und es ist wie ein Schicksal, der Fuchs, der schon beim ersten Laut der Treiber rege wird und pfeilschnell das Weite sucht oder sich vorsichtig drückt bis zum letzten Augenblick vor dem Schluß des Treibens, weiß im Bogen mit Sicherheit immer jenen Stand zu finden, auf dem ein grüner Neuling im Weidwerk just mit der Cognakflasche oder mit seinem knurrenden Hund beschäftigt ist.

Um bei den herbstlichen Treibjagden das pikante Kleeblatt voll zu machen, gesellt sich zu Fuchs und Schnepfe noch der Rehbock, der sein Gehörn schon abgeworfen hat. An seiner Stelle muß gar häufig eine arme, brave „Mutter“ ihr Leben lassen, die nach „Sprung und Gestalt“ von einem unglückseligen Schützen als Bock „angesprochen“ wurde. Gegen solche „Versehen“ hilft leider kein Jagdgesetz und kein Pönale – dagegen hilft einzig und allein nur die echt weidmännische Bestimmung, daß beim Treiben auf den Rehbock, der sein Gehörn schon abgeworfen hat, nicht mehr geschossen wird.

Ein Treiben in gut besetztem Revier bietet ja, auch wenn der Rehbock geschont wird, noch jagdliche Freuden in Hülle und Fülle. Ein Häslein um das andere huscht mit flinkem Lauf über die Schneuse – hole die Ausreißer ein mit noch flinkerem Feuer! Ein Kaninchen saust vorüber wie eine graue Pelzkugel, die ins Fliegen kam – und da gilt's einen blitzschnellen Schuß oder die Schrote kommen zu kurz. Ein „Bouquet“ Fasanen rauscht aus dem Dickicht auf und flattert nach allen Seiten auseinander – doch bevor sie sich noch aufgeschwungen haben über die Wipfel, stürzen im Feuer zwei prächtige Hähne, umwirbelt von stäubenden Federn. Und ist dir die grüne Göttin besonders günstig, so führt sie einen schleichenden Marder zu deinem Stand, einen wackelnden Dachs oder einen verstrichenen Birkhahn. Stehst du aber gerade in Ungnade bei Hubertus, dann kannst du freilich auch im besten Revier vom Morgen bis zum Abend ein Treiben um das andere mit ablaufen, ohne eine einzige Patrone los zu werden. Aber laß dir durch solches „Pech“ das frohe Jägerherz nicht betrüben!

Der Stolz, eine stattliche Strecke erzielt zu haben, ist ja nicht die einzige Freude, die das fröhliche Leben einer Treibjagd bietet. Welche Erquickung ist nach den dumpfen Stubentagen der Stadt dieses Wandern im herbstlich schönen Wald, das Atmen in seiner frischen, gesunden, alle Glieder stählenden Luft! Dazu noch all der reiche Humor des ganzen Tages, vom ersten, lachenden Weidmannsgruß beim Stelldichein bis zum lustigen, mit fliegenden Scherzen gewürzten Jägermahl, das mitten im Walde gehalten wird, zwischen den letzten Blättern des Herbstes und dem ersten Schnee des Winters! Und welche Summe von Genuß bietet dem rechten Jäger für sich allein schon die Teilnahme an einer Waldjagd, die mit tüchtigem Personal und gut geschulten Treibern in streng weidmännischer Weise geführt wird und in musterhafter Ordnung wie am Schnürchen verläuft! Kehrst du heim von solcher Jagd, dann drücke zum Abschied dem Jagdherrn, der dich als einen der Auserlesenen gerufen, mit festem Jägerdanke die Hand! „Auf Wiedersehen im nächsten Jahr!“ Wirst du aber in ein Revier geladen, aus dem du von der letzten Treibjagd nach Hause kamst, beinahe taub vom Mark und Bein durchdringenden Geschrei der Treiber, mit einem halb Dutzend Schroten in den Ledergamaschen, die dein Nachbarschütze für [715] einen „Fuchs oder Fasan“ angesprochen – dann setze dich flink zum Schreibtisch und erwidere die Einladung mit den höflichen Worten: „Sehr geehrter Herr! Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie wieder an mich gedacht haben! Die Aussicht, in Ihrem schönen Revier die mannigfachen Freuden einer Treibjagd mit genießen zu können, hat unendlich viel Verlockendes für mich! Doch leider, leider verhindern mich ernste Berufsgeschäfte, Ihrer liebenswürdigen Einladung Folge zu leisten. Mit Weidmanns heil, Ihr ergebenster N. N. – P. S. In der letzten Nummer der Jagdzeitung fand ich neu erfundene, völlig schrotdichte Gamaschen annonciert. Ich möchte Ihnen raten, mit dieser herrlichen Erfindung einen Versuch zu machen. –“

Während im Wald der Ebene die roten Blätter fallen und bei fröhlichem Jagdgetriebe Schuß um Schuß durch seine bunten Hallen kracht, wird hoch in den Bergen, über deren Gipfel und Almgehänge ein früher Winter schon das weiße Schimmerkleid geworfen, stille und mühsame Jagd gehalten. Wenn zu Ende des Novembers die Flocken in dichter Menge um die Latschenfelder wirbeln, wenn die grimmig kalten Nächte schon alle Bäche zu Eis gerinnen machen und ein schneidender Wind mit Pfeifen um alle Grate und Schroten saust – diese harte Zeit ist im verschobenen Liebeskalender der Natur der „wunderschöne Monat Mai“ des scheuen Krickelwildes. Je kälter da der Bergwind durch die Latschen fährt, um so heißere Gefühle erwachen in dem braven Gemsbock, der die schöne Zeit des Sommers in einsiedlerischem Behagen verbrachte und bei fleißigem Aesen nur der einen Aufgabe lebte, tüchtig Feist unter seine Decke zu bringen. Sein fahles Sommerkleid hat sich in glänzendes Schwarz verwandelt, drall und stattlich ist er anzusehen in der zottigen Fülle seines Winterpelzes, und schon beginnt sich der „Bart“ zum „Wachler“ [2] auszuwachsen und weiß zu bereisen. Da hebt er nun ein ruheloses „Suchen und Wandern“ an, und aus den Latschenfeldern der Klüfte, in deren kühlem und dichtem Versteck er seinen Sommerstand gehalten, steigt er zu den sonnseitigen Almgehängen empor, auf denen die Rudel sich zu sammeln beginnen.

Treibt es der frühe Bergwinter gar zu schlimm, wirft er Schnee über Schnee, und hüllt er durch lange Wochen alle Gipfel in Gewirbel und Nebel, dann freilich wird dem Hochlandsjäger die schöne Zeit der Gemsbrunft, die er das ganze Jahr hindurch mit Sehnsucht erwartet, gründlich verstöbert und verdorben. Wohl scheut er keine Unbill der Witterung, um für seinen Hut den stolzen Schmuck eines „wachsenden Gemsbartes“ zu gewinnen aber bei „grobem Wetter, bei dem der Wind in jeder Minute aus einem anderen Winkel bläst, ist die Jagd auf das scharf „windende Krickelwild“ eine nutzlose Mühe. Gemspirsche, welche Aussicht auf Erfolg verspricht, verlangt blauen Himmel und gleichmäßig ziehenden Wind.

In solch trüber Novemberzeit trat der Hochlandsjäger wohl ein Dutzend Mal des Tages mit heißer Ungeduld vor den Barometer und klopft an die Röhre, ob denn das Quecksilber noch immer nicht steigen will? Endlich eines Morgens atmet er hoffnungsfreudig auf: “Gott sei Lob und Dank, jetzt hat’s a Ruckerl g’macht!“ Gegen Mittag fällt ruhiger Nordostwind ein, Sonnenglanz durchbricht die ziehenden Nebel, und noch ehe der Abend kommt, tauchen die zuckerweißen Berge aus dem steigenden Gewölk hervor. Eine kalte Nacht sinkt über die Thäler, und einzelne Sterne blitzen aus dem dunklen Schleier des Himmels.

Und nun rüste dich, freundlicher Leser, wir wollen aufsteigen zu einer Gamspirsch in den verschneiten Bergen!

Ein paar Stunden, ehe der Morgen graut, sind wir parat zum Abmarsch, nicht allzu warm gekleidet denn das Stapfen und Steigen im frischen Schnee wird uns heißer machen, als uns lieb ist. Einen bescheidenen Imbiß und einen guten Tropfen im Rucksack, den Stutzen und die Patronen, Fernrohr, Wettermantel und Bergstock – mehr brauchen wir nicht. Und jetzt hinaus in die Nacht! Der Himmel ist völlig klar geworden, und mit zitterndem Gefunkel leuchten die tausend Sterne. In schweren Klumpen fällt der Schnee von den Bäumen, deren Wipfel in leichtem Winde sich bewegen.

„Dös Winderl waar net ohne,“ meint der Jäger, der uns begleitet, „fein ziagts abi übern Berg! Heut kunnt's krachen! Und an’ Tag kriag’n m’r … grad’ nobel.“

Schon der halbstündige Weg durch das langsam steigende Waldthal macht die Stirnen gehörig warm. Dann erst das Aufwärtsstapfen über den hochverschneiten Jägersteig! Das geht für ein Dampfbad – und alle paar hundert Schritte verhält man sich eine Minute, um den verlorenen „Schnaufer“ wieder zu finden. Der Wald geht zu Ende und die seilen Latschenfelder beginnen. Allmählich hat sich der Schein der Sterne gedämpft, farbiges Zwielicht gleitet über den Himmel hin, alle Konturen der weißen Berge werden klar und rein, und ein letztes verirrtes Wäldlein löst sich auf in blauem Dunst. Langsam und vorsichtig steigen wir höher jede Blöße zwischen den Felsen und Latschen mit spähenden Blicken musternd … „denn in der Brunft, da fahrt d’r oft a Gamsbock her über’n Weg, du woast net wie!“

Fast haben wir schon den Saum des Almfeldes erreicht, das sich zwischen zerklüfteten Felswänden breit bergan dehnt, schimmernd wie graue Seide. Da brennt es auf dem höchsten der weißen Gipfel auf, gleich einer roten Flamme.

„Sakra! Jetzt dürfen m’r uns aber tummeln … d’ Sunn’ fliegt an!

Sich „tummeln“? Nein! Da heißt es stehen und schauen und staunen! Von einem Gipfel zum anderen fliegt die rote Morgenflamme, tiefer und tiefer brennt sie herunter über Gewänd und Schnee, das ganze Almfeld überhaucht sich mit ros’gem Glanz, sogar die Schatten tauchen sich in zartem Purpur – und über allem der reine Himmel, tief und blau wie ein südliches Meer, und zwischen seinem Plan und dem rosigen Schneeglanz blitzt im Kontrast der Farben die silberweiße Linie des Grates.

„Herrgott! Wie schön ist das!“

Da pfeift es in den Latschen die Büsche rauschen und Schnee stäubt auf.

„Mar’ und Josef!“ zischelt der Jäger. „Richten’ S’ Eahna! A Gamsbock! Und was für Aner!“

Doch ehe die Büchse noch an der Wange ist, fährt der schwarze Gesell, der uns auf lautloser Suche in den Weg geraten, mit sausender Flucht schon durch die Latschen hinunter in den Wald!

„Natürli! D’ Natur antratschen! Dös is ’s Richtige auf der Gamsbrunft! brummt der Jäger. „D’ Sonn’ können S’ alle Tag’ sehn, aber so an Gamsbock net!“ No also, machen wir halt weiter … der is jetzt schon beim Teufel!“

Ein Viertelstündlein steilen Marsches, und ein Hügel des Almfeldes ist erreicht. Gedeckt von einer Latschenstaude, lassen wir uns nieder, obwohl wir bis an die Hüften im Schnee hocken, haben wir doch ein ganz behagliches Weilen, denn kaum merklich zieht der Wind, und die steigende Sonne beginnt sich lind zu fühlen. Während eine gute Cigarre den Aerger des Jägers besänftigt, halten wir mit dem Fernrohr Ausschau nach allen Seiten. Manch ein schwarzes Pünktlein auf dem sonnigen Schnee, das wir mit freiem Auge für eine Gemse halten, entpuppt sich durch das Glas als ein schattiger Felsbrocken oder als ein Latschenstäudlein, das sich aus der Schneedecke hervor drängt. Aber dort oben, wo die beschneiten Schuttfelder steil aufsteigen zu den kahlen Wänden, dort oben bewegen sich ein paar schwarze Punkte. Das Fernrohr wird gerichtet. Ein Rudel – und wir zählen gegen dreißig Stück; brave Mütter mit ihren Kitzen und einige Geltgeißen. Bei genauer Beobachtung zeigt es sich, daß beim Rudel ein dreijähriger Bock steht, der nicht als schießbar anzusprechen ist. Es ist um die Zeit der Sommerhirsche, so würden wir ruhig weiter ziehen und anderswo unser Heil versuchen. Aber jetzt, in der Brunft, da heißt es geduldig ausharren, denn wo ein Rudel steht, wird ein guter Bock nicht lange auf sich warten lassen.

Ruhig sitzen wir im Schnee, der uns nun doch seine Kälte langsam in alle Knochen bohrt. Dazu beginnt der Wind, immer schärfer zu ziehen – die Ohren beginnen zu brennen und die Finger werden steif. Aber die Beobachtung des Rudels kürzt uns die bittere Zeit. Einige der Gemsen ruhen im sonnigen Lager, andere ziehen langsam über den Hang und schlagen mit den Läufen den Schnee von der Erde, um Aesung zu finden. [716] Zwischen den ruhig ziehenden Müttern tummeln sich die Kitzlein umher und treiben ihre munteren Spiele wie ausgelassene Schulkinder, sie jagen sich, versuchen harmlose Kämpfe und machen kleine Schlittenpartien über den steilen Schnee. In dem Dreijährigen erwachen sehnsüchtige Gefühle, und er beginnt bei den Schönen ein nicht gerade schüchternes Werben. Da verhofft er plötzlich, äugt gegen die höheren Wände hinauf und stampft mit den Läufen.

„Passen S’ auf jetzt,“ flüstert der Jäger, „da is der Alte nimmer weit!“

Wir suchen die Wand mit dem Fernrohr ab – und richtig, dort oben steigt er über den Grat herauf, „aber scho’ a höllischer Deufi, stolz und kraftvoll, scharf abgehoben vom blauen Himmel, so daß sich mit dem Glas die hohen Krickeln und die wehenden Zotten des Bartes deutlich erkennen lassen.

„Sakra, sakra,“ meint der Jäger, „den wann S’ kriegen, da können S’ Eahna gratulieren!“

Alle Kälte in Blut und Gliedern ist jäh verflogen und mit heiß erregten Schlägen hämmert das Herz.

Ein paar Minuten äugt der Alte regungslos auf das Rudel nieder, dann plötzlich kommt er über die Wand herabgefahren daß die Steine prasseln. Inzwischen hält sich der Dreijährige eine Weile in scheuer Ferne, dann beginnt er das Rudel in Unruh’ zu umkreisen und schlängelt sich immer näher an dasselbe heran. Aber ein paar zornige Sprünge des Alten jagen ihn wieder in die Flucht. Einsam steht nun der Verscheuchte auf einem Schneegrat. Die Sache scheint ihm nicht zu gefallen Er stampft mit den Läufen, schüttelt die Lauscher, und dann entscheidet er sich für das bessere Teil der Tapferkeit, fährt über den Schneegrat nieder und verschwindet in einem Graben des Almfeldes.

Wir kümmern uns nicht weiter um die Richtung seiner Flucht und lassen den Alten und sein Rudel nicht aus den Augen. Doch jählings pfeift es ein paar Dutzend Schritte neben uns, und als wir aufblicken, steht der Dreijährige zwischen den niederen Latschen. Er scheint von unsrem Anblick ebenso betroffen wie wir von seinem unerwarteten Auftauchen. Einige Minuten währt diese gegenseitige regungslose Musterung, bis ihm der Jäger mit einer scheuchenden Handbewegung zumurmelt: „Geh, du Springerl, fahr’ ab!“ Das läßt sich der Bock nicht zweimal sagen; erschrocken schlägt er um, saust durch die Latschen thalwärts und pfeift noch ein paarmal, da er schon verschwunden ist.

Obwohl die Entfernung zwischen uns und dem Rudel weit über tausend Schritte beträgt, sind doch die Pfiffe des Flüchtlings bis zu ihm hinaufgedrungen. Ein paar Geißen, die sich schon zur Ruhe niedergethan, springen wieder auf, der Alte klettert auf einen Felsblock, und so äugt das ganze Rudel zu uns nieder. Ein Glück, daß uns die Sonne im Rücken steht – ihr blendender Glanz macht den Gemsen ein deutliches Gewahren unmöglich. Dennoch scheinen sie Gefahr zu wittern, denn eine Kitzgeiß beginnt über das Schneefeld empor zu ziehen, als wollte sie in die Felswand einsteigen.

„Auweh zwick! Jetzt is gefeit!“ brummt der Jäger und schließt die Vermutung, daß wir für heute leer nach Hause gehen würden, mit einem derben Fluch.

Seine böse Ahnung scheint sich zu bestätigen, denn langsam zieht das ganze Rudel der führenden Kitzgeiß nach. Gemächlichen Schrittes und zuweilen den schwarzen Pelz schüttelnd, steigt der Alte hinter dem Rudel her, und wir folgen ihm seufzend mit den Blicken. Da jagt er plötzlich über den steilen Schnee hinauf und sprengt die Geißen von der Wand zurück auf den Lahner. Das ganze Rudel steht dicht gedrängt und äugt über das Almfeld hinaus.

„Himmel Saxen!“ zischelt der Jäger in heißem Eifer. „Da schang’S’ ’nüber! Da steigt oaner her über d’ Schneid … und gar koa schlechter net! Sakra, sakra, jetzt geht a G’schäft!“

Richtig, ein guter Bock, schwarz wie Kohle, ist am Saum des Almfeldes erschienen. Er hat das Rudel gewahrt und wollte über den Schnee einher, seinen Weg durch spielende Sprünge kürzend. Dann wieder steht er, wirft auf und schlägt mit den Läufen. Der Alte zieht ihm entgegen, zögernd, als wollte er vorerst mit Bedacht die Kraft des nahenden Gegners prüfen.

„Geben S’ acht, dö packen anander!“ flüstert der Jäger. „Von dene zwoa, da woaß i net, was für oaner der besser’ is … von dene zwoa giebt koaner so leicht net nach!“

In wachsender Erregung sehen wir durch das Fernrohr dem Drama der Eifersucht zu, das sich dort oben auf dem steilen Schneefeld abspielen will. Deutlich gewahren wir durch das Glas, wie der Alte zornig die Oberlippe aufzieht, und trotz der Entfernung glauben wir, seinen blökenden Kampfruf zu vernehmen. Schon sind sich die beiden Gegner bis auf wenige Schritte nahe gekommen. Sie stehen regungslos voreinander, mit gesenkten Krickeln – es scheint, als hätte jeder Respekt vor der Kraft des andern und keiner so recht den Mut, um den unsicheren Kampf zu beginnen. Langsam und neugierig zieht das Rudel näher, und als hätte die Gegenwart seiner Huldinnen die Kampflust des Platzbockes befeuert und seine Eifersucht gesteigert, so rennt er mit kraftvollem Sprung auf seinen Gegner los. Wir hören, wie die Krickeln aneinander schlagen. Aber schon ist der Angreifer mit blitzschnellem Sprung wieder zurückgefahren und steht erwartend. Da holt der Gegner zum Angriff aus, beim Stoß verfangen sich die beiden Kämpen mit den Krickeln, und so zerren sie sich hin und her, daß es sich aussieht wie ein drolliges Spiel, nicht wie ein ernster Kampf. Endlich kommen sie los voneinander, und der Alte retiriert, als wäre ihm schon halb der Mut gesunken. Das befeuert den Rivalen, und mit derben, immer hitziger werdenden Stößen bedrängt er den Platzbock, der sich aufs Parieren verlegt, und dessen Kräfte immer mehr zu erlahmen scheinen. Aber diese scheinbare Schwäche ist nur schlaue Taktik des alten geriebenen Burschen. Als sich der Gegner, der in heißem Ungestüm den Kampf mit einem Gewaltstreich beenden will, auf die Hinterläufe hebt, um mit gesenkten Krickeln den Rivalen am Nacken oder auf dem Rücken zu fassen, fährt ihm der Alte mit wuchtigem Stoß in die Weichen. Der Getroffene überschlägt sich und kugelt über den steilen Hang hinunter, umwirbelt von stäubendem Schnee. Mühsam erhebt er sich, aber da rennt der Alte schon wieder mit wütendem Sprung auf ihn los, und in wilder Jagd sprengt er den Besiegten gegen die Tiefe des Almfeldes.

„Teuifi no’ amal! Jetzt aber g’schwind! Jetzt gilt’s!“

Wir gleiten durch die Latschen hinunter in eine Mulde, und drüben geht’s mit Keuchen wieder hinauf über Schnee und Geröll. Kaum haben wir, noch atemlos, die Höhe des Almgrates erklommen, da saust auch schon mit hängendem Lecker und stöhnend der gesagte Bock an uns vorüber. Einen tiefen Atemzug, den Hahn gespannt und die Büchse an die Wange – jetzt taucht mit rasenden Sprüngen der Sieger vor uns auf, doch bei dem Pfiff des Jägers verhofft der Bock, halb verschleiert vom aufwirbelnden Schnee. Dröhnend hallt der Schuß über das Almfeld hin – im Feuer schlägt der Gemsbock um und verschwindet in einer Mulde. Auf dem jenseitigen Hang erscheint er wieder und flüchtet gegen das Rudel hin – eine zweite Kugel soll ihn einholen, aber da bricht er zusammen und rollt verendet über den Schnee. Ein heller Jauchzer schwingt sich auf in das sonnige Blau, während von den steilen Wänden die Steine niederprasseln, die das flüchtende Rudel löste.

Ein Stündlein später treten wir, der Jäger mit dem geschränkten Bock über den Schultern und der glückliche Schütze mit dem frischen Latschenbruch auf dem Hut, in die einsame und halb verschneite Sennhütte, deren Stube einen öden und unwirtlichen Anblick bietet. Alle Glieder zittern uns vor Kälte und Erschöpfung, die Augen sind rotgerändert und brennen vom blendenden Schneeglanz, den wir durch lange Stunden ausgehalten – aber wir lachen, als kämen wir von lustiger Maifahrt, und mit sprudelndem Eifer wird die ganze Jagd noch einmal durchgeplaudert. An dem Maßstab, der in den Bergstock eingeschnitten ist, wird die Höhe des überaus starken Krickels und die Länge des sorgsam ausgerupften Gemsbartes gemessen – wobei der Jäger mit heiligen Eiden schwört, daß „a sölchener Bock in hundert Jahr’ nimmer g'schossen woard!“

In der Aschengrube wird ein flackerndes Feuer angeschürt, dessen Schein die verwahrlose Almstube freundlich überglänzt. Von der aufsteigenden Hitze des Feuers beginnt auf dem Hüttendach der Schnee zu schmelzen, und die Tropfen fallen und plätschern, als möcht’ es draußen schon Frühling werden. Während wir plaudernd rings um das Feuer sitzen, die starren Glieder wärmen und uns so recht von Herzen wohlig fühlen, meint der Jäger: „Gelten S', so a gut's Fuierl geht für a halbe Mahlzeit?“ Er schmunzelt. „Und wär’ a lieb's Madl dabei, so ging's für a ganze!“

[717]

Die Dobschauer Eishöhle.

Mit Illustrationen von R. Mahn.

In dem Komitate Gömör in Ungarn liegt die alte Bergstadt Dobschau. Schon seit alten Zeiten wurde in jener Gegend Eisen geschmiedet, zu Anfang des 14. Jahrhunderts kamen deutsche Kolonisten in das Land und ihnen

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Der „große Saal“.
Der „Baumstamm.“

verdankten die Eisenwerke einen bedeutenden Aufschwung und die Stadt Dobschau ihre Blüte. Wie oft sie auch im Laufe der Zeiten von Feuersbrünsten zerstört und von den Türken heimgesucht wurde. Immer gelang es den strebsamen Einwohnern, die Spuren der Not zu verwischen.

Dobschau erfreut sich heute auch bei Touristen und Naturfreunden eines guten Rufes, denn seine Umgebung ist reich an Naturschönheiten. In der Nähe von Dobschau zieht sich die 5 km lange Strazener Schlucht hin, die, von der forellenreichen Göllnitz durchströmt, durch schroffe Felsen und prachtvolle Tannenwälder das Auge des Wanderers entzückt. Hier hat die Natur eine wildromantische Landschaft geschaffen, aber auch für anmutige Abwechslung gesorgt, wo das Thal sich erweitert, dehnen sich stille idyllische Wiesenplätze aus. Im Frühling und im Sommer prangt hier die Erde in einem herrlichen und eigenartigen Blumenkleid, denn im Gollnitzer Thal berühren sich das baltische und das polnische Florengebiet. Ihr schönstes Kleinod birgt aber die Schlucht im Bergesschoß. Es besteht in einer der eigenartigsten Höhlen Europas: In der Dobschauer Eishöhle; sie weist ähnliche Gebilde auf wie die mit Stalagmiten und Stalaktiten geschmückten Tropfsteinhöhlen, aber die Altäre und Kanzeln, die Dome und Nischen, die im Scheine des elektrischen Lichtes so wunderbar erglänzen, sind in ihr aus starrem Eis gebildet,

das auch im heißesten Sommer nicht dahinschmilzt. Am 15. Juli 1870 wurde diese Höhle entdeckt und lockte bald Besucher herbei. Die Dobschauer Stadtgemeinde hat dafür gesorgt, daß dieses Naturwunder durch Anlage von Treppen und Stegen leicht zugängig gemacht wurde, und seit dem Jahre 1886 wird die unterirdische Zauberwelt elektrisch beleuchtet. Eine Viertelstunde vom Eingang zu der Höhle, im oberen westlichen Ende der Schlucht, wurde für den Touristenverkehr ein Gasthaus errichtet, das allen modernen Ansprüchen genügt. Ein guter Weg führt von hier die Nordlehne des Ducsaberges hinauf, er windet sich durch einen reizenden Park, und von den Lichtungen genießt man eine prachtvolle Fernsicht, deren Hintergrund der Königsberg und die Hohe Tatra bilden.

In einer Höhe von 969 m über dem Meeresspiegel liegt in einem Kessel der Eingang zu der Höhle. Ursprünglich nur ein schmales Loch, wurde derselbe erweitert, so daß ein etwa 2 m hoher nach rechts und links spitz abschließender Spalt gewonnen wurde. Ueber ihm befindet sich auf gußeiserner Platte die Inschrift, die in deutscher Uebersetzung also lautet: „Den Entdeckern dieser Eishöhle, Eugen Russinyi, Andreas Mega und Gustav Lang, Zur Anerkennung die Stadtgemeinde.“

Ueber Treppen abwärts steigend, gelangt man zunächst in einen niedrigen Gang und durch diesen in einen ungefähr 10 m hohen, 120 m langen und 35 bis 60 m breiten Raum, den sogenannten „Großen Saal“. Spiegelglattes Eis bedeckt den Boden. Vom Gewölbe herab hängen Felszacken im wirren Durcheinander, da und dort sieht man Eiszapfen von wunderbarster Gestalt, geziert mit grotesken Eiskristallen, die in verschiedenen Farben die Lichtstrahlen der Bogenlampen zurückwerfen – ein zauberhaft schöner Anblick!

Wie in den Tropfsteinhöhlen die Stalaktiten von oben herab und Stalagmiten von unten empor den Boden mit der Decke verbinden und sich zu den wunderlichsten Formen vereinigen, so hat auch in der Dobschauer Höhle die Natur Eissäulen von etwa 12 m Höhe und über 2 m Durchmesser geschaffen. Unsere Abbildung zeigt uns zwei solche Eissäulen. Die große wird der „Brunnen“, die kleinere der „Altar“ genannt.

Neben dem „Großen Saal“ liegen, durch eine Felswand getrennt, der „Kleine Saal“, in dessen Mitte zwei pyramidal zulaufende Eisstücke, die „Grabsteine“ und der „Baumstamm“, eine Eissäule von 7,5 m Höhe und 2,5 m Durchmesser sich erheben. Eine Wasserader, die in der Höhle rann und im Eise verschwand, veranlaßte den Ingenieur Russinyi, einen Tunnel nach abwärts brechen zu lassen. So wurde eine weitere tiefer liegende Höhle entdeckt. Sie ist nicht minder herrlich als die beiden Salons; nur herrscht bei ihr die gangartige Gestaltung vor, daher sie auch der „Korridor“ genannt wird. Er zieht sich in einer Länge von 200 m halbkreisförmig unter dem „Großen Saal“ hin, auf der linken Seite durch graue Felswände, auf der rechten durch glitzerndes Eis abgeschlossen. Staunenerregend ist der Anblick dieser Eiswand, die bei 200 m Länge eine Höhe von 15 bis 20 m erreicht! In diese Eismasse, die zugleich den Eisboden der beiden Säle bildet, wurde in wagerechter Richtung ein 10 m langer Stollen getrieben, der einen Einblick in das Gefüge der Eisbildung gestattet. Am Ende des Stollens gelangt man in den blinkenden „Palast des Winterkönigs“ ein kapellenartiges Plätzchen. Auch die untere Höhle ist reich an merkwürdigen Eisbildungen. Besonders schön ist die 10 m hohe und 8 m breite „Laube“. Sie scheint aus Laub gewunden, die in einem Bogen sich aneinander reihen, aus Palmenblättern, feinen Grashalmen und wasserklaren Eisschichten von verschiedener Dicke geflochten zu sein, auch ihren inneren Raum zieren tausendfältige Eisblumen und Eiskristalle. Unser nebenstehendes Bild [718] zeigt eine weitere prachtvolle Eisbildung, der man den Namen „Spitzenvorhang“ beigelegt hat. Die Ausdehnung der Dobschauer Eishöhlen wird auf 8874 qm berechnet,

Datei:Die Gartenlaube (1897) b 718.jpg

Hotel „Zur Eishöhle“.

die Masse des hier aufgespeicherten Eises durfte 125.000 cbm betragen. Als Durchschnittstemperatur der Höhle im Laufe des Jahres wurden −0,275 °C ermittelt. Die höchste Temperatur wurde am 18. August 1881 im „Großen Saal“ beobachtet: sie betrug +4,5 °C, während im Freien beim Eingang der Höhle das Thermometer +19,5 °C zeigte. Die tiefste Temperatur, −7,5 °C, wurde am 23. Januar desselben Jahres bei einer äußeren Lufttemperatur von −25 °C notiert. Somit betrug die maximale Schwankung draußen im Freien 44,5° C, im Innern der Höhle aber nur 12° C.

Die Eishöhlen, deren es in Europa eine ganze Anzahl giebt, sind oft der Gegenstand eifrigster Forschung gewesen; aber es ist bis jetzt nicht gelungen, die Ursachen dieser unterirdischen Eisbildungen aufzuklären. Man hat zwar viele Hypothesen aufgestellt, keine aber kann als genügend erkannt werden. Franz Kraus äußert sich darüber in seinem trefflichen Werke „Die Höhlenhunde“ (Wien, Gerolds Sohn): „Erst dann, wenn es gelingt, die physikalischen Bedingungen der Eisbildung in den Eishöhlen so vollständig zu erforschen, daß man unter den gleichen Bedingungen künstliche Eishöhlen erbauen kann, erst dann darf man sagen, die Eishöhlenfrage ist definitiv gelöst. Der beste Beweis ist ja stets das Experiment. Angesichts des großen Eisbedarfes der modernen Gesellschaft wäre die Erforschung des Princips, nach welchem man die Natur imitieren könnte, eine sehr nützliche Aufgabe. Die richtige Lösung der Frage würde dem Glücklichen, dem sie gelänge, nicht nur Ehre, sondern auch reichen Gewinn einbringen. Vorläufig sind wir jedoch noch weit von diesem Ziele entfernt.
G. Hanvay.

Das Kind.
Roman von Adolf Wilbrandt.

(3. Fortsetzung.)

9.

Die letzten Monate des Jahres 1880 waren im südlichen Italien so schön, wie man sie auch dort nicht oft wiederfindet; wer damals im Süden war, wird es nicht vergessen. Rutenberg, Schilcher und Gertrud, drei Tage nach dem Ball gen Bozen, Rom, Neapel aufgebrochen (die Tante blieb zu Hause; sie liebte das Reisen nicht, auch verstand sie mit Gertrud sich nicht immer gut), fast vier Wochen waren sie nun schon unterwegs, man schrieb Dezember: noch hatte nicht eine regnerische, ja nicht eine umwölkte Stunde das reine, herbstmilde Sonnengold abgelöst, das sich im Golf von Neapel in das Goldbraun und Rosaviolett der Berge, das Edelsteinblau der Buchten und das Silberweiß der friedlich spielenden Brandung verwandelte. In Sorrent, wohin sie sich vor dem Lärm von Neapel geflüchtet hatten, waren sie nicht in einem der großen Hotels bei der „kleinen Marine“ abgestiegen, die Schilcher zu „modern“ fand, sondern in einem vornehm gemütlichen, einer ehemaligen Villa, die ein wenig abseits, aber auch wie die andern auf der natürlichen, herrlichen Felsterrasse lag, welche das üppig gesegnete ebene Land in den Golf hinausschiebt. Hier verträumten sie nun schon vierzehn Tage: der Zauber dieser Spätherbstfrische über dem Meer ließ sie nicht los. Es war so schön, in dem immergrünen Garten der Villa am steinernen Bollwerk zu sitzen und vom steilen Fels, der wie eine Riesenmauer aufragt, in das vielfarbig tändelnde Wasser hinabzuschauen, oder über den Golf hinweg den dampfenden Vesuv und die duftigen Inseln und das langhingestreckte, traumhaft stille Neapel anzustaunen. Schön war es auch, auf der Felsentreppe – „wie ein alter homerischer Grieche“, sagte Schilcher – ans Meer hinunterzusteigen, von der Sonnenwärme lieblich angeglüht, und zwischen den Steinen reizende Muscheln oder antike Marmorstücke zu suchen oder fortzugehen und am Capo di Sorrento auf wunderbaren Trümmern einer altrömischen Villa, der leisen Brandung zu lauschen; oder auf die Höhen zu steigen und vom Rücken der Halbinsel herab die beiden Golfe zugleich zu genießen: den wilderen von Salerno, den weicheren von Napoli. Man mußte nur erst die langweiligen, aussichtslosen Mauerwege im Ort und oft weit hinaus überwunden haben, über die Schilcher den Kopf schüttelte, Gertrud seufzte und Rutenberg schimpfte; denn sie forderten nicht nur Geduld, sie führten auch oft krummbogig irre und nicht zum Ziel, sondern fast zum Anfang zurück. War man aber glücklich ins Freie und auf weitschauende Höhe gekommen, so war es diesen Nordländern wie ein Märchen, im Dezember hoch und frei bei blühenden und duftenden wilden Myrtenbüschen zu sitzen, auf zwei Meere hinabzuschauen, die ernste Rauchsäule des Vesuv im süßen Sonnenlicht zu sehen und nahe und ferne Gebirge, schimmernde und nebelnde Städte, kleine und große Felseilande und all das unvergängliche Grün des Südens im Auge zu fühlen, während ihre Landsleute daheim am Fenster standen und in undurchdringliches Schneegestöber starrten.

Es war schon der vierzehnte Sorrentiner Abend; Schilcher kam aus seinem Zimmer, das warm gegen Süden lag, und ging sachte pfeifend zum gemeinsamen Salon. Ihm gefiel eigentlich diese Lebensweise: spät „zu Mittag“ zu essen – im Grunde zu Abend – und dann noch ein paar Stunden gesellig beisammenzusitzen mit oder ohne Buch, plaudernd oder stumm, bis der Tag, an dem man so manches unter freiem Himmel erlebt hatte, hinter den Vorhängen des vor den Mücken Schützenden Himmelbetts in weichem Schlummer verging. Ihm fehlte nur jeden Abend das Eine, an das ihn die letzten zehn Jahre zu seinem Unglück gewöhnt hatten; die gemütliche Partie Whist …. Indessen seine Opferfreudigkeit erwachte wie gewöhnlich, als er den „Reisezweck“, wie er Gertrud zuweilen im Spaß gegen Rutenberg nannte, im Salon am Klavier stehen sah und eines der neapolitanischen Liedchen singen hörte, die sie von den Volkssängern gelernt hatte. Ihre Stimme klang so frisch, so jung – und so vergnügt. Die schlanke Person stand so kummerlos da. Er horchte recht andächtig und blieb an der Thür, aufrecht, bis sie die letzte Strophe herausgeschmettert hatte und die Begleiterin am Klavier, die gute, lange englische Dame, aufstand.

„Sehen Sie,“ sagte die Engländerin in ihrem vorsichtig langsamen, die Worte zusammensuchenden Deutsch, „wie gut haben Sie jetzt dieses Lied gesungen Entzückend, wirklich!“

„Ich war selbst ganz erstaunt,“ antwortete Gertrud heiter und wiegte sich auf den Zehen: „vieles sang ich richtig!“

„Alles, alles!“ behauptete die gute Dame.

Gertrud nickte ihr dankbar zu: „Sie begleiten so gut, gnädige Frau, daß es einem schwer wird, falsch und schlecht zu singen. – Ich danke Ihnen so sehr!“

„O, es ist ein großes Vergnügen, wenn man kann nützlich sein. – Noch ein Lied? La bella Napoli?“

[719] Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich danke! Will noch etwas lernen. Italienisch! Ich bin noch so dumm!“

Sie legte die Noten zusammen, trat an den großen runden Tisch, auf dem neben allerlei Zeitungen und Heften ihre kleine italienische Grammatik lag. Die Engländerin schlug noch leise eine Melodie an, die der andächtig horchende Schilcher nicht kannte; dann stand sie auf, warf einen Blick durch die Glasthür auf den großen Balkon und in die blaue Nacht hinaus und ging durch die Korridorthür davon.

Schilcher setzte sich an den runden Tisch; es machte ihm Vergnügen, so ganz unvermerkt der Trudel zuzuschauen, wie sie sich mit ihrer siebzehnjährigen eckigen Grazie bewegte. Als sie sich in ihr Buch vertiefte, kam aber die wehmütige Erschlaffung über ihn, die bis jetzt keinen Abend ausblieb. Er sah im Geiste den dicken Lugau vor sich, wie er Karten gab, und Wild, wie er sie aufnahm und die Augen groß machte. Mit einem ganz leisen, verstohlenen Seufzer fing er an, die Daumen übereinander zu rollen. Ihm gegenüber, auch am Tisch, saßen zwei Damen, die er sogleich für Lugau und Wild hingegeben hätte, alte, vertrocknete, auffallend hagere und häßliche Geschöpfe, so häßlich, daß man sie immer wieder anschauen mußte; die eine las und die andre stickte.

Ein Herr, der mit seinem Fernglas an der Fensterthür stand und schräg auf den nächtlichen Golf hinaussah, ein Amerikaner schob sein kleines Rohr jetzt zusammen und kam, ernsthaft und zutraulich wie immer, auf den träumenden Schilcher zu. „Der Vesuv glüht heute abend wieder sehr stark,“ sagte er in recht gutem Deutsch, mit seiner ruhigen, freundlichen Bestimmtheit.

„So?“ entgegnete Schilcher. „Hab's noch nicht bemerkt.“

„Es fließt wieder neue Lava aus.“

„Schön“, sagte Schilcher.

Das ist doch merkwürdig, dachte er dann, dieser Mann wirkt doch regelmäßig wie eine Zuckerdose auf mich, die man langsam auf und zu macht. Ich komme immer ins Gähnen! Er gähnte auch schon wieder, hinter seiner Hand, es war aber ein leiser Genuß darin. Danke! dachte er auch.

Der Amerikaner, als hätte er nur diesen Erfolg seiner Anwesenheit abgewartet, ging zwei Schritte weiter, zu Gertrud, die eben lächelnd von ihrer Grammatik aufblickte. Er sah auf seine Uhr: „Und Ihr Herr Vater ist noch nicht da?“

„Er kommt ganz gewiß,“ erwiderte Gertrud, um ihn zu beruhigen.

„Von Pompeji?“

„Nein, von Neapel.“

„Es kommt aber von Neapel jetzt am Abend kein Dampfer mehr –“

Gertrud fiel ihm freundlich lächelnd in die Rede: „Beunruhigen Sie sich nicht, Herr White. Er nimmt einen Wagen, denn er fährt zu Lande; und er kommt gewiß.“

„Der Vesuv glüht wieder stark“, bemerkte der Amerikaner.

„Ja,“ sagte Gertrud.

Herr White wandte sich wieder zu Schilcher: „Wollen Sie die neue Lava sehn?“ Gefällig wie immer hob er sein Fernglas.

„Ich danke“, antwortete Schilcher. „Sie wird ja noch ’ne Weile fließen.“

„O, ja!“ Der Amerikaner ging wieder zur Balkonthür mit seinem gleichmäßigen, festen Schritt, und schaute wieder durchs Glas hinaus. Im Salon war's still. Außer den beiden „Mumien“, wie Schilcher die alten Damen bei sich nannte, saßen nur noch zwei junge Deutsche an einem kleinen Tisch und spielten Domino. Schilcher sah ihnen wehmütig zu; ihm war, als hörte er Wilds helle Stimme sagen: „Wir haben drei Trick!“

„Amerei, ich würde lieben,“ begann Gertrud nur so mit den Lippen, kaum hörbar, aus ihrer Grammatik zu lernen. „Amersti, du würdest lieben; amerebbe, er würde lieben ; ameremmo, wir würden lieben …“

„Na, Trudel?“ fragte Schilcher mit gedämpfter Stimme hinüber, da das Mädchen eben aufschaute, als störe sie ein Gedanke im Lernen. „Bist ein bißchen müde?“

„Ich? Wovon?“ fragte sie zurück.

„Von unsrer großen Wanderung heute vormittag.“

„Aber Onkel Schilcher! Meine jungen Beine. Und in der himmlischen Herbstluft! – Du, mir scheint hier ist ewig Herbst!“

Er nickte: „Und zu Hause schneit's!“ – Und da spielen sie Whist! dachte er dann freilich, sagte es aber nicht.

„Nein, wie war's da oben auf dem Hügel schön!“ fuhr das Mädel fort. „Sieh, wie die Myrte an meiner Brust noch blüht. – Und wir saßen da wie auf einem Thron, die beiden beherrschten Golfe unter uns, der von Amalfi und Salerno rechts, der von Neapel links … Du, Onkel Schilcher, ich find’ aber eigentlich die Berge bei Amalfi schöner; gewaltiger, wilder, zerrissener; da ist Leben drin – Donnerwetter!“

„Das finden manche,“ sagte Schilcher, die Daumen rollend; „besonders junge Leute. Aber unsre Felsen hier sind stilvoller –“

„Glatter, geleckter,“ warf sie ein.

„Edler, vornehmer, aristokratischer! – Was ziehst du da aus der Tasche?“

„Die erste reife Orange!“ sagte Gertrud und hielt die goldgelbe Kugel in die Höhe. „Die hab’ ich heut’ nachmittag selbst vom Baum gepflückt; hier in unserm Garten; der Padrone kam und bot mir's an; du glaubst nicht, wie galant er war. Ich dankte ihm aber auch in meinem schönsten Italienisch; das „grazieflötete ich ordentlich. – Selbst vom Baum gebrochen, das ist doch Poesie, Onkel Schilcher!“

„Was wollt’ es nicht. – Sehr!“

Sie machte die Orange auf, um sie zu essen. „Willst du Halbpart?“

„Danke,“ erwiderte er. Nach einem still humoristischen Blick auf die alten Damen rückte er ihr näher und flüsterte: „Trudel, mir fehlt hier was.“

„Armer Onkel Schilcher! Die Whistpartie?“

„Auch. – Noch etwas.“ Er warf noch einen Blick auf die beiden Damen „Eine dritte Parze,“ flüsterte er.

Gertrud lachte leise. „Das sind keine Parzen,“ sagte sie dann ohne Stimme; „das sind die beiden neuesten Ausgrabungen …aus Pompeji.“

„So! – Wer hat dir das gesagt?“

„Die Dominospieler da.“

Sie löste jetzt ein Stück von der Orange und steckte es in den Mund; „o!“ rief sie dann aber. „Die Orange ist noch sauer. Diámine!“ – Die Engländerin vom Klavier trat eben wieder ein. „Sie hatten recht“, sagte das Mädchen lustig zu ihr hinüber: „diese schöne Orange hat keine schöne Seele.“

Na ja, dachte Schilcher: wie der schöne Arthur!

10.

Zusammengerollte Notenhefte in der Hand, kam Rutenberg vom Korridor in die Thür; er hatte sein jugendlichstes, lebensfrohestes Gesicht, wie in seinen besten Zeiten. „Guten Abend!“ meldete er sich. „Da bin ich!“

„Endlich!“ sagte Gertrud, stand auf und ging ihm entgegen. Ihn mit beiden Händen fassend, lehnte sie sich ein wenig an seine Brust; er lächelte sie an.

„Die kleinen Pferde liefen wie die Teufel,“ sagte er dann, halb zu Schilcher gewandt: „in anderthalb Stunden von Castellamare bis hier, vors Hotel. So am Golf entlang, in der lauen Nacht – eine Götterfahrt! Der Mond war noch nicht herauf, aber der Vesuv glühte wie eine Fackel. Und so dumpf, so geheimnisvoll rauschte das Meer unten an den Felsen –“

„Vater wird noch Dichter!“ warf das Mädel dazwischen, halblaut zu Schilcher hinüber. Rutenberg schlug ihr zart auf die Wange.

Die Engländerin fragte vom runden Tisch her: „Sie hatten einen schönen Tag in Neapel?“

„Einen Frühlingstag,“ antwortete Rutenberg. „Die Kerle schrieen auf den Straßen, daß es eine Lust war. Zwanzigtausend ungefähr haben mich angebettelt. Da hast du auch deine Noten, Kind!“

Er drückte dem Mädchen die Rolle in die Hand. „Danke,“ sagte sie. „Guter Vater!“

„Du, es war eine lange Jagd, bis ich diese neapolitanischen Lieder alle beisammen hatte. Dann noch drei Stunden im Museum, fleißig wie ein Professor!“

Der Amerikaner war von der Glasthür herangetreten; mit [720] seinem tiefen, sanften Ernst fragte er: „Sie haben auch die antiken Wandgemälde gesehn?“

„Alles, alles, alles. Bin sogar in die ägyptische Abteilung hinuntergeklettert, zu den Mumien und Isis und Anubis …“

Rutenberg blickte lächelnd auf seinen Schilcher, der so in sich versunken im Lehnstuhl saß und die Daumen übereinander rollte. Er trat etwas näher und dämpfte die Stimme: „Du! Schläfst du, Alter?“

„Nein,“ gab Schilcher zurück.

Rutenbergs leichtbeweglicher Kopf ging herum, er warf einen gedankenlosen Blick auch auf die alten Damen am Tisch. „Sehr merkwürdig,“ sagte er dann mit halber Stimme, „sehr merkwürdig sind die alten Mumien –“

„Um Gotteswillen!“ raunte der erschrockene Schilcher rasch. „Mensch, nimm dich in acht!“

„Warum?“ fragte Rutenberg erstaunt.

Mit dem Kopf auf die beiden Damen deutend flüsterte Schilcher: „Sie hören ja, was du sagst!“

Jetzt begriff Rutenberg und lachte. Er sagte leise, sehr vergnügt: „Ich sprach von den Mumien im Museum, Schilcher.“

„Ah so!“ Gertrud, die dieses kleine Zwiegespräch gehört hatte, ging leise lachend durchs Zimmer. Schilcher sah ihr nach. Zwischen Heiterkeit und Ernst murmelte er darauf: „In so ’ner Pension muß man vorsichtig sein.“

„Ja, das merk’ ich!“ sagte Rutenberg, der noch einen verstohlenen Blick auf die alten Damen warf. Seine Augen glänzten, als er dann flüsternd hinzusetzte: „Kuck, wie das Kind lacht!“

Der Amerikaner schob sein Fernglas zusammen und knüpfte an seinem Rock, er schickte sich offenbar an, den regelmäßigen frühen Rückzug in sein Schlafzimmer anzutreten. „Entschuldigen Sie,“ wandte er sich noch an Rutenberg. „Wie weit mag wohl der Vesuv in der Luftlinie von Sorrent entfernt sein?“

Rutenberg sann einen Augenblick. – „Ungefähr zwei deutsche Meilen, mein Herr.“

„Wieviel ist das in Kilometern?“

„Vierzehn bis fünfzehn.“

„Ich danke Ihnen. – Gute Nacht, mein Herr.“

Nach einer kopfnickenden leichten Verbeugung gegen ihn und die andern schritt er ehrenfest hinaus. Die Dominospieler hatten sich schon lautlos entfernt; die Engländerin nahm ihre Bücher vom Tisch. „Also morgen, gnädige Frau, wollen Sie nach Capri?“ fragte Rutenberg.

„Nein,“ erwiderte sie. „Erst übermorgen.“

„Da empfehl’ ich Ihnen als Schiffer und auch als Führer den Marinajo des Hotels, den Pasquale. Das ist ein Unikum, insofern er sogar leidlich deutsch spricht; er war mit einem reichen Deutschen jahrelang auf Reisen, und wie zu allem hat er auch zum Radebrechen Talent.“

Die Engländerin dankte freundlich. Sich zur Thür wendend lächelte sie ihrer jungen Sängerin zu: „Also morgen la bella Napoli, und die Rondinella!

Gertrud nickte: „Wenn kein Ohr uns hört!“

Die Dame hauchte noch ein Good Night und ging.

„Willst du noch essen, Vater?“ fragte das Mädchen.

„Nein, mein Kind. Ich aß unterwegs, in Castellamare. Die wunderbarsten Maccaroni meines Lebens.“

Er hielt inne, mit heimlich aufleuchtender Heiterkeit, da er nun auch die alten Damen aufbrechen sah. Glück über Glück! dachte er und nickte Schilcher schweigend zu. Gertrud, hinter Schilchers Stuhl, flüsterte auf ihn herunter: „Die beiden Parzen gehn fort.“

„Die Mumien,“ raunte Rutenberg.

„Die jüngsten Ausgrabungen,“ berichtigte Schilcher. Langsam rauschten die Damen, die nicht ahnten, wie interessant sie waren, auf den Korridor hinaus.

Rutenberg setzte sich vor Vergnügen, „Kinder,“ sagte er, „wir sind allein, das ist auch nicht übel! –“ Da öffnete sich aber schon wieder die Thür, ein vierter Mann trat ein. Es war diesmal keiner von den Gästen, sondern Pasquale, der Barkenführer, den Rutenberg soeben empfohlen, der die Drei schon manches Mal an den Ufern hin, zu den Felsgrotten, zur Punta della Campanella in seiner Barke spazieren geführt hatte. In der gelbbraunen Sammetjacke, den weichen schwarzen Hut in der gebräunten haarigen Hand, stand er wie ein ehrerbietiges Fragezeichen da, nickte dann aber seinem besonderen Freund, dem Schilcher, vertraulich lächelnd wie ein Amigo zu.

„Aha!“ sagte Schilcher. „Unser Marinajo, mein Pasquale. Treten Sie näher, Pasquale. wir sind unter uns. Was treiben Sie noch so spät im Hotel?“

Pasquale zuckte herzlich die Achseln, hob auch die braunen Hände ein wenig. In seinem gebrochenen Deutsch, das er, wo es not that, durch sein beredtes Gebärdenspiel ergänzte, fing er nach einer Art von Seufzer an: „Man will leben, Eccellenza. Wollte fragen, Eccellenza, was wir morgen machen. Eine kleine Spazierfahrt auf den Meer, zu die Thunfischer? Oder hinüber nach Capri?“

„Da werden wir morgen den Wettermacher fragen,“ gab Schilcher zur Antwort „Wenn gut Wetter ist –“

Pasquale streckte seine Hand wagerecht aus: „Morgen das Meer ist glatt wie meine Hand!“

„So! Wissen Sie das gewiß?“

Der Marinajo lächelte zuversichtlich: „Wenn Pasquale es sagt, dann können Sie vertrauen. Dann ist es gewiß!“

„Seeleute und Italiener,“ entgegnete Schilcher trocken, „haben immer den Herrgott in der Tasche. Amico mio, wir wollen doch lieber morgen den eigentlichen Wettermacher fragen. Schlafen Sie recht gut!“

Pasquales feines Ohr hörte in dem trockenen Ton die innere Gemütlichkeit, die Menschenfreundlichkeit, er verneigte sich und lächelte ein wenig. „Danke“, antwortete er. „lo stesso“, dasselbe. Also wie Eccellenza denkt. – Obwohl ich weiß, morgen Sie werden sagen: Pasquale ist ein braver Marinajo, hatte recht, der Pasquale –“

„Wenn ich das sagen werde, werd’ ich's morgen sagen. Heute nicht, Pasquale!“

„Wie Eccellenza denkt. – Meine Hochachtung vor den schönen Herrn und die schöne Dame!“

Er lächelte dem Vater und der Tochter zu, aber ohne Dreistigkeit, und während sie ihm Gute Nacht zuriefen, zog er sich mit vielem Anstand zurück.

„Hat dieser Sohn des Südens Verstand!“ sagte Rutenberg heiter, wegen des ’schönen’ Herrn. „Aber, im Ernst, wie kindlich pfiffig diese Kerle sind, diese Sorrentiner. – Meine Freunde, Neapel ist schön; Neapel ist sehr schön, aber es lebe Sorrent! Dieses friedliche, märchenhafte Gartenland auf dem Uferfelsen; diese vortreffliche Pension in der alten Villa; – Kinder, alles entzückt mich. Dieser gemütliche Salon mit dem Doppelblick – da schaut er aufs Meer, auf Neapel mit seinen Lichterreihen, auf den alten Vesuv hinauf, hier auf die Orangengärten und alles, was ewig grün ist. – Oder denkst du anders, Trudel? Hast du's hier satt, willst du wieder nach Neapel? Mir ist's recht. Mir kann nichts geschehen, hier bin ich glücklich, dort wär’ ich's. Sag du, was du willst!“

Das Mädchen blickte ihn flüchtig an. „Hier noch bleiben, Vater. Hier noch ’ne Weile so leben, wie bisher, auf die Berge klettern, italienische Lieder singen, am Ufer sitzen –“

„Und meerfahren,“ fiel Schilcher ein, „mit Pasquale, der uns gar so schön findet –“

„Dich hat er nicht schön gefunden, Onkel Schilcher,“ berichtigte Gertrud, indem sie ihm eine Hand auf den Kopf legte. – „Ich will mir eine Arbeit holen, ich komme wieder. – Hier noch bleiben! Hier!“

„Gut,“ rief Rutenberg. „So bleiben wir hier!“ Gertrud schwebte hinaus, der Vater folgte ihr mit den Augen, die noch immer lachten, als sie längst aus der Thür war. Endlich legte er sich beide Hände auf die Kniee und lächelte seinen Schilcher an. „Nun, was sagst du, Alter? Geht es gut, oder nicht? – Dein ‚Abreisen‘ war ein göttlicher Gedanke. Italien thut seine Schuldigkeit, schau dir das Mädchen an. Schau dir diesen Trotzkopf an, Schilcher, der sich damals aufs Sofa warf und beinahe erstickte: ‚Nein, ich will nicht fort! Nein, ich will nicht reisen! Ihr wollt mich nur von Arthur fortnehmen, aber von ihm laß‘ ich nicht, von ihm laß' ich nicht!‘ –

[721]

Schlagfertig.
Nach einem Gemälde von E. Spitzer.

[722] Immer heiterer wird sie. Die verweinten Augen, wie lustig jetzt. Die trotzigen verschlossenen Lippen, wie sie wieder lachen können. Sie singt. Sie scheint ihren Angebeteten, ihren Engel richtig zu vergessen. Heut’ haben wir Mittwoch in der vierten Wochen – na, und um von mir zu reden, ich kann dir nicht sagen Schilcherio mio, wie ich glücklich bin. Es war ’ne Dummheit, daß ich noch nie nach Italien reiste, aber die Dummheit belohnt sich jetzt, alles ist mir nun neu, alles wunderbar! Ich bin wie ein Junge, den der Vater auf die erste Reise mitnimmt –“

„Nur daß hier die Tochter den Vater mitnimmt –“

„Ja,“ lachte Rutenberg , „ja, das gute Kind! Alle Tage bin ich ihr dankbar, daß sie mich veranlaßt hat, nach Sorrent zu reisen! Du, wenn das so fortgeht, werd’ ich auch noch ihrem Arthur dankbar … “

Er sprang auf, stellte sich vor Schilcher hin und schüttelte ihn an beiden Armen. „Na, kurz, ich bin glücklich!“

„Du bist doch das richtige Gummibändchen,“ sagte Schilcher, der sich nicht rührte. „So eins für Pakete mein’ ich; sowie man ihm sein Päckchen abnimmt, springt es fidel in sich zurück. – Bist beneidenswert!“ seufzte er leise.

Rutenberg lächelte mitleidig: „Armer Schilcher! Märtyrer der Freundschaft! Dir fehlt was in diesem Paradies: deine Whistpartie. Ich spiele zwar Schach mit dir –“

„Schach ist kein Whist“.

„Sehr richtig. – Darum hab’ ich auch – –“ Rutenberg brach ab und lächelte in sich hinein. „Was hast du?“

„Darum hab’ ich auch heimlich – einen Streich gemacht –“

Er hielt wieder inne, seine blauen Augen lachten den andern an.

„Was heißt das?“ fragte Schilcher „Wirst du dich wundern, Alter?“

„Das kann ich noch nicht wissen.“

„Ich hab’ Lugau und Wild heimlich eingeladen, uns nachzukommen hierher nach Sorrent … Aha! Jetzt wundert er sich! – Schon vor einer Woche, Allein hab’ ich ihnen geschrieben. Meine Freunde, es ist hier schön, göttlich schön, zu schön für uns allein; ihr müßt mit dabei sein! Lugau ist ein freier Mann, Wild braucht Erholung, seine drei Patienten sind gesünder als er und können bis nach Weihnachten warten. Ihr wollt den Vesuv sehn, der Vesuv will euch sehn, Schilcher rollt jeden Abend die Daumen übereinander, Schilcher schwindet hin; rettet den Mann und kommt her! Dieses Hotel ist meine Villa ihr seid meine Gäste, auch für die Hin- und Herreise … Was hast du?“

Schilcher war aufgestanden, er wollte seine Rührung nicht zeigen und wußte nicht recht, was er machen sollte; etwas unbeholfen stieß er mit dem Fuß, als stieße er etwas fort, das am Boden lag. „Nichts,“ brummte er dann nur, konnte sich aber doch nicht enthalten, Rutenberg anzuschauen. Darauf ergriff er ihn dann vorn am Rock, und schüttelte ihn eine Weile, was er wohl noch niemals gethan hatte. „Heimtückischer – dummer alter Kerl, du!“ stieß er aus der Kehle. „Machst mich lächerlich. Als könnt’ ich nicht ohne Whist – Aber vor Liebe könnt’ ich dich – –“

Er ließ ihn los und ging von ihm weg, um den Tisch herum. Nach einer Weile blieb er wieder stehn, hilflos, weich.

„Du bist der beste aller dummen Kerle auf der ganzen Erde!“

„Das ist nun wieder eine deiner Uebertreibungen,“ sagte Rutenberg lächelnd, „deiner Ueberschwenglichkeiten.“

In all seiner Rührung mußte Schilcher lachen „Meiner –? Großer Gott!“

„Also kurz, ich hoffe, sie kommen –“

„Du weißt es!“ rief Schilcher aus und sah den „Heimtücker“ forschend an. „Sie haben dir geschrieben!“

Rutenberg lächelte, schwieg. Er fing nun an zu pfeifen, was aber nicht seine Stärke war, das konnte der andre besser; Rutenberg hatte nur einen Ton.

11.

In das Pfeifen hinein erklang gedämpfter Gesang, von einem frischen hübschen Bariton; er schien von dem Fahrweg zu kommen, der zum Hotel und daran vorbei ging. Die Nacht war schon so still, daß man ihn sehr deutlich hörte. Nach einer Weile ließ Rutenberg ab, zu pfeifen, und lauschte angestrengt, mit vorgebeugtem Kopf; seine Brauen zogen sich zusammen. „Du,“ sagte er, „was ist das?“

„Gesang,“ brummte Schilcher. „Auf der Straße“. „Das hör’ ich. Aber – aber – die Stimme klingt mir so bekannt …“

„Mir nicht. – Italienische Worte. Ein italienisches Lied.“ Rutenberg nickte, sehr verstört. „Aber so gesungen, wie es ein Engländer oder ein Deutscher singt. So unitalienisch.“

„Bei Gott, diese Stimme kenn ich!“

„Das wär ja auch noch kein Unglück – „Kein Unglück … Mann, ich sag’ dir …– –“

Rutenberg sagte es aber nicht. Er ging auf den Zehen, als sollte man ihn nicht hören, zu der südlichen Thür, die an einen buntgepflasterten Balkon vor den Südzimmern und zu einer breiteren Terrasse am Fahrweg führte. In der Thür blieb er stehn und schaute zurück: Will nur ’mal nach dem Rechten sehn … Damit ging er hinaus.

Was hat er? dachte Schilcher. Ihn verließ nun doch auch die „klassische Ruhe“. Rutenbergs sonderbares, unheimliches Gesicht hatte ihn aufgestört. Er horchte. Der Gesang dauerte nur noch ein paar Takte, ward dann plötzlich still. Er öffnete leise die Thür, die der andre wieder geschlossen hatte; es war nichts zu hören. Endlich kamen gedämpfte Schritte von der dunklen Terrasse her, die bekannte hohe und breite Gestalt tauchte auf, ging rasch auf den kleinen Schilcher zu und schob ihn vor sich her in den Salon zurück.

„Es ist richtig,“ sagte Rutenberg, als sie drinnen waren. „Ich hatte recht. Er ist es!“

„Mensch, du bist ja blaß. Wer? Arthur?“

„Da. Dieser Wyttenbach. Draußen auf der Straße … Rutenberg mußte erst tüchtig atmen, eh’ er weitersprechen konnte. „Und Gertrud stand an ihrem Fenster. Ich hab's gesehen. Sie mich nicht; ich sie alle beide … Schilcher das war abgekartet!– Jetzt geh’ ich zu meinem Kind – jetzt geh’ ich zu meinem Kind und sag’ ihr – Er hob die Faust; er war außer sich.

„Ruhig, Mann! ruhig!“ nahm nun Schilcher das Wort und hielt ihn am rechten Arm. „Umgekehrt wird ein Schuh daraus, nichts sagen! gar nichts!“

„Nichts?““

„Nein. Den jungen Menschen herausrufen. Erstaunt, ganz harmlos erstaunt, ihn in Sorrent zu sehn. Und das Kind dazu rufen, na, und dann so allmählich herausbringen, was das Ding bedeutet!“

Rutenberg starrte den Oberapellationsrat an. Er sah das kleine, kluge Lächeln, das über das bartlose Gesicht huschte; ihm kam dabei die Fassung wieder, oder doch etwas Aehnliches, er fuhr sich durch das dichte Haar. „Hast recht, Alter. Hast schon wieder recht. Keine Scene. Ruhe. Ohne Uebereilung! – Ich kann den Bengel nicht sehen, aber ich will ihn sehen. Ich will –“

Er war schon wieder bei der Thür.

„Was willst du?“ fragte Schilcher.

„Es ganz so machen, wie du meintest. Wie ein Diplomat, Schilcher. Hab’ um mich keine Bangen das mach’ ich. – ’s ist aus, Schilcher! Unser Glück ist aus! – Aber die Sache wird in aller Ruhe – –“

Er trat auf den Balkon. Die Thür fiel wieder zu.

Der arme Schilcher stand und horchte, ihm ward nun nachträglich schlecht zu Mut. Dieser dreiste Bengel, dieser Schwerenöter plötzlich abends um Neun in Sorrent! Darum jeden Abend ohne Whist in der Ecke sitzen … Damit so ein Kerlchen dann doch – –

Rutenberg schien das Kerlchen zu rufen, dann schien er zu Gertrud zu gehn, die ihr Zimmer auch auf der Südseite hatte, neben dem Salon. Dann war's eine Weile still. Ob der Bengel wirklich kommt? dachte Schilcher. Ja, natürlich kommt er! Mir ist, als hört’ ich schon seinen schwebenden Adonisgang draußen auf der Treppe …“

Auf einmal fiel ihm ein, daß er doch auch das Seinige thun könne, um herauszubringen wie die Sache sei, abgekartet oder nicht? – Er knöpfte sich den Rock zu, für die kühle Nachtluft; darauf ging er geschwind auf den Korridor hinaus. Dort hing auch sein Hut. Er nahm ihn vom Riegel. Richtig, der [723] Schwerenöter kam schon die Treppe herauf, schwarz oder dunkelbraun gekleidet, einen hellen Ueberzieher auf dem Arm, einen von diesen verhaßten Cylindern auf dem Kopf. Mit seinem scharmantesten Lächeln zog er den Hut herunter, Schilcher zu begrüßen. „Welche angenehme Ueberraschung, Herr Oberappellationsrat –“

„Ja, sehr angenehm,“ fiel ihm Schilcher ins Wort. „Sie entschuldigen!“

So ging der kleine Herr an ihm vorbei und die Treppe hinab.

Arthur van Wyttenbach verzog das Gesicht, er stand eine Weile still. Drollige Begrüßung, dachte er. Unendlich warme Begrüßung … Aus seinem sauren Lächeln ward allmählich ein freieres. „Pah!“ blies er zwischen den Lippen hervor. Offene Arme hatte er ja nicht erwartet. Bei dem Mädel, ja, bei den beiden landflüchtigen Jubelgreisen nicht. Jetzt nur ruhig Blut, dachte er, den Hut in der Hand behaltend, und nur immer munter! Mit den Jubelgreisen werden wir wohl fertig!

In dem Zimmer geradeaus hörte er jetzt Stimmen, sie kamen ihm sehr bekannt vor, mit raschem Entschluß trat er ein. Es war der Salon, am Lesetisch und am Klavier sogleich zu erkennen, Gertrud, die jetzt blasser, und ihr auch nicht sehr gesund gefärbter Vater standen am großen Tisch. Arthur machte seine schönste Verbeugung.

„Wir sind sehr erstaunt,“ sagte Rutenberg, der nur durch eine unentschiedene Bewegung grüßte, „sehr überrascht, Herr van Wyttenbach. Wir alle –!“

Er warf dabei einen flüchtigen Blick auf Gertrud, die zu lächeln suchte, als fühle sie sich auch überrascht.

„Natürlich,“ erwiderte Arthur, „da Sie alle nicht wußten und nicht wissen konnten, daß auch meine unbedeutende Persönlichkeit sich erlauben würde, einen kleinen ,Ritt in das romantische Land’ zu unternehmen –“

„Und Sie vermuteten wohl auch nicht, uns hier in Sorrent zu finden!“

„Ich? Keine Ahnung! Wie ich plötzlich Ihre Stimme hörte – und Fräulein Gertrud am Fenster sah – in der dämmernden Nacht grad’ noch zu erkennen – da war ich doch wie im Traum! Ich schlenderte so durch die Straßen hin, war eben von Vico hergewandert, denn ich wohne nicht hier, sondern in Vico – .“

„Vico?“ fragte Rutenberg. „Was ist das?“

„Kennen Sie Vico noch nicht? Vico Equense, einer der angenehmsten Aufenthalte am ganzen Golf, wie man mir gesagt hat, ein Felsennest oben über dem Meer, anderthalb Stunden von hier. An der Straße, die von Castellamare nach Sorrent führt –“

„Richtig! Man fährt ja durch! – Also da wohnen Sie?“ Arthur, immer unbefangener, nickte: „Ja, seit heute früh. Es war nämlich längst mein Wunsch –“ er lächelte, mit leichter Selbstverspottung – „wie Mignon, das arme Kind, das immer von dem Land ihrer Sehnsucht träumte, so ungefähr träumte auch ich, seit meiner Knabenzeit … Gestatten Sie mir dieses romantische Gefühl! – Ich hatte übrigens auch eine Tante in Neapel zu besuchen, eine sehr liebe, vortreffliche Frau, und in Neapel wurde mir Vico sehr empfohlen, ich muß sagen, mit Recht. Ein sehr komfortables Hotel, alle Achtung, eine prachtvolle Straße führt ans Meer hinunter. Und ebenso, wie von hier, hat man auch von Vico den Blick auf das große Flammenthor der Unterwelt, auf den ewig erhabenen Vesuv! – Ich hab’ da schon sehr geschwelgt, natürlich … Im Hotel sagte man mir dann, es giebt hier keinen lohnenderen Spaziergang als den nach Sorrent. Ich mache mich also auf und schlendre nach Sorrent!“

„So spät?“ fragte Rutenberg, diplomatisch lächelnd. „Im Dunkeln?“

Arthur lächelte ebenso. „Na ja, die Nacht überraschte mich,… aber was thut mir das. Ich kann ja zu Wasser und zu Lande nach Vico zurück, im Boot oder im Wagen. Ich hatte nun einmal die jugendliche Ungeduld, auch Sorrent zu sehn, die Orangenstadt, wenn auch jetzt nur bei Nacht. Und da führt mich mein guter Stern – ich irrte ganz zwecklos herum – an diesem Hotel vorbei. Ich höre meinen Namen rufen – und hier in der Fremde bin ich auf einmal wie in meiner Heimat!“

Rutenberg blickte verstohlen auf Gertrud, ihre nicht mehr blassen Wangen färbten sich etwas stärker, sie lächelte ein wenig. Sie stand aber so unschuldig da … Sollte das Kind wirklich nichts gewußt haben? dachte er und atmete schon auf. Er lud den jungen Mann ein, sich zu setzen, noch hatte er's nicht gethan. Wyttenbach nahm mit einer leichten, eleganten Verneigung Platz, auch Gertrud sank nun langsam auf einen Stuhl. Sie hatte noch kein Wort gesprochen. Eben wollte sie anfangen, zu reden, als vom Korridor her der Mann in die Thür trat, den Rutenberg schon lange mit den Augen suchte. Schilcher, den Rock noch zugeknöpft, den Hut in der Hand, schob sich so ruhig herein, als wäre nichts vorgefallen. Er machte die Thür langsam wieder zu und blieb bei ihr stehn.

„Wo warst du?“ fragte Rutenberg, der in plötzlicher Unruhe aufstand.

„Hatte was zu besorgen,“ entgegnete Schilcher. Er lächelte dann, da Rutenberg auf Arthur blickte: „Jawohl, jawohl, wir haben uns schon begrüßt. – So kommt man allerwege wieder zusammen, die Welt ist klein, wie schon Dickens sagte. Ja, die kleine Welt!

Er hob einen seiner kurzen Arme ein bißchen, ließ ihn dann wieder sinken. Rutenberg kannte seinen Mann: aus dieser kleinen Bewegung entnahm er, daß der andre etwas auf dem Herzen hatte. „Nun, so mach’ unserm Gast die Honneurs!“ sagte er zu Gertrud, „sprich doch endlich auch ein Wort!“ Als ihre Lippen dann aufgingen und ihre weiche, jetzt unsichere und befangene Stimme zu zwitschern anfing, trat er zu Schilcher und pflanzte sich breit vor ihn hin. Was giebt's? fragte sein stummes Gesicht.

„Bin nur die fünf Schritte bis zur Post gegangen,“ sagte Schilcher leise. „Die war geschlossen. Aber nebenan im Circolo, im Klub, fand ich den Postdirektor, den gemütlichen alten Burschen. Heut’ nachmittag war deine Tochter auf der Post –“

Rutenberg packte Schilcher am Rock. „Ruhig,“ raunte Schilcher. An dem großen Gegenüber vorbei, das ihn verdeckte, streckte er seinen Kopf hervor und lächelte Gertrud an, die etwas übertrieben feierlich mit ihrem Adonis sprach. „Unsre Gertrud,“ sagte er laut, sollte wohl Herrn van Wyttenbach eine Erfrischung anbieten, wie?“

„Ja, ja,“ antwortete das Mädchen rasch. „Sie werden hungrig sein, Herr van Wyttenbach.“ Arthur lächelte: „So ein wenig, ja!“

„Sie war auf der Post,“ flüsterte Schilcher wieder, „und holte einen Brief ab, einen Poste-Restante-Brief. – „Also Korrespondenz hinter meinem Rücken!“ flüsterte der empörte Rutenberg.

„Jawohl, aber ruhig, Alter.“ – Schilcher zeigte den jungen Leuten wieder sein Gesicht: „Na, also etwas essen, wenn man hungrig ist!“

Arthur ergriff diesen Gedanken mit Eifer. „Sie haben recht,“ erwiderte er, „sehr recht! Ich ging nämlich thörichterweise vor dem Diner von Vico fort, – ich wohne nämlich in Vico. Eh ich nach Hause fahre, sollt’ ich unten im Speisesaal noch ein wenig essen.“

„Ja freilich! sagte Rutenberg, der sich mächtig zusammennahm. „Thun Sie das, thun Sie das, Herr van Wyttenbach. Ehe Sie dann abfahren, sehn wir Sie noch, natürlich, hier im Salon!“

Arthur verneigte sich ehrerbietig. „Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Rutenberg. Sein braunes Schnurrbärtchen zuckte heiter. „Von der Luft kann man auch in Italien nicht leben, leider –“

„Sehr richtig!“ rief Rutenberg.

„Also auf Wiedersehn“ –

„Guten Appetit!“ wünschte Schilcher.

Der junge Mann grüßte und ging. Schilcher begleitete ihn bis zur Thür, die er ihm zuvorkommend öffnete, von der Schwelle aus sah er ihm dann nach, sah, wie er die Treppe hinabstieg. Na ja, dachte er sorgenvoll, aber ob er da unten wirklich essen will, das ist noch die Frage. Sah mir so aus, als hätte er was vor! – – Ich kann ja auch noch mal die Treppe hinuntergehn.

Er machte die Thür von außen zu und ging dem Adonis nach.

(Fortsetzung folgt.)

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Blätter und Blüten.

Das Washington-Denkmal in Philadelphia. (Zu dem Bilde S. 713.) An Philadelphia knüpfen sich die glänzendsten Erinnerungen aus der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. In dieser Stadt wurde am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung erlassen und in ihren Mauern tagte im Jahre 1787 der Verfassungskonvent, der die noch heute gültige Verfassung der Vereinigten Staaten entwarf. Kein Wunder, daß man seit lange den Wunsch hegte, in Philadelphia dem großen Volkshelden Georg Washington ein Denkmal zu errichten. Erst in der jüngsten Zeit sollte indessen dieser Wunsch in Erfüllung gehen, und nun erhebt sich am Eingang zum Fairmountpark ein Reiterstandbild des Befreiers der Vereinigten Staaten, das zu den schönsten Denkmälern der Neuen Welt zählt. Es ist nach dem Entwurf eines Deutschen, des Professors Rudolph Siemering, ausgeführt. Die große Plattform aus schwedischem Granit, die auf unserem Bilde nur zum Teil sichtbar ist, bildet seine Unterlage. Sie weist dreizehn Stufen auf, die symbolisch an die dreizehn Urstaaten erinnern sollen. An den Ecken befinden sich vier Springbrunnen, welche die vier großen Ströme der Vereinigten Staaten, den Delaware, Hudson, Potomac und Mississippi versinnbildlichen. Allegorische Indianergestalten und amerikanische Hirsche sind über ihnen angebracht. Auf der Plattform steht ein Piedestal, das von dem Reiterstandbild gekrönt wird. Washington ist in der Uniform der Revolutionsarmee dargestellt. An der Frontseite des Piedestals sitzt die Gestalt der „Amerika“, in der Rechten ein Füllhorn und in der Linken den dreizackigen Speer. Zwei Gestalten knieen zu ihren Füßen, die eine hält eine Urkundenrolle, die andere hebt einen Kranz empor; unter dieser Gruppe sitzt der amerikanische Adler. Rechts und links von der Amerika sind zwei Bronzereliefs in das Piedestal eingefügt, von denen das eine einen Kriegerzug, das andere eine Gruppe von Einwanderern darstellt.

Die Enthüllung des Denkmals fand am 15. Mai im Beisein des Präsidenten Mc. Kinley statt.*      

Der Stapellauf des Panzerkreuzers „Fürst Bismarck“.
Nach einer Photographie von Hans Breuer in Hamburg.

Der Stapellauf des Panzerkreuzers „Fürst Bismarck“. Der 25. September war ein bedeutungsvoller Tag für unsere Kriegsmarine; denn an ihm ist in Kiel der erste deutsche Panzerkreuzer vom Stapel gelaufen. Das Schiff sollte allen modernen Anforderungen genügen und sein Bau nahm darum eine lange Zeit in Anspruch; zwei Jahre waren von der Kiellegung bis zum Stapellauf erforderlich. Die Panzerkreuzer, die Geschwindigkeit, Stärke und Selbständigkeit in sich vereinen, gelten als die besten Kampfschiffe für den überseeischen Dienst. Der neue deutsche Panzerkreuzer ist das längste Schiff unserer Marine. Er ist 120 m lang und 20,4 m breit, hat einen Tiefgang von 7,9 m und ein Deplacement von 10 650 t. Der Panzerschutz besteht in einem Gürtelpanzer aus gehärtetem Stahl, dessen Stärke an den Seiten des Schiffes 200 mm, vorn und achtern 100 mm beträgt. Mit demselben Panzermaterial sind die Geschütztürme, Kasematten usw. geschützt. Das Schiff ist mit 44 Geschützen ausgerüstet und seine Geschwindigkeit soll 19 Seemeilen in der Stunde betragen. Der Kaiser ordnete an, daß der neue Panzerkreuzer den Namen „Fürst Bismarck“ führen solle. Fürst Bismarck selbst konnte an dem Feste des Stapellaufes nicht teilnehmen, wohl aber erschienen zu demselben die Grafen Bismarck und Rantzau sowie die Gräfin Wilhelm Bismarck. Vor dem Stapel war eine reichgeschmückte Tribüne für die Ehrengäste erbaut worden; in der Mitte des überdachten Raumes stand unter Glas ein Modell des Panzerkreuzers „Ersatz Leipzig“, der nunmehr „Fürst Bismarck“ heißt. Hinter dem Schiffe befand sich die Taufkanzel, ein gerüstartiger Bau, zu dessen balkonartiger Spitze 40 Stufen emporführten. Punkt 12 Uhr erschienen die Ehrengäste. Nach kurzem Aufenthalt in dem Ehrenzelt bestieg die Gräfin Bismarck, geleitet vom Admiral Tirpitz, die Taufkanzel. Mit den Worten „Auf Befehl Sr. Majestät des Kaisers taufe ich dich ‚Fürst Bismarck’“ und durch das übliche Zerschellen einer Flasche Schaumwein vollzog die Gräfin den Taufakt. Wenige Minuten darauf wurde das Zeichen zum Ablauf gegeben; die letzten Stützen fielen und unter brausenden Hurrarufen der Anwesenden glitt der Panzerkoloß majestätisch in die Fluten.

Schlagfertig. (Zu dem Bilde S. 721.) Donnerwetter noch einmal! … Die hat ja auch ein Mundwerk, nicht nur schöne Augen und rote Backen! Was hat sie sich unterstanden, ihm zu antworten? Ihm, dem fleißigen, gelehrten, jungen Doktor, der nur sehr ungern mit den andern die Pfingstreise ins Hochgebirg machte, aber droben im Blauen, in freier Luft und Alpenherrlichkeit ganz fabelhaft auflebte, so daß er über Stock und Stein springend jodelte, Alpenrosen pflückte und voll Enthusiasmus in der Sennhütte auf Heu schlief! Mit der Sennerin hat dieser Stadtherr gescherzt und ihre lachenden Kehllaute als vergnügte Antwort gedeutet. Und nun auf dem Rückweg im Thal, wo er sich nochmals herablassend spaßhaft an dieses blumenpflückende Naturkind wendet, nun erlebt er eine „Abfuhr“ so gesalzener Art, daß ihm buchstäblich der Verstand für einige Augenblicke stillsteht. Die Kameraden wollen sich vor Lachen ausschütten über seine ratlose Verblüfftheit, die Siegerin geht mit triumphierendem Hohn davon, und seitwärts auf dem Bock des Bierfahrzeugs dreht sich auch noch einer schmunzelnd um, den der Vorfall zwar nicht betrifft, aber mit großem Vergnügen erfüllt. Ja, ja, so kann’s den klügsten Leuten im Hochgebirg gehen, es ist dort fast vorzuziehen, nur ein ganz harmloser und natürlicher Mensch zu sein! Br.     

Angenehme Nachrichten. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wer an stillen Nachmittagen in das kleine Kanalgewirr von Venedig eindringt und seine Gondel zwischen den halbverfallenen Mauern durchlenkt, der sieht an jeder Hausthür Scenen ähnlicher Art wie die hier dargestellte. Licht und Luft ist nur draußen auf dem schmalen Plattenstreifen längs des Wassers zu finden, drinnen im Hause ist’s dunkel und kühl: Grund genug, alle mögliche Arbeit und Erholung aus ersteren heraus zu verlegen! Gefährlich ernst ist es freilich mit der Arbeit niemand: die schwarze Luisa aber bedarf reichlich das Fünffache an Aussprache als etwa eine deutsche Kollegin während ihres Nähgeschäftes und kommt deshalb ziemlich langsam vorwärts. Jetzt freilich verzichtet sie überhaupt aufs Weitersticheln, denn was ihr da die blonde Nachbarin Carlotta vorliest aus dem Brief ihres Bersagliere, der jetzt in Cremona steht und nächstens auf Urlaub kommen darf, das ist zu interessant, das muß mit Sammlung angehört werden! Vielleicht auch noch mit etwas anderer Empfindung – wenigstens möchte man, wenn man sie so ansieht, darauf wetten, daß es nicht lange Zeit mehr dauern wird, bis Luisa auch einen Brief in der Tasche hat und der Freundin die Vorlesung vergilt! Das sprechen die sehnsuchtsvollen Schwarzaugen so deutlich aus, daß man kein Prophet zu sein braucht, um es vorherzusagen! Bn.     


manicula      Hierzu Kunstbeilage XXIII: „Angenehme Nachrichten.“ Von E. von Blaas.

[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht transkribiert.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Wir entnehmen den stimmungsvollen Artikel dem neuesten Werke unseres hochgeschätzten Mitarbeiters, das unter dem Titel „Das deutsche Jägerbuch" demnächst im Verlage der „Union Deutsche Verlagsgesellschaft" in Stuttgart erscheinen wird. Geschmückt mit 158 Illustrationen nach Originalzeichnungen von C. W. Allers und 12 Monatsbildern in farbigem Kunstdruck nach Originalen von H. Engl, wird dieses Prachtwerk bei allen Freunden der Jagd und des deutschen Waldes mit seinem reichen Tierleben sicher die freudigste Aufnahme finden.
    D. Red.
  2. Der von Hochlandsjägern als Hutschmuck getragene „Gamsbart“ besteht aus den langen Haaren, welche der Gemsbock im Winterkleid an dem Rücken trügt, sie sind glänzend schwarz und zeigen eine weiße Spitze, den „Reis“, bei alten Böcken und im strengen Winter ragen diese Barthaare so hoch über den Pelz hinaus, daß ihre Büschel im Winde hin und her wehen – sie „wacheln“, wie es im Dialekte heißt. Unter einem „Wachler“ versteht man also einen Gemsbart, der zu Ende der Brunft und bei Erlegung eines besonders starken Bockes gewonnen wurde.