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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1897
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[409]

Nr. 25.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(5. Fortsetzung.)


7.

Doktor Ambrosius war für den Nachmittag zu dem Hochschulmagister Franz Engelbert Leuthold gebeten, der im Kreis etlicher Freunde seinen Geburtstag feierte. Die Stunde, die Leutholds Wirtschafterin Gertrud in ihrer Einladung festgesetzt hatte, rückte schon hart heran, als Doktor Ambrosius noch mit der Nichte des Beisitzers verhandelte. Im Hinblick auf diese Einladung hatte er die notwendigsten Gänge vor Tisch erledigt und sich für die übrige Tageszeit frei gemacht. Nun drängte es ihn, so rasch wie möglich hinaus in die Grossachstraße, wo er von Hildegards Nähe ein paar glückselige Stunden erhoffte. Ohnedies war er jetzt in der rosigsten Laune. Was ihm noch unklar vorschwebte, als er dem Laufmädchen den gewünschten Besuch im Geierhaus zusagte, das hatte sich über jedes Verhoffen günstig gestaltet. Das drohende Unheil Brigitta Wedekinds schien doch einstweilen mehr in die Ferne gerückt. Er durfte zufrieden sein.

Da fiel ihm bei, welch’ ein erheblicher Trost es für den Zunftobermeister und die trauernde Elma sein würde, wenn sie sogleich etwas von dieser unerwarteten Wendung erführen. Er konnte ja die Mitteilung in die zweckdienliche Form kleiden, damit sie nicht etwa den Eindruck empfingen, als habe er, Doktor Ambrosius, die Entschließung des Malefikantenrichters künstlich hervorgerufen. Obgleich er also in seiner Wohnung nichts mehr zu suchen hatte und recht sehr darauf brannte, die Verspätung im Geierhäuschen durch verdoppelte Eile wett zu

Der König und die Königin von Siam.

[410] machen, scheute er doch nicht den Umweg über den Markt, um den beiden zu melden, daß vorläufig der Verhafteten nichts Uebles geschehen werde.

Er trat in den Hausflur und klopfte dreimal wider die Thür der Wohnstube. Da kam die Tochter des Zunftobermeisters von der Küche her auf ihn zu. Sie war jetzt eben mit Aufwaschen fertig geworden und band sich ein kurzes, rotlinnenes Hausschürzchen vor.

„Elma,“ sagte der junge Arzt, „ich möchte dir und dem Vater etwas berichten, was euch wohl freuen wird.“

„Freuen?“ wiederholte sie wehmütig. „Was könnte das sein?“

„Nicht viel, aber doch mehr als zu hoffen stand. Ihr werdet ja hören. Geh’ in die Werkstatt und ruf’ mir den Hausherrn!“

„Der Vater ist ausgegangen. Der liefert jetzt alles persönlich ab, weil er die Kunden warm halten will.“

„Wieso?“

„Nun, die springen ja leider Gottes schon da und dort ab, wegen des Unglücks, das uns betroffen hat. Und wenn der Vater nicht unausgesetzt schafft von morgens bis abends, dann packt’s ihn wie heller Wahnsinn. Aber Ihr könnt mir’s allein sagen. Ich will’s ihm schon ausrichten. Kommt hier ins Gärtchen! Da ist’s schattig und kühl – Und jetzt blühn auch die Moosrosen, die Ihr so gern habt!

Sie machte die schmale Flurtür auf und ging langsam voran. Es lag ein beklemmender Hauch von Trübseligkeit und Schlaffheit über der einst so lebhaften und beweglichen Fünfzehnjährigen. Die Augen blickten halb müde, halb angstvoll. Die Stimme klang eigentümlich gedämpft. Und doch hatte sich in ihr bei den Worten des Arztes etwas wie Hoffnung geregt. Ihr Herz sträubte sich nur, diese Anwandlung aufkommen zu lassen, da ihr vor der Wahrscheinlichkeit der Enttäuschung grauste.

Sie setzten sich in die rankenumwucherte Geißblattlaube. „Doktor Ambrosius!“ schluchzte sie leise. Dann, zu ihm aufschauend. „O, ich verstehe Euch wohl! Euch allein ist dieser Aufschub zu danken. Ihr vermögt, was Ihr wollt. Ihr lenkt Gesunde wie Kranke mit einem einzigen Blick!“

„Aber ich sage dir …“

Elma Wedekind ließ sich nicht irre machen.

„Ich danke Euch,“ sagte sie inbrünstig, „daß Ihr Euch meiner geliebten Mutter so gutherzig annehmt. Streitet’s nicht ab! Und fürchtet nicht, daß Ihr etwa durch mich ins Gerede kommt! Ich spreche kein Wort. Nicht einmal zu dem Vater. Dem sag’ ich nur, daß die Mutter einstweilen verschont bleibt. O, man wird vorsichtig, wenn man zu leiden hat! Und Ihr glaubt, daß mit der Vertagung etwas gewonnen ist?

„Unzweifelhaft. Wir haben ja Zeit, über die Mittel und Wege nachzudenken … Beweismittel zu schaffen … Verbindungen anzuknüpfen … Was kann sich nicht alles in fünf, sechs Wochen ereignen! Der Aufenthalt in den Kerkern des Stockhauses ist freilich an sich schon furchtbar … Aber vielleicht …“

Er unterbrach sich und fügte bewegt hinzu:

„Deine Mutter ist ja ein starkes Gemüt und voll ernsthaften Gottvertrauens. Ein frommgläubiger Christ überwindet alles.“

Dann, als wollte er ihre Gedanken von dieser Trübsal weglenken, rühmte er ihre Blumen, den buschigen Flieder, der noch nicht völlig abgeblüht war, die schönen Levkojen und vor allem die herrlichen Rosen, die auf den beiden Rabatten des Mittelwegs hier und da schon die prächtigsten Farben zeigten.

„Das alles ist mir jetzt öde geworden und gleichgültig,“ murmelte Elma. „Kaum, daß ich sie noch begieße – aus alter Gewohnheit. Am besten wär’s, die stünden auf meinem Grab.“

„Du armes Ding!“ sagte Ambrosius erschüttert. Er strich ihr freundlich über das dunkle Haar. „Du bist selbst so ein junges, knospendes Röslein und sprichst hier vom Sterben! Ja, es begreift sich! Wem’s in der Seele so weh ist … Aber der Mensch soll dem Geschick Trotz bieten. Kopf hoch, kleine Elma! Noch ist nicht alles verloren! Und was auch geschehen mag, vergiß nicht, daß du in mir einen Freund hast, auf den du vertrauen kannst!“

„Wirklich?“ fragte sie zögernd. „Manchmal glaub’ ich’s, manchmal auch nicht … Das heißt … Ach, vergebt! Ich rede da Thorheit! Hört nicht darauf! Ich weiß ja, Ihr meint es von Herzen gut … Das habt Ihr auch jetzt wieder gezeigt.“

Doktor Ambrosius war aufgestanden. Die letzten Worte hatte er kaum gehört. „Leb’ wohl, Kind!“ sagte er freundlich… „Ich muß jetzt fort.“

„Habt Ihr so große Eile?“

„Die allergrößte. Eigentlich war ich schon auf dem Wege zu guten Freunden, die mich seit drei Uhr erwarten. Aber ich wollte doch nicht verabsäumen, dir vorher noch die Nachricht zu bringen.

„Wo geht Ihr hin?“ fuhr Elma heraus. „Nach der Grossachstraße?“

„Wie kommst du darauf?“

„Nun, ich meinte nur …“

„Ja, nach der Grossachstraße. Du scheinst ja recht bewandert in meinen gesellschaftlichen Beziehungen.“

Elma errötete. „Wenn man so herzlich Anteil nimmt …“, stotterte sie und blickte zu Boden. „Der Gärtner, der mir den Brief gab, sagte doch auch, er käme von der Wirtschafterin des Magisters Leuthold …“

„So ist’s. Der Mann hat heute Geburtstag. Und was ich noch sagen wollte, vergiß nicht, was du versprochen hast! Sei in Worten und Werken scheu gegen jedermann! Du wirst jetzt beobachtet.“

„Unbesorgt! Ich will schon auf meiner Hut sein. Noch was: ich dank’ Euch von Herzen! Und seid recht froh und vergnügt heute! Es ist gerade genug, wenn mein Vater und ich uns abhärmen. Euch darf das nicht weiter die Laune stören. Die schöne Tochter des Herrn Magisters würde ja wohl auch wenig erbaut sein, wenn Ihr etwas von unsrer Qual mit in ihr sonniges Heim brächtet.

Doktor Ambrosius drückte ihr seufzend die Hand. „Ich will’s versuchen, das Schwere und Traurige für ein paar Stunden hintan zu halten! Das Leben ist hart, man muß mit den Augenblicken der Lust geizen. Zumal wir Aerzte, die wir tagtäglich, auch ohne besondre Ereignisse, Jammer und Not sehen.“

Elma nickte. Schweigend gab sie ihm das Geleit bis zum Ausgang. Als die Thür hinter dem rasch Enteilenden sich geschlossen hatte, blieb sie ein Weilchen stehen und musterte traumverloren den kleinen Pfirsichbaum, der dicht neben der Schwelle aus einem halbrunden, steinumfriedigten Beet emporwuchs und mit Eisendraht und Nägeln an der Hausmauer befestigt war. Das Bäumchen war ihr besonderer Schützling. Es hatte zum Lohn für die eifrige Pflege, die sie ihm widmete, ganz wunderherrlich geblüht und zahlreiche Früchte angesetzt. Nun war ihr der Liebling von einst so gleichgültig geworden. Sie hatte ihn gestern nicht einmal, wie sonst, mit Brunnenwasser getränkt. Die Erde da hinter den spitzen Randsteinen war staubgrau und wollen. Elma staunte nicht sehr. Heut’ gegen Abend wollte sie’s nachholen – wenn sie’s im Bann ihres Kummers nicht auch heute vergaß.

Schwer atmend machte sie kehrt, schlich ein paarmal den Mittelweg auf und ab, schob gedankenlos hier und da einen Rosenschößling zurecht und setzte sich wieder auf die jetzt eben verlassene Bank in der Geißblattlaube.

Es war ihr todtraurig ums Herz, trotz der verheißenden Botschaft des Doktor Ambrosius. Daß er, schon auf dem Weg nach der Grossachstraße, hier noch einmal bei ihr vorsprach, um einen Tropfen Balsam in ihre brennenden Wunden zu träufeln, rührte sie tief. Seit er jedoch von ihr Abschied genommen, sank ihr völlig der Mut. Es war, als sei ihre kaum erwachte Hoffnung mit ihm davongewichen. Was half es auch, wenn ihre Mutter jetzt einige Wochen im Kerker schmachtete, ohne verhört zu werden? Sobald Doktor Xylander von seinem Aufenthalte in Lynndorf oder in Königslautern zurückkehrte, mußte die Sache ja doch mit verdreifachter Schnelligkeit ihren Lauf nehmen! Und was auf Gottes weiter Welt sollte sich wohl inzwischen ereignen? Ja, wenn der Himmel einstürzte und die Erde begrub, dann war alles zu Ende! Oder wenn Gott der Allmächtige ihre Mutter hinaufberief in sein ewiges Paradies, eh’ noch ein Folterknecht sie berühren konnte!

Elma stützte das Kinn mit der Handfläche und starrte [411] hinaus auf die hochragende Mauer, die das Gärtchen nach der Prohnsgasse hin abschloß. Hier hatte ursprünglich ein ziegelgedeckter Schuppen für Nutzholz gestanden. Der Zunftobermeister hatte den unschönen Bau abgebrochen und nur die Rückwand stehen lassen, die sich dann zwischen den rechts und links anstoßenden Fachwerkhäusern ein wenig kahl ausnahm. So ward sie denn von Mannshöhe ab mit einer grellfarbigen Landschaft bemalt, unten am Fuß aber mit allerlei Buschwerk bepflanzt, das einen hübschen, die Täuschung verstärkenden Vordergrund abgab. Es war kein großes Talent, das sich in Saftgrün und Waschblau hier so verschwenderisch ausgelebt. Dennoch hatte sich Elma Wedekind oft genug vor dem Bild in Ekstase geträumt. Ein wahres Eden für die ungeschulte Lebhaftigkeit einer schwärmenden Phantasie. Zur Linken schön bewaldete Hügel. Rechts eine turmreiche Hafenstadt. Dahinter das Meer. Fern am äußersten Himmelsrand zog ein dustgrauer Dreimaster seine Bahn durch das hellschimmernde Wasser – mit Segeln, die sich aufbauschten wie die Wangen eines Posaunenengels. Dieser mächtige Dreimaster war für Elma von je der Gegenstand ganz besonderen Interesses gewesen. Sie hatte noch nie ein wirkliches Schiff gesehen, auf der Grossach, die noch unterhalb Glaustädts von Mühlwehren durchkreuzt war, ruderten nur ganz wenige Lustboote. Jetzt, wie ihr halbverschleierter Blick von der Bank in der Laube aus den Segler da an der bemalten Wand streifte, überkam sie der stürmische Drang einer fast qualvollen Sehnsucht ins Weite. Glaustädt erschien ihr mit einem Male wie der Inbegriff alles Dumpfen und Schrecklichen. Hätte sie doch ihre Lieben am fernsten Strand einschiffen und mit ihnen gemeinsam über die See nach einem unbekannten glücklichen Land steuern dürfen, wo man vom Elend dieser Verfolgung nichts wußte, wo’s keinen Balthasar Noß gab und keinen blindwütigen Adam Xylander!

Freilich, auch drüben in Dernburg, unter dem Scepter des Fürsten Maximilian, gab es ja längst keine Malefikantengerichte mehr. Etliche Glaustädter waren schon ins Fürstentum ausgewandert. Elma jedoch hätte sich, wie sie jetzt meinte, so in der Nähe der Glaustädter Grenze nicht sicher gefühlt. Eine maßlose Angst überkam sie. Die wenigen Tage seit der Verhaftung der Mutter hatten ihr kindliches Gemüt vollständig ausgereift. Ehedem war ihr die mitleidslose Verfolgung des Hexenwesens notwendig und verdienstlich erschienen. Jetzt fühlte sie, daß all’ dies schreckhafte Treiben nur die Frucht eines entsetzlichen Irrtums war. Mit dieser Erkenntnis schwand ihr die letzte Sicherheit. Nun war alles denkbar und alles möglich! Hätte ihr der Allmächtige doch früher die Augen geöffnet! Elma entsann sich, daß vor drittehalb Jahren vielleicht, oder auch länger, in Glaustädt ein wohlhabender Fremdling aufgetaucht war… Der reiste im Namen des Königs von England und machte den Glaustädter Bürgern große Versprechungen, falls sie die Heimat aufgäben und über das Weltmeer führen. Ackerland sollten die Leute bekommen, so viel sie begehrten, und die eine Kunst verstünden oder ein Handwerk, die würden da drüben Tausende ernten, wo sie in Glaustädt nur Hunderte einheimsten. Aber der Vater war bei dem Grundsatz verharrt: Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Auch wurde der Fremdling trotz seiner Ansehnlichkeit sehr bald vom Glaustädter Rat aus der Stadt verwiesen. – Hätte man damals geahnt, wie es noch kommen würde! Ach, welch ein himmlisches Glück, wenn sich der Kerker jetzt aufthäte und sie dann alle hinauszögen in die Sorglosigkeit und Freiheit, der Vater, die herzliebe Mutter, sie selbst und etliche nahe Freunde, auf daß man nicht gar so einsam wäre da drüben, jenseit des großen Wassers!

Vielleicht auch Doktor Ambrosius …?

Aber nein! Was fragte der wohl nach ihr und den einfachen Schreinersleuten! Der betrat jetzt mit stillem Behagen das vornehme, stattliche Haus in der Grossachstraße und saß dann plaudernd und scherzend bei der entzückenden Hildegard. Ja, entzückend! Das war sie trotz allem und allem! Es frommte ja nichts, wenn man’s in kleinlichen Neid vor sich selbst abstritt. Man brauchte sie nur daherwandeln zu sehen in ihrer anmutig edlen Art, mit dem schlanken, biegsamen Wuchs und dem süßen lichtstrahlenden Antlitz, um zu begreifen, daß Doktor Ambrosius ihr voll Zärtlichkeit anhängen mußte. Es war so natürlich.

Und sie paßten so gut zu einander, er, der kluge, herrliche, kraftvolle Mann – und sie, die schönste minnigste Jungfrau der ganzen Stadt, die treueste Tochter, die allgeliebte Wohlthäterin der Armen und Kranken. Elma Wedekind gönnte ihr diesen Liebsten. Und auch ihm gönnte sie das holdselige Mädchen, das einzige hier im Glaustädter Weichbild, das gut genug für ihn war. Nur hätte auch sie, Elma, neben Hildegard Leuthold ein stilles, bescheidenes Plätzchen in seinem Herzen einnehmen mögen, die Stelle vielleicht einer treusorgenden Schwester, einer ehrfürchtig dankbaren Freundin, irgend was sonst, was da nicht zugab, daß er sich ganz und gar von ihr lostrennte. Ach, weshalb nur war sie so unbedeutend, so einfältig! Hätte sie wenigstens als seine Magd immerdar um ihn sein dürfen! Es war schon beglückend, seiner volltönigen Stimme zu lauschen!

Plötzlich schrak sie empor. Der Altgeselle Rudloff, der jetzt eben gevespert hatte und nun, das Vorrecht seines Altgesellentums ausnutzend, für eine kurze Erholungsfrist heraus in den Garten kam, stand an der Geißblattlaube und rief die Haustochter treuherzig beim Namen. „Fehlt Euch etwas, Jungfräulein?“ fügte er teilnehmend hinzu.

„Nein, Rudloff. Nichts, was Ihr nicht wüßtet.“

„Ihr seht so krank aus! Oder macht das die Laube mit ihrem Wiederschein?“

„Ist der Vater zurück?“ fragte sie ausweichend.

„Noch nicht. Aber bei Gott, Ihr macht mich besorgt! Ihr zittert ja!“

„Das macht, weil Ihr so jählings hereinkamt.“

„O verzeiht! Ich dachte nichts Böses. Aber die Schreckhaftigkeit ist auch eine Krankheit. Wahrlich, vielehrsames Jungfräulein, Ihr solltet mehr für Euch thun! Ihr habt Euch all’ die Tage her wahnwitzig aufgeregt. Das kann der kräftigste Mensch nicht ertragen. Und Ihr seid nicht die Stärkste. Man muß auch einmal der Trauer den Weg verlegen. Weiß Gott, ich könnte gleich losheulen, wenn ich so zusehe, wie Ihr vor Gram Euch verzehrt! Und es hilft doch nichts!“

„Freilich – es hilft nichts.“

„Glaubt mir, wenn es in meiner Macht läge …! Ich ließe mir ja mit Freuden die rechte Hand abhacken. Und wolltet Ihr nur auf ein gutmeinendes Wort hören! Aber Ihr seid so starr und so finster, und ich merk’ es ja wohl, ich gelte Euch nichts!“

Ein feuchter Glanz trat ihm in die ehrlichen Augen. Elma Wedekind fühlte zum erstenmal, wie es um Rudloff bestellt war. Daß er sie gern mochte – ja, das wußte sie längst. Nun aber sah sie, daß es sich hier um mehr handelte. Und sie stand ja nun auch im sechzehnten Lebensjahr. Da schien’s ja am Ende nicht unerhört …

Wäre das früher gekommen, ehe der junge Arzt in die Wohnung zog, sie hätte vielleicht die versteckte Werbung als ein schätzbares Glück betrachtet. Gerade bei dem unendlichen Leid, das die Familie heimsuchte, mußte die Neigung, die sich hier offenbarte, an Wert gewinnen. Und Rudloff war ein so guter, vortrefflicher Mensch und ein so tüchtiger Arbeiter. Auch Erscheinung und Wesen hatten etwas nicht ganz Alltägliches. Wie er so dastand in dem blaugeränderten Werkstattshemd und dem zackigen braungelben Schurzfell, das lockige Haar ein wenig über die wohlgebildete Stirn hängend, da konnte er’s mit jedem Glaustädter Zunftgenossen getrost aufnehmen. Aber im Herzen Elmas ward für den liebeheischenden Ton, den Rudloff angeschlagen, leider kein Echo wach. Seit sie mit Doktor Ambrosius unter dem nämlichen Dach hauste, war diese Möglichkeit ausgeschlossen.

Wenn ihr gleichwohl die Sache nicht unlieb war und ihr sogar ein stilles Gefühl der Dankbarkeit gegen Rudloff einflößte, so hatte dies einen Grund, der den ehrlichen Altgesellen, falls er darum gewußt hätte, tief hätte schmerzen müssen, tiefer selbst als eine schroffe Zurückweisung. Es gewährte ihr nämlich eine wahre Genugthuung, daß ein so ansehnlicher und hochachtbarer Mensch wie Rudloff, der doch die Wahl hatte unter den Hübschesten, sie, die unbedeutende Elma Wedekind, begehrenswert fand. Das stärkte ihr durstiges Selbstgefühl. Unbewußt sagte sie sich, nun sei es am Ende ja doch möglich, daß Doktor Ambrosius … Sie wagte es nicht, diesen tollkühnen Gedanken vor sich selber in Worte zu kleiden.

Und wärmer als je zuvor drückte sie dem treuherzige Rudloff

[412]

Nach dem Sturm.
Nach einem Gemälde von H. Laasner.

[413] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [414] die Hand, beteuerte ihm die Aufrichtigkeit ihrer Freundschaft und eilte dann zurück in das Haus, zum erstenmal seit der Verhaftung der Mutter nicht völlig unter dem Bann ihrer Trostlosigkeit. Rudloff pflückte sich unweit der Geißblattlaube eine tiefbraune Levkoje. Er steckte die köstlich duftende Blume oben ins Schurzfell. Das sollte ihm jetzt während der Arbeit eine liebe Erinnerung sein an die freundlichen Worte des Mädchens und an den vielverheißenden wonnigen Händedruck. Sie war ja noch gar so knospenjung! Und dazu jetzt das quälende Leid! Er schalt sich fast, der gute, zartfühlende Mensch, daß er zu unrechter Stunde so deutlich gewesen. Man durfte hier nichts übereilen!

8.

Es war beinahe vier Uhr, als Doktor Ambrosius das schmiedeeiserne Thor am Leutholdschen Grundstück öffnete. Die Einladung hatte auf einen fröhlichen Trunk im Rebengange am Ufer der Grossach gelautet. Doktor Ambrosius schritt daher geradeswegs in den Garten.

Unter den saftgrünen Weinranken saß hier eine bunte Gesellschaft, die nächsten Freunde des Jubilars. Die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner hatte aus vier aneinandergeschobenen kreuzfüßigen Gartentischen eine Festtafel hergestellt, die mit rotkantigen Leintüchern überdeckt und reichlich mit Blumen geziert war.

Obenan saß der Magister. Sein hochlehniger Stuhl prangte im Schmuck waldfrischen Eichenlaubs und purpurner Feldblüten. Rechts neben ihm lachte und schwatzte Frau Ada Melchers, die vierzigjährige Gattin des ersten Stadtpfarrers. Dann folgte der Pastor selbst, ein ruhiger, vornehm dreinschauender Herr, auf dessen mild freundlichen Zügen etwas wie heimliche Trauer lag.

Zur Linken des Jubilars thronte im vollen Staat seiner Amtstracht Herr Georg Kunhardt, der Bürgermeister – gleich dem Pastor ein Jugendfreund des Magisters, ein paar Jahre älter als beide, rundlich, behäbig und breitstrahlend vor Lebensfreude und sorglosem Daseinsgenuß. Der Bürgermeister Georg Kunhardt war nicht nur – wie dies der Maler und Reißer Noll auf dem Weg nach der Marienkirche betont hatte – einer der wenigen Kunstfreunde, deren sich Glaustädt rühmen durfte, sondern vor allem auch die bewährteste Weinzunge auf zehn Meilen im Umkreis. Hätte der wohlwollende, gutartige Mann halb so viel Kraft und Entschlossenheit im Bekämpfen widriger Zeitströmungen und schwerlastender Mißstände gezeigt als im Vertilgen des Rüdesheimers und Aßmannshäusers, er wäre das Musterbild eines vortrefflichen Stadtoberhauptes gewesen.

Georg Kunhardt war jetzt eifrig am Werk, seiner Tischnachbarin zur Linken die Vorzüge des Weingenusses vor dem überhandnehmenden Biergenuß zu erörtern, der den Leib träger und schwerfälliger mache. Diese Nachbarin war die sanfte, stille Mechthildis Lotefend, die Ehewirtin des reichen Tuchkramers. Denn auch die Lotefends hatte die kluge Hildegard nach einigem Zögern für heute nachmittag herbitten lassen da sich ihr Vater über das Wegbleiben dieser Nachbarn und Hausfreunde doch wohl gewundert hätte. Uebrigens war ja Herr Lotefend bis zur Stunde seinem Versprechen treu geblieben. Er hatte mit keiner Silbe versucht, da wieder anzuknüpfen, wo er im Lynndorfer Gehölz aufgehört.

An den Herrn Stadtpfarrer Melchers und die schweigsame Frau Mechthildis reihten sich dann hüben und drüben noch je fünf oder sechs Personen. Darunter der Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, die beiden rotblonden Töchter des Bürgermeisters – Elsbeth und Dorothea – und die schwarzlockige Tochter des Pastors, Margret Melchers, ein zierliches, reizendes Mädchen, das von dem Vater die Feinheit der Züge, von der Frau Pastorin das frische, lebendige Temperament und den niemals versiegenden guten Humor geerbt hatte.

Ziemlich weit von dem Magister weg, inmitten der Jugend, saß der Gatte der Frau Mechthildis, Henrich Lotefend, der Sechsundvierzigjährige mit dem lodernden Herzen. Er trug wieder ein kostbares flandrisches Kleid, mit farbigen Bändern geschmückt, und machte den Eindruck, als ob er sich hier unter den frisch blühenden Mädchen völlig am Platz fühle.

Ihm gegenüber, neben dem Ratsbaumeister, hatte der Gegenstand seiner heimlichen Sehnsucht, Hildegard Leuthold, sich niedergelassen. Daß Henrich Lotefend ihr so unmittelbar in die Nähe kam, war das Ergebnis einer gut bemäntelten Absicht. Bei der Verteilung der Sitze, die aus dem Stegreif erfolgte, hatte der Tuchkramer sich bescheidentlich abseits gehalten, bis die Stühle da droben alle besetzt waren. Er wandte sich dann rasch zu der rotblonden Elsbeth Kunhardt und trug ihr mit einem artigen Scherzwort seine Nachbarschaft an. –

Die Gesellschaft befand sich in fröhlichster Laune. Man trank aus großen venezianischen Kelchgläsern einen blumigen Ahrwein. In mächtigen Zinnschüsseln dufteten goldbrauner Bologna-Reiskuchen und Glaustädter Salzbrot. Die Herren, mit der einzigen Ausnahme des Tuchkramers, rauchten aus langen Thonpfeifen sächsischen Tabak, den ein alter Hochschulkamerad zu Wittenberg dem „leider Gottes von hinnen gezogenen Mitforscher zum Geburtstag collegialiter dediziert“ hatte.

„Seht da!“ rief der Magister plötzlich. „Dort kommt unser Doktor Ambrosius!“

„Endlich!“ sagte der weinfrohe Bürgermeister. Es klang, als sei es ihm rätselhaft, daß ein ehrlicher deutscher Mann bei solcher Gelegenheit nicht mit dem Glockenschlag antrete.

Die Blicke Aller wandten sich nun der Stelle zu, wo Doktor Ambrosius eben zwischen zwei hochragenden Fliederbäumen hinter dem Steinbecken auftauchte. Nur Hildegard Leuthold sah wie unbeteiligt auf ihren Teller. Sie war von den Tischgenossen, die das Haus und den Garten im Rücken hatten, die einzige, die sich nicht umkehrte. Sie spielte ein wenig am Tafeltuch und führte dann mit einer sonderbaren Geziertheit, die man sonst nie an ihr wahrgenommen, ihr volles Glas an die Lippen.

Henrich Lotefend spürte in seiner linken Brust einen krampfartigen Schmerz. Das verwirrte Gebahren Hildegards, so unscheinbar die Symptome auch sein mochten, gab ihm volle Gewißheit über die Sachlage, die er einstweilen doch nur vermutet hatte. Wenn er bis jetzt Wort gehalten, ja die Gesellschaft Hildegards beinahe gemieden hatte, so war dies keineswegs gleichbedeutend mit einer Abtötung seiner Leidenschaft. Im Gegenteil, gerade die stumme Entfernung, die er sich aufzwang, steigerte diese Leidenschaft bis zum Wahnwitz. Seit dem Begebnis im Lynndorfer Gehölz war er nicht mehr wie einst, wenn er sie zwischen den Beeten gewahrte, hinab in den Garten geeilt, er hatte nicht mehr versucht, über die Weißdornhecke hinweg ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Wohl aber stand er häufig genug hinter den Weinranken seines Altans, dicht an der Hausmauer, wo er sie sehen konnte, ohne daß sie selbst ihn bemerkt hätte. Während die arglose Frau Mechthildis wähnte, er suche hier draußen Erholung von seinen alchimistischen Experimenten oder beschäftige sich in Gedanken mit neuen weitschichtigen Problemen, hatte er stundenlang auf Hildegard Leuthold hinuntergestiert und jede Linie ihres jungblühenden Leibes, jede Bewegung mit heißhungrigen Blicken nachgezeichnet, bis ihm das Herz hoch hinauf in die Kehle schlug. Mehr und mehr war er so zu der Erkenntnis gelangt, daß er ohne Hildegard Leuthold nicht mehr imstande sei, dies elende Dasein weiter zu schleppen. Dann fragte er sich, was ihm denn hier so unüberwindlich den Weg verlege. Die Antwort lautete mit immer größerer Bestimmtheit, offenbar sei ihm ein glücklicher Nebenbuhler in der Eroberung dieses jungfräulichen Herzens zuvorgekommen. Henrich Lotefend hatte die jungen Männer, die im Haus des Magisters verkehrten – es waren deren nicht allzuviel – rasch gemustert und dann etliche Tage zwischen dem blonden Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck und dem kecken, schwarzäugigen Doktor Ambrosius geschwankt, bis ihm auf Grund einiger unbedeutenden Züge, die er sich nach und nach aus der Erinnerung hervorholte, Doktor Ambrosius wahrscheinlicher vorkam als Woldemar Eimbeck. Immerhin trug er sich noch halbwegs mit der Hoffnung, dies alles könne doch schließlich auf Täuschung beruhen. Es kamen ihm Augenblicke, wo er sich mit der uralten Liebesregel zu trösten suchte: schroffe Ablehnungen bedeuten mitunter ihr Gegenteil. Er hielt sich dann Fälle aus seiner eignen Vergangenheit vor – freilich minder schwerwiegender Art – wo er über schnöde Zurückweisungen durch mannhafte Ausdauer glorreich gesiegt hatte. Jetzt mit einem Male hier an der Festtafel sank ihm der Mut vollständig. Die ganze Haltung des jungen Mädchens, ihr verlegenes Nippen, ihr sichtbarliches Bestreben, gleichgültig zu erscheinen, hatte ihm jeden Zweifel geraubt. Es war keine Täuschung – der Auserwählte hieß Doktor Ambrosius!

[415] Und wie er nun den jugendlich schönen Mann mit den tiefdunklen, geistsprühenden Augen und dem gewinnenden Lächeln in den Laubgang hereintreten und, das Barett in der Hand, auf den freudestrahlenden Jubilar zuschreiten sah, da überkam ihn die niederschmetternde Ueberzeugung, daß ein Kampf mit diesem Rivalen für ihn, den Sechsundvierzigjährigen, trotz aller Vorzüge, deren er sich bewußt war, ein vollständig aussichtsloses Beginnen sei. Haß, Neid und ohnmächtiger Zorn schnürten ihm fast die Gurgel zu. Aber sein Ingrimm wandte sich ungleich stürmischer gegen Hildegard als gegen den jungen Arzt. Doktor Ambrosius hatte vielleicht zu dieser Eroberung kaum einen Finger gerührt. Und wenn selbst, so war das sein gutes Recht. Hildegard aber, die schöne, gleißende Schlange, spielte hier doppeltes Spiel. Nach Doktor Ambrosius warf sie in ernsthafter Absicht die Netze aus, ohne es doch zu verschmähen auch ihn, Lotefend, heimlich schmachten zu lassen. Sie hatte sicher schon längst wahrgenommen, wie er in maßloser Glut sich verzehrte – und doch ihre lockende Freundlichkeit, ihre bethörende Huld nicht abgemindert. Es gewährte ihr eine teuflische Lust, sein zermartertes Herz grausam unter die Füße zu treten. Und daß nun gerade ihm diese klägliche Rolle zufiel, das empfand er wie eine Unthat Hildegards, wie eine strafwürdige Kränkung. Oder war das vielleicht schon der Fluch des beginnenden Greisentumes, das da dem Menschen zuruft: Schweig und dulde?

Mit übermenschlicher Kraft drängte Herr Lotefend alles zurück, was ihm bei diesen Qualgedanken wie ein Ausbruch der Raserei nach den Lippen stieg. Er leerte sein Glas, ohne es abzusetzen.

„Glück und Heil!“ sagte jetzt Doktor Ambrosius.

Magister Leuthold streckte ihm beide Hände entgegen. „Ihr seid spät, lieber Herr Doktor!“

„Mein Beruf hält sich an keine Stunde. Ich war noch in Anspruch genommen. Entschuldigt also! Wenn ich auch hier bei dieser fröhlichen Tafelrunde der letzte bin, so bin ich’s doch ganz gewiß nicht in der Verehrung und Liebe für Euch, mein hochwürdiger Freund! Und dess’ zum Zeichen hab’ ich Euch dies kleine Geschenk verfertigt, das um freundlichen Willkomm bittet.“

Er zog etwas aus der linken Brusttasche, was wie ein dünnes, in Leder gebundenes Büchlein aussah. Als er den Deckel zurückschlug, gewahrte man auf schwarzblauer Seide eine ovale Elfenbeinplatte. Diese Elfenbeinplatte trug in frisch leuchtenden Farben das wohlgetroffene Konterfei Hildegards.

„Was?“ rief der Magister. „Solche Talente besitzt Ihr? Aber Ihr seid ja ein Künstler!“

„Nicht so sehr wie Ihr glaubt. Seht doch genauer zu! Es ist kein Bild nach dem Original, sondern nur die verkleinerte Nachahmung des trefflichen Oelgemäldes, das bis vor kurzem in Eurem Studiergemach hing. Dort haben wir’s weggeholt, die Gertrud Hegreiner und ich, unter dem Vorwand, daß etwas am Rahmen zu bessern sei.“

„Fürwahr, ein frommer Betrug, der den Kranz verdient! Prächtig! Ganz allerliebst!“

„Dafür reicht meine Kunst noch allenfalls hin!“ meinte Doktor Ambrosius. „An die Natur würd’ ich mich kaum gewagt haben. Und auch so läßt’s ja vielleicht zu wünschen übrig. Gleichwohl erscheint’s mir nicht unähnlich. Und auf den Einfall thu’ ich mir wirklich etwas zu gute. Ihr könnt so das Liebste, was Ihr auf Erden habt, allezeit mit Euch führen wie ein glückbringendes Vademecum. Ich weiß ja doch, Herr Magister, was für ein zärtlicher Vater Ihr seid.“

Doktor Ambrosius verschwieg, daß er bei diesem frommen Betrug mit dem entschuldbaren Egoismus des Liebenden mehr noch an sich selber gedacht hatte als an Hildegards Vater. Ja, das Geburtstagsgeschenk war eigentlich nur der Vorwand, der die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner für die Sache gewinnen sollte. Doktor Ambrosius hatte das liebe Bild zweimal kopiert und die größere der beiden Kopien heimlich für sich behalten.

Magister Leuthold war aufs tiefste gerührt.

„Da habt Ihr vollkommen recht,“ sagte er mit bewegter Stimme, während die guten ehrlichen Augen sich feuchteten. „Kein lieberes Festgeschenk hättet Ihr bringen können. Wenn’s eine Schwäche ist, sein eignes Töchterlein so feurig ins Herz zu schließen wie ich meine Hildegard, so bin ich ein schwacher Mann, das gesteh’ ich freimütig. Aber sie zahlt mir’s heim! Auch sie kennt ja auf Gottes Welt nichts Lieberes als ihren alten Vater.“

Voll inniger Dankbarkeit schaute er in das glühende Antlitz des jungen Mädchens, das ihm in holder Verwirrung zunickte.

„Freilich,“ fuhr er dann, halb wie im Selbstgespräch, fort, „das gilt nur einstweilen … Ueber kurz oder lang wird wohl die Zeit kommen, wo sich das ändert. Der alte Vater rückt bescheidentlich an die zweite Stelle …“

„Das ist der Lauf der Welt,“ sagte Frau Melchers, die lustige Ehewirtin des Stadtpfarrers, während sie das reizende Miniaturbild über den Tisch weiter gab.

„Von Adam und Eva her!“ meinte der purpurnasige Bürgermeister Georg Kunhardt. „Die Kinder wachsen heran und eh’ sich’s der Mensch versieht, legt Gott Amor den Pfeil auf. Wir haben’s nicht besser gemacht, nicht wahr, Leuthold? So in der ersten Blütezeit, wenn uns der ganze Himmel voll Geigen hängt … Gotts Donner, es ist eine schöne Sache! Und daraufhin thu’ ich jetzt einen tüchtigen Mannesschluck. Möge die tugendsame und liebliche Jungfrau Hildegard Leuthold ihrem Herrn Vater – der, wie es scheint, zu grimmiger Eifersucht neigt – recht bald einen schätzbaren Eidam vorstellen und ihm so zu Gemüt führen, daß diese Welt der glückhoffenden Jugend gehört, während wir Alten nur die Rolle der Beifallsklatscher zu spielen haben. Und da wir nun vollzählig sind, so benutze ich die schöne Gelegenheit zu einem donnernden Trinkspruch auf unser teures Geburtstagskind. Der hochgelahrte Magister Franz Engelbert Leuthold blühe noch manches Jahr in Kraft und Gesundheit! Er wiege Enkel und Urenkel im Schoß! Er halte sich frisch bis zuletzt und bewahr’ uns auch künftighin seine wertvolle Freundschaft! Franz Engelbert Leuthold vivat, vivat, vivat!“

Er war aufgestanden. Sein joviales und trotz der geröteten Nase nicht unedles Antlitz strahlte von urwüchsiger Herzlichkeit.

Inzwischen hatte der Gärtnerbursche, der hier den Dienst als Mundschenk versah, dem Doktor Ambrosius gleichfalls ein Glas gereicht. Doktor Ambrosius stand noch immer neben dem Jubilar. Nun stieß er mit dem Gefeierten an und grüßte ihn ehrfurchtsvoll.

Jetzt trank auch der schalkhafte Bürgermeister dem jungen Arzte vertraulich zu. „Glück auf, mein trefflicher Aeskulap!“ rief er mit vielsagendem Augenzwinkern. „Ihr versteht’s! Ihr seid mir ein schlauer Fuchs! Wohl bekomm’s Euch!“

Georg Kunhardt schlug ein derbes Gelächter an, das Doktor Ambrosius nicht weiter beachtete. Er war von dem Bürgermeister nicht sehr erbaut, trotz dessen liebenswürdig sympathischer Biederkeit. Die Art und Weise, wie der sonst so verständige Mann die kulturfeindlichen Elemente im Glaustädter Rat ohne jedweden Versuch der Abwehr schalten und walten ließ – besonders auch in der Frage des Malefikantengerichts – wirkte auf Doktor Ambrosius ernüchternd. Er konnte nicht glauben, daß dieser feinsinnige Kopf die Anschauungen, zu denen er schwieg, teilte.

Der Gärtner schleppte jetzt einen Stuhl heran und stellte ihn zwischen den Jubilar und das weinfrohe Stadtoberhaupt. Franz Engelbert Leuthold aber wies den Burschen zurück.

„Ich bitt’ Euch, Herr Doktor, setzt Euch dort zu der Jugend!“ sagte er wohlwollend und drückte dem Arzte nochmals innig die Hand. „So lange man noch von Rechts wegen zu ihr gehört, soll man ihr nicht mutwillig aus dem Weg gehen.“

„Hier, Gustav!“ klang es vom Munde des Ratsbaumeisters. „Ich mache dir Platz neben dem Original deines Bildes! Nur keine Umstände! Dir vor allen geziemt diese reizvolle Nachbarschaft, schon zum Lohn für dein Meisterwerk. Nicht wahr, mein verehrtes Fräulein? Uebrigens habt Ihr ja zwei Seiten, und zur Linken sitzt Euch verwerflicherweise ein Mägdlein. Erlaubt mir, daß ich als Trennungsmauer dazwischen fahre.“

Er schob den Stuhl, den der Gärtnerbursche jetzt wieder heruntergeschleppt hatte, scheinbar zögernd zwischen Hildegard Leuthold und Margret Melchers, die Tochter des Stadtpfarrers. Die Gesellschaft rückte ein wenig zusammen. Margret Melchers freute sich unverkennbar. Der Ratsbaumeister sah ihr verständnisvoll in die Augen. Nun konnte er nach Herzenslust mit dem kleinen, übermütigen Dämon schwatzen und streiten, ohne daß ihn Hildegard Leuthold gestört hätte. Sein Zweck war erreicht.

Als Doktor Ambrosius neben ihr Platz nahm, hatte die heimlich bebende Hildegard Leuthold die Selbstbeherrschung, die ihr während der letzten Minuten beinah’ abhanden gekommen war, völlig zurückgewonnen. Sie fühlte, auch ohne ihn anzuschauen, [416] daß Henrich Lotefend jeden Zug ihres Angesichts eifrig beobachtete. Diesem Mann gegenüber wollte sie ihr Geheimnis unter keiner Bedingung bloßstellen. Gerade er sollte nicht nachträglich merken, welch’ einen schmerzhaft wonnigen Stich sie vorhin bei dem seltsamen Trinkspruch des Bürgermeisters verspürt hatte. Henrich Lotefend war ihr jetzt unangenehmer als je. Seit er da vor ihr zwischen den jungen Leuten saß, war sie ein brennendes Mitgefühl mit Frau Mechthildis nicht los geworden. Und dieser Teilnahme für die Betrogene mischte sich Groll und Verachtung gegen den Mann bei, der es so leicht übers Herz brachte, die treue Gefährtin so vieler Jahre um einer augenblicklichen Laune willen rücksichtslos preiszugeben. Hildegard unterschätzte bei weitem die Nachhaltigkeit einer wirklichen Leidenschaft.

Man reichte nun kümmelbestreute Brezeln herum, die frisch vom Backherd kamen, die weitberühmte Muster- und Prunkleistung der Wirtschafterin Gertrud Hegreiner. Mit den Brezeln erschien sie selbst, um sich jetzt endlich der frohen Geburtstagsgesellschaft in scheuer Sittsamkeit anzuschließen. Sie trank mit außerordentlich spitzen Lippen ein ganz winziges Schlückchen, teilte aber der ältesten Tochter des Bürgermeisters, der schlanken Elsbeth, über die lange Tafel hin das Rezept ihres Kümmelgebäcks mit, das mehr noch als der Glaustädter Salzkuchen den Wohlgeschmack des Weines erhöhe und auch sonst äußerst bekömmlich sei. „Dünn auswalzen!“ rief sie. „Das ist die Hauptsache! Der Bürgermeister lachte bei diesen Worten so ungestüm, daß Fräulein Elsbeth ihm einen Blick der Mißbilligung zuwarf. Schon früher hatte sich ihr Herr Vater zuweilen recht unzarte Anspielungen auf Gertrud Hegreiners strotzende Körperfülle erlaubt und einmal sogar buchstäblich vom Auswalzen gesprochen. Das fiel ihm jetzt wieder bei, und so platzte er los, Gutes mit Bösem vergeltend, denn die rundliche Gertrud war doch gerade am Werk, ihm durch die Mitteilung ihres Rezeptes an die kochkundige Elsbeth eine Wohlthat zu erweisen.

Gertrud Hegreiner that ihm nicht den Gefallen, gekränkt zu scheinen. Sie wandte sich, verschmitzt lächelnd, zum Hausherrn und fragte, ihr Vollmondgesicht auf die Schulter geneigt, was denn der Herr Magister zu der reizenden Ueberraschung mit dem Konterfei seines Lieblings gesagt habe.

Die Unterhaltung ward nun mit jeder Minute lebhafter. Franz Engelbert Leuthold zog das Bild aus der Brusttasche und erging sich mit der strahlenden Gertrud in Reminiscenzen aus Hildegards Kindheit. Die Pastorin Melchers flocht allerlei Streiche und Abenteuer ihrer schlimmen Margret ein, die schon mit anderthalb Jahren ein wirklicher Ausbund von Mutwille und Tollheit gewesen. Der Ratsbaumeister neckte sich scharf mit seiner schwarzlockigen Nachbarin, die sich seit jener Epoche des Mutwillens nur wenig verändert zu haben schien. Ihre Schlagfertigkeit ergötzte ihn weidlich.

Auch die übrigen Tischgenossen plauderten frisch drauflos. Sogar der schweigsame Stadtpfarrer Melchers ward jetzt ein wenig redseliger. Nur Herr Lotefend saß wie auf Kohlen und zwang sich hier und da mühsam zu einer kurzen Bemerkung. Die Art, wie Doktor Ambrosius und Hildegard Leuthold miteinander verkehrten, machte dem Tuchkramer das Blut in den Adern kochen. Zwischen dem jungen Arzt und der Haustochter wurde zwar nichts gesprochen, was nicht jedermann hätte hören können; aber die Art, wie sie sprachen, dünkte dem unseligen Manne verräterischer als alle Worte. Es war zum Wahnsinnigwerden! Lotefend schalt sich im stillen den größten Tropf des Jahrhunderts. Wo zum Teufel hatte er nur bisher seine Augen gehabt? Jetzt griff man es ja mit Händen! Und das nun so gleichgültig und still mit ansehen zu müssen! Zeuge zu sein der goldrosigen Hoffnungen, die sich auf dem jugendlich kühnen Antlitz seines bevorzugten Nebenbuhlers ebenso deutlich malte wie in den Augen des glückstrahlenden Mädchens!

Henrich Lotefend bedurfte der Anspannung all seiner Willenskraft, um eine kurze Frage, die Doktor Ambrosius rein der Form halber an ihn richtete, mit gebührender Höflichkeit zu beantworten. Er fühlte, daß ihn der Anblick dieser geheimen und doch für ihn so überaus durchsichtigen Herzensgemeinschaft beinahe zur Raserei brachte. Nach kurzer Frist suchte er einen schicklichen Vorwand, um seinen Platz zu verlassen. Er pflanzte sich für ein paar Augenblicke wie zufällig neben dem Bürgermeister Georg Kunhardt auf, der von der letzten großen Weinprobe im Glaustädter Ratskeller erzählte. Dann setzte er sich auf den freigewordenen Stuhl der Wirtschafterin; die rastlose Gertrud Hegreiner hatte schon wieder im Hause zu thun.

Georg Kunhardt klopfte dem Tuchkramer freundschaftlich auf die Schulter und sagte mit seiner dröhnenden Baßstimme:

„So ist’s recht, Lotefend! Kommt zu uns Alten! Da drunten seid Ihr ja doch nur das fünfte Rad und macht Euch höchstens den Mund wässerig.“

Lotefend lächelte bittersüß. Der Bürgermeister Georg Kunhardt war um zwölf Jahre älter als er. Handelte der nun wirklich in gutem Glauben, wenn er den Sechsundvierzigjährigen so kurzweg zu den Alten rechnete? Oder hatte der pfiffige Spürhund ihn am Ende durchschaut und wollte sich über den seufzenden Liebhaber lustig machen?

Lotefend gab eine launige, etwas gezwungen klingende Antwort. Im Herzen aber schwur er sich hoch und teuer, nun erst recht dem Geschick abzutrotzen, was es zu weigern schien, und um keinen Preis in feiger Selbstunterschätzung von Hildegard abzulassen. Wo ein leidenschaftlicher Wille obwaltete, da mußte es auch einen Weg geben, trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse. Er wollte den Weg finden, und sollte er die Erreichung des Ziels mit dem Tod bezahlen.

(Fortsetzung folgt.)


Eine Märchenstadt in Hinterindien.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen von Lenz & Co. in Singapore.

Es war einmal ein König, der lebte in einem Feenpalaste von schönstem Marmor und Krystall; er hatte tausend der holdesten Frauen und zweitausend Sklaven, alle bereit, den geringsten seiner Wünsche zu erfüllen. Er lebte in Pracht und Herrlichkeit, seine siebenfache Krone strahlte und blitzte von Diamanten, seine kostbaren Gewänder waren ganz mit Rubinen bedeckt, und wie er so besaßen auch seine Mägdlein die köstlichsten Geschmeide. Sie waren nur da, um ihm die Zeit zu vertreiben, sie tanzten und sangen; er speiste mit ihnen von goldenen Geschirren, er fuhr mit ihnen auf dem großen Fluß in goldenen Booten spazieren, und wünschte er eine Reise zu machen, flugs standen Dutzende von Elefanten, gesattelt und mit kostbaren Decken behängt, für ihn und sein glänzendes Gefolge bereit. Ein Page fächelte ihm mit Straußenfedern Kühlung zu; ein zweiter hielt den neunfachen seidenen Schirm über ihn; ein dritter trug den goldenen, rubinenbesetzten Spucknapf. Sein Volk liebte ihn, und wenn die Leute ihren König aus der Ferne kommen sahen, so warfen sie sich vor ihm nieder. Hunderte von Prinzen waren an seinem Hofe, jeder mit seiner eigenen glänzenden Haushaltung, dazu Hunderte von schönen Prinzessinnen, aber sie durften ihre Schönheit und ihre Reichtümer niemand zeigen, denn so wollte es die Sitte des Hofes. Sie alle aber, König und Prinzen und Volk, wohnten in einer großen Stadt, inmitten von herrlichen Palmenhainen; ungeheure Tropenbäume, die großblättrige Brotfrucht, Durien, Mangroven und andere immergrüne Waldriesen beschatteten die Häuser der Stadt. Wunderbare, fremdartige Pagoden und Türme und Pyramiden erhoben sich über die Palmblattdächer der menschlichen Wohnungen, alle strotzend von Gold oder in den buntesten Farben prangend. Eine Pagode war ganz aus Porzellanrosen zusammengesetzt, eine andere aus Lotos, eine dritte aus Lilien. Ein breiter Strom durchzog die Stadt, und auf seinem Rücken schwammen Tausende und aber Tausende von Booten. Weiter draußen aber, in der Umgebung der Stadt, hausten Elefanten und Tiger; zu Tausenden hingen Fliegende Füchse an den Bäumen zwischen den Lianen, die sich von Ast zu Ast, aufwärts und abwärts hinzogen und die Wälder zu einem [417] undurchdringlichen Gewirr machten, schlängelten sich große giftige Schlangen, und in den Flüssen und Sümpfen hausten Massen von Krokodilen.

Pagoden des königlichen Tempels.

Es war einmal … so hatte meine Mutter mir ein Königsmärchen erzählt, als ich noch ein kleiner Junge war und noch nicht zur Schule ging, und gar oft mußte die Mutter das Märchen wiederholen, und dann träumte ich mich hinein in diese ferne, feenhafte Märchenwelt der Tropen und wünschte jedesmal, sie in Wirklichkeit zu sehen, wenn ich einmal groß geworden war, denn wie konnte ich damals wissen, daß Märchen Gebilde der Phantasie sind?

Aber dieses Königsmärchen meiner frühen Jugend ist kein solches. Nicht „Es war einmal“ soll es heißen, sondern „Es ist“, es ist in Wirklichkeit vorhanden, im fernen Hinterindien, an den Ufern des großen Menamstromes, gerade auf jener entlegenen Halbinsel Asiens, auf welcher man es am wenigsten vermuten würde. Wohl haben einzelne Reisende Bangkok, die Hauptstadt des Königreiches Siam, geschildert, aber dennoch traut man seinen Augen kaum, wenn man wirklich das breite Bett des hinterindischen Nilstromes aufwärts fährt und plötzlich die Märchenstadt mit ihren zahlreichen Pagoden, Palästen und vergoldeten Türmen sieht, die sich hier, einige Stunden oberhalb der Mündung, inmitten der üppigsten Tropenvegetation ausbreitet.

Tonnenboote und schwimmende Häuser.

Der König dieser Stadt und dieses Reiches ist nach Europa gekommen, um die Wunder des Abendlandes kennenzulernen, doch wird er, dessen Auge von den Herrlichkeiten seiner Residenz verwöhnt ist, hier vergeblich nach etwas suchen das sich an Seltsamkeit, Reichtum und Farbenpracht mit der Tempelstadt Bangkok vergleichen ließe!

In Europa hat er auf seiner Reise zuerst Venedig berührt, und gerade diese Stadt ähnelt Bangkok am meisten. Denn ganz wie sie, so ist auch Bangkok eine Stadt der Kanäle. Zu beiden Seiten der gelben, trüben Fluten des Menams, die sich in derselben Breite wie etwa der Rhein bei Mainz dem Golf von Siam zuwälzen, zieht sich ein scheinbar unentwirrbares Labyrinth von Kanälen über die vierzig Quadratkilometer Tiefland, auf welchem innerhalb einer weißen mit Türmen besetzten Ringmauer Bangkok liegt. Ja, es sind hier, sozusagen zwei Städte übereinander: zunächst die Stadt der Kanäle, auf welchen Tausende und aber Tausende von Häusern schwimmen und auf denen in kleinen und großen Booten ein so reger Verkehr herrscht, daß man nur mit der größten Mühe und dank der Geschicklichkeit der eingeborenen halbnackten Ruderer durchkommen kann. Ein Stockwerk höher erhebt sich auf dem Festlande eine zweite Stadt mit steinernen oder hölzernen Häusern und einem dichten Gewirr von festen Straßen, welche die Kanäle mittels Brücken übersetzen. – Weiter hinaus von der inneren Stadt werden die Festlandstraßen immer spärlicher, die Kanäle immer zahlreicher, dabei immer schmäler, bis schließlich nur mehr ein paar Quadratmeter große Reisfelder vorhanden sind, jedes einzelne auf allen Seiten von Kanälen umgeben. Und dahinter erhebt sich die düstere, dunkle Mauer des tropischen Urwaldes mit den seltsam geformten, großblättrigen, von Lianen umwundenen Baumriesen …

Alles ist ebenes, angeschwemmtes Land, ohne die geringste natürliche Erhebung, ein [418] Werk des großen Menam, der hier, wie der Nil in Aegypten, das Land befruchtet und zeitweilig nebst einem großen Teil der Stadt unter Wasser setzt. So sind auch die Menschen, die hier wohnen, eine Art Amphibien geworden. Die auf dem Festlande hausen, bringen ihr halbes Leben auf oder im Wasser zu, die auf dem Wasser wohnen, ihr ganzes. Bangkok mag über eine halbe Million Einwohner zählen, und von ihnen wohnt gewiß ein Drittel, wenn nicht mehr, auf dem Wasser. So weit man den gewaltigen Strom auf- und abwärts blicken kann, sind an seinen Ufern sowie an den Ufern seiner Kanäle schwimmende Häuser verankert, in doppelten, dreifachen, vierfachen Reihen, eines dicht am anderen, Tausende und aber Tausende davon. Und wie malerisch, wie seltsam nehmen sie sich aus mit ihren steilen, in spitzen oder geweihartigen Giebeln auslaufenden Dächern, von denen manches dieser schwimmenden Häuser zwei nebeneinander besitzt. Rings um die Häuser laufen Veranden, die Vorderwand des Hauses kann nach aufwärts gedreht werden, bis sie, wagerecht stehend, eine Art Schutzdach bildet, und das Ganze ruht auf einem Floß von Bambusrohren oder Balken. Da der Menam je nach der Jahreszeit und den tropischen Regengüssen steigt und fällt, so müssen auch dementsprechend die Häuser verankert sein. Auf den in langen Reihen längs der Ufer eingerammten Ankerpfählen laufen eiserne Ringe auf und ab, und an diese werden die Häuser mit Ketten befestigt. Ueber diesen schwimmenden Häusern stehen auf den festen Ufern noch mehrere Reihen anderer, größeren darunter zahlreiche Faktoreien europäischer Kaufleute, Wohnhäuser und Konsulate, überhöht von hohen Mastbäumen mit bunten Flaggen, jedes einzelne umgeben von großen, zum Teil prächtigen Gärten.

Alles ist dem Fluß zugewendet, denn dieser ist die Hauptverkehrsader, das Leben, die Ursache von Bangkok. Ohne Fluß gäbe es auch keine Stadt. Nach Hunderten zählen die Boote und Frachtschiffe, welche täglich mit Lebensmitteln und Waren, mit Fischen und Reis vom oberen Menam herabkommen und vielleicht wochenlange Flußreisen hinter sich haben. Sie sind auch dementsprechend zum Wohnen für ganze Familien eingerichtet, die eine Hälfte offen für die Waren und für die Ruderer, die andere Hälfte wie eine weitbauchige Tonne, deren Inneres ein kleines Wohnzimmer bildet (vgl. Abbildung S. 417). Wie diese Reiseboote, so sind auch die schwimmenden Wohnhäuser des Menam eingerichtet, nur daß sie viel größer sind und der vordere Teil als Kaufladen dient. Kilometerweit ließ ich mich ihnen entlang rudern, wie in einer lebhaften Geschäftsstraße. Porzellanwaren, Geschirre, Kleidungsstücke, Krimskrams, Lebensmittel, alles Erdenkliche wird in ihnen feilgeboten, und die Waren sind in geschmackvoller Weise wie in unseren Schaufenstern ausgestellt, während hinter ihnen gewöhnlich Siamesinnen mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar, über den nackten Oberkörper nur eine bunte Schärpe geworfen, als Verkäuferinnen kauern.

Zwischen diesen Kaufläden fahren die Käufer in winzigen Booten, die sie selbst rudern, auf und ab, so sicher und rasch, als schritten sie auf fester Straße einher. Ich kam über ihre Geschicklichkeit nicht aus dem Staunen heraus, denn jede Sekunde schossen ihnen andere der Hunderte und Hunderte von winzigen Booten in den Weg, und dabei standen auch noch die meisten Insassen in den schmalen, schlanken Nußschälchen aufrecht und drückten mit beiden Händen ihre Ruder nach vorwärts. Dazu fuhren zwischen ihnen Dutzende von kleinen Dampfbooten pustend, pfeilschnell auf und ab, denn jedes europäische oder einheimische Geschäftshaus von einiger Bedeutung hat seine Dampfbarkasse. Zeitweilig keuchten auch gewaltige Seedampfer aus China, Singapore, Indien, den Sundainseln oder Philippinen durch den Strom, in dessen Mitte Kriegsschiffe verschiedener Flaggen verankert lagen, chinesische Dschunken mit großen glotzenden Augen am Bug und Segeln wie Flügel gewaltiger Fledermäuse fuhren auf und nieder, dazwischen Malayenboote und andere Fahrzeuge – mit einem Worte: ein Strombild, wie es in so malerischer Art und Lebhaftigkeit wohl nur an den wenigsten Orten des fernen Orients zu erblicken ist!

Warum diese Hunderttausende von Menschen, Siamesen, Laoten Malayen, Tamals, Chinesen, Kambodschaner, Birmanen, auf dem Wasser und nicht auf dem Festlande wohnen? Wer je in den Tropen gelebt hat, braucht die Antwort nicht zu suchen. Von der erdrückenden Schwüle, die hier während des ganzen Jahres tags und auch nachts über herrscht, ist der kühle Lufthauch des breiten, stets bewegten Stromes eine erquickende Wohlthat, das Baden mehrmals des Tages gewährt den größten Genuß. Und die Bewohner der schwimmenden Häuser leben wie in Badeanstalten. Sie können unmittelbar aus ihren Schlafräumen ins Wasser springen, und in der That sieht man auch besonders morgens und abends die ganze Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, mit wahrer Wollust wie Fische im Wasser sich herumtummeln. An- und Auskleiden erfordert bei ihrer spärlichen Bekleidung nicht viel Zeit, ein Lendentuch, „Panung“, zwischen den Beinen durchgezogen und mit den Enden an den Hüften befestigt, ein bunter Shawl, „Pahum“, wie eine Schärpe leicht um den Oberkörper geworfen, das ist alles.

Der Menam ist der Hauptboulevard von Bangkok. Ließ ich mich von dort in das Gewirr der Seitenkanäle rudern, so fänd ich ähnliches Leben, nur in kleinerem Maßstabe. Zu beiden Seiten der schlammigen Wasserstraßen erheben sich kleine ebenerdige Holzhaufen zwischen denen sich die üppig wuchernde Tropenvegetation hervordrängt, dann kommt hier und dort ein größerer Platz mit fremdartigen bunten Pagoden und Tempeln, mit künstlichen Felsengruppen und Wassertümpeln, in welchen Dutzende von Krokodilen oder riesigen Schildkröten, heiligen Tieren der Buddhisten, ungestört schlafen. Wir fahren unter zahlreichen Brücken hindurch, auf welchen der regste Verkehr herrscht, nach allen Seiten zweigen sich wieder Kanäle ab, die zu anderen führen oder irgendwo an einem Buddhistenkloster oder in einem mit hohen Sumpfpflanzen bedeckten Schlammfelde enden, umgeben von köstlichen Tempelbauten, die hier wie ein Traum aus „Tausend und eine Nacht“ hervortreten.

Wie in der Wasserstadt, so herrscht auch in der über und zwischen ihr befindlichen Landstadt das regste Leben, nur daß hier das starke chinesische Element der Bevölkerung mehr hervortritt. Ich war überrascht, in dieser ursprünglichen Stadt von Hinterindien einzelne moderne Straßen zu finden, mit netten Ziegelhäusern, Straßenbeleuchtung und Wasserleitung – ein Werk des gegenwärtigen Königs, der in seiner feenhaften Palaststadt weiter aufwärts am Strome residiert. Je näher man ihren weißen Umfangsmauern kommt, desto reinlicher, breiter werden die Straßen, desto häufiger sieht man elegante Reiter und moderne Equipagen, Militär und Polizisten in europäischen Uniformen, aber das Volk und selbst die Großen des Reiches tragen noch ihre ursprüngliche Landestracht, nur daß zu dem Panung bei den letztere noch helle Seidenstrümpfe und glänzende Schnallenschuhe kommen und an Stelle der bunten Schärpe weiße oder goldgestickte Jäckchen getragen werden. Herren sowohl wie Damen zeigen sich in dieser kleidsamen Tracht, wie sie in der Abbildung des Königspaares (vgl. S. 409) dargestellt ist. Der König trägt in dieser an Stelle des Jäckchens den weißen Uniformrock nach altösterreichischem Muster, die Königin ist mit dem breiten Bande des Kronenordens geschmückt.

Häufig durchzieht in dieser Stadt der ewigen Festlichkeiten ein malerischer Aufzug die Straßen: Hunderte von Menschen in phantastischen, ungemein reichen Gewändern, Pagen, Priester mit kahlrasierten Schädeln in lange gelbseidene Togen gehüllt, goldstrotzende Prunkwagen, vergoldete Sänften, getragen und umgeben von uniformierten Sklaven mit Palmenwedeln, Fahnen und hohen Sonnenschirmen, hier und da ein mit bunten Decken behängter Elefant. Auf weiten, grüne Rasenflächen tummeln sich Tausende in den buntesten Farben gekleideter Menschen umher, kauern scherzend auf dem Boden, spielen Ball und lassen seltsam geformte Papierdrachen steigen, von denen man zuweilen Hunderte hoch in den Lüften schweben sieht. Als Rahmen dieses phantastischen, überraschenden Bildes dienen die herrlichsten Pagoden, Tempel, Pratschedis (Opfersäulen), Statuen; über die weiße Mauer des Königspalastes streben ihrer Dutzende himmelan, schimmernd und leuchtend, die ewigen Sonnenstrahlen spielen in ihren zahllosen goldenen Spitzen, ihren buntfarbigen Porzellanblumen, ihrem Glas- und Goldmosaik, mit denen sie über und über bedeckt sind, daß sie blitzen und funkeln, als wären sie lauter Edelsteine (vgl. Abbildung S. 417). Auf dem jenseitigen Ufer des Menam erhebt sich als Wahrzeichen und höchstes Bauwerk der Stadt die großartige Spitzpyramide des berühmten Wat Tscheng über das ganze fremdartige Bild.

[419] Tempel um Tempel erheben sich überall in dieser Stadt des Buddha. Manche von ihnen bedecken mehrere Morgen Land, manche liegen verborgen zwischen Häusern und Kanälen, manche an den Straßenecken oder auf künstlich aufgeworfenen Erdhügeln. Sie zeigen verschiedene, aber immer phantastische Formen und werden bewacht von grotesken Riesenstatuen (vgl. die untenstehende Abbildung), die scheußlichen Teufelsfratzen, Krieger, Tiergestalten, ja Menschen in modernen europäischen Trachten in Frack und Cylinderhut, darstellen! Um die einzelnen Höfe dieser Tempel ziehen sich gedeckte Galerien, deren Wände mitunter ganz vorzügliche Wandmalereien bedecken, oder denen entlang Tausende und aber Tausende von Buddhastatuen stehen, in den verschiedensten Größen, von Fingerlänge bis zur zwanzigfachen Lebensgröße. In Seitengebäuden dieser Tempelhöfe hausen Dutzende von Büßern, in lange weiße Gewänder gehüllt, wochen- und monatelang. Andere Tempel enthalten buddhistische Heiligtümer oder nur vergoldete Schränke, in welchen Tausende von Gebeten und Predigten auf langen Palmblattstreifen, mit der heiligen Palischrift geschrieben, aufbewahrt werden; in wieder anderen wird das Auge des Besuchers geblendet von den größten Kostbarkeiten; hier liegen Häuflein Diamanten und Rubinen, Kronen, Ringe, blitzende Geschmeide aller Art, ragen lebensgroße Buddhastatuen aus getriebenem Golde, alles aufgespeichert zur größeren Ehre dieser indischen Gottheit, und Dutzende von Priestern in ihren langwallenden gelben Gewändern hüten diese Schätze und diese Tempel. In anderen Gebäuden, beschattet von den dunklen Laubkronen des heiligen Bodibaumes, sieht man Buddhas in liegender Stellung, aus Bausteinen und Mörtel aufgemauert, die zu den größten Statuen der Welt gehören, häufig bis siebzig Schritte lang und ganz mit dünnen Goldplättchen vergoldet! An manchen Stellen der weiten Tempelhöfe erheben sich steinerne Altäre, überhöht von säulengetragenen Dächern, und auf diesen glimmen Holzscheite, die dicke, übelriechende Rauchsäulen zum Himmel emporsenden. Das sind die Verbrennungsstätten der Menschenleichen! Im Wat Saket, diesem schrecklichsten aller Tempel, die ich auf dem Erdball gesehen, befindet sich eine ganze Anzahl solcher Verbrennungsaltäre, und das Feuer erlischt dort niemals.

Eingang zum Wat Tscheng.

Aber der Tod hat für die Buddhisten – und es giebt keine eifrigeren, als es die Siamesen sind – keine Schrecken, sie begrüßen ihn als Erlösung, als die notwendige Vorstufe zur Erreichung des köstlichen Nichts, des Nirwana. So herrscht denn auch um die Begräbnisstätten ebenso wie in der ganzen Stadt sorglose Fröhlichkeit, Vergnügen, Liebe und Spiel, denn ein sorgloseres Volk ist wohl kaum zu finden – auch keines, in welchem die irdischen Glücksgüter ungleicher verteilt wären, wo es größere Reichtümer, aber auch größere Armut gäbe – und doch kein Elend! Die Siamesen sind bedürfnislos, ihre leichten Wohnungen aus Bambusrohr und Palmenblättern, ihre mehr als einfache Kleidung, ihre Nahrung aus Reis, Fischen, Gemüsen erfordern keine großen Geldopfer, keinen Kampf ums Dasein, und arbeiten sie mehr, als sie für ihres Leibes Notdurft brauchen, so wird der Verdienst häufig dem Spiel geopfert. Sie sind leidenschaftliche Spieler. Bei Tag und Nacht auf den Straßen oder in den zahllosen von Chinesen gehaltenen Spielhöllen wechseln die silbernen Ticalsmünzen unausgesetzt die Hände. Die Siamesen spielen um ihre Habe, ihre Frauen, zuweilen um ihre Töchter, um ihre eigene Person. Ist alles fort, so begeben sie sich leichten Herzens in die Schuldsklaverei und spielen als Sklaven weiter, um vielleicht das Geld zu gewinnen, sich damit wieder loszukaufen!

Sie sind kein Industrievolk, das sieht man auf einem Gang durch den großen Bazar von Sampeng, wo der größte Teil des Handels und der Industrie in den Händen von Chinesen liegt. Die Siamesen sind zumeist Ackerbauer, Fischer, Schiffer, Diener, Sklaven der großen Herren, die in dem Stadtteil rings um den Königspalast wohnen. Welcher Kontrast zwischen dem Gewirr schmutziger Gäßchen mit den Tausenden winziger Kaufläden und den Zehntausenden von fremdartigen, bunt gekleideten, fröhlichen Menschen, die sich dort drängen, und dem vornehmen königlichen Stadtteil! Der Wille des aufgeklärten, von staatsmännischer Weisheit und Sorge für sein Volk erfüllten Königs hat dort Wunder geschaffen. Ohne irgendwie die altangestammte Kultur des Landes aufzugeben hat er viele der das Volk bedrückenden Lasten und Einrichtungen beseitigt, er hat dafür den Segnungen der europäischen Kultur Eingang verschafft und damit bei sich selbst begonnen. Rings um die Palaststadt mit ihren phantastischen Pagoden und Tempeln erheben sich moderne Schulen, Hospitäler, Post- und Telegraphenämter, Regierungsbauten und von oben herab, vom König und den zahllosen Prinzen angefangen, macht die Aufklärung immer mehr Fortschritte.

König Chulalonkorn der sich, wie schon gesagt, gegenwärtig auf Besuch in Europa befindet, wurde am 22. September 1853 geboren und bestieg als fünfzehnjähriger Jüngling im Jahre 1868 den Thron, als der fünfte König seiner Dynastie. Sein Vater hatte dafür gesorgt, daß er eine sorgfältige Erziehung erhielt. Zu seinen Lehrern und Lehrerinnen zählten außer einheimischen Gelehrten die Amerikanerin Mrs. Leonowens und Kapitän John Busch. Chulalonkorn war auch in späteren Lebensjahren bestrebt, die europäische Civilisation kennenzulernen, und besuchte zu diesem Zwecke die indischen Städte Singapore, Bombay und Kalkutta, er sorgte auch dafür, daß eine Uebersetzung ausgewählter deutscher und englischer Werke ins Siamesische veranstaltet wurde. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Reise des Königs durch Europa seinen Gesichtskreis noch mehr erweitern und ihn zu neuen Reformen in seinem Reiche veranlassen wird. Trotz aller Vorliebe für die abendländische Kultur wahrt aber Chulalonkorn pietätvoll die alten Sitten seines Landes.

So hat auch sein Hof alle Eigentümlichkeiten der früheren Zeit beibehalten, und kein Hof kann glänzender sein als jener von Siam. In den großartigen Palästen sind die seltensten Kostbarkeiten aufgehäuft, in den Haremsbauten wohnen Hunderte der schönsten Frauen des Landes, bedient von Tausenden von Sklaven. Jedes Fest der königlichen Familie ist ein Freudenfest für das Volk, das seinem Herrscher ohne Rückhalt Verehrung und Liebe entgegenbringt. Keine Familie kann größer sein als jene des Königs. Sein Vater, der 1868 verstorbene König Mongkut, hinterließ gegen achtzig Kinder, der regierende König hat deren vielleicht die doppelte Zahl, und jeder Geburtstag, jede Leichenverbrennung, jeder Erinnerungstag wird durch die rauschendsten Festlichkeiten gefeiert, die jährlich Millionen verschlingen, die aber ausschließlich dem Volke selbst zu gute kommen. Bei solchen Hoffestlichkeiten herrscht in den Straßen und auf den Plätzen um die Palaststadt ein ebenso buntes, bewegtes, großartiges Leben wie [420] bei uns zur Karnevalszeit, nur daß in Bangkok an Stelle des Maskenflitters wirkliche Pracht tritt. Der Glanz der Gewänder und Juwelen der Hofleute, die Fremdartigkeit der Bauten, welche für diese Feste eigens aufgeführt werden, spotten jeder Beschreibung. Phantastische goldene Berge, Pagoden, Pavillons erheben sich dann vor dem königlichen Palast, kühner in den Formen und Farben als unsere Operndekorationen, und niemals hat es in unseren Operntheatern glänzendere Aufzüge gegeben, als wenn der König mit seinem ganzen Hofe zur Verbrennung einer fürstlichen Leiche zum Vorschein kommt, oder wenn aus anderen Anlässen Rundgänge durch die Stadt oder Bootfahrten auf dem breiten Strome unternommen werden. Die Vermählung der Republik Venedig mit dem Meere ist durch die alten Dogen auf ihrem Bucentaur niemals glänzender gefeiert worden, denn Hunderte von goldbedeckten langen Schnabelbooten mit zahlreichen Ruderern nehmen an diesen Paraden teil, mit Flaggen und hohen Ceremonienschirmen und fremdartigen Symbolen der verschiedenen Art. Tagelang dauern diese Feste bis in die Nacht hinein, zum Jubel des Volkes, das in zahlreichen Buden frei bewirtet wird und das zu den Theatern und Schaustellungen, Festspielen und Gelagen freien Zutritt erhält. Als Schluß dient gewöhnlich ein glänzendes Feuerwerk.

Siamesische Mädchen aus dem Volke.

Am prächtigsten werden wohl neben der Verbrennung von Königsleichen die Haarschneidefeste gefeiert. Erreichen die Knaben in Siam das Alter von acht bis zehn Jahren, so dürfen sie ihre Haare auf dem ganzen bis dahin mit Ausnahme eines Scheitelzöpfchens kahl rasierten Schädel wachsen lassen. Dazu wird vorher dieses Scheitelzöpfchen abgeschnitten, und dies geschieht in den vornehmen Familien mit großem Ceremoniell, das natürlich in der Königsfamilie selbst am glänzendsten ist. Es wird dazu auf dem Platze vor dem Königspalast ein künstlicher Aufbau in der Form von Felsen gebaut, vielfach vergoldet und mit Ceremonienschirmen geschmückt und in der auf seiner Spitze stehenden Pagode erfolgt von seiten der Paten das Abschneiden des Haarzöpfchens. Die Abbildung S. 421 zeigt diesen goldenen Berg mit dem König und Kronprinzen unter einem vergoldeten Baldachin.

Dem Europäer der in diese seltsame Großstadt der hinterindischen Tropenländer kommt, ist reichlich Gelegenheit geboten, all diese Feste und Tempel, das ganze Leben und Treiben kennenzulernen, denn in keinem Lande Asiens wird er mehr geachtet und werden ihm vom Könige abwärts größere Sympathien entgegengebracht als hier. Mehrere Hunderte von Kaufleuten der verschiedensten Nationen sind hier angesiedelt oder stehen im königlichen Dienste, ja der Deutsche wird in dieser orientalischen Märchenstadt nicht nur ein gutes Hotel, sondern sogar einen deutschen Klub finden. Und doch wird Bangkok von Reisenden nur selten besucht. Indien reizt sie mehr, obschon keine Stadt Indiens so viel des Interessanten und Ursprünglichen bietet. Oder ist Bangkok schwer zu erreichen? Mitnichten. Fahren doch die schönen Riesendampfer des Norddeutschen Lloyd alle vier Wochen in einundzwanzig Tagen von Neapel nach Singapore, und von dort ist Bangkok nach viertägiger Dampferfahrt zu erreichen.




Unsere Krischane.

Von Charlotte Niese.

(Fortsetzung.)

Vergeblich suchte Krischane in ihrem Zorn weiter nach Herrn Nottebohm. Er war wirklich nicht im Garten. Sie kam noch einmal an uns vorüber, ohne uns eines Blickes zu würdigen, und mit einem so bösen Gesicht, daß wir es für geratener hielten, sie nicht anzureden. Wir vergaßen sie auch gleich, denn uns fiel ein, daß hinter Nottebohms Laube, wie wir die Pfeifenblattlaube nannten, zwei sehr volltragende Stachelbeerbüsche und ein Busch mit weißen Johannisbeeren sich befanden, die wir lange nicht auf ihre Reife untersucht hatten. Wir wollten eigentlich gleich hin und das Versäumte nachholen; da aber erschien Jürgen und berichtete, daß er bei Friederikenruhe gewesen sei und den Hund Perle in anscheinend guter Stimmung angetroffen habe. So vergaßen wir die Stachelbeeren und dachten erst wieder daran, als das Mittagsessen vorüber war.

Herr Nottebohm war bei Tisch natürlich wieder erschienen und hatte mit gutem Appetit gegessen. Ich hatte ihm eigentlich zurufen wollen, daß Krischane ihn nach dem Reinmachen gesucht habe, vergaß es aber über irgend einem anderen Vorkommnis. Da außerdem Sonnabend war und die Brüder den Nachmittag frei hatten, so mußte man doch auch darüber nachdenken, was man mit der herrlichen Zeit anfangen sollte. Zuerst also an die Stachelbeerbüsche hinter der Pfeifenblattlaube!

Es war ein sehr warmer Tag. Der Garten war voller Sonnenschein und Blumenduft, man wurde einen Augenblick etwas müde, als man hinauskam. Langsam schlenderten wir, Jürgen, Milo und ich, durch die schmalen Wege, die nach der Laube führten, pflückten hier eine Beere und dort eine Blume und sprachen fast gar nicht zusammen.

Dann stieß Jürgen uns plötzlich an und deutete auf ein Spargelfeld, durch dessen grün aufschießende Büsche Herr Nottebohm geschritten kam. Er trug einen sehr bunt geblümten Schlafrock, eine lange Pfeife und ein dickes Buch hatte er in der Hand. Mit eiligen Schritten ging er auf die in kühlem Schatten liegende Laube zu und verschwand in ihr.

[421]

Das Haarschneidefest des Kronprinzen von Siam auf dem „Goldenen Berge“ in Bangkok.
Nach einer photographischen Aufnahme von Lenz & Co. in Singapore.

[422] „Der hätte auch in seinem Zimmer bleiben können!“ meinte Milo. „Nun ist es lange nicht so gemütlich in den Stachelbeeren, wenn er dicht dabei in der Laube sitzt und liest!“

„Der liest nicht, der schläft!“ versicherte Jürgen. „Er hat ganz gewiß viel Bier heute morgen getrunken, denn er hat bei Tisch wenigstens zwanzigmal gegähnt! Und das Buch nimmt er nur mit, um dabei einzuschlafen. Es ist etwas über die Landeskunde und er fängt immer wieder bei der ersten Seite an!“

Das klang tröstlich und war auch so. Denn als wir uns nach einer Weile der Laube von hinten näherten und leise hineinblickten, saß Herr Nottebohm auf dem alten dort abseits gestellten Korblehnstuhl und schlief den Schlaf des Friedens. Seine Pfeife hatte er gar nicht angezündet und das Buch nicht aufgeschlagen. Beides lag auf dem Tisch neben ihm und er schnarchte mit offenem Munde. Einen Augenblick kämpfte Jürgen mit der sündhaften Lust, ihm einen kleinen grünen Käfer, den er gerade gefangen hatte, in den Mund zu stecken, dann aber siegte doch die in ihm wohnende Tugend. Wir hockten uns zwischen die Büsche und wollten gerade anfangen, uns an den Stachelbeeren zu stärken, als eine starke Stimme uns in die Höhe fahren ließ.

„Nottebohmen!“ rief sie. „Sitzen Sie da man nich wie ein’ Zeltgardine, ich wollt’ Ihnen sprechen!“

Es war Krischane, die plötzlich vor dem alten Kandidaten stand, der halb im Traum die Augen öffnete.

„Fräulein Christiane“ – murmelte er, sie aber unterbrach ihn.

„Ach was, Fräulein! Ich bin kein Fräulein und Sie sind kein Herr! Ich hab’ Ihnen bloß Herr genannt, weil ich dacht’, so’n Kanderdat, der so forchbar gelehrt wär’, der könnt’ auch ein Herr sein! Abers nu glaub’ ich das nich mehr!“

Herr Nottebohm saß noch immer ganz still und rieb sich die Stirn. Ob er Krischanens Worte verstanden und begriffen hatte, war nicht zu bemerken. Wir standen nämlich hinter der Laube und konnten nicht allein alles hören, sondern auch alles sehen.

„Weshalb stören Sie mich eigentlich?“ fragte Nottebohm jetzt verdrießlich. „Eben war ich eingeschlafen, und dann habe ich auch noch Kopfschmerzen!“

„Als wenn unsereiner nich auch Koppsmerzen haben kann!“ rief Krischane zornig. „Meinen Sie, daß ich kein’ Koppsmerzen gekriegt hab’, wo ich heut’ an Ihren Ofen ging und allens fand? Allens, und denn auch noch achtern Ofen! Ich denk’, ich soll auf die Stelle beswiemeln, wie ich die Briefens da in die Hand krieg’, und meinen mitten mang! Gott in hogen Himmel, was haben Sie heut’ mittag for Kalbsbraten gegessen, und das mit ’n beswerten Gewissen! O was sind die Männer einmal slecht!“

„Briefe?“ Nottebohm war nun doch wach geworden. „Was haben Sie in meinen alten Briefen zu wühlen, die ich in den Ofen stecke? Was gehen Sie meine Angelegenheiten an?“

„Was mich das angeht?“ Krischane hatte einen zerknitterten Brief in der Hand, den sie vorm Gesicht des Kandidaten schwenkte. „Kennen Sie ihm? Kennen Sie ihm? Nee? Sie schüttkoppen? Sind Sie denn nich der gediegene Witmann in den ,Intzehoer Nachrichten’, der die Bekanntschaft von ’ne Dame machen will? A.T.35. Vermögen erwünscht, jedoch nicht Hauptsache! Wie, Nottebohmen?“

Der also Angeredete war aufgefahren.

„Ich verbitte mir, daß Sie sich in meine Angelegenheiten mischen!“ rief er laut. „Es geht Sie gar nichts an, was ich thue!“

„So? Das geht mir nix an, wo ich mich von das Gesuch bethören lasse und ein Brief schreibe und diesen Brief in Ihren Ofen wiederfinden muß? Swarz is er und voll von Sott, wo ich all die Zeit auf Antwort lauer, und er liegt in Ihren Ofen!“

Ihre Stimme war kläglich geworden und Herrn Nottebohms Gesicht, das merkwürdig trotzig ausgesehen hatte, verzog sich zu einem flüchtigen Lächeln.

„Wenn ich gewußt hätte, liebe Christiane, daß Sie mit unter den vielen Bewerberinnen um meine Hand gewesen wären, dann würde ich den Brief natürlich gelesen haben. So aber –“

„Sie haben ihm nich gelesen?“ unterbrach Krischane den Kandidaten, und er schüttelte den Kopf.

„Ich konnte nicht alles lesen, es waren zu viele Briefe!“ Er war schon wieder ganz ruhig geworden, setzte sich und wollte nach seiner Pfeife greifen, Krischane aber trat ganz nahe auf ihn zu.

„Sagen Sie mal, Nottebohmen, sind Sie denn eigentlich ein Witmann, und wo auf wollen Sie denn mit ohne Vermögen und bloß mit ’n gutes Herz heiraten?“ fragte sie mit einer unheimlich ruhigen Stimme.

Nottebohm zuckte etwas ungeduldig die Achseln.

„Liebe Christiane, diese Sache geht Sie gar nichts an. Ich bin kein Witwer, aber ich könnte es sein, weil meine liebe Braut vor bald sechzehn Jahren gestorben ist. Und wenn ich eine passende Frau finde, dann möchte ich mich jetzt wohl verheiraten, weil es nicht gut ist, wenn der Mensch im Alter allein bleibt. So, nun gehen Sie nur. Es thut mir leid, daß ich Ihren Brief nicht gelesen habe, aber es waren zu viele Schreiben. Ueber hundert, da warf ich die schlechtesten gleich fort!“

„Die slechtesten!“ wiederholte Krischane.

„Nun ja, die, wo man an der Handschrift sehen konnte, daß nichts an ihnen war. Ich muß doch auf Vermögen sehen, da ich selbst nichts habe!“

„Abers stand da nich gedruckt, daß Sie bloß auf ein gutes Herz sehen wollten?“

„Aehnlich stand es dort vielleicht.“ Herr Nottebohm lächelte wieder ein wenig. „Das sagt man wohl, liebe Christiane, weil es besser klingt, aber –“ er räusperte sich. „Ich kann nicht ohne Vermögen heiraten!“ setzte er hinzu.

Er griff nach seinem Buch und schien mit dieser Bewegung der Unterhaltung ein Ende machen zu wollen.

Als Krischane aber stehen blieb und ihn mit drohendem Ausdruck betrachtete, begann er noch einmal zu sprechen.

„Diese Heiratsgesuche sind übrigens doch eine verfehlte Einrichtung. Kein einziges Anerbieten hat mich angezogen und ich werde es nicht wieder thun. Einem Freund von mir erging es so viel besser –“

Aber Krischane wandte ihm den Rücken und ging langsam davon. Da blickte er ihr achselzuckend nach und schlug sein Buch auf.“

„Das war eigentlich sehr hübsch!“ meinte Jürgen, nachdem wir eine Zeit lang schweigend uns an den Stachelbeeren gelabt hatten. Herr Nottebohm schlief schon wieder in der Laube. Die erste Seite seines Buches mußte sehr beruhigende Eigenschaften haben.

„Warum schreibt aber Herr Nottebohm etwas Verkehrtes in die Zeitung, wenn es doch nicht wahr ist?“ fragte ich, und Jürgen zuckte die Achseln.

„Das kann ich auch nicht begreifen. Wenn er mal sehr viel Bier getrunken hat, dann will ich ihn danach fragen. Uebrigens,“ setzte er nach einer Weile hinzu, „ich kann ihn doch nicht fragen, ich habe ja gelauscht und das ist eigentlich unanständig. Ihr dürft auch nicht erzählen, was ihr gehört habt!“

Nein, wir durften es nicht, das sahen wir deutlich ein, obgleich es uns sehr schwer vorkam, dieses Geheimnis zu bewahren. Aber da wir an diesem Nachmittage noch zu einem Vogelschießen, verbunden mit Topfschlagen, eingeladen wurden, so hatten wir Ablenkung für unsere Gedanken und so viel zu überlegen und zu besprechen, daß wir gar nicht einmal auf den Hof liefen, um ein entsetzliches Wortgefecht anzuhören, das Mutter Bierkraut und Krischane miteinander aufführten. Beide waren in übelster Laune, wie man schon aus der Ferne hören konnte, Fite aber kam zu uns in den Garten, um leise und verlegen nach seiner Liese zu fragen. Sie war indessen gerade ausgeschickt, und er schlich sich ebenso leise wieder davon.

In den nächsten Tagen also war das Vogelschießen. Ich bekam dazu ein neues Kleid, mußte in die Stadt fahren um anzupassen, und hatte eine Todesangst, daß die Schneiderin mich im Stich lassen würde. Ueber diesen Sorgen vergaß ich nicht allein meine nahende Abreise, sondern auch Krischane und Herrn Nottebohm. Dann, als das Fest vollständig befriedigend verlaufen war und das Gespenst der Abreise sich nicht mehr von der Thür jagen ließ, überkam mich von Zeit zu Zeit ein gewisses elendes Gefühl, das selbst durch den reichlichen Genuß von Stachelbeeren und Frühbirnen nicht zu unterdrücken war. Mir war manchmal ganz schlecht zu Mute und selbst die Mahlzeiten hatten für mich ihre Freuden verloren.

„Kind, iß doch!“ sagte Krischane eines Tages bei der Vespermahlzeit zu mir. Wir saßen um den Kaffeetisch, die Eltern waren ausgefahren und Herr Nottebohm saß auf dem Ehrenplatz.

„Mich deucht, das Essen smeckt dich nich mehr, und ich hab’ [423] doch heute gebacken! Nottebohmen, langen Sie mich mal den Teller mit Weißbrot her! Da haben Sie all neun Snitten von gegessen. Was genug is, das is genug! Hier unten die Kinners wollen auch ihr Teil haben, und das is ihr Recht, wo ihr Vater das for ihnen bezahlen thut. Die Smarotzers können nich allens kriegen!“

Ich hatte noch niemals Krischane in dieser Weise mit Herrn Nottebohm sprechen hören und machte große Augen, während Jürgen mir zunickte.

„So spricht sie jetzt immer mit ihm, wenn Mama und Papa nicht zu Hause sind!“ flüsterte er mir zu. „Sie ist furchtbar böse auf ihn!“

Ja, böse mußte sie auf ihn sein. Anzügliche Redensarten, die ich nur halb oder gar nicht verstand, und Grobheiten, die jeder verstehen konnte, flogen dem armen Herrn Nottebohm nur so um die Ohren. Er nahm sie ziemlich ruhig hin und sein Appetit schien nicht darunter zu leiden, Krischane selbst aber schien sehr aufgeregt. Sie aß und trank fast gar nichts, obgleich sie sonst bei den Mahlzeiten durchaus nicht von Luft lebte. Heute aber war sie wie ein Gefäß, aus dem Gift und Galle zu gleichen Teilen heraussprudelten.

„Aber Krischane!“ sagte ich endlich. „Weshalb bist du doch so häßlich gegen Herrn Nottebohm?“

Sie sah mich finster an, während der Kandidat laut auflachte. Es war das erste Mal, daß ich ihn von Herzen lachen hörte, und es klang so nett, daß auch ich einstimmen mußte, obgleich ich nicht wußte, weshalb. Auch die andern lachten, bis auf Krischane, die plötzlich aufstand und ohne ein Wort zu sagen das Zimmer verließ. Wir kümmerten uns aber nicht darum, und da Herr Nottebohm durch sein Lachen mir gezeigt hatte, daß er wirklich gemütlich sein konnte, so quälte ich ihn so lange, bis er mir eine hübsche Geschichte aus dem Jahre 1848 erzählte, wo er als junger Student den Krieg mitgemacht hatte und beinahe in dänische Gefangenschaft geraten war. Er erzählte wirklich ganz anschaulich, etwas langsam allerdings und ziemlich umständlich, aber dafür dauerte die Geschichte auch desto länger, was doch sehr angenehm war.

Krischane sahen wir wenig in den nächsten Tagen. Sie arbeitete viel im Hause herum und war gegen uns alle so unfreundlich wie möglich. Nur als mein Abreisetag kam und ich unter vielen Thränen einen Proviantkorb packte, dessen Inhalt mich abwechselnd mit Wonne und dann wieder mit Rührung erfüllte, da erschien Krischane plötzlich mit einem Glase eingemachter Erdbeeren.

„Da! Smeiß es man nich kaput und verdirb dich auch nich den Magen an!“

„Vielen Dank, Krischane!“ rief ich erfreut. Dann aber weinte ich doch wieder und Krischane setzte sich mit untergeschlagenen Armen vor mich hin.

„Nu ja, nu ja, erst lachst du, und dann weinst du! So geht das nu zu in die Welt; das is allens veränderlich, die Smerzen und die Freuden. Bloß bei mich nich. Da is allens bloß voller Smerzen!“

Sie stöhnte tief auf und strich sich das Haar glatt, wie es ihre Gewohnheit war.

„Nich mal gelesen hat er ihm! Nich mal gelesen! Und denn sagt er, daß mein Brief zu slecht war, wo mein Vater doch ein richtigen Bauer war. Mit achtzig Tonnen Land und Kühens und Sweinens, und wenn Vater nich getrunken hätt’ und bankrott wurde, denn könnt’ ich noch ein Bauertochter sein und ein Mann mit ’n Bauerstelle haben. Von so ’n Nottebohm braucht’ ich mich noch nich zum Narren halten lassen. Denn das is Narretei, wo er sich ein Witmann nennt und man bloß ein in Gedanken is und denn ein gutes Herz haben will und doch bloß auf die Dukatens sieht! Nein, o nein, so ’n Geschichte is doch zu swer – und da soll ich noch freundlich gegen ihm sein? Oh, oh!“

Sie seufzte und murmelte noch eine lange Zeit vor sich hin, und wenn ich nicht mit mir selbst so beschäftigt gewesen wäre, dann würde ich ihr gewiß geantwortet haben. So aber war ich zu sehr von meinen eigenen Angelegenheiten hingenommen, um an die anderer Menschen zu denken. –

3.

Ein ganzes Jahr war vergangen, das ich im großelterlichen Hause auf der stillen Insel zugebracht hatte. Nun war der langersehnte Sommer wieder da und eines Tages stand ich denn von neuem zwischen den Brüdern und feierte mit allen ein fröhliches Wiedersehen. Das Elternhaus war gottlob unverändert, nur Liese, das hübsche Hausmädchen hatte einem andern mehr gutmütig als hübsch aussehenden Wesen Platz gemacht, und im Stall waren einige junge Kälber. Banko, der Stallkater war noch da, Perle sollte noch bei Friederikenruh’ bellen und Christiane Timmermann wirtschaftete nach wie vor in der Küche herum. Sie empfing mich ziemlich freundlich, die Brüder aber sagten, das Leben sei den Winter über eigentlich nicht mit ihr zu ertragen gewesen, sie wäre immer so übler Laune gewesen, daß eigentlich kein Mensch mit ihr es habe aushalten können. Mama habe ihr auch gesagt, sie müsse gehen, wenn sie nicht freundlicher werden wolle, da sei sie denn etwas besser geworden, Herrn Nottebohm aber könne sie noch immer nicht sehen und er gehe ihr auch so viel wie möglich aus dem Wege. Herr Nottebohm war nämlich auch noch da und las an freien Nachmittagen noch regelmäßig die erste Seite von dem Buche über die Landeskunde. Auch sonst war er unverändert, sagte bei Tisch nie viel, aß aber desto reichlicher und hatte dieselbe ruhige Art zu sprechen.

Es war überhaupt gemütlich, daß alles genau so war wie im vorigen Jahr. Auch die Bierkrauts kamen nach wie vor mit ihrem erbärmlichen Fuhrwerk auf den Hof gefahren und die Mutter schalt noch gerade so wie sonst. Die ältern Brüder erzählten, daß sie eine Frau für Fite suche, aber noch keine gefunden habe, da sie sehr reich sein müsse. Liese, unser früheres Hausmädchen, durfte es natürlich nicht sein, da sie erstens arm und zweitens viel zu jung war. Fite sollte eine verständige, ältere Person heiraten, die auf ihn achte, damit er nicht zu große Dummheiten mache. So hatte seine Mutter in einem vertraulichen Augenblick einmal gegen Bruder Heinrich geäußert, und ein solches Wesen war natürlich nicht so ohne weiteres zu finden.

In diesem Jahr hatte ich längere Ferien als im vorigen, aber mir waren auch etliche französische Uebersetzungen, ein Aufsatz über meine Ferienerlebnisse und andere ähnliche Unannehmlichkeiten aufgepackt worden, die ich ebenso überflüssig wie grausam fand, und die mich manchmal mit der Welt unzufrieden machten.

„Krischane, mußtest du auch in den Ferien arbeiten?“ fragte ich unsere Haushälterin eines Nachmittags, als meine Mutter mich mit dem „mittleren Ploetz“ in die Eßstube geschickt hatte, wo ich arbeiten sollte, und wo ich zu meiner Freude Krischane traf, die den Büffettschrank auswischte. Sie schüttelte kurz den Kopf.

„Wenn ich frei hatt’, denn mußt’ ich Gänse hüten!“

„Schreibst du noch manchmal Briefe an die ,Itzehoer Nachrichten’?“ fragte ich weiter.

„Nee!“ antwortete die Gefragte ebenso kurz und eine Zeit lang eifrig räumend und wischend. Nach einer Weile wendete sie sich aber plötzlich wieder zu mir.

„Was fragst du so dummes Zeug? Ich hab’ überhaupt gar nich an die ,Intzehoen’ geschrieben, bloß an die Anzeige, die da ein war und die eine ganz schandbare Lügerei gewesen is! Wie konnt’ ich in mein unschuldiges Herz denken, daß Männers so slecht sein können, wo ich bloß mein, daß Deerns falsch sind! Abers die Männers, die gar kein’ Witmänners sind, und die allens lügen und nich mal mein’ Brief lesen, weil er zu slecht is – zu slecht! Gift und Galle könnt’ ich schlucken, wenn ich an die Männers denk’!“

Sie schluchzte ordentlich ein wenig, und ich wollte ihr gerade sagen, daß die Uebersetzungen aus dem Ploetz auch die Galle aufregten, als Jürgen den Kopf in die geöffnete Thür hineinsteckte.

„Krischane, du hast einen Brief bekommen. Der einzige, der in der Posttasche war! Dabei hielt er der Haushälterin ein großes Schreiben hin, das diese nur zögernd in die Hand nahm.

„Ich ein’ Brief?“ fragte sie mißtrauisch. „Ich erwart’ mich keinen!“

„Er ist aber an dich! An die unverehelichte Christiane Timmermann! Hier steht es, und hinten ist ein Siegel vom Amtsgericht!“

Amtsgericht? Krischane ließ den Brief auf den Tisch fallen, als wenn er glühend wäre. „Ich hab’ mein Lebtag nix mit die Gerichtes zu thun gehabt! Der Brief is nich for mir! Meinst, daß ich sitzen will?“

„Aber Krischane, der Brief ist für dich. Es steht doch hier. An die unverehelichte –“

„Snicksnack!“ Sie wurde dunkelrot vor Zorn. „Was geht [424] das die Gerichtes an, ob ich ’n Mann hab’ oder nich, und was ’n Beleidigung, mir unverehelicht zu nennen, was ja ein ganz gräsiges Schimpfwort is! Du mein Gott, womit hab’ ich das verdient, daß mir die Gerichtes noch verschimpferen, wo ich noch niemals was gestohlen hab’? Der Brief is nich for mir!“

Es half kein Zureden, Krischane wollte den Brief nicht öffnen, obgleich sich allmählich die ganze Familie um sie versammelte und ihr Ratschläge gab. Erst als unser Vater kam, öffnete er das Schreiben für sie, that einen flüchtigen Blick hinein und sagte dann, sie solle zu ihm auf sein Zimmer kommen. Krischane gehorchte zitternd; als sie nach einer halben Stunde wieder erschien, hatte sie stark geweint, sah aber sonst ganz gefaßt aus.

„Nun, was war denn die ganze Geschichte?“ fragte Herr Nottebohm. Er trank gerade Kaffee im Eßzimmer und sah ungewöhnlich neugierig aus. Krischane setzte sich ihm gegenüber und stemmte beide Arme auf den Tisch.

„Nottebohmen,“ sagte sie strenge, „Sie haben sich um nix, um rein gar nix zu kümmern, denn Sie sind ein slechten Mann, wenn Sie auch jedwede Mittewoche und Sonnabend was aus Schröder sein Toppografie lesen, was ja woll ein gräsig gelehrtes Buch is. Und ich will Sie das auch ganzen gewiß nich verzählen, daß mein Onkel Detlev Piepgras in Krempe, mit Verlaubnis zu sagen, totgeblieben is und ich nu alles krieg’, was er hat. Siebentausend preusche Thalers mit ’n Haus und Garten. Und vermacht hat er mich das natürlicheweise nich, abers weil da kein Testament is und er von den Wagen rabgefallen und ganzen plötzlich verstorben is und weil da kein’ andere Leibeserben sind, so – sie unterbrach sich kurz „Nee, Nottebohmen, man nich so ankucken! Sie wissen woll selbst am besten, was Sie for einen sind.“

Nein, Krischane wollte keinem Menschen von ihrer Erbschaft erzählen, aber nach einer Stunde wußten die Leute im Hirschkrug nicht allein von allem Bescheid, auch Frau Bierkraut, die gerade angefahren kam, erging sich in herzliche Glückwünsche. Es war, glaube ich, das erste Mal, daß Krischane und Mutter Bierkraut sich miteinander unterhielten, ohne sich gegenseitig die liebenswürdigsten Beinamen zu geben. Aber Krischane dachte nicht an Schelte; sie war ganz „verbahst“, wie sie uns den ganzen Abend versicherte, und hörte geduldig zu, als Mutter Bierkraut ihr die verschiedenartigsten Ratschläge gab, um ihr Geld zu verdoppeln, ja zu vervierfachen.

Es war selbstverständlich ein interessanter Tag für uns, und auch am folgenden sprachen wir noch viel über Krischane und ihre Erbschaft. Sogar Herr Nottebohm beteiligte sich an der Unterhaltung und sagte allerlei kluge Dinge über unerwartete Erbschaften und daß er auch einen Onkel gehabt hätte, der plötzlich gestorben sei. Aber er hatte leider acht Kinder und noch dazu kein Vermögen gehabt, so daß sein Tod für die Anverwandten nicht weiter erfreulich gewesen war.

Krischane war in den nun folgenden Tagen recht unausstehlich, was besonders unsere Mutter mit Seufzen bemerkte. Denn erstens kochte sie übernatürlich schlecht und erklärte zu ihrer Entschuldigung, dies käme daher, weil sie die Nacht aus Angst vor Dieben, die in Krempe ihr Eigentum stehlen könnten, nicht schliefe. Dann aber saß sie in allen freien und unfreien Stunden mit Mutter Bierkraut zusammen, die plötzlich einen andern Menschen angezogen hatte und so freundlich war, wie man es kaum für möglich gehalten hätte. Der Fisch- und der andere Kleinhandel der liebenswürdigen Dame schien ihrem Sohn Fite übertragen zu sein, sie selbst gab sich Ferien, saß stundenlang auf unserm Hof vor der Küche, und sie und Krischane flüsterten und berieten wohl stundenlang.

Einige Tage ließ meine Mutter die Haushälterin in Anbetracht des glücklichen Ereignisses gewähren, dann aber meinte sie, es sei wohl richtiger, daß Krischane unsern Dienst verließe und sich zu ihrer Erbschaft nach Krempe begäbe. Ich begegnete ihr gerade, als ihr diese Mitteilung gemacht worden war, und sie nickte mir trotzig zu.

„Ja, Kind, nu muß ich reisen! Und bloß darum, weil ich siebentausend Thalers geerbt hab’ und ein büschen viel an mir denke! Warum kann ich denn nich auch mal an mir denken? Was geht mir das an, wenn ihr mal ein büschen salze Suppe kriegt? Dein’ Mutter kann gern noch ein büschen Geduld mit mich haben, wo ich doch selbste noch nich genau weiß, ob ich’s thu, oder ob ich es nich thu’!

„Was willst du vielleicht thun?“ fragte ich neugierig, während sie langsam neben mir herging. Wir hatten uns im Garten getroffen, wo ich den Auftrag hatte, Blumen zu pflücken.

„Darüber sprech’ich nich!“ sagte sie würdevoll. „Bierkrautsch sagt auch, snacken schadet bloß, so lang noch nich alles in Ordnung is. Fite will ja nich. Er sagt, er kriegt so furchtbar das Gräsen, wenn er an Heiraten denkt, und ich muß mich das auch noch sehr überlegen. Den Bierkrautsch is recht ausverschämt, wo sie nich allein ein neues Pferd, sondern auch noch ’n Wagen haben will und von ’n Sofa in ihr’ beste Stube und ein’ neue Federdecke für ihr Bett hat sie auch noch gesnackt. So was kost’ doch bannig Geld und ich weiß gar nich, ob mich die Geschichte das wert is. Er is ja ein ganzen smucken Jungen, abersten –“

„Was meinst du eigentlich?“ fragte ich mit weit aufgerissenen Augen.

Krischane, die halb in Gedanken die Worte vor sich hingemurmelt hatte, fuhr etwas zusammen.

„Pflück’ du dein’ Blumen und laß das Fragen!“ bemerkte sie. „Ich kann snacken, was ich will, und wenn dein Mutter mich aus ’n Haus smeißt, denn muß ich mir ja beeilen. Wo ich sonsten die Sache mich noch überlegt hätte und gelegentlich auch mit Nottebohmen ein Wort snacken thät. Er is ja ein slechten Mensch, kein ein weiß das so genau wie ich, aberstens ein Studierten is er auch und könnt’ mich ja doch ein’ Rat geben. Denn teuer is es und was ich for mein Geld krieg’, kann ich noch so ganzen genau nich sagen, wenn er auch ein netten Jung’ is. Aberstens ein Pferd und ’n Wagen und denn noch ein Sofa –

Sie stockte plötzlich und sah nach dem Gartenthor hin, durch das gerade Herr Nottebohm ging. Es war nämlich am späten Nachmittage, und der Kandidat schien seinen abendlichen Spaziergang zu machen, der manchmal mit einem Besuche im Hirschkrug endete.

„Er hat ein Loch auf ’n Ellenbogen und kein ein stoppt ihn das!“ bemerkte Krischane. „Und dorbei is sein Vater Sneider gewesen, was doch ein Geschäft is, wo man nähen bei lernt. Aber so is das mit die Gelehrsamkeit.

„Jürgen sagt, Herr Nottebohm wäre gar nicht so gelehrt!“ sagte ich. „Im Lateinischen und im Griechischen weiß er gar nicht viel und wenn Papa nicht wäre –.“

„I, so kuck’ mich mal den Grünsnabel an!“ schalt Krischane. „Was weiß so ’n Kiekindiewelt vons Lateinische und vons Griechische! Nottebohmen weiß genug for so’n Kinners, als Ihr seid! Wenn er nich so ’n slechten Mann wär’ und meinen Brief gelesen hätt’ – damalen, als er soviel Briefens kriegte und kein ein ihn doch paßte, denn – – Kind, kuck’ mir nich so an und pflück’ dein Blumens! Ich sprech’ gar nich mit dich – ich snack ein büschen mit mich ganzen allein, was auch ’n Erholung is, wenn man von sein Stelle gekündigt is, wo man noch gar nich abgehen wollte. Zu November wollte ich ja natürlicheweise fort, wo ich doch nach mein Haus sehen muß und nach mein Vermögen und auch nich mehr nötig hab’ zu dienen abers nu in August paßt mich das ganzen und gar nich. Denn ich hab’ mir noch nich über alles besonnen!

Herr Nottebohm war schon lange verschwunden, Krischane aber stand noch immer und sah die Gartenthür an, aus der er gegangen war. Sie seufzte dabei, sagte, er wäre ein schlechter Mann, und fuhr Trina, unser neues Hausmädchen, sehr unfreundlich an, als diese erschien, um ihr zu melden, daß Frau Bierkraut sie sprechen wolle. Aber dann ging sie doch zu ihr, und als ich später über den Hof ging, saßen Krischane und ihre Freundin eng aneinander gedrückt auf der Steinbank an der Küchenseite und flüsterten eifrig zusammen.

Einige Tage waren vergangen, da kam Milo zu uns ins Zimmer gestürzt, wo wir alle auf Krischane und den Nachmittagskaffee warteten. Herr Nottebohm war auch schon lange da und hatte halb in Gedanken bereits einen ganzen Teller mit Butterbrot aufgegessen.

„Kaffee kriegt ihr heute alle nicht!“ schrie Milo triumphierend. „Krischane hat es selbst gesagt. Sie kehrte sich den Deubel an unsern Kaffee, sagte sie, als ich sie fragte, weshalb sie immer draußen auf der Bank vor der Küche sitzen wollte!

„Weshalb sitzt sie denn da?“ fragte Herr Nottebohm.

„Ja, das weiß ich nicht. Fite Bierkraut sitzt neben ihr und sie hat ihn an der Hand gefaßt. Er weinte gerade furchtbar, als ich vorüberging, und Krischane sagte zu ihm, wenn er nicht gleich

[425]

Musikanten in der Sommerfrische.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[426] still wäre und lachte, dann würde er etwas erleben, aber er wischte sich nur die Augen. Nein, Kaffee giebt es nicht! Herr Nottebohm war nicht allein aufgestanden, sondern hatte auch ein Stück Butterbrot, das er gerade zum Munde führen wollte, wieder auf seinen Teller gelegt. „Ich werde einmal nachsehen –“, begann er, da öffnete sich aber die Thür und Krischane trat mit der dampfenden Kaffeekanne ein.

„Hier is er!“ sagte sie feierlich. „Ich hab’ mir besonnen, und wenn ich auch was an Milo von den Deubel sagte, so mein’ ich das nich so slimm. Denn sein Pflicht muß der Mensch thun, auch wenn er verlobt is und die Hochzeit vor die Thür is!“

„Verlobt?“ Es war Herr Nottebohm, der dies Wort wiederholte und Krischane nickte ihm triumphierend zu.

„Ja, ja, Nottebohmen, Sie denken das woll nich, daß ich mir auch noch mal verloben kann, wo andere Leute meinen Brief so slecht gefunden haben, daß sie ihm nich lesen wollten! Und ich bin doch nich so ganzen slecht, wo ich nu was geerbt hab’ und auch gut kochen kann und mit die Wäsche Bescheid weiß! Und die Löchers auf ’n Ellenbogen und untern Arm, die hätt’ ich auch noch stopfen können – ihre Stimme hatte schon lange gezittert, nun schluchzte sie etwas.

„Krischane, weshalb weinst du?“ fragten wir, die wir Speise und Trank über ihrer Mitteilung vergessen hatten.

„Ich wein’, weil ich so vergnügt bin! Wenn man ganzen vergnügt is, denn muß man weinen. Und nu kommt man aus die Stube und gratteliert Fite Bierkraut, der nu mein Bräudgam is. Wenn die Hochzeit gewesen is, denn nenn ich ihm Friedrich!“

Selbstverständlich folgten wir der Aufforderung, Fite Bierkraut zu gratulieren. Er stand mit niedergeschlagenen Augen in der Küche, zupfte verlegen an seinem Bärtchen und sprach kein Wort, während er uns die Hand reichte, seine Mutter aber war auch da und machte desto eifriger die Unterhaltung. Frau Bierkraut sah zum erstenmal in ihrem Leben heiter und gleichzeitig ungemein wichtig aus.

„Ja, was ’n Glück for Krischane, Kinners,“ sagte sie „daß sie nu mein Fite kriegt! Er is wirklich ein guten Jung’ und hat mich ein Berg Geld gekostet, was ich for die Erziehung ausgegeben hab’. Abers Krischane muß mich das Geld natürlich wiedergeben und mir auch in ihren Testament bedenken. Denn wo sie doch zu Jahren is, kann sie leicht vor mich abscheiden!“

Frau Bierkraut sprach noch mehr, denn wenn sie einmal im Zuge war, dann konnte sie kein Ende finden. Wir aber liefen bald wieder zu unserm Kaffee zurück und wunderten uns über Herrn Nottebohm, der erklärte, keinen Durst zu haben, und auf sein Zimmer ging.

(Schluß folgt.)




Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Der neue Themsetunnel in London.

Durchschnitt des Blackwalltunnels.

Tunnelbauten waren schon in uralten Zeiten den Menschen bekannt. Die Aegypter, Perser und Römer versuchten mit großem Geschick diese Maulwurfsarbeiten auszuführen, und Reste der alten Tunnel erregen noch heute die Bewunderung der Sachverständigen. Alle diese Bauten wurden jedoch in trockenem Grunde ausgeführt, erst unser Jahrhundert vermochte das schwierigere Kunststück zu vollbringen, Tunnel unter Wasser fortzuführen, unter Flüssen und Seen neue Wege für den Verkehr zu schaffen.

Der erste Bau dieser Art wurde in London hergestellt. Aus Rücksicht auf die Schiffahrt konnte man die Themse nicht überall mit Brücken überspannen, und als der Verkehr der Millionenstadt im steten Wachsen begriffen war, entschloß man sich, die beiden Ufer des Stromes durch einen Hohlweg unter der Themse zu verbinden. Der berühmte Ingenieur Brunel übernahm die Ausführung des schwierigen Werkes, das durch Einsickern des Grundwassers von Schritt zu Schritt bedroht wurde. Der erste Themsetunnel zwischen Wapping und Rotherhithe wurde im Jahre 1825 begonnen, und erst im Jahre 1842 konnte er dem Verkehr übergeben werden. Seine Länge beträgt 396 m und seine Baukosten beliefen sich auf 9½ Millionen Mark. – Damit war die Bahn gebrochen und es folgten bald neue Tunnelbauten unter Wasser sowohl in der Alten wie in der Neuen Welt, ja die Technik ist soweit fortgeschritten, daß Sachverständigen selbst der Bau eines Tunnels unter dem Kanal zwischen England und Frankreich durchaus möglich erscheint.

Der Brunelsche Tunnel wurde im Jahre 1865 in den Dienst der Eisenbahn gestellt und für den Wagen- und Fußgängerverkehr baute man bei Tower-Hill einen neuen. London wuchs indessen stetig und der Wunsch nach weiteren Verkehrsmitteln wurde von neuem rege. So beschloß man, die Themse an einer dritten Stelle zu unterwühlen und die Stadtteile Kent und Middlesex durch einen neuen Tunnel zu verbinden. Am 23. Mai d. J. hat unter großer Feierlichkeit die Eröffnung des nach fünfjähriger Arbeit vollendeten Werkes stattgefunden, der neue Weg führt unter dem Teile des Flusses hin, der den Namen Blackwall trägt.

Querschnitt des fertigen Tunnels. Querschnitt der Arbeitskammer.


Unsere Abbildung „Durchschnitt des Blackwalltunnels“ zeigt den [427] Zug des Tunnels von Ufer zu Ufer und durch die Tiefe. Von den architektonisch ausgeführten Zugangsthoren führen geneigte Strecken auf die tiefste wagerecht gelegene Tunnelstrecke, deren Länge allein 394 m beträgt. Um die Arbeitsdauer möglichst abzukürzen, wird der Bau gewöhnlich von verschiedenen Stellen aus in Angriff genommen, zu diesem Zwecke werden senkrechte Schächte angelegt, von denen aus die Arbeit begonnen wird. Diese Schächte dienen als Luftschächte und auch zur Wegführung des ausgeräumten Erdreichs. Sie bleiben zum Teil als Ventilationsschächte nach Vollendung des Tunnels bestehen, zum Teil werden sie später geschlossen und beseitigt.

Vorderansicht des „Schilds“.

Von der Stelle aus, wo das Eindringen von Grundwasser möglich ist, werden derartige Tunnel als Rohre von Eisen oder Stahl ausgebildet, und zu diesem Zwecke errichtet man unter der Erde eine eigenartige Arbeitskammer.

An der Spitze derselben befindet sich die Tunnelbrust oder der sogenannte „Schild“. Unsere Abbildung zeigt eine Vorderansicht dieses von Brunel ersonnenen Hilfsmittels. Der Schild, der beim Bau des Blackwalltunnels benutzt wurde, war ein riesiges Stahlrohr mit einem Durchmesser von 8 m, er war 6 m lang und wog 230 Tonnen. Durch Anbringen wagerechter und senkrechter Planken war er in 12 Kammern geteilt, von denen jede je zwei Arbeiter aufnehmen konnte. Seine Rückseite war durch wasser- und luftdichte Thüren abgeschlossen. In den Kammern der Schilder verrichten die Arbeiter das Ausgraben des Erdreichs, es wird ihnen dabei komprimierte Luft zugeführt, die ein Eindringen des Wassers verhütet. Gefahrlos sind solche Arbeiten keineswegs, die verdichtete Luft greift die Atmungswerkzeuge erheblich an, die Gefahr des Einsturzes oder Wassereinbruches lauert beständig, aber die Hilfsmittel der Technik sind auch so vervollkommnet, daß während des Tunnelbaus bei diesem Teil der Ausgrabung kein Unfall sich ereignet hat.

Hinter dem Schild ist in enger Verbindung mit ihm ein weiterer, gleichfalls aus Stahlrohr geformter, Baum angebracht in welchen das ausgegrabene Erdreich bergmännisch fortgeschafft wird. Unsere Abbildung „Querschnitt der Arbeitskammer“ zeigt die Art und Weise, in welcher die Tunnelarbeiten ausgeführt wurden. Vorn im Schilde hacken die Arbeiter das Erdreich auf und schütten es durch zeitweilig geöffnete Rinnen in den hinteren Teil der Kammer. Ist nun vor dem Schilde ein genügender Hohlraum geschaffen worden, dann wird die gesamte Arbeitskammer vermittelst hydraulischer Pressen oder Rammböcke gegen das feste Erdreich vorgeschoben. Hinter der Arbeitskammer wird dann der Tunnel wasserdicht ausgebaut, während vor dem Schild die Wühlarbeit von neuem in Angriff genommen wird. Bei dem Blackwalltunnel begann der Schild am 13. Mai 1893 zu arbeiten. Je nach der Beschaffenheit des Erdreichs rückte er in 24 Stunden um 3 m oder auch nur 1/2 m vor. Zeitweilig mußte die Arbeit ruhen, da am Schild und an der Kammer Reparaturen nötig wurden. Am 5. Oktober 1896 war endlich die vom Wasser gefährdete Strecke völlig durchbohrt und wasserfest ausgekleidet, so daß nur noch der Ausbau des Tunnels nötig war.

Unsre Abbildung „Querschnitt des fertigen Tunnels“ zeigt uns die innere Anordnung des Riesenrohres. Dasselbe hat einen Durchmesser von 8 m und ist in zwei Abteilungen getrennt. Die untere, kleinere ist für Fortführung von Gas- und Wasserleitungsrohren, Telephondrähten usw. bestimmt, die obere dient dem Verkehr. Die Fahrbahn ist so breit gehalten, daß zwei Fuhrwerke einander ausweichen können, außerdem sind rechts und links zwei Stege für Fußgänger angebracht.

Der nunmehr vollendete Bau kann als ein wahrer Triumph der modernen Technik betrachtet werden, denn er wurde nicht in den für Wassergefahr sichereren Thonschichten, sondern durch einen Sandgrund geführt, bei dem die Möglichkeit des Wasserdurchbruchs jeden Augenblick gefürchtet werden mußte. An einer Stelle kommt der Tunnel so nahe an das Strombett, daß man dasselbe in einer Höhe von 3 m und einer Breite von 50 m durch künstliche Ablagerungen erhöhen mußte. Unsre Abbildung, die den Zug des Tunnels darstellt, deutet diese Ablagerung an der Stelle an, wo sich ein Schiff befindet. Die Gesamtkosten des Baues belaufen sich auf etwa 22 Millionen Mark. Beim Beginn der Tunnelarbeiten haben viele Ingenieure dem kühnen Werke ein schlimmes Ende prophezeit, heute dient es der Menschheit; ein neuer Beweis, daß die Technik der Neuzeit alle Schwierigkeiten zu überwinden versteht. A. Hollenberg.     


Blätter und Blüten.

Aufruf für ein Rittershaus-Denkmal. An das deutsche Volk ergeht ein Aufruf, dem wir gern die weiteste Verbreitung geben möchten. Handelt es sich doch darum, das Andenken eines Mannes zu ehren, der allezeit mit glühender Begeisterung für deutsches Wesen eintrat, um das Andenken von Emil Rittershaus, der zu den volkstümlichsten Dichtern der Gegenwart zählt und dem die „Gartenlaube“ im Laufe der Jahre so viele und so herrliche Lieder zu verdanken gehabt hat. Emil Rittershaus hat sicher verdient, daß ihm ein dauerndes würdiges Erinnerungszeichen gewidmet werde, und mit Freuden können wir mitteilen, daß bald nach seinem am 8. März dieses Jahres erfolgten Tode ein Komitee sich gebildet hat, das die Errichtung eines Denkmals für den „Dichter des sangesfrohen Rheinlandes“ in seiner Vaterstadt Barmen erstrebt. Dasselbe hat soeben einen Aufruf erlassen, in welchem mit warmen Worten die großen Verdienste Rittershaus’ gewürdigt werden.

„Ueberall, wo deutsches Wort und Lied aus deutschem Munde tönt,“ heißt es in demselben, „hat die Trauerkunde die Herzen bewegt, daß Deutschland wiederum einen Dichter von wahrhaft volkstümlicher Bedeutung verloren hat, in dessen Persönlichkeit die Grundzüge deutschen Wesens sich rein und kernhaft ausprägen“.

Auf der Grenze Rheinlands und Westfalens geboren, hat er in treuer Liebe zur Heimat des Rheines Herrlichkeit wie Westfalens markige Kraft gepriesen, daß dort die Herzen allzeit mitklingen werden mit seinen Liedern. Aber wie wenige hat er auch den traulichen Reiz und das stille Glück des deutschen Hauses besungen und über den Rahmen von Haus und Heimat hinaus die flammenden und erhebenden Worte seiner Dichtung in den Dienst der idealen Mächte deutschen Volkslebens gestellt, ein Mahner und Herold der Nation in ihren trüben wie in ihren glorreichen Tagen.

Wie den Dichter hat auch den Menschen die wärmste und begeistertste Teilnahme für die großen Aufgaben der Menschlichkeit und Gesittung ausgezeichnet, während eines arbeitsreichen Lebens ist er unausgesetzt bemüht gewesen, durch That und Wort in bahnbrechender Weise alle nationalen Bestrebungen zur Hebung der Volksbildung und Volkswohlfahrt zu fördern, mit denen sein Name als der eines wahren Volksfreundes immerdar verbunden bleiben wird.

So im Dichten und Wirken ein echtdeutscher Mann von höchstem sittlichem Idealismus und von reichstem Gemüt, dem auch der heitere Scherz froher Stunde ein Willkommener Gast war, lebt er unauslöschlich in den Herzen aller der Tausenden, die seines Geistes einen Hauch aus seinen Werken oder aus seinem Leben verspürt haben, als einer der besten Söhne unseres deutschen Vaterlandes.

Möge dieser Aufruf überall einen kräftigen Wiederhall finden. Möge jeder nach seinem Vermögen ein Scherflein beitragen, damit bald ein sichtbares Zeichen Kunde gebe von der Liebe, die dem verewigten Dichter nachtrauert. Auch die kleinste Gabe wird willkommen sein. Bankdirektor Escher in Barmen ist als Schatzmeister des bestehenden Barmer Lokalkomitees für ein Rittershaus-Denkmal ermächtigt, Beiträge entgegenzunehmen. Ueber dieselben wird seiner Zeit in der „Barmer Zeitung“ und in der „Gartenlaube“ emittiert werden.*      

Nach dem Sturm. (Zu dem Bilde S. 412 u. 413). Brax Folkert war ein forscher Seemann. Und er hatte sich wacker versucht im Leben. Als sie ihn zur Marine aushoben, da hatte er vor Freuden sich nicht lassen können. „Hurra, nu geih’t in de Welt!“ Seitdem hatte er die „Erde und sieben Dörfer“ gesehen, hatte Salzwasser genug geschluckt und sich den Schaum um die Stirn spritzen lassen. Zweimal im Taifun hatte er mit dem Schiff zum Kentern gelegen, einmal war er über Bord gegangen, oben aus der Kreuzbramrah beim Segelexerzieren. Aber sie hatten ihn wieder gefischt, fehlte freilich nicht viel, daß ihn zum Schluß noch ein Hai erwischt hätte, und ein andermal war er mit der Gig des Kommandanten in der Brandung gekentert. Die Sache sah bedenklich aus, aber er hatte, aus dem brodelnden Gischt auftauchend, lustig gelacht. „Nee, so licht bün ick nich dod to kriegen!“

Dann war er heimgekommen und zur Reserve entlassen worden. Am Strand der Nordsee stand die Fischerhütte, in der er geboren war, und zu ihr zog es ihn hin. Der Vater war alt und gichtlahm und es wurde ihm sauer, ins Boot zu gehen und die „Riemen“ zu führen und mit dem großen Netz zu hantieren, da sollte Brax Folkert nun helfen mit seiner jungen Kraft. Und dann war noch etwas da, was ihn mächtig zog: nebenan, in Jes Jessens Fischerkate, da war die blonde Wiebke zu Haus, und mit der war er eins geworden, ehe er hinausging. „Wi wullen uns’ Plünnen tosamensmieten.“ Er hatte sie lieb, und sie dachte nur an ihn, wie er draußen war, und betete für ihn, wenn der Sturm über die See brauste. Und nun hatten sie ihr Haus gegründet – „Rüm Hart, klar Kimmming!“ (Weites Herz, klarer Horizont!) hatte ihm der Pfarrer zugerufen wie sie aus der Kirche traten und ihm freundlich auf die Schulter geklopft. Und Wiebkes Augen hatten nett in den Tag geschaut.

Es ging so alles so gut in der Fischerhütte. Sie wollten beide das Rechte. Und arbeiten wollten sie. Da war er denn wieder eines Morgens mit Sonnenaufgang an den Strand gegangen, er und Wiebkes Bruder und der Fischerknecht Peter, und hatte das Boot klar gemacht. „Hol’ di munter, Wiebke!“ hatte er gesagt und sie lachend umfaßt, und dann hatten sie Segel gesetzt und waren hinausgefahren vor frischer Brise. „Bang di man nich, wenn’t ’n beten lang duert!“ [428] hatte er noch durch die Hände ihr zugerufen, wie sie am Strande stand und ihm nachwinkte, dann war sie einsam umgekehrt. – Aber die Brise frischte auf und wurde zum Kuhsturm, und über Nacht war ein richtiger Sturm daraus geworden. Es schmetterte und heulte über der wütenden See und nun den Giebel des Fischerhauses. Der Alte saß still bedenklich am Tisch und rauchte und horchte hinaus. Wiebke las im Gesangbuch und ihr Herz zitterte, und flackernd brannte die Lampe. Da fuhr ein brüllender Windstoß gegen das Fenster und warf eine Scheibe heraus, daß sie klirrend am Boden zersprang. Die Lampe verlosch. Wiebke schrie auf. „Gottverdoria!“ murmelte der Alte, „dulle Wedder vun Nacht!“

Gegen Morgen flaute es ab und die See ging herunter. Aber vom Boot keine Spur. Bei Sonnenuntergang sahen sie’s endlich, wie es sich aufkreuzte gegen den Wind. Arg zerrissen sahen die Segel aus – war eine böse Nacht gewesen. – Aber nun waren sie da!

Nur Brax Folkert war nicht dabei! Er war beim Festmachen des Klüwers über Bord gegangen, wie der Stampfstock gebrochen war und der Klüverbaum. Sie hatten ihn wieder gesucht. Es war ein fürchterlicher Kampf gewesen mit der See und dem Sturm und dem Tode. Gegen See und Sturm hatten sie gewonnen, aber der Tod hatte gesiegt. Ein stiller Mann lag im Boot, als sie ihn gefaßt und in den vollgeschlagenen Ewer gezogen hatten.

Nun lag er vor seiner Hütte auf der Totenbahre, und neben ihm kniete wortlos in ungeheurem Leid Wiebke, „Hol’ di munter!“ klang es in höhnendem Echo vor ihrem Ohr. Der Alte hatte die Hände gefaltet. „Min ole leewe Jung!“ schluckte er, aber weinen konnte er nicht. – „Dor buten (da draußen) in all de Jahren is em nix passiert,“ sagte Peter zu den Nachbarn, „und hier to Huus mutt he dran! Je – ja!“

Von der See her schrieen die Möwen, und die untergehende Sonne spiegelte sich mit mattem Glanz im nassen Sande des Strandes, den der Sturm überflutet hatte. In kurzen Stößen fuhr der Wind wie klagend über das rauschende Strandmeer und Wiebke warf sich über die Leiche und weinte jammernd auf. Das alte Lied – Seemannslos! P. G. Heims.     

Die Araukarie im „Weinberg“ bei Walzenhausen.
Nach einer photographischen Aufnahme von W. H. Hane.

Die Araukarie im „Weinberg“ bei Walzenhausen. (Mit Abbildung.) Im Jahre 1793 wurde von der Norfolkinsel im Stillen Ocean ein Nadelholzbaum nach Europa eingeführt, der heute eine der schönsten Zierden in unseren Gewächshäusern bildet. Es ist die Araucaria excelsa, die durch ihren regelmäßigen Wuchs sich auszeichnet. Verschiedene Arten der Araukarien bilden in Australien und Südamerika große Wälder und werden als Nutzbäume hochgeschätzt, da sie vorzügliches Holz liefern. In Deutschland können sie nur als Kübelpflanzen gehalten werden, da man sie im kalten Gewächshaus überwintern muß. Darum kann es als eine merkwürdige Erscheinung verzeichnet werden, daß im Hofe „Weinberg“, der oberhalb des Rheins vor seinem Einfluß in den Bodensee zwischen Rheineck und dem viel besuchten Luftkurort Walzenhausen gelegen ist, eine Araukarie seit Jahren im Freien gedeiht und Früchte reift. Der Baum gehört der Art Araucaria imbricata an, die in Chile heimisch ist und dort eine Höhe von etwa 30 m erreicht.

Der Baum, der ein Alter von etwa 50 Jahren hat, kam in den vierziger Jahren als ein 30 cm hohes Pflänzchen aus dem Botanischen Garten in Zürich und gedieh vorzüglich. Der Stamm, von etwa 10 m Höhe und einem Durchmesser von 30 cm in Brusthöhe, ist in einer prächtigen Spirale von stacheligen Blättern bedeckt, so daß ein Erklimmen zur Unmöglichkeit wird. Er verzweigt sich regelmäßig und streckt seine in Quirlen stehenden, bis 2 m langen Aeste ziemlich horizontal aus. Diese Aeste sind ganz besonders interessant, denn sie bilden eigentlich fertige Guirlanden; die Nadeln umstehen nämlich ihren Tragzweig spiralig und bedecken ihn, da sie am Grunde breit sind, so vollständig wie die Schuppen den Fisch oder das Schuppentier. So bietet ein Zweig fast den Anblick eines mit wunderbarer Genauigkeit gefertigten Kranzes aus Stechpalmenblättern. Die Nadeln endigen jeweilen in eine haarscharfe Spitze, die beim Anfassen eines Zweiges Vorsicht bedingt. Die Zapfen, die von den Indianern Chiles als Nahrungsmittel verwendet werden, gleichen, wie unsere Abbildung in der oberen Ecke zeigt, in der Form ungefähr denjenigen der Kiefer, erreichen aber die Größe einer wohlausgebildeten Kokosnuß. J. A.     

Musikanten in der Sommerfrische. (Zu dem Bilde S. 425.) „Musikanten!“ rufen die Bauernbuben durch die Gassen und „Musikanten!“ wiederholen entzückt die Stadtkinder, welche auf Sommerfrische hier in dem Tiroler Dörfchen wohnen. Allgemeiner Aufstand folgt und schleuniges Hinausrennen auf den Platz, wo die biederen Virtuosen bereits Posto gefaßt haben und ihre kräftigen, wenn auch durchaus nicht glockenreinen Töne auf den Blechinstrumenten schmettern. Sie wirken trotzdem unwiderstehlich; den Kindern folgen die elegante junge Mama und die Tante, auch das lustig krähende Jüngste wird auf dem Arm mitgenommen. … Nur der Familienvater bleibt ungerührt von diesem Konzert; seine Aufmerksamkeit gilt einzig der jetzt vom Wirtshause her mit dem beladenen Speisebrett und gefüllten Bierkrügel nahenden Kellnerin. Aber er wird sicher seine Spende nicht verweigern, damit nach vollendeter Kunstleistung der Musikantendurst zu seinem Rechte kommt. Drinnen im kühlen Wirtsstübel sitzen dann die wandernden Gesellen ebenso vergnügt wie die Gäste in der Sommerlaube, denn derselbe vortreffliche braune Trank füllt ihre Kugeln und schafft auch ihnen die Stimmung harmlos drohenden Behagens, welche so recht die eigentliche Atmosphäre dieser dörflichen Gebirgssommerfrischen ausmacht. Bn.     

Kleine Friedensstifter. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die Tiercharaktere sind fest ausgeprägt. Freundschaften und Feindschaften zwischen einzelnen Tierarten sind angeerbt und gehen den einzelnen Mitgliedern der Sippen in Fleisch und Blut über. Aber so uralt solche Feindschaften sein mögen, unter dem Einfluß des Menschen werden auch so zähe Fehden beigelegt, wie sie zwischen dem Hunde- und Katzengeschlecht bestehen. Die Bulldogge und das Kätzchen auf unserem Bilde standen wohl im Begriff, unter Geknurr und Gefauche einen grimmigen Strauß auszufechten, aber die lieben Kinder griffen als Friedensstifter ein. Der klügere Hund fügt sich eher als die leidenschaftliche Katze. Die Gewöhnung thut jedoch viel, noch einigemal wird wohl der Anlauf zum Kampf stattfinden, aber durch Friedensvermittlung die Feindschaft beschwichtigt werden. Zuletzt werden die kleinen Friedensstifter doch erreichen, daß in ihrem Haus und Hof Hund und Katze sich friedlich vertragen. *      


☛      Hierzu Kunstbeilage XIII: „Kleine Friedensstifter“. Von M. Seymour-Lucas.


Inhalt: [ Inhalt der Wochen-Nr. 25/1897 ]



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