Die Gartenlaube (1896)/Heft 5
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Nr. 5. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Fata Morgana.
(4. Fortsetzung.)
Als das streitbare Fräulein den Begleiter ihrer Schwägerin erkannte, kam ihr endlich die Sprache wieder, und sie fuhr in sehr gedehntem Tone fort:
„Herr Doktor Bertram – wo kommen Sie denn her?“
„Direkt von Alexandrien,“ versetzte der junge Arzt, indem er die Hand grüßend an die Mütze legte. „Ich hatte das Vergnügen, Frau Mallner zu treffen und ihr meinen Beistand anzubieten, um Sie wieder aufzufinden, mein Fräulein.“
„So – nun jetzt bin ich wieder da,“ sagte Ulrike, die diesen Beistand sehr überflüssig zu finden schien. „Ich begreife nicht,
[70] Selma, wie Du so unachtsam sein konntest, mich aus den Augen zu verlieren. Komm, wir wollen nach Hause!“
Selma wollte sich gehorsam von ihrem Begleiter losmachen, aber dieser hielt sehr nachdrücklich ihren Arm fest und versetzte, ganz unbekümmert um den sehr deutlichen Wink:
„Frau Mallner ängstigt sich in dem Menschengewühl und es ist auch wirklich lebensgefährlich hier in der Muski. Sie gestatten wohl, daß ich Sie noch eine Strecke weit begleite.“
Das Fräulein sah ihn von oben bis unten an, ob dieser Keckheit. „Wir danken, Herr Doktor, Sie können es uns getrost überlassen, allein – ja, was soll denn das heißen?“
Mit diesem entrüsteten Ausrufe unterbrach sie sich plötzlich, denn sie hatte eine ganz merkwürdige Berührung an ihrem Hute gespürt, und sich umwendend, gewahrte sie dicht über ihrem Kopfe den langen Hals eines Kamels, das einen schwarzbraunen Aegypter trug. Es konnte augenblicklich in dem Gedränge nicht vorwärts und benutzte diese Muße dazu, um mit harmloser Neugier den Hut der Dame zu untersuchen, aber da kam es bei dieser übel an. Sie hob den Sonnenschirm und gab dem Tiere einen so nachdrücklichen Schlag auf die Nase, daß es erschrocken zurückschnellte, während der Reiter in ein lautes, drohendes Geschrei ausbrach.
„Ja, schrei nur, Du Affengesicht!“ rief Ulrike, noch immer im hellen Zorn. „Denkst Du vielleicht, ich werde mich von diesem afrikanischen Untier so ohne weiteres auffressen lassen? Dergleichen verbitte ich mir ein für allemal!“
„Die Kamele nähren sich für gewöhnlich nicht von lebenden Menschen,“ sagte der junge Schiffsarzt lachend. „Das Tier war nur neugierig, es wollte Ihnen nichts Böses thun.“
„So wollte es meinen Hut fressen und den gebe ich auch nicht her,“ beharrte das Fräulein. „Aber nun vorwärts, daß wir endlich herauskommen aus diesem Hexensabbath. Mein Lebtag gehe ich nicht wieder in diese verwünschte Muski!“
„Ja, ohne Begleitung ist das auch für Damen nicht ratsam,“ stimmte Doktor Bertram sehr bereitwillig bei. „Aber unter dem Schutz eines Herrn –“
„Wir haben Begleitung,“ schnitt ihm Ulrike das Wort ab.
„Doktor Walter erwartet uns bei den Bazaren.“
Wenn sie glaubte, damit den unwillkommenen Begleiter los zu werden, so irrte sie sich, er rief in freudiger Ueberraschung:
„Ah, Kollege Walter, den wollte ich ohnehin aufsuchen! Ich habe ihn erst kürzlich in Namleh bei einem Landsmann getroffen. Den muß ich sofort begrüßen!“ Dabei hielt er seine Dame unbeirrt fest und steuerte seelenvergnügt mit ihr durch das Gedränge. Die arme Selma stand dabei Todesangst aus, sie wußte, daß sie diese Begleitung werde büßen müssen, so unschuldig sie daran war, und atmete förmlich auf, als sie endlich den Eingang der Bazare erreichten. Doktor Walter, dessen Suchen natürlich erfolglos geblieben war, wartete hier bereits und rief ihnen entgegen: „Nun, da ist ja meine verloren gegangene Patientin! Sieh da, Kollege Bertram! Also haben Sie Wort gehalten und sind auch einmal nach Kairo herüber gekommen? Das freut mich!“
Der junge Arzt schien sich über dies Zusammentreffen noch weit mehr zu freuen, denn er begrüßte den älteren Kollegen so stürmisch, daß dieser ihn ganz verwundert anschaute. Uebrigens schloß er sich ohne weiteres der kleinen Gesellschaft an, war aber nunmehr genötigt, hinter den beiden Damen herzugehen. Fräulein Mallner hatte sich in dem Augenblick, wo die Herren einander begrüßten, ihrer Schwägerin bemächtigt und ließ sie nicht wieder los.
Am Ausgange der Muski machte sie überhaupt jeder ferneren Begleitung ein Ende, indem sie einen Wagen herbeiwinkte und kurz und bündig zu Walter sagte: „Wir fahren nach Hause – adieu!“
„Aber das Wetter ist so wundervoll,“ versuchte Bertram einzuwerfen. „Wäre es nicht besser –“
„Wir fahren!“ unterbrach ihn das Fräulein, mit einem niederschmetternden Blick. „Vorwärts, Selma, steig’ ein – adieu!“
Sie stellte sich dicht vor den Schlag, weil sie sah, daß der junge Schiffsarzt Miene machte, ihrer Schwägerin beim Einsteigen zu helfen. Dann schob sie Selma in den Wagen, stieg gleichfalls ein und in der nächsten Minute fuhren sie davon.
„Fräulein Mallner ist eine sehr kriegerisch angelegte Natur,“ sagte Bertram lachend, indem er dem Wagen nachsah. „Sie kommandiert wie ein Unteroffizier und schleppt ihre Schwägerin davon wie eine eroberte Beute. Eine liebenswürdige Verwandtschaft!“
„Ja, es ist eine merkwürdige Dame,“ stimmte Walter bei. „Sie und ich sind nachgerade dahin gelangt, uns mit aller gegenseitigen Hochachtung so grob wie nur möglich zu behandeln. Auf diese Weise kommen wir aus. Aber wie ist’s, Kollege, darf ich Sie gleich mit nach Hause nehmen? Ihre Zeit wird sehr knapp sein, denn der ‚Neptun‘ liegt ja immer nur drei Tage vor Anker in Alexandrien, aber ein paar Stunden müssen Sie uns jedenfalls schenken!“
„Der ‚Neptun‘ ist schon wieder auf der Rückfahrt. Ich habe einen vierwöchigen Urlaub genommen, um mir Kairo einmal gründlich anzusehen. Man muß das doch kennenlernen.“
Der junge Arzt warf das anscheinend ganz unbefangen hin, aber Walter stutzte und sah ihn scharf an.
„Jetzt, in der Hauptsaison des Lloyd nehmen Sie Urlaub, um sich hier in Kairo zu amüsieren? Das könnte ich mir nicht leisten. Ich habe schon Mühe genug gehabt, mich für die acht Tage in Ramleh frei zu machen, und da lag eine ganz besondere Veranlassung, die Hochzeit eines Freundes, vor.“
„Ja, Sie lassen in solchem Falle auch Ihre ganze große Praxis im Stich. Auf dem Schiffe handelt es sich ja nur darum, daß überhaupt ein Arzt da ist, und ein junger Kollege aus Triest, der vorläufig noch keine Stellung hat, vertritt mich einstweilen. Aber nun eine Frage. Sie nannten Frau Mallner vorhin Ihre Patientin, haben Sie die Behandlung übernommen? Das trifft sich ja ausgezeichnet!“
„Trifft sich? Wieso?“
„Nun, ich meine das natürlich vom medizinischen Standpunkte aus. Der vorliegende Fall scheint sehr interessant zu sein.“
„Daß ich nicht wüßte, er liegt im Gegenteil sehr einfach. Sie hatten also Veranlassung, sich auch damit zu beschäftigen? War Frau Mallner krank während der Ueberfahrt?“
„Das nicht, ihre Schwägerin war seekrank und konnte während der ganzen Fahrt ihre Kabine nicht verlassen, die junge Frau dagegen kam mit einem leichten und ganz kurzen Anfall am ersten Tage davon. Ich verordnete ihr, möglichst viel auf Deck zu sein, da die frische Seeluft ihr wohlthat –“
„Und da haben Sie den interessanten Fall gründlich studiert,“ ergänzte Walter mit vollkommen ernster Miene. „Ja, wir Aerzte können das nicht lassen, auch wenn uns die Sache eigentlich nichts angeht.“
„Ich bin aber noch keineswegs im klaren darüber,“ sagte Bertram, der in seinem Eifer und seiner Ungeduld, den Kollegen zum Reden zu bringen, den Spott gar nicht merkte. „Vom bloßen Sehen und Berichten läßt sich da wirklich nichts feststellen, dazu gehört eine Untersuchung, die Sie jedenfalls vorgenommen haben. Ist der Fall ein schwerer?“
„Je nachdem – es kommt ganz auf die Behandlung an.“
„Auf die Behandlung? Wie meinen Sie das? Ist wirklich ein Lungenleiden vorhanden? Ist es ernster Natur? Mein Gott, Kollege, so reden Sie doch endlich!“
Doktor Walter war boshaft genug, noch einige Sekunden mit der Antwort zu zögern, dann aber sagte er mit einem bedeutsamen Achselzucken: „Nach allem, was ich sehe und höre, ist der Fall allerdings ernst, so ernst, wie er überhaupt nur sein kann.“
„Um Gotteswillen!“ fuhr der junge Arzt so bestürzt auf, daß der Aeltere den angenommenen Ernst aufgab und ihm lachend die Hand auf die Schulter legte.
„Strafe muß sein! Wenn Sie hartnäckig darauf bestehen, mir etwas vorzulügen, so bezahle ich mit gleicher Münze. Uebrigens bleibe ich dabei, der Fall ist sehr ernst – bei Ihnen nämlich! Also lassen Sie gefälligst den medizinischen Standpunkt fahren und beichten Sie, sonst erfahren Sie nichts von mir, keine Silbe.“
In das hübsche, gebräunte Antlitz des jungen Mannes stieg eine dunkle Röte und er sah stumm zu Boden, während Walter fortfuhr: „Der lange Urlaub in dieser Jahreszeit war mir gleich verdächtig, jetzt begreife ich ihn allerdings. Gestehen Sie es nur ein, Sie haben sich verliebt in die junge Frau, gründlich verliebt! Sie sind eigens nach Kairo gekommen, um die Bekanntschaft fortzusetzen, und wollen nun vor allen Dingen wissen, ob Sie überhaupt werben können und dürfen. Wir Aerzte kennen ja am besten die Gefahr der Vererbung bei Lungenkrankheiten oder wollen Sie jetzt noch leugnen?“
„Nein, nein, ich gebe alles das zu!“ rief Bertram. „Aber spannen Sie mich auch nicht länger auf die Folter und sagen Sie mir die Wahrheit. Darf ich –?“
„Wenn’s durchaus nicht anders geht – ja! Von Schwindsucht ist hier keine Rede, es handelt sich nur um eine hochgradige [71] Erschöpfung des ganzen Nervensystems. Die arme kleine Frau ist bei der jahrelangen Pflege des alten Mannes, den sie, wie es scheint, halb gezwungen nahm, in der unerhörtesten Weise angestrengt worden. Sie ist fast niemals aus dem Krankenzimmer hinausgekommen, hat die Nächte hindurch wachen müssen und der selige Martin und seine Schwester werden auch das möglichste gethan haben, ihr das Leben schwer zu machen. Als sie nach seinem Tode selbst erkrankte, wurde sie ebenso rücksichtslos behandelt: Fräulein Mallner mit ihrer Berserkernatur weiß ja gar nicht, was Schonung ist, und da kam es dann schließlich soweit, daß nur das energische Eingreifen des Geheimrats Felder einem wirklich unheilbaren Leiden vorbeugte.“
„Aber er hat doch von einem Lungenleiden gesprochen,“ warf Bertram ein, der mit atemloser Spannung zuhörte.
„Ja, er war gescheit genug, mit der Schwindsucht zu drohen, weil diese Reise eine Lebensfrage für die junge Frau war, und weil sich ihre Schwägerin sonst nun und nimmermehr dazu hätte bringen lassen. Unser berühmter Kollege wußte so genau wie ich, daß Brust und Lunge bei unserer Patientin vollkommen gesund sind, daß sie überhaupt gar keine Anlage zu einer solchen Krankheit hat. Das Nervenleiden ist zu beseitigen, die vier Wochen hier in Kairo haben schon überraschenden Erfolg gehabt, und wenn Frau Mallner den Winter hier bleibt, bürge ich für ihre Herstellung.“
„Hurra, dann wird geheiratet!“ rief der junge Arzt mit ausbrechendem Jubel. „Kollege, liebster, bester Kollege, nehmen Sie es mir nicht übel, aber für die Nachricht muß ich Ihnen um den Hals fallen, es geht nicht anders!“ Und damit überfiel er wirklich auf offener Straße den Kollegen mit einer herzhaften Umarmung.
„Nur nicht so zuversichtlich,“ warnte dieser lachend. „Die Sache ist noch keineswegs ausgemacht. Ich dächte, Sie hätten schon vorhin einen Vorgeschmack davon erhalten, was Ihnen bei Ihrer Werbung bevorsteht.“
„Sie meinen den Kampf mit dem Drachen, der meinen Schatz bewacht? Pah, den fürchte ich nicht!“
„Nehmen Sie die Sache nicht zu leicht. Die junge Frau ist grenzenlos verschüchtert und unselbständig. Sie wird es gar nicht wagen, sich der Bevormundung ihrer Schwägerin zu entziehen, und diese hat sie, wie es scheint, zu ewiger Witwentrauer verdammt.“
„Jawohl, sie führt das Gespenst des seligen Martin immer im Koffer mit sich und läßt es bei jeder Gelegenheit auftauchen, um die arme Selma zu schrecken. Mich schreckt sie nicht damit, ich schlage mich herum mit dem seligen Bruder und der lebendigen Schwester. Ich hatte nur eine Furcht und die haben Sie mir, Gott sei Dank, genommen. Alles andere schlage ich aus dem Felde!“
Das Gesicht des jungen Arztes strahlte in so glückseligem, siegesgewissem Uebermut, daß Walter ihm herzlich die Hand hinstreckte.
„Nun denn, Glückauf dazu! Aber Sie werden den Kriegsschauplatz verlegen müssen, denn ich schicke die beiden Damen schon in den nächsten Tagen nach Luksor. Jetzt aber kommen Sie mit zu meiner Frau, da wollen wir gemeinschaftlich den Angriffsplan überlegen. Ich wiederhole es Ihnen, leicht ist die Sache nicht. Gnade Gott der armen kleinen Frau, wenn die gestrenge Schwägerin erst dahinter kommt, was bei den medizinischen Studien auf Deck eigentlich passiert ist!“
Damit ergriff er den Arm seines jungen Kollegen und zog ihn mit sich fort.
Bei dem deutschen Generalkonsul fand eine größere Festlichkeit statt. Er versammelte vor seiner Abreise noch einmal den ganzen Freundes- und Bekanntenkreis, und dazu gehörte so ziemlich alles, was Kairo an hervorragenden Persönlichkeiten aufzuweisen hatte.
Die weiten, lichtstrahlenden Gesellschaftsräume des Osmarschen Hauses machten einen blendenden Eindruck; denn hier vereinigte sich der moderne Luxus mit echt orientalischer Pracht. Die schweren Goldstickereien der Stoffe, welche die Wände bis zur halben Höhe bedeckten, die kostbaren Teppiche, die auf dem Boden, auf den Diwans oder als Vorhänge an den Thüren ihre leuchtenden Farben zeigten, all die zierlichen oder prächtigen Werke arabischer Kunst aus alter und neuer Zeit, welche die Salons schmückten, gaben diesen etwas Phantastisches, und die Fächer der Palmen, die hier einen Ruhesitz überschatteten, dort eine kleine Fontäne umgaben, erinnerten vollends daran, daß man sich unter einem fremden Himmel befand.
Die Gesellschaft, welche sich in diesen Räumen bewegte, trug ein ähnliches Gepräge. Zwischen den Seiden- und Atlasroben der Damen, den Uniformen der Herren tauchte überall der orientalische Fez auf. Die deutsche Kolonie war natürlich in erster Reihe vertreten, aber auch viele der englischen Offiziere mit ihren Damen waren anwesend, einige hohe ägyptische Würdenträger und all die Fremden und Einheimischen, für die das glänzende gastfreie Haus einen Mittelpunkt bildete. Das alles wogte und flutete durcheinander. Was nur Anspruch darauf erhob, zur ersten Gesellschaft von Kairo zu gehören, das war hier erschienen.
Herr von Osmar, seine Tochter zur Seite, empfing und begrüßte die Gäste. Zenaide, die früh ihre Mutter verloren, hatte es auch schon früh gelernt, die Dame des Hauses zu spielen, und sie that das mit ebensoviel Anmut wie Sicherheit. Man konnte es dem Konsul nicht verdenken, wenn er keine Eile hatte, sie zu vermählen; er verlor zu viel, wenn sie aus seinem Hause schied.
Lord Marwood schien sich solchen Erwägungen allerdings nicht hinzugeben. Jetzt, wo er der Einwilligung des Vaters sicher war, wagte er es auch, den Anschein der Berechtigung in seine ganz offen dargebrachten Huldigungen zu legen, und die kühle Aufnahme derselben beirrte ihn durchaus nicht. Er war unausgesetzt an der Seite der jungen Dame; wo sie auch weilte, wohin sie sich wandte, überall tauchte die hohe Gestalt des Engländers neben ihr auf, und dabei gab er sich offenbar Mühe, so liebenswürdig wie nur möglich zu sein.
Sonneck und Ehrwald waren gleichfalls anwesend. Der Konsul hatte den jungen Mann, der wochenlang in seinem Hause verkehrt hatte, heute füglich nicht ausschließen können, und es war ja auch keine Gefahr mehr bei der Sache, da die Trennung unmittelbar bevorstand. Zu der ihm so dringend empfohlenen Beobachtung fand Herr von Osmar allerdings jetzt keine Zeit, er wurde als Wirt von allen Seiten in Anspruch genommen und mußte mit aller Welt sprechen, aber er sah zu seiner Beruhigung, daß Lord Marwood die Beobachtung übernommen hatte. Dieser würde es schon zu verhindern wissen, daß nicht etwa in letzter Stunde noch eine unliebsame Annäherung erfolgte.
Augenblicklich befand sich der Konsul im Gespräch mit einem alten Herrn, der soeben erst gekommen war und den er jetzt einigen Mitgliedern der deutschen Kolonie vorstellte: „Herr Professor Leutold, unser Landsmann, dessen Name Ihnen jedenfalls bekannt sein wird und der uns nach langer Zeit einmal wieder mit seinem Besuche erfreut.“
Die Herren verbeugten sich. Der Name des deutschen Gelehrten hatte wie der Sonnecks einen Klang, der weit über sein Vaterland hinaus reichte. Er selbst zeigte trotz seiner weißen Haare in Sprache und Bewegungen noch eine jugendliche Rüstigkeit. Das geistvolle, scharfgezeichnete Gesicht verriet freilich, daß er bereits an der Schwelle der Siebzig stand, aber die Augen leuchteten noch hell und ungetrübt hervor unter den weißen Brauen.
„Ja, es sind beinahe zehn Jahre her, daß ich in Kairo war,“ sagte er. „Wenn man auf einem deutschen Lehrstuhl sitzt, kann man sich selten genug Zeit nehmen zu solchen Ausflügen. Jetzt aber habe ich mich für einige Monate frei gemacht und denke, mich nun hier von all den Amtspflichten zu erholen. Sie wissen ja, die ägyptischen Studien sind von jeher mein Steckenpferd gewesen und ich gedenke die Königsgräber von Theben diesmal gründlich zu durchforschen.“
„Und das nennen Sie eine Erholung?“ rief Osmar lachend. „Ich gratuliere zu den Studien in Staub und Wüstensand! Da werden wir uns also baldigst wiedersehen, Sie nehmen doch wohl Ihren Aufenthalt in Luksor?“
„Das weiß ich wirklich noch nicht,“ versetzte der Professor. „Ich überlasse mich darin ganz der Führung Sonnecks, er weiß hier ja am besten Bescheid und wird uns das Hauptquartier aussuchen.“
Der Konsul stutzte, er wußte allerdings, daß die beiden Herren befreundet waren, aber die letzte Bemerkung befremdete ihn doch.
„Geht denn Sonneck gleichfalls nach Luksor?“ fragte er. „Ich weiß ja keine Silbe davon.“
„Es wurde auch erst gestern beschlossen. Ich habe ihn bestimmt, mitzugehen, er ist augenblicklich noch frei, allerdings zu seinem großen Mißvergnügen, aber es ist doch schließlich gleich, ob er es hier oder in Theben abwartet, daß die Herren am grünen Tisch ihm endlich die Möglichkeit geben, aufzubrechen. Er will ja ohnehin den Weg nilaufwärts nehmen, da muß er Luksor in jedem Fall passieren, und mir ist seine Führung und Begleitung von sehr großem Wert.“
„Allerdings – und Herr Ehrwald geht natürlich auch mit?“
[72]
[73] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [74] „Ehrwald? Ach so, der junge Landsmann, den Sonneck in Deutschland aufgegriffen hat und mitnehmen will auf seinem Zuge. Nebenbei gesagt, ein prächtiger Bursche – ja, der geht auch mit.“
In dem Gesichte des Herrn von Osmar malte sich eine sichtlich unangenehme Ueberraschung bei dieser Eröffnung. Er war zwar überzeugt, daß die eifersüchtigen Befürchtungen Lord Marwoods übertrieben seien, und glaubte nicht an eine ernstliche Neigung seiner Tochter, aber dieser Entschluß Sonnecks kam ihm doch äußerst ungelegen, denn er brachte den „kecken jungen Glücksritter“ aufs neue in die Nähe Zenaides. Für den Augenblick ließ sich indessen nichts thun, man mußte den tückischen Zufall hinnehmen.
Der Konsul brach deshalb ab, sprach von anderen Dingen und überließ nach einigen Minuten den Professor den deutschen Herren, während er sich zu Lieutenant Hartley wendete, der eben eintrat.
Reinhart Ehrwald verkehrte inzwischen ganz unbefangen in der Gesellschaft, wo er trotz seines kurzen Aufenthaltes in Kairo bereits heimisch geworden war. Der Sieg, den er damals beim Rennen gewann, und das tollkühne Reiterstück, das er dabei zum besten gab, hatten das allgemeine Interesse auf ihn gelenkt und seine Persönlichkeit war ganz danach, es dauernd zu fesseln. Er hatte entschieden Glück in diesen Kreisen, zumal bei den Damen, und gerade das Stürmische, Gewaltsame, das in seinem Charakter lag und das er nie ganz zu beherrschen vermochte, sicherte ihm seine Erfolge. Er war etwas so ganz anderes als die jungen Herren, denen man dutzendweise in den Salons begegnete, die frische Ursprünglichkeit seiner Natur gewann jeden und wußte jeden festzuhalten.
Er hatte bei seinem Kommen selbstverständlich Fräulein von Osmar begrüßt, zu einem längeren Gespräche aber keine Gelegenheit gefunden, da sie die Pflichten der Wirtin zu üben hatte, und überdies stand der langweilige Lord Marwood wie eine Schildwache an ihrer Seite. Reinhart bezeigte keine Lust, seine Unterhaltung mit der jungen Dame der Kontrolle Seiner Lordschaft zu unterbreiten, und wandte sich nach einigen Minuten der übrigen Gesellschaft zu, die sich jetzt zwanglos in die einzelnen Räume verteilte. Man fand sich in größeren oder kleineren Gruppen zusammen, man begrüßte sich und plauderte in allen Sprachen. Es war das gewohnte Treiben der Salons, nur daß es hier farbenreicher, vielgestaltiger und durch die Menge der verschiedenartigen Elemente auch interessanter erschien.
Die Glasthüren des großen Empfangssaales, die auf die Terrasse hinausgingen, waren der Hitze wegen weit geöffnet. Dort stand Sonneck im Gespräch mit dem Professor Leutold. Die beiden Herren waren seit langer Zeit befreundet. Sonneck hatte vor zwanzig Jahren als junger Student die Vorlesungen an der Universität gehört, wo der Professor schon damals wirkte, und wenn er inzwischen auch selbst zur Berühmtheit und zu einem Weltruf gelangt war, so bewahrte er dem verehrten Lehrer doch die alte Anhänglichkeit. Sie hatten von Deutschland gesprochen, von der Universität und den dortigen Bekannten, als Sonneck plötzlich fragte:
„Wissen Sie etwas Näheres von dem Professor Helmreich? Ich habe ihn nicht gesehen, als ich kürzlich in Europa war, denn auf meine briefliche Anfrage erhielt ich ein kurze, kühle Antwort, aus der ich herauslas, daß mein Besuch ihm nicht erwünscht sei. Infolgedessen unterließ ich es, ihn aufzusuchen.“
„Daran thaten Sie sehr recht,“ entgegnete Leutold. „Ich bin im vergangenen Sommer bei ihm gewesen, als ich einen Ausflug in die Berge machte; er ist aber so verbittert und menschenfeindlich geworden, daß das Zusammensein sehr unerquicklich war. Ich begreife überhaupt nicht, wie ein Mann von der Vergangenheit und dem Wissen Helmreichs sich in einen solchen Ort vergraben kann. Dies Kronsberg ist ein kleines abgelegenes Bergnest, das nicht die geringste geistige Anregung bietet. Freilich, er will ja auch keinen Verkehr, lebt einzig und allein seinen Studien und ist ganz außer sich darüber, daß sich in unmittelbarer Nähe der Stadt ein freilich noch sehr bescheidener Badeort entwickelt, weil ihn das in seiner Einsamkeit stört.“
„Sie wissen es ja, was ihn in die Einsamkeit getrieben hat,“ sagte Sonneck halblaut.
„Ja freilich, die Geschichte machte damals Aufsehen genug, aber deshalb giebt man doch nicht sein Amt und seinen ganzen Freundeskreis auf, wie Helmreich es that. Für ihn hatte alle Welt doch nur Mitleid und Teilnahme.“
„Und eben das ertrug sein Stolz nicht. Ueberdies – es war sein einziges Kind, das er bis dahin geliebt hatte mit der ganzen Kraft seiner herben Natur; daß der Schlag gerade von dieser Seite kam, konnte er nicht verwinden.“
„Nun, die Sache wurde aber doch durch die Heirat wieder ausgeglichen. Jeder andere Vater hätte sich da erweichen lassen und schließlich verziehen. Helmreich hielt seinen Groll fest bis über das Grab hinaus. Die junge Frau ist ja wohl gestorben?“
„Vor zwei Jahren! Und vor vier Wochen habe ich auch Ludwig von Bernried zu Grabe geleitet.“
„Hier in Kairo?“ rief der Professor überrascht. „Wie ist er denn hierher gekommen?“
„Wie so manche gescheiterte Existenz, die ihr Heil schließlich in der Fremde sucht. Es war ein ruheloses, verfehltes Leben, das ein jäher Tod endigte. Ich habe ihn erst auf dem Sterbebette wiedergesehen.“ Sonnecks Stimme bebte hörbar bei den letzten Worten, auch Professor Leutold war ernst geworden.
„Ich weiß, Sie waren befreundet mit ihm,“ sagte er. „Und er zog Sie in die traurige Geschichte mit hinein. Haben Sie Helmreich Nachricht von dem Tode seines Schwiegersohnes gegeben?“
„Ich mußte es wohl, denn Bernried hat ein Kind hinterlassen, ein kleines Mädchen von acht Jahren, das nun ganz verwaist ist. Es soll in einigen Wochen nach Kronsberg reisen.“
Der Professor schüttelte bedenklich den Kopf.
„Ein Kind in dem Hause und bei dem Manne, der vollständig zum Sonderling wurde! Ein trauriges Los für die Kleine.“
„Das fürchte ich auch,“ stimmte Sonneck bei. „Aber das Kind hat sonst keine andere Zuflucht und der Großvater nimmt es auch mit aller Entschiedenheit in Anspruch.“
Vor ihm tauchte das Bild des kleinen sonnigen Wesens auf, mit dem rosigen Gesichtchen und dem frohen Kinderlachen, mit den Augen, die so sehr denen des Vaters glichen, wenn sie im jähen Trotze aufflammten, und kaum hörbar setzte er hinzu: „Armes Kind, was wird aus dir werden in solchen Händen!“
„Jetzt wollen wir uns aber mit den alten trüben Geschichten nicht die heitere Gegenwart verderben,“ sagte der Professor jovial. „Hier schwimmt ja alles in Vergnügen und der junge Herr da plätschert nun vollends darin wie ein Fisch im Wasser. Ja, die Jugend mit ihrer beneidenswerten Genußfähigkeit!“
Die letzten Worte galten Ehrwald, der soeben herantrat und lachend erwiderte: „Man muß ja leider mit dem Strome schwimmen, Herr Professor.“
„Nun, so unangenehm scheint Ihnen diese Beschäftigung gerade nicht zu sein,“ spottete Leutold. „Sie spielen ja den Liebenswürdigen bei dem ganzen weiblichen Kairo und, so viel ich bemerken konnte, mit unleugbarem Erfolge.“
„Ja, man verwöhnt ihn hier in jeder Hinsicht,“ meinte Sonneck. „Und er nimmt das so unbekümmert hin, als ob es sich ganz von selbst verstände. Es ist Zeit, daß wir fortkommen, sonst verdreht man Dir noch vollständig den Kopf.“
„Glauben Sie, daß ich ihn mir so leicht verdrehen lasse?“ fragte der junge Mann mit spöttisch sich kräuselnden Lippen.
„Gönnen Sie es ihm doch heute noch,“ fiel Leutold ein, „die Herrlichkeit nimmt ja bald ein Ende. In Zukunft kann er nur noch den schwarzen oder kaffeebraunen Schönheiten den Hof machen, und das dürfte doch nicht ganz nach seinem Geschmack sein. Ihnen ist es wohl nicht recht, Herr Ehrwald, daß wir jetzt schon das glänzende Kairo hinter uns lassen? Ich kann es mir denken!“
„Mir?“ rief Reinhart aufflammend. „Wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie Herrn Sonneck zum Aufbruch nach Luksor bestimmten! Es ist doch wenigstens eine Erlösung von dem thatenlosen Harren und Warten, das uns nachgerade zur Folter wird, wenigstens ein Schritt vorwärts auf unserem Wege!“
„Nun, der ‚Schritt‘ bedeutet immerhin fünf Tagereisen,“ sagte lächelnd der Professor, dem das ungestüme Vorwärtsdrängen des jungen Mannes zu gefallen schien. „Aber da ist Doktor Walter! Ich muß ein paar Worte mit ihm sprechen: ich möchte mir vor der Abreise das Deutsche Hospital ansehen. Kommen Sie, Sonneck!“
Die beiden Herren gingen und Ehrwald war im Begriff, ihnen zu folgen, blieb aber plötzlich stehen. Während er seine Artigkeiten überall verschwendete, hatte er es gar nicht gesehen, daß ein Paar dunkler Augen ihn suchte und immer wieder suchte. Jetzt sah er es und auch sein Blick hing minutenlang an der jungen Herrin des Hauses, die sich eben losmachte von dem Kreise, der sie mit Aufmerksamkeiten und Huldigungen aller Art umgab.
(Fortsetzung folgt.)
Die X-Strahlung.
In der Rechenkunst wird eine unbekannte, zu ermittelnde Größe mit dem drittletzten Buchstaben unseres Alphabetes bezeichnet und deshalb hat Herr W. C. Röntgen, Professor der Physik in Würzburg, eine von ihm beobachtete Strahlungs-Erscheinung, deren Art des Unbekannten und Rätselhaften hinreichend aufweist, um nicht nur Fachgelehrte zu ihrer Erforschung anzuregen, sondern auch das allgemeine Interesse in Anspruch zu nehmen, vorläufig die X-Strahlung genannt. Soll doch durch diese Strahlen in gewisser Hinsicht die Photographie des Unsichtbaren möglich sein, sollen sie doch den Arzt in den Stand versetzen, Photographien von Knochen im lebenden Körper aufzunehmen, und so scheinen sie berufen, als ein neues Hilfsmittel zur Erkennung der Krankheiten der Menschheit zu dienen.
Andererseits ist Röntgens Entdeckung von voraussichtlich weittragender wissenschaftlicher Bedeutung, indem sie eine bis dahin nicht bekannte Art der Kraftäußerung zum Gegenstande der Forschung zu machen gestattet, woraus die Anschauung von dem, was die Physiker Kraft, Energie nennen, erheblichen Gewinn zu ziehen berechtigte Aussicht hat.
Die Wärme, das Licht, die Elektrizität, der Magnetismus sind Bewegungserscheinungen, die sich entweder an den kleinsten Teilchen der Körper kundgeben oder am Aether, jenem gemutmaßten Stoffe, der nicht nur die Räume zwischen den kleinsten Körperteilchen, den Molekülen, ausfüllt, sondern auch durch den ganzen Weltenraum ausgebreitet ist. Bestimmte Schwingungen des Aethers sind Licht, und da das Licht ferner Sonnen zu uns gelangt, müssen wir schließen, daß der Aether im Universum vorhanden ist, so weit es unserem Auge wahrnehmbar wird; ist doch das Licht der Bote, der in dem Streifenbilde des Spektrums uns Kunde von physikalischen und chemischen Vorgängen aus Entfernungen giebt, zu deren Berechnungen der Astronom als Einheit die zwanzig Millionen geographische Meilen haltende Sonnenmeile anwendet.
Daß das Licht von fernen Gestirnen zu uns kommt, setzt uns nicht in Erstaunen, denn der Himmel ist ja durchsichtig. Nun aber wird eine Kraft entdeckt, oder sagen wir lieber eine Strahlung, die einzelne Eigenschaften des Lichtes besitzt, während sie sich im übrigen wesentlich von den „Licht“ genannten Schwingungen des Aethers unterscheidet, mit einem Worte die X-Strahlung, die undurchsichtige Gegenstände durchdringt. Dies macht den Eindruck eines Wunders.
Wie Professor Röntgen die Strahlung fand, sei in Kürze mitgeteilt. Er hatte eine mit Stoff umwickelte sogenannte Crookes’sche Röhre auf seinem Laboratoriumstische, durch die er behufs eines Versuches starke elektrische Ströme leitete. Nach einiger Zeit bemerkte er, daß ein entfernt von der Röhre liegendes lichtempfindliches Papier Linien zeigte, die bisher bei elektrischer Einwirkung nicht wahrgenommen wurden. Er verfolgte die Beobachtung weiter. Er bedeckte die Crookes’sche Röhre mit einem dicken Karton und stellte in einer Entfernung bis von zwei Metern von ihr einen Papierschirm auf, der mit einer fluorescierenden (selbstleuchtenden) Masse, mit Bariumplatincyanür, bestrichen war. Nun fand er, daß der Schirm bei jeder Entladung in der Röhre aufleuchtete. Es mußten mithin unsichtbare Strahlen von der Röhre ausgehen, die das Kartonpapier durchdrangen und die genannte Substanz zum Leuchten brachten.
Die Crookes’schen Röhren sind röhren- oder kugelförmige Glasgefäße, in deren Wandungen Platindrähte zum Einleiten der Elektrizität geschmolzen sind, es ist aber die in ihnen befindliche Luft- oder Gasart durch Auspumpen bis auf ein Millionstel verdünnt. Die ersten grundlegenden Versuche mit solchen Röhren wurden von den deutschen Physikern Hittorf in Münster und Goldstein in Berlin gemacht, am bekanntesten wurden aber die späteren Versuche des englischen Physikers Crookes. Daher der Name der Röhren. Crookes nahm an, daß die Moleküle der Luft in dieser Verdünnung freieren Spielraum hätten als unter gewöhnlichem Druck und von Elektrizität in Bewegung gesetzt würden, ohne sich gegenseitig zu hindern und in der Bahn zu stören. Sie prallen, wie er meint, nicht gegeneinander, sondern werden erst dann gehemmt, wenn sie die Wand des Glases treffen, wobei ein solches Bombardement von elektrisch geschleuderten Luft- oder Gasmolekülen stattfindet, daß die Glaswand zu leuchten beginnt. Die strahlende Materie – so nannte Crookes die elektrisch in Bewegung gesetzten verdünnten Gase – hat die Fähigkeit, geeignete Körper zum Phosphorescieren, d. i. zum Selbstleuchten, zu bringen. Beryllerde, in ein solches Rohr gethan, phosphoresciert blau, Lithium goldgelb, der Smaragd karmesinrot. Am schönsten und schnellsten aber phosphoresciert der Diamant. Ein Diamant, der bei Tageslicht grün, bei Kerzenlicht aber weiß erschien, gab in einer Crookes’schen Kugelröhre, als die molekulare Entladung von unten gegen ihn gerichtet wurde, ein grünliches Licht, das im Dunkeln mit dem Glanze einer Kerze strahlte.
Unsere nebenstehende Abbildung zeigt die Anwendung des eben beschriebenen Versuches.
Crookes brachte die phosphorescierenden Stoffe unmittelbar in die Bahn der sogenannten strahlenden Materie, die als solche nicht leuchtet, sondern das Leuchten anderer Substanzen hervorruft. Röntgen fand, daß von den elektrisch erregten verdünnten Gasen eine Strahlung in die Ferne stattfindet, und zwar durch undurchsichtige Umhüllung hindurch, und er nannte die Erscheinung X-Strahlung. Dabei stellte sich heraus, daß die X-Strahlung Körper durchdringt, die unserm Auge undurchsichtig erscheinen, und zwar um so leichter, je weniger dicht die betreffenden Stoffe sind. Papier ist sehr durchlässig; stellte Professor Röntgen ein Buch von etwa 1000 Seiten zwischen die Crookes’sche Röhre und den Fluorescenzschirm, so leuchtete derselbe noch deutlich auf. Hielt er die Hand zwischen den Entladungsapparat und den Schirm, so sah er die dunkleren Schatten der Handknochen in dem nur wenig dunklen Schattenbilde der Hand. Holz ist für die neuen Strahlen sehr durchlässig, Metalle dagegen halten die Strahlen je nach ihrer Dichte auf. Professor Röntgen fand ferner, daß die X-Strahlen auf die gewöhnlichen photographischen Trockenplatten einwirken, und nahm eine Reihe der Schattenbilder photographisch auf. Als er bei hellem Tageslichte seine Hand auf die geschlossene Kassette eines photographischen Apparates legte und der X-Strahlung aussetzte, erhielt er auf dem in der Kassette eingeschlossenen empfindlichen Papiere den Lichtabdruck der Hand, und zwar das Bild der Knochen und der Ringe, die frei um den Finger zu schweben scheinen. Die Weichteile lassen dies Licht durch, d. h. schwach sind auch sie gekennzeichnet, wogegen die Knochen scharf modelliert sind, ebenso wie die Ringe. Die Photographie einer Damenhand nach diesem Verfahren von P. Spies in Berlin zeigt unsere Abbildung auf S. 84.
Die scharfen Umrisse sind besonders wichtig: sie lassen erkennen, daß die X-Strahlung sich geradlinig fortpflanzt, daß keinerlei Beugung stattgefunden hat. Weitere Versuche ergaben, daß die X-Strahlung weder durch Wasser noch durch Prismen abgelenkt wird, und deshalb wird es auch nicht möglich sein, sie durch Glaslinsen zu brechen und zum Photographieren mit den bekannten Apparaten zu benutzen. Die Bilder, die bis jetzt mit der X-Strahlung erhalten wurden, sind daher als Schattenbilder zu betrachten und nicht als Photographien üblicher Art. Aber schon jetzt ist man zu der Hoffnung berechtigt, daß aus dieser Entdeckung nicht nur die Wissenschaft, sondern auch deren praktische Anwendung im Leben Nutzen ziehen werden. J. S.
Deutsche Städtebilder.
Die Donau! Ein rosiges Plaudermäulchen ruft’s in dem rastlos hinrollenden Wagen. Wir heben den Blick von dem Buche, das unsere Aufmerksamkeit bisher gefesselt hat, und sehen zur Rechten und zur Linken breite flimmernde Wasserflut, von der Morgensonne beglänzt. Nach Osten zu schweift der Blick an einem blauen Höhenzug entlang. Wo derselbe in schöner Linie zum Strome sich senkt, erhebt sich duftumflossen, wie aus einer klassischen Sage hierher versetzt, ein hochragender hellenischer Tempelbau mit schimmernden Säulen – die Walhalla. Gegen Westen zu aber zeigt sich ein Häusermeer mit altersgrauen Türmen, hoch überragt von den mächtigen Pyramiden der beiden Domtürme, die rötlich wie poliertes Kupfer im Morgenlicht strahlen. Und unter diesem Städtebild wälzt sich breit und glänzend die Donau thalab, während die Brücke, über welche unser Zug eben hinführt, stöhnt und dröhnt.
Das ist der erste Anblick von Regensburg. Und gleich nachdem wir ihn genossen, knirschen die Bremsen, die Wagen erzittern, und langsam, gebändigt, fährt unser Zug zwischen langen Wagenreihen in den Bahnhof ein.
Der erste Eindruck, den man empfängt, wenn man vom Bahnhofe der Stadt zuwandert, ist der einer anmutigen Provinzialstadt. In der That ist das Regensburg von heute nichts andres. Unter den acht Kreisen des Königreichs Bayern ist die „obere Pfalz“ der ärmste. Ein rauhes Ländchen, teils den südwestlichen Abhang des Böhmerwaldgebirgs, teils die von der Natur auch nur spärlich ausgestattete Pfälzische Platte, teils die steinigen Ausläufer des Juragebirgs umfassend, schaut es nur mit seiner Südspitze in das gesegnete getreideschwere Donauthal herein. Hier aber erwuchs in ihm ein geschichtliches Kleinod: die einst hochberühmte, prächtige und wehrhafte Reichsstadt Regensburg.
Schon die Landschaft von Regensburg hat durchaus große Züge. Die Donau, die hier mit weitem Bogen den nördlichsten Teil ihres Laufes erreicht, wälzt, durch wasserreiche Alpenströme gesättigt, schon eine gewaltige Flutmasse nach Osten. Breit ist ihr Thal, von Höhenzügen gesäumt. Während in ihrer Niederung fruchtbare und wohlhabende Gefilde sich ausbreiten, schweift der Blick hier gern nach dem Berglande, wo dunkler Wald und schimmernde Felshänge der Landschaft einen mächtigen Charakter aufprägen.
Durch neue Stadtteile, wo zwischen Gärten und Alleebäumen moderne Häuser stehen, kommen wir bald in das alte Regensburg, in dessen dunkle vom Edelrost vieler Jahrhunderte geschwärzte Mauern überall der Griffel der Geschichte geschrieben hat. Die Erinnerungen dieser Stadt reichen bis in die Römerzeiten hinauf: eine blühende Kolonialstadt scheint sie schon im Jahrhundert vor Christus gewesen zu sein. Die Stürme der Völkerwanderung überdauerte sie kraftvoller als die andern Römerstädte.
Nachdem die bayrischen Herzöge aus dem uralten Stamm der Agilolfinger durch fränkische Gewaltpolitik gestürzt waren, [77] ward Regensburg Jahre hindurch eine Lieblingsresidenz Karls des Großen, wie späterhin Ludwigs des Deutschen. Reichstage versammelten sich hier, fremde Gesandtschaften und fürstliche Gäste erschienen, Staatsaktionen spannen sich ab, große Kirchenfeste wurden gefeiert. Als der schwertfrohe König Arnulf, siegreich aus dem Normannenkriege heimgekehrt, 891 die Stadt besuchte, war sie, von schwerem Brandunglück verheert, fast völlig zur Ruinenstadt geworden, aber nur, um sich in wenigen Jahren prächtiger aus dem Schutte zu erheben.
Dreihundert Jahre lang, im zehnten, elften und zwölften Jahrhundert, blieb Regensburg die bedeutendste Stadt des Deutschen Reiches. Seine Lebensader war der Donaustrom, auf welchem der Handelsverkehr westwärts nach Ulm, ostwärts nach Ungarn und den andern Donautieflanden ging. Aber bis nach Rußland und über die Alpenpässe nach Italien reichten die Handelsverbindungen, bis späterhin die Stadt durch Wien im Osten, durch Augsburg und die Rheinstädte im Westen, durch Magdeburg im Norden wirtschaftlich überflügelt ward.
Politische Größe behielt sie noch lange. Wiederholte Kämpfe der bayrischen, hier hausenden Herzöge gegen die Träger der Reichskrone führten unter den Königen Konrad I., Heinrich I. und Otto I. Reichsheere wider die alten Wälle von Regensburg, wobei auch die Bürger der Stadt ihren Waffenmut aufs glänzendste erwiesen. Nach schwerer Kriegsnot lebte die Stadt unter den Kaisern Heinrich II., Heinrich III. und Heinrich IV. neu auf, dafür wahrte sie auch dem Letzteren in drangsalreicher Zeit die edelste Treue. Im Jahre 1147 sammelten sich hier auf zahllosen Donauschiffen die Kreuzfahrer zu dem unglücklichen Kreuzzuge König Konrads III.; und auf einem Reichstage zu Regensburg ward 1180 Heinrich der Löwe des bayrischen Herzogtums entsetzt.
So stand unter den Hohenstaufen Regensburg auf der Höhe seiner politischen Bedeutung und behielt diese Bedeutung auch noch bis zum Interregnum. Vom Ende des vierzehnten Jahrhunderts an aber schwanden Wohlstand und politische Macht. Hussitenkämpfe, Judenverfolgungen, innere Zwistigkeiten der Bürgerschaft, Streitigkeiten zwischen den bayrischen Herzögen und dem Reiche trugen dazu bei, das Ansehen Regensburgs nach und nach zerbröckeln zu lassen. Wohl ward in den folgenden Jahrhunderten noch mancher Reichstag hier abgehalten; aber nichts vermochte den Rückgang der Stadt zu hemmen. Die Drangsal des Spanischen Erbfolgekrieges und der Franzosenkriege vollendeten diesen Niedergang. Um die Neige des vorigen Jahrhunderts war die einst so stolze freie Reichsstadt nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe.
Erst während der letzten achtzig Jahre erfolgte wieder allmählich ein Aufschwung. Die Bürgerschaft bemühte sich, mit der Thatkraft anderer Städte zu wetteifern; die bayrische Staatsregierung that das Ihre dazu. Aber gewisse Triebkräfte, die der Stadt zu ihrer einstigen Größe verholfen hatten, waren eben unwiderbringlich verloren: die Gunst der Kaiser, die politische Stellung als Mittelpunkt eines großen Reiches, die Kreuzung von Welthandelswegen. Das war dahin und läßt sich nicht mehr schaffen!
Die Geschichten längstvergangener Zeiten umgaukeln uns mit ihren Bildern, während wir uns dem Herzen der Stadt nähern. Bald stehen wir, auf dem Alten Kornmarkt (vgl. Abbildung S. 72 u. 73), tief im Mittelalter, das uns aus den Fenstern des Herzogshofes, eines burgähnlichen Bauwerks, träumerisch anschaut. Die Sage führt diesen Bau bis auf das uralte Herzogsgeschlecht der Agilolfinger zurück; die Geschichte läßt ihn als ein Besitztum Kaiser Ottos III. erscheinen. Der hart neben ihm stehende gewaltige „Römerturm“ aber stammt nicht aus Römertagen, sondern aus frühmittelalterlicher Zeit.
Riesenhaft schauen über die alten Gassen und Plätze der Stadt die beiden Domtürme herein und der ganze schöne Bau dieses [78] Münsters, an welchem zweihundertfünfzig Jahre gebaut wurde. Bei Abbach an der Donau, wenige Meilen oberhalb von Regensburg, brach man den prächtigen grüngelben Sandstein für den Dom, einen der schönsten in ganz Deutschland (vgl. Abbildung S.72 u. 73). Die Regensburger Dombauhütte ward aber auch zu einer Meisterschule für das Zeitalter der Gotik. Die Außenseite des Baues ist überaus reich mit ihrem prachtvollen Hauptportal, ihrem fünfeckigen Chor und dem üppigen Schmuck von Skulpturen; einfach und edel wirkt das Innere mit dem Farbenzauber seiner Glasmalereien und seinen Denkmälern. Der Domschatz, obwohl während der Schwedenzeit durch Bernhard von Weimar geplündert, enthält noch manches wertvolle Stück. Wie das Ulmer Münster und der Kölner Dom ist auch dieses Bauwerk bis in die jüngste Zeit unvollendet geblieben; die beiden Pyramiden der Türme konnten erst in den Jahren 1859–69 ihren Ausbau erleben.
Wir setzen unsere Wanderung durch die Stadt fort. Aelter noch als die Kirchenbauten sind manche Privathäuser, die vordem alten Patriziergeschlechtern gehörten und burgartig mit ihren Mauern, Thoren und Türmen in den Gassen stehen.
Wir suchen uns aber gleich das älteste unter den Bauwerken Regensburgs: die Porta praetoria (Abbildung S. 72 u. 73), ein Thor mit einem nebenstehenden Türmchen, beide noch aus römischer Zeit. Es war wohl in den Tagen des Kaisers Domitian, als hier schon die Festung Reginum oder Castra regina stand, deren gewaltige Grundmauern an manchen Plätzen in den Kellern der Regensburger Häuser noch sichtbar sind, vielfach auch das Steinmaterial für spätere Bauten geliefert haben. Dieses Thor, durch welches einst der gleichmäßige Schritt römischer Kohorten tönte, hat eine zweitausendjährige Geschichte, die aus seiner dämmerig kühlen Wölbung weht. So stimmungsvoll ist dieses Bauwerk, daß man meint, jeden Augenblick müsse aus ihm ein Legionssoldat heraustreten, mit verwundertem Blick die Kinder eines späten Jahrhunderts betrachtend. Uebrigens finden sich nicht nur in der Stadt selbst die gigantischen Mauerreste der römischen Baumeister verbreitet; sondern auch in ihrer Umgebung, wo man unter anderm ein ansehnliches römisches Bad aus dem Schutte gegraben hat.
Wir setzen unsere Wanderung fort. Sie führt uns jetzt durch stille Gassen an die Ostseite der Stadt und hinaus an die Donau, wo hinter grauen Mauern und rauschenden Bäumen die Königliche Villa (Abbildung S. 72 u. 73) steht, ein eleganter gotischer Palast, 1853 erbaut. Am Ufer der Donau wandern wir wieder stromabwärts. Hier liegen hochgeschnäbelte schwarze Donauschiffe, an dicken Tauen festgebunden. Das erinnert an längstvergangene Jahrhunderte, in welchen Regensburg die erste deutsche Handelsstadt war, die ihre Verkehrsfäden bis ins Schwarze Meer, nach Kiew und nach Venedig spann; an jene Zeiten, da an diesen Ufern die Flotten sich sammelten, in welchen die Kreuzfahrer donauabwärts zogen. Auch Friedrich Barbarossas hohe Kaisergestalt tritt vor unser inneres Auge; war’s doch hier, wo er jenen unglücklichen Kreuzzug antrat, aus dem er nicht wiederkehrte. Und wieder zweihundert Jahre später klirrten hier die Waffen jener Scharen, die zum Kreuzzug gegen Sultan Bajazet sich vereinten. Siegfreudig wehten ihre Paniere, um vor den Mauern von Nikopolis in den Staub zu sinken!
Jeder Schritt in dieser Stadt gemahnt an großes Ereignis, an die Schatten gewaltiger Heldengestalten. So erreichen wir, stromabwärts schlendernd, die altersbranue, S. 77 abgebildete Steinerne Brücke. Es ist kein Brückenbau im deutschen Lande, der so wie dieser vom Volkslied und von der Sage mit goldnen Fäden umsponnen wäre. Schon Karl der Große hatte hier eine Schiffsbrücke erbauen lassen; der Bau der Steinbrücke dagegen ward 1135 während eines infolge des heißen Sommers außerordentlich niedrigen Wasserstandes begonnen und in 11 Jahren vollendet. Damals galt die nur 7 Meter breite und 318 Meter lange Brücke mit ihren 16 Bogen für ein wahres Weltwunder der Baukunst. Drei trotzige Türme bewachten die Zugänge zu der Brücke, heute steht nur noch einer von ihnen, der lange Zeit als Schuldturm diente. Einst war es hier dem gefangnen Schuldner gestattet, die Vorübergehenden aus seiner Zelle heraus um Geld zur Bezahluug seiner Schulden anzusprechen – eine nette und gemütliche Rechtsinstitution, die sich leider nicht erhalten konnte, weil heutzutage die Schuldner viel zu zahlreich und die Schulden viel zu groß geworden sind. Ueber die durch die Insel in zwei Arme geteilte Donau führt die Brücke nach der nördlichen Vorstadt Regensburgs, Stadtamhof genannt, hinüber. Unter dem mancherlei Bildwerk, das die Brücke ziert, ist das interessanteste das Brückenmännchen, ein nackter, auf einem Pfeilergiebel reitender Jüngling. Dies Männchen ist, so erzählt die Volkssage, der Baumeister der Brücke, welcher mit seinem Lehrer, dem Dombaumeister, gewettet hatte, sein Werk eher zu vollenden. Mit Hilfe des Teufels soll ihm dies auch gelungen sein, worauf sich der Dombaumeister von seinem Bau in die Tiefe stürzte. Daß die Brücke um hundertfünfzig Jahre früher begonnen ward als der Dom, verschweigt diese Sage. Uebrigens ist auch das alte Brückenmännchen, nachdem ihm der Sturm der Jahrhunderte Arme und Beine geraubt hatte, in ein Museum gebracht und durch sein jetziges Ebenbild ersetzt worden.
Unser Weg führt uns von der Brücke durch dämmerige Gassen wieder stadteinwärts zum Rathause (Abbildung S. 72 u. 73), das mit seinem reichverzierten Portal, seinem gotischen Erker und seinen hohen Zackengiebeln einen durchaus mittelalterlichen Eindruck macht, welcher noch verstärkt wird, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Bau bis in das Jahr 1330 zurückreicht. Das ganze Treiben reichsstädtischer Macht, ihrer Blüte und ihres Verfalls steigt wieder vor unseren Augen empor, wenn wir diesen Bau betrachten, wo in dem großen Reichssaale der „immerwährende Reichstag“ von 1663 bis 1806 tagte, um während dieser langen Zeit macht- und freudlos das langsame Hinsterben des alten Deutschen Reiches zu erleben.
Unfern vom Rathausplatze liegt der Haidplatz, rings von gediegenen alten Patrizierhäusern umgeben. Da steht, einer mittelalterlichen Burg vergleichbar, der ehrwürdige Gasthof „Zum goldenen Kreuz“, eine alte Kaiserherberge. Hier war’s, wo die schöne Regensburgerin Barbara Blombergh in Kaiser Karls des Fünften verdüsterte Seele noch einmal einen hellen Glanz von Liebesglück zu zaubern wußte; in einem Turmzimmer dieses Hauses gebar sie den herrlichen Seehelden Don Juan d’Austria, den Sieger von Lepanto. Drunten auf dem Haidplatze aber war’s, wo viele Jahrhunderte früher ein andrer Regensburger Held, Ritter Dollinger, in Gegenwart Kaiser Heinrichs des Finklers den riesenhaften Hunnen Krako beim Turnier vom Rosse stach, die Ehre deutscher Ritterschaft zu retten.
Durch alle Gassen Regensburgs flüstern alte Geschichten und Sagen. So auch um die „Neue Pfarre“ (Abbildung S. 72 u. 73), ehedem hieß sie die Kirche „Zur schönen Maria“, deren Grundmauern aus den alten Grabsteinen des ehemaligen Judenfriedhofs aufgeführt wurden, nachdem man im Jahre 1519 die Juden aus Regensburg vertrieben, ihre Häuser und ihre Synagoge zerstört hatte.
Von all den eigenartigen Bauwerken der Stadt, die noch ungenannt blieben, dürfen wir eines nicht vergessen, das ehrwürdige Stift St. Emmeram (Abbildung S. 72 u. 73). Schon unter dem sagenhaften Agilolfingerherzog Theodo war’s, daß der heilige Emmeram in den bayrischen Gauen das Christentum verkündete. Ihn erschlug ein Sohn des Herzogs bei Helfendorf, weil Verleumdung den frommen Mann eines bösen Vergehens gegen eine Herzogstochter bezichtigt hatte. Zur Sühne für die Blutthat erbaute der Herzog das Kloster im achten Jahrhundert. Immer reicher aufblühend, ward dasselbe unter Kaiser Adolf von Nassau zum fürstlichen Reichsstift erhoben. Nach fast zwölfhundertjähriger glänzender Geschichte ward das Kloster am Anfang unseres Jahrhunderts säkularisiert; seine ausgedehnten Bauten erwarb das fürstliche Haus von Thurn und Taxis und schuf sich daraus eine der stolzesten Residenzen, die das Deutsche Reich aufzuweisen hat (Abbildung S. 72 u. 73).
Zu dem aber, was die Geschichte vieler Jahrhunderte aus Regensburg gemacht hat, fügte ein kunstsinniger Fürst der jüngsten Vergangenheit, König Ludwig I. von Bayern, noch zwei Kleinodien hinzu, einzig in ihrer Art und von märchenhafter Schönheit.
Fährt man eine halbe Stunde mit dem Dampfer von Regensburg stromabwärts, so sieht man in der Höhe droben auf umbuschtem Hügel die Reste der Burg Stauf (Abbildung S. 76). Sie erinnern an jene Jahrhunderte, da hier trotziges Rittertum seine schwindende Macht gegen das aufblühende reichsstädtische Bürgertum zu wahren suchte, bis jenem der Streitkolben aus der geharnischten Faust gewunden und seine Zinnen und Verließe gebrochen wurden. Aber nicht diese Burgtrümmer sind’s, die unseren Blick hier gefangen nehmen, sondern ein leuchtendes Werk moderner Kunst und Gesittung, das von der Höhe eines prächtig bewaldeten Hügels schaut: die Walhalla. Wie eine rechte Heimat Unsterblicher [79] grüßt diese lichte Säulenhalle von ihrem gigantischen Unterbau herab auf den breit hinflutenden Strom, auf das weite fruchtbare Land, und nach Süden bis zu den fernen Eiszinnen der Hochalpen. Königliche Begeisterung für deutsche Kraft, für deutsche Geistesthat und deutschen Ruhm hat diesen Bau errichtet, in dessen schweigender Halle die Steinbilder unserer größten und besten Männer eine Heimstatt gefunden haben.
Andere Bilder erschließen sich, wenn wir Regensburg in der Richtung nach Westen verlassen. Eine stundenlange Fahrt mit dem Bahnzuge führt uns im breiten Donauthale aufwärts, unter schönen Ortschaften vorüber.
An der Sonnenseite des Stromthales liegen steinige Gehänge, wo einst, in den Tagen des Mittelalters, Weinbau getrieben ward. Jetzt ist er längst aufgegeben. Höher werden die Stromufer; wo in die Donau das in vielen Windungen einen beträchtlichen Teil von Bayern durchziehende Altmühl-Flüßchen sich ergießt, liegt die stille Landstadt Kelheim am Ausgang einer Felsenschlucht, durch welche die Donau sich ihren Weg gebahnt hat. In der Tiefe dieser Schlucht liegen mönchische Ansiedlungen: das stattliche Kloster Weltenburg (Abbildung S. 72 u. 73) und, ins felsige Stromufer wie ein Spielzeug eingeschmiegt, das Klösterl (Abbildung ebenda), ein Eremitenheim aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Hoch droben aber, auf sonniger, waldumrauschter Höhe, weit über Thäler und Hügel schauend, ragt ein Bauwerk, das an stiller Größe, an reinem Adel seiner Formen noch über der Walhalla steht: die neben stehend abgebildete Befreiungshalle. König Ludwig I. von Bayern erbaute sie zur Erinnerung an die Befreiungskämpfe, die das deutsche Volk im Beginn unseres Jahrhunderts ausgefochten hat, und als dauernde Mahnung zur Eintracht. Schon die ganze Landschaft, über welche dieser mächtige Tempelbau hinschaut, ist von ergreifender Schönheit. Vereinen sich doch hier die grüne geheimnisvolle Poesie endlos sich hindehnender Wälder, in deren Dunkel Trümmer aus römischer Vorzeit liegen, die Tiefen romantischer Felsschlünde, durch welche die Sage hingeistert, ferne Ritterburgen auf felsigen Höhen, ein breites mächtiges Stromthal und endlich der wunderbare Blick in unendlich weite Fernen, wo kaum mehr sichtbare Bergketten traumhaft sich aufbauen! Im Innenraume dieses Baues aber grüßen uns überirdisch schöne Marmorgestalten; heilige Schauer wehen durch die mächtige Halle, in welcher menschliche Eitelkeit und Alltagsgedanken verstummen. Wer aus diesem Raume wieder hinaustritt in den Sonnenglanz, in dem das Donauthal tief drunten sich hinstreckt und die fernen Wälder duftig vergehen, der vergißt nie wieder den unbeschreiblichen Zauber dieser einsamen, weißen, von den edelsten Gedanken bewohnten Geisterburg.
„Vons.“
(2. Fortsetzung.)
Die Expedition in den Lindenwipfel mit Gustl war für Eduard der Abschluß der Kinderzeit gewesen; wenn er in den Hof kam, hatte er mit Herrn Schneider zu reden, und Gustl hatte der Ehrgeiz erfaßt, es Eduard gleich zu thun und auch eine tüchtige Schülerin zu werden. Er war und blieb ihr Vorbild, aber noch in viel höherem Grade war sie das seine; sie hatte sich nach und nach die Erziehung, die ihm die Mutter gegeben, völlig zu eigen gemacht, und an ihr lernte er schätzen, was er eine Zeit lang verachten zu dürfen geglaubt hatte; ohne daß sie sich’s klar machten, suchten sie einander durch die Sorgfalt, mit der sie sich kleideten, durch die Höflichkeit und Nettigkeit ihres Betragens zu imponieren. Sprach sich Eduard in bittern Ausdrücken über seine Mutter aus, so wies sie ihn zurecht, schalt mit ihrem Vater, der ihm beistimmte, und stellte ihm vor: „Thät’s Dich freuen, wenn ich mich über Dich beklagte?“
„Ja, das ist auch ’was andres, was hast Du für einen Vater!“
[80] Und die Kleine gab ihm zur Antwort: „Der Eduard weiß gar nicht, was er seiner Mutter zu verdanken hat, aber ich weiß es.“
„Du Viperchen,“ murmelte Herr Schneider, den nichts mehr verdroß als ein Lob auf Frau von Feldern aus dem Munde seines Kindes. Eduard aber ging in sich, indem er sich von neuem aufraffte, ein guter Sohn zu sein, wie es die Gustl von ihm verlangte. Es wurde ihm aber nicht leicht; Frau von Feldern lebte nur noch für ihr Kunochen, der ein beängstigend schlankes, elegantes Bürschlein geworden war und sich eines vornehmen Umgangs erfreute; er blieb zwar in jeder Klasse sitzen, aber meist in guter Gesellschaft, ein Haupttrost für Frau von Feldern. Sie sprach mit Vorliebe von dem Hofmeister ihres Sohnes, worüber sich Frau Müller halb zu Tod ärgerte; Malchen verwertete die Sache zu ihren Gunsten, denn sie konnte nur dabei gewinnen, wenn sie überall erzählte, daß man sich in dem Haus, in dem sie verkehrte, einen Hofmeister hielt.
Eines Tages – Frau von Feldern saß bei der Arbeit, Herr von Feldern war eben vom Bureau gekommen und bürstete seinen grauen Hut aus – läutete es auf dem Vorplatz; Eduard, der in dem kleinen Hofstübchen lernte, öffnete; Kunochen befand sich mit dem Hofmeister im Salon.
„Sie wünschen?“ fragte Frau von Feldern den Eintretenden, dessen spießbürgerliches Aeußere sie nicht veranlaßte, sich die Mühe zu nehmen, aufzustehen.
„Ich bin der Herr Konditor Eberle,“ sagte der Mann, indem er sich ohne Umstände auf den nächsten Stuhl niederließ. „Ihr Sohn, Madamm, beehrt mich oft mit seiner Kundschaft, und das freut mich sehr; aber er hat eine schlechte Gewohnheit, und das thut mir sehr leid; nämlich er ist manchmal ein wenig zerstreut und nimmt etwas mit, das er zu bezahlen vergißt; hier die Liste von den Sachen, die mir durch ihn abhanden gekommen sind – zwei Mark vierzig“ – er breitete ein Papier vor Frau von Feldern aus – „es ist noch nicht viel, aber ich halte es für gescheiter, die Sache nicht anlaufen zu lassen – Ihr Sohn –“
„Unmöglich, unmöglich!“ fiel ihm Frau von Feldern in die Rede, „es muß ein Irrtum sein – einer meiner Söhne – nie!“
„Es ist ganz richtig,“ sagte der Mann. „Ich bin nicht so einer, der jemand ’was Falsches anhängt – stellen Sie ihn mir nur einmal gegenüber, dann werden wir ja sehen!“
Frau von Feldern schoß zur Thüre hinaus.
„Eduard! Eduard!“
Als der Sohn erschien, stieß sie ihn an den Schultern vor den Mann hin: „Solltest Du – solltest Du –?“
„Nein, der ist’s nicht,“ sagte der Konditor, „den kenne ich nicht, es ist ein langes, dürres Jüngelchen mit mattblauen Augen, so ein rechter Hering –“
Jetzt schoß Herr von Feldern, ehe sich’s seine Gattin versah, zur Thüre hinaus und brachte den an allen Gliedern zitternden Kuno herein.
„Ja, der ist’s,“ sagte der Mann, „den braucht man nicht erst zu fragen, gelt, junger Herr, wir kennen uns?“
Kunochen fing an zu heulen. „Ich bin nicht schuld, der Berg hat mich dazu verleitet – er hat auch immer alles aufgegessen!“
Frau von Feldern öffnete mit fieberhaft zitternden Händen ihr Portemonnaie und legte dem Mann ein Dreimarkstück hin: er unterschrieb den Zettel, der auf dem Tisch lag, und suchte das kleine Geld zum Herausgeben zusammen. Frau von Feldern machte eine Bewegung mit der Hand, er möge das Geld behalten, aber der Mann schüttelte den Kopf.
„O, bewahr’, ich will nichts geschenkt, ich danke, und die Sache ist auch noch lang kein Drama, daß man wie ein Jammerbild auszuschauen braucht, Madamm. Eine Tracht Prügel, und die Sach’ ist gut und damit fertig – empfehl’ mich Ihrer werten Kundschaft, gehorsamer Diener.“
Als er draußen war, schlug Frau von Feldern mit krampfhaftem Aufschluchzen die Hände vor das Gesicht und ihr Körper bebte unter dem Gewimmer, das sie umsonst zu unterdrücken suchte.
Es war das erste Mal, daß die Ihren sie weinen sahen. Herr von Feldern ließ sich vor Schreck in einen Lehnstuhl fallen, Kunochen umfaßte die Kniee seiner Mutter und versprach unter heißem Schluchzen, er wolle es nie wieder thun. Eduard sah nur die Thränen seiner Mutter, und sie fielen ihm aufs Herz, daß er die Zähne aufeinander beißen mußte; alles war vergessen, ausgelöscht, daß sie hart und grausam gegen ihn war und ihm den Bruder vorzog; in diesem Augenblicke hätte er ihr alles zulieb gethan, was sie von ihm verlangt hätte.
„Ja, Prügel,“ fuhr sie aus ihrem Schmerze auf, „der Mann hat recht, er soll Prügel haben!“
Kunochen, der in seinem ganzen Leben noch keine Schläge bekommen, fing sofort an zu schreien, als stecke er am Spieß, und flüchtete sich auf allen Vieren unter den Tisch.
„Du,“ fuhr Frau von Feldern auf ihren Mann los, „Du bist sein Vater, Du wirst ihn prügeln, Du mußt auch wissen, wozu Du auf der Welt bist – das geht nicht so weiter – alles kann eine Mutter nicht!“ Sie faßte sich plötzlich. „Der Hofmeister darf nicht wissen, was das ist – ich werde ihn gehen heißen – er braucht nicht zu erfahren, was hier vorgeht – hast Du gehört, Feldern, Du prügelst Deinen Sohn!“
Sie ging.
„Ich – mein Gott, ich –“ der arme Herr von Feldern trippelte in höchster Verzweiflung um den Tisch herum, „wie kann ich denn, wie kann ich denn, ich habe ja in meinem Leben noch keine Seele geprügelt!“
„So werd’ ich’s thun,“ sagte Eduard, riß den Bruder mit kräftiger Hand unter dem Tisch hervor und zog den Widerstrebenden mit hinüber in das kleine Schlafzimmer. Dort warf er ihn nicht eben sanft aufs Bett.
„Sei still, Du unmännlicher Kerl, ich hau’ Dich nicht – pfui Teufel, wie ein kleines Kind gleich loszubrüllen, wenn sich’s um ein paar Schläge handelt! Jawohl, daherkommen kannst Du wie ein feiner Herr und thun wie ein Baron, aber nicht einen Funken Mut hast Du, und feig sein, das ist das Aergste auf der ganzen Welt! Da denk’ jetzt nur darüber nach,“ schloß er seine Rede, „und werd’ so bald wie möglich ein Mann.“
Als Frau von Feldern später den Kopf zur Thüre herein steckte, fand sie den einen ihrer Söhne schlafend, den andern lernend, und es schoß ihr etwas wie eine Ahnung von dem wahren Verhältnis der Dinge durch den Kopf. Sollte, konnte sie sich am Ende in der Beurteilung ihrer Kinder geirrt haben, und reichte Kunos Begabung für die Laufbahn, die sie ihm zugedacht hatte, nicht aus?! Nein, nein, schrie es in ihr auf, fort mit diesen Gedanken, mit diesem Zweifel – war sie nicht seine Mutter – und wenn sie ihre Nächte, ihre Gesundheit und ihr Leben dransetzte, sollte es ihr nicht gelingen, aus ihrem Sohne zu machen, was sie sich vorgenommen?!
Diese Anwandlung ging vorbei. Frau von Feldern schloß die Augen und wollte nicht sehen, Kunochens Martyrium nahm seinen Fortgang. Er war drei Jahre älter als die meisten seiner Mitschüler und fügte sich ohne Widerrede in das ewige Lernen, das seine Mutter von ihm verlangte. Er sprach wenig, ob überhaupt etwas in ihm vorging, hatte noch niemand erfahren; aber er war immer freundlich und ein vollendetes Herrchen vom Scheitel bis zur Zehe.
„Der Kerl hat sich in seinem Leben nie mit einem gebalgt,“ sagte sein Bruder von ihm, „ein Flecken an seinem Rock kränkt ihn mehr, als wenn man ihn Feigling heißt.“
Er hatte gut reden; dank der materiellen Nachhilfe seines Freundes Schneider, war er zu einem kräftigen Menschen herangewachsen, der es leicht hatte, sich zu wehren, und dem die ganze von der Mutter ererbte Energie zu Gebote stand. Er diente jetzt sein Freiwilligenjahr ab, und wenn er des Abends nach Hause kam, trank er am elterlichen Tisch seine Tasse Lindenblütenthee und ging dann durch den Hof in das Schneidersche Eßstübchen, wo er seines Gönners „Nimm Dir – nimm Dir“ sich nicht umsonst gesagt sein ließ. Er war voll Dankes gegen den menschenfreundlichen Mann, der ihm in jeder Beziehung ein Retter gewesen. Wie zu einem Vater hatte er mit ihm von seiner Zukunft gesprochen, hatte ihm erzählt, daß seine Mutter von ihm verlangt habe, seine Lehrzeit im Auslande abzumachen, denn sie wolle keinen gemeinen Krämer zum Sohne haben, lieber wolle sie ihr Kleidergeschäft noch weiter ausdehnen, um ihm das nötige Geld dazu schaffen zu können.
Herr Schneider spie Gift und Galle; immer war es der Hochmut dieser Frau, der ihn weiter trieb, als er eigentlich wollte. So geschah’s, daß er, bloß um sie zu ärgern und ihr zu leid zu leben, dem jungen Mann eine Stelle in seinem Geschäft antrug, mit dem sofortigen Gehalt eines Kommis. Und Eduard
[81][82] nahm das Angebot dankbar an; so wie die Sachen zu Haus standen, schien es ihm das Wichtigste, so bald als möglich auf eigenen Füßen zu stehen und Geld verdienen zu können. Der Vater machte ihm einen kränklichen, müden Eindruck, und die Mutter kam ihm zuweilen vor wie eine Person, die im Fieber spricht und handelt. Eduard glaubte nicht an die große Zukunft des Bruders; er sah mit Sorgen den Tag kommen, an dem die rastlos schaffende Frau unter ihrer schwersten Enttäuschung zusammenbrechen würde, und dann war’s an ihm, dem Aeltesten, einzuspringen.
Aber es war keine leichte Aufgabe, die Mutter in die Pläne einzuweihen, die er und sein Gönner miteinander geschmiedet. Er hatte seine Militärdienstzeit beendet und ein gutes Führungszeugnis davongetragen.
Herr Schneider ließ eine Flasche Wein kommen, um das Ereignis zu feiern. Auch sollte sich Eduard Mut trinken zu dem schweren Unternehmen, endlich mit der Mutter zu sprechen.
„Bleib’ fest!“ empfahl ihm Herr Schneider, „und laß Dir nicht zu viel gefallen, sag’s ihr, ein wohlhabender Bürger steht anders da als ein armer adeliger Schlucker – kurz, sei ein Mann und bedenke, daß Deine Mutter ein aufgeregtes Weib ist.“
Eduard nickte und schritt mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck zur Thüre. Aber auf der Schwelle stand die Gustl, und als Eduard an ihr vorbeischreiten wollte, hielt sie ihn am Arm fest.
„Vergiß nicht, Eduard, was Du Deiner Mutter zu danken hast. Ich mein’, auch Dein gutes Führungszeugnis verdankst Du eigentlich ihr.“
„Ja,“ sagte er, „das ist wahr.“
Und als er bei den Seinen eintrat, sah er freundlich und versöhnlich aus.
Frau von Feldern arbeitete wie immer, und Herr von Feldern, der sich seit einigen Tagen unwohl fühlte, saß in seinem Lehnstuhl und fror.
Eduard legte sein Führungszeugnis mit dem Prädikat „sehr gut“ vor die Mutter hin, die es las und dann nickte. Auch Herr von Feldern sagte nichts, nachdem er das Zeugnis gelesen, aber die Thränen liefen ihm über die Wangen, und er hatte Mühe und Not, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Eduard hatte der Mutter gegenüber Platz genommen; sie saßen eine ganze Weile, ohne ein Wort miteinander zu reden.
Frau von Feldern war jetzt eine Frau von fünfzig Jahren; ihre Gesichtsfarbe spielte ins Gelbliche, aber in ihrem reichen schwarzen Haar zeigte sich noch kein Silberfaden; dagegen hatte ihr früher so selbstbewußter Blick etwas unruhig Flackerndes bekommen und ihr Mund ein nervöses Zucken. Der Sohn hatte viel Aehnlichkeit mit ihr, nur war der Blick seiner Augen gesund und fest und sein Gesicht rund statt länglich; das Dienen hatte seinen Körper gestreckt, ihm den kurzen Hals aus den Schultern gehoben; er war alles in allem ein Mensch, der sich sehen lassen durfte. Aber Frau von Feldern dachte, während ihr Blick ihn streifte: „Wie ein Bauer neben Kunochen –“ und hatte keine Ahnung von den bewundernden, völlig verliebten Blicken, mit denen der Gatte seinen Aeltesten verschlang. Ja, das war einer, das war einer! Ein Eroberer und Schlachtengewinner war nichts gegen einen Eduard, der seiner Mutter stand zu halten wagte!
„Es thut mir leid, liebe Mama,“ begann der junge Mann nach kurzem Getrommel auf dem Nähtisch, „aber ins Ausland kann ich nicht gehen, da ich sobald als möglich selbständig werden und Geld verdienen möchte. Ich würde gerne fremde Länder und Städte sehen, aber unsere Verhältnisse gestatten es nicht, ich kann nicht von Nichts leben und Du darfst Dich nicht tot arbeiten –“
„Was willst Du denn also thun?“ unterbrach sie ihn, den Blick von ihrer Näharbeit aufhebend.
Eduard lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
„Ich werde in das Geschäft des Herrn Schneider eintreten; er giebt mir vom ersten Tag ab den Gehalt –“
„Pfui!“ stieß Frau von Feldern hervor, „also einen kleinen Krämer habe ich auferzogen, all’ meine Mühe und Sorgfalt an einen Menschen gewandt, der sein Leben zwischen Oel und Heringen zubringen wird – jedes Wort reut mich, das ich an Dich verloren!“
„Es wird nichts verloren sein,“ fiel ihr der Sohn in die Rede, „es schadet nichts, wenn es auch wohlerzogene Kaufleute giebt.“
„Ja, im großen Stil, das lasse ich mir gefallen, aber Dich zwischen den schmutzigen Tonnen dieses Kaufmanns Schneider herumhantieren zu sehen – abscheulich! Der intrigante Mensch, er hat mir den Sohn abspenstig gemacht, sein niedriger Einfluß hat Dich verdorben, irre geleitet –!“
„Das sehe ich anders an,“ unterbrach sie Eduard, „ich weiß gar nicht, was aus mir geworden wäre ohne ihn; ich glaube, ich hätte mich zu einem ganz giftigen Unkraut ausgewachsen, wenn er mir den hungrigen Magen nicht gestopft hätte.“
„Eben das ist das Gemeine,“ unterbrach sie ihn, mit fieberhafter Schnelligkeit drauflosnähend, „und wenn Du glaubst, daß ich nachgebe und Dich seinesgleichen werden lasse –“
„O ja, Mama “ Eduard beugte sich ein wenig vor und heftete den Blick auf die dünnen, rastlosen Finger seiner Mutter, „es wird wohl so werden: es ist durchaus notwendig, daß Papa das Bureausitzen läßt und des Abends ein warmes Stück Fleisch –“
„Was unterstehst Du Dich,“ fuhr Frau von Feldern auf, „in meinem Haushalt –“
„In Deinem Hanshalt, liebe Mama, ist alles für den Schein berechnet und nichts für den Magen; Papas ganzes Unwohlsein ist jedenfalls nichts anderes als mangelhafte Ernährung, und Kuno hat gewiß nicht eine Unze Mark in den Knochen –“
„Und Du bist ein brutaler, roher Meusch,“ fiel ihm seine Mutter in die Rede, „das ist’s, was in den nur ans Essen und Trinken denkenden Bürgerhäusern gezüchtet wird – das habe ich den Braten und den Bierkrügen dieses Herrn Schneider zu danken – einen Sohn, der alle wohlmeinenden und edlen Einflüsse seiner Mutter zurückweist, der den Namen seiner Familie in den Staub zieht, den Namen einer Familie –“
„Ich bitte, Mama, wer waren denn Deine Eltern? – Bürgersleute hier und dort, nichts andres, und wenn meine Ahnenväter mich Heringe verkaufen sähen, so würden sie das ganz in Ordnung finden und sich nicht ein einziges Mal im Grab umdrehen!“
Damit hatte er freilich den Vogel abgeschossen, aber auch der Mutter Stolz an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Frau von Feldern wurde nicht gern an ihren Vater erinnert, von dem sie doch das beste, was sie besaß, ihr Talent hatte.
Ihr Gesicht ward aschfahl, ihre Worte wurden so scharf und hart, daß Eduard schließlich seine Vorsätze vergaß und Mutter und Sohn in Feindschaft schieden.
Ein paar Wochen nach dieser Scene starb Herr von Feldern; er hatte eines Abends ganz unverhältnismäßig viel gesprochen; seine Frau konnte sich nicht genug wundern, wo er auf einmal den Mut hernahm, ihr lauter Dinge zu sagen, die sie ärgerten; allein, er sah so gebrechlich und krank aus, daß sie es nicht über sich gewann, ihn schweigen zu heißen. Er aber redete wie einer, der gesonnen ist, allerlei Versäumtes nachzuholen: „Der Eduard wird seinen Weg machen, er wird ihn machen, denk’ an mich; so einer mit so einem Mut, der macht seinen Weg; es war nicht recht von Dir, ihm die Thüre zu weisen und mich nicht zu fragen, aber ich hole ihn nicht. Was tragen die alle Abend schönes Bier da vorbei, das soll er nur trinken, das gönn’ ich ihm, das ist ’was andres als der ewige Schwitzthee, der einem die Kraft aus dem Körper preßt! Ich weiß nicht, warum ich in letzter Zeit so viel an meine Eltern denken muß: wir hatten immer ein gutes Stück Fleisch auf dem Tisch und es thut mir leid, daß ich ihnen nicht mehr Freude gemacht habe; aber ich war nicht zum Fähnrich geboren. Ich habe so viel mehr Geschick in den Händen gehabt als im Kopf, aber ich wollte die Eltern nicht kränken, und so habe ich nie meinen richtigen Beruf gehabt –“
„Lieber Feldern, ich bitte Dich,“ unterbrach ihn die Gattin. „Ich habe mehr als zwanzig Jahre gekocht und war auch nicht zur Köchin geboren –“
„Das weiß Gott, das weiß Gott,“ fiel er ihr in die Rede. „Sammethöschen für die Buben, das war wichtiger als die Suppe; Kunochen hat sogar noch Spitzen dran, ja, Spitzen dran –“ wiederholte er und klopfte in die Hände.
Frau von Feldern sah ihren Gatten nicht ohne Besorgnis an. „Er ist doch längst erwachsen, redest Du im Schlaf?“
„Ich hab’s gestern noch bemerkt,“ behauptete Herr von Feldern, „ich habe überhaupt viel bemerkt, nur geschwiegen, aber ich habe mir immer gesagt, der Teufel hat uns das ‚von‘ eingebrockt; dem Kunochen wird’s mit dem Fähnrich gehen wie mir, aber gottlob, daß der Eduard das lecke Schiff verlassen hat! Du wirst ihn schon noch schätzen lernen – denk’ an mich, Du wirst ihn schätzen lernen; ich werde morgen dem Herrn Schneider meine Visite machen; es liegt mir schon lange auf der Seele, ihm zu danken –“
[83] „Feldern –!“
„Unterbrich mich nicht immer,“ herrschte er die Gattin an.
„Ich weiß ja, daß Du für zehn, für zwanzig gearbeitet hast, aber alles nur fürs ‚von‘. In Zukunft soll es anders werden, ich will in Zukunft Vergnügen haben, und die Kinder sollen auch Vergnügen haben –“
Herr von Feldern sank erschöpft in seinen Lehnstuhl zurück und seine Frau erhob sich rasch und schenkte ihm ein Gläschen von dem Wein ein, den sie sich eigens für den Hofmeister hielt. Feldern nippte an dem Wein mit dem Vergnügen eines Kindes, das recht lange an einer Sache haben möchte; seine Wangen röteten sich ein wenig von dem seltenen Genuß und er schlief ein.
Seine Gattin nähte beim Licht der Lampe und sah zuweilen nach dem kaum hörbar atmenden Mann hin; es war ihr eine merkwürdige Entdeckung, daß der stille, gleichgültig neben ihr hergehende Gemahl doch allerlei in sich verarbeitet, ja, gleichsam ihr Thun und Lassen bekrittelt hatte. Und wieder klopfte die Wahrheit bei ihr an, diesmal durch die Stimme des Gatten, der zum erstenmal seit mehr als zwanzig Jahren das Wort genommen.
Und wieder wollte sie nicht hören und nicht sehen und hüllte sich nur um so fester in das Gewebe ihres Selbstbetrugs ein.
Herr von Feldern starb am andern Tag; leise fiel er vom Leben ab wie ein welkes Blatt; Blutarmut nannte der Arzt die Todesursache.
Eduard hatte wohl mit den Seinen an der Bahre des Vaters gestanden, aber es war zwischen ihm und der Mutter kein versöhnendes Wort gefallen.
Frau von Feldern zog nach dem Tode ihres Mannes in eine andre Wohnung; sie ging aus dem Hause, ohne ein Wort des Abschieds, ja, als sie Herrn Schneider im Flur traf, schritt sie steif und stumm, ohne seines Grußes zu achten, an ihm vorbei. Er aber lachte sich ins Fäustchen. „Den schlimmsten Tort hab’ ich ihr doch angethan – daß ihr Sohn ein Krämer geworden ist, das verwindet sie nie!“
Nein, sie verwand es nicht, obwohl sie alles that, um sich den Sohn aus dem Sinn zu schlagen; sie und Kuno sprachen nie von dem Abtrünnigen; aber des Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, fielen ihr die Worte ihres Mannes ein: „Du wirst ihn schon noch schätzen lernen – denk’ an mich, Du wirst ihn schätzen lernen“ – und wenn ihr die Thränen in die Augen traten, dann sagte sie: das ist Zorn, Empörung! – es war aber etwas andres – das langsame, peinvolle Erkennen: dein Sohn ist ein Mann geworden, wenn auch nicht nach deinem Sinn!
Um so leidenschaftlicher gab sie sich der Hoffnung hin, durch Kunochen ihren Zweck zu erreichen.
Sie hatte ihr Geschäft vergrößert; in einer hintern Stube saßen vier Nähmädchen, für die sie zuschneiderte, denen sie eine gestrenge Herrin war. Aber sie lernten alle etwas bei ihr, und sie entließ nie ein Mädchen, das ihr nicht zum Schluß dankbar gewesen wäre für die Ordnung und die Manieren, die sie im Umgang mit Frau von Feldern sich angeeignet hatte.
Im Salon war sie dann wieder die Dame, die gnädige Frau, präsidierte nach wie vor an ihren Sonntagnachmittagen am Theetisch, hinter dem blank gescheuerten Theekessel, aber die Gesellschaft hatte sich vergrößert. Außer den beiden Freundinnen erschienen junge Kameraden Kunos, Söhne aus den besten Familien, denn man traf am Theetisch der Frau von Feldern immer einige von Malchen herbeigezogene junge Schauspielerinnen. Es ging lebhaft zu; Frau von Feldern sparte nicht mit feinem Backwerk; die Herren labten sich am teuersten Bier der Stadt, nannten die Dame des Hauses gnädige Frau, und diese schwelgte in dem Hochgenuß, endlich wieder die Sprache jener Kreise zu hören, in die sie von Rechts wegen gehörte!
Frau von Feldern hatte schon lange aufgehört, sich irgend etwas klar zu machen oder eine Sache so anzusehen, wie sie war; sie fragte sich nicht – wissen die Eltern dieser jungen Leute von ihren Besuchen bei mir und sind sie damit einverstanden?
Sie log sich vor: keinen Menschen geht es etwas an, und niemand braucht es ja in jenen Kreisen zu erfahren, daß ich da hinten eine Nähstube habe; sobald mein Sohn Offizier ist, steht mir an seinem Arm die Welt offen!
Längst schon hatte sie in ihrem Innern beschlossen, Frau Müller auf irgend eine Weise ihrem Theetisch fern zu halten, denn diese taktlose gewöhnliche Frau verstand es, immer wieder den mühsam aufrecht erhaltenen Nimbus der Familie über den Haufen zu werfen. Entweder sie sprach von einer Taille, die ihr Frau von Feldern gemacht und die ihr nicht recht sitze, oder sie war im Schneiderschen Laden gewesen und hatte Eduard gesehen. Obwohl Malchen sie fortwährend unter dem Tisch anstieß, ließ sie sich ein Langes und Breites darüber aus, wie nett manierlich Eduard hinter dem Ladentisch stehe, immer mit der gleichen Artigkeit die Kunden bedienend, ob sie jung oder alt seien, und wie er geradezu „das Geriß“ habe und alle Käufer sich zu ihm drängten, als hätten die Dinge, die er in der Hand gehabt, einen besonderen Wert und Geschmack.
„Ich hab’s ja immer gesagt,“ schloß sie ihren Bericht, „aus dem wird ’was, und dabei sieht er aus wie ein Borsdorferapfel und nicht wie ein gewisser Junker Spärling –“
„Spärlich,“ flüsterte ihr Malchen zu, „aus Shakespeare –“
„Geh’n Sie mir weg mit dem,“ fuhr Frau Müller sie an, „wer kann denn dem seinen Namen schreiben – so einen mag ich von vornherein nicht –“
„Aber Frau Müller,“ entsetzte sich Frau von Feldern, während die Jugend, die immer ihren Spaß hatte, wenn die Müller redete, vor Lachen fast erstickte, „ich bitte Sie, wie können Sie nur dergleichen ungebildet thun –“
„Dergleichen? ich thu’ nie dergleichen,“ protestierte die Witwe, „so wie ich red’, so bin ich; wem’s nicht gefällt, der soll einen Stock dazu stecken –“
Frau Müllers Aeußerungen über Eduard waren in der That nicht übertrieben. Er machte Aufsehen im Lädchen des Herrn Schneider, indem er sich durch seine Lebensart aufs vorteilhafteste vor den übrigen jungen Leuten auszeichnete; sie grollten ihm darob alle, waren aber im stillen aufs eifrigste bemüht, ihm sein Benehmen, seinen Anstand abzulauern. Es regnete plötzlich die tiefsten Diener im Lädchen des Herrn Schneider; es gab keine unfreundlichen Antworten mehr, keine verstimmten Gesichter. Herr Schneider lief herum, rieb sich die Hände und hatte ein Heidenvergnügen, alle Augenblicke schreien zu dürfen: „Von Feldern, zwei Heringe – von Feldern, ein Aufwaschlumpen – Petroleum, von Feldern!“
Das war ein Genuß, dieses „von“ zu meistern, zu demütigen, sich von diesem „von“ bedienen zu lassen! Herr Schneider bildete sich ein, den ganzen Adel in diesem „von“ unter den Händen zu haben, und ging nicht menschenfreundlich mit ihm um.
Aber Eduard hatte es dabei nicht schlecht; er bewohnte die beste der für die jungen Leute bestimmten Mansarden und erhielt schon nach einem Jahr den höchsten Gehalt, den Herr Schneider auszuzahlen pflegte.
Bald war auch mit dem früher so finstern und unordentlichen Lädchen eine Veränderung vorgegangen; Herr Schneider sperrte sich zwar gegen jede Neuerung, erklärte, er wolle ein einfacher Bürger bleiben und nicht in das einfältige Nobelthun verfallen; aber es half nichts. Es war nachgerade eine Freude, in den wohl aufgeräumten kleinen Laden zu treten. Nicht anders war’s im Eßstübchen; hier waltete ein munteres, sonniges Wesen von sechzehn Jahren, und außer dem Hausherrn erlaubte sich niemand mehr, mit struppigen Haaren oder ungewaschenen Händen an den Tisch zu kommen; der war hübsch gedeckt, mit einem weißen Tischtuch, das jeder aufs äußerste respektierte – wieder mit Ausnahme des Hausherrn, der sich unablässig gegen den neuen Geist wehrte, der in seinen vier Wänden eingezogen war. Wenn er in die Küche rannte und die Köchin anfuhr: „Was ist das wieder für eine Mode? zwei Teller! Bin ich ein Baron? Ich bin der Kaufmann Schneider, bei dem alles auf einem Teller gegessen wird –“ so gab ihm die Köchin zur Antwort: „Was ist da zu machen, die Gustl will’s –“
„So, die Gustl, na, der will ich’s sagen,“ ärgerte sich der Vater, fuhr aber statt der Tochter die jungen Leute an, welche zur Sonntagsmahlzeit in einem Staat erschienen, wie das bisher im Schneiderschen Hause nicht üblich gewesen war.
„Wie schaut Ihr aus, seid Ihr verrückt geworden? Will ich feine Herren an meinem Tisch haben? Was helfen Euch die Krawatten? Ihr seid Ladenschlingel, nichts als gemeine Ladenschlingel, ich will, daß man sich das in Zukunft merkt!“
Nun ja, hieß es, aber wenn die Gustl so nett sei, wolle man auch nicht ausschauen wie ein Handwerksbursche, denn es sei nicht notwendig, daß einen der Feldern immer in den Schatten stelle; an den Feldern möge sich der Herr Schneider halten, wenn ihm die Eleganz im Hause nicht recht sei, denn der Feldern allein habe den Luxus eingeführt, sonst keiner.
(Schluß folgt.)
[84]
Das „Karideln“ in der Mark. (Zu dem Bilde S. 69.) An Fastnachtsbräuchen war die Mark einst sehr reich, und diese Bräuche hielten sich lange mit großer Zähigkeit. Selbst in der nächsten Nähe Berlins, in Stralau und Köpenick, übte man einige von ihnen noch vor wenigen Jahrzehnten. Fastnacht und der Sonntag davor waren ja die Tage, wo das jetzt durch Landes-, Polizei- und andere Gesetze hart verpönte Betteln in Blüte stand, wo alle Welt „zemperte“, „hänselte“, „karidelte“. Des Morgens zogen die Kinder, nachmittags mit Musik die Knechte umher, von Hof zu Hof; dann stäupten sie in neckischer Weise mit Birkenreisern zuerst die Hausfrau, hierauf die Töchter und die Mägde, bis sie Eier, Mettwurst und Schnaps empfingen. Die Umzüge der Knechte kamen allmählich ganz „aus der Mode“, die der Kinder aber bestehen noch hier und da zu Recht. Die lustige Rotte schart sich in aller Frühe um ihren vortragskundigen Führer, der eine mächtige, mit mehreren Zweigen versehene Rute, an manchen Orten auch eine Gabel trägt; mit Hallo rückt man vor die Häuser der „Riken“, wozu gewohnheitsmäßig Schlächter, Bäcker und „Kooplüd“ gezählt werden, und jeder von den Gebrandschatzten bekommt das schön dialogisierte Lied zu hören:
Anführer.
Hahn, Aeppel, Hahn!
Fastelnacht geht an!
De Kauken (Kuchen) will nich rutschen,
Gebt mir von eurem Speck,
Dann geh’ ich von der Thüre weg;
Ich stell’ die Leiter an die Wand
Und schneid’ mir ein Stück Speck drei Ellen lang!
Alle.
Sie werden sich wohl bedenken
Und uns einen Fastelabend schenken!
Sie schenken uns einen Thaler,
Danach wohl vierundzwanzig;
Sie schenken uns einen Schweinskopp,
Ist besser as eine Bratwurst;
Sie schenken uns eine lange
Un laten de korte hangen!
Anführer.
Wir wünschen dem Herrn ein’ vergoldenen Tisch,
Auf alle vier Ecken ein’ gebratenen Fisch,
Und in der Mitte eine Kanne voll Wein,
Das soll dem Herrn sien Fastelabend sein!
Wir wünschen der Frau zum Fastelabend
Einen jungen Sohn mit schwarzbraunem Haar!
Alle.
Sie werden sich wohl bedenken
Und uns einen Fastelabend schenken!
Nunmehr sträuben sich die Angesungenen nicht länger und bringen ihre Gaben, zumeist Würste und allerhand Backwerk, auch wohl „en half Schock ollen Käse un en half Gulden Geld“. Die Geschenke werden fürsorglich auf die Rutenzweige gesteckt, und zwar befestigt man die Würste gern so, daß männiglich gleich sehen kann, welche Wirtin die generöseste war und die größte gespendet hat. Vorm Abzug singt noch der ganze Schwarm den Schlußreim:
Sie haben uns eine Verehrung gegeben
Fürs ganze Jahr;
Jahr ein und aus
All Unglück fahre zum Giebel heraus!
Hat die jauchzende Horde endlich das ganze Dorf abgeweidet, so beginnt unter Jubelgeschrei die Teilung der Beute, und da reichlich gegeben worden ist, also niemand zu kurz kommt, ist mit einem Schlage die rechte Feststimmung da. Wo aber fröhliche Kinder sind, da können die Erwachsenen gar nicht anders, sie ahmen ihnen die Fröhlichkeit nach, und so sieht denn der Krug, das Wirtshaus, abends beim Tanze lauter von herzlicher Freude überglühte und deshalb schöne Gesichter.
Nachbarskinder. (Zu dem Bilde S. 81.) Sie waren Spielgenossen in der goldenen Kindheit; wie Bruder und Schwester wuchsen sie zusammen in dem holländischen Fischerdorf auf, und Freunde sind sie geblieben, da die Jugend mit ihren Träumen und ahnungsvollem Sehnen an sie herantrat. Da lehnte am schönen Frühlingsmorgen die erblühende Jungfrau am Fenster der Stube, unberührt stand vor ihr die Theekanne und das Stricken wollte nicht flecken. Wie wunderbar duftete heute der Flieder, wie seltsam drang der Finkenschlag in ihr Herz! Etwas Unbekanntes, eine heiße Sehnsucht drohte ihr die Brust zu sprengen – und da kommt er, ihr Jugendgespiele! Er reicht ihr die Hand zum Morgengruße und lehnt sich ins Fenster. Auch seine Stimme tönt heute so wundersam und sie versteht kaum die Worte, die er flüstert – und wie aus einem Traum erwacht sie, da er flehend zum drittenmal fragt: „Liebst Du mich?“ Daran – an die Liebe hatte sie nicht gedacht, und aus Träumen erwacht, versinkt das holde Kind wieder ins Träumen. – Wie lange wird er wohl auf die Antwort warten? Lassen wir Zeit den Nachbarskindern …
ein Strohfeuer scheint’s nicht zu sein, das der Frühling in den jungen Herzen entfacht hat! *
Die „eiserne Jungfrau“ in Marokko. In dem Staate Marokko, wo die europäische Kultur nur die Strandwacht hält und bei weiteren Abstechern ins Innere in unliebsamer Weise zurückgewiesen wird, wie ja die jüngst vorgekommene Ermordung eines deutschen Handlungsreisenden zur Genüge beweist, herrscht noch eine Barbarei der Justiz, welche der Barbarei der ungeregelten Zustände entspricht. Noch heutigestags ist der hölzerne „Tschelabi“ in Gebrauch, eine Art von „eiserner Jungfrau“, aus einem Holzkasten bestehend, der an den vier inneren Seiten mit scharfen Nägeln ausgestattet und gerade groß genug ist, um eine Person in sitzender Stellung aufzunehmen. Durch die hervorstehenden Nadelspitzen wird jeder Versuch, sich anzulehnen oder zu bewegen, verhindert, und in diesem Marterkasten bleiben die Bestraften mitunter tagelang. Die Bastonnade wird in Marokko nicht mit dem Stock, den die Türken „eine Gabe des Himmels“ nennen, erteilt, sondern mit einer drei Fuß langen, einen Centimeter dicken, geflochtenen Lederpeitsche, und zwar bei Männern auf den Rücken und nur bei Frauen auf die Fußsohlen. Eine sinnvolle Strafe wird über den Verleumder eines Höhergestellten verhängt: ihm werden die Lippen mit spanischem Pfeffer eingerieben. †
Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (4. Fortsetzung). S. 69. – Das „Karideln“ in der Mark. Bild. S. 69. – Die X-Strahlung. S. 75. Mit Abbildungen S. 75 und 84. – Deutsche Städtebilder. Regensburg. Von Max Haushofer. S. 76 Mit Abbilduugen S. 72, 73, 76, 77 und 79. – „Vons“ Erzählung von Hermine Villinger (2. Fortsetzung). S. 79. – Nachbarskinder. Bild. S. 81. – Blätter und Blüten: Das „Karideln“ in der Mark. S. 84. (Zu dem Bilde S. 69.) – Nachbarskinder. S. 84. (Zu dem Bilde S. 81.) – Die „eiserne Jungfrau“ in Marokko. S. 84.
[84 a]
Die Gartenlaube.
Die Ganswindtsche Tretmotordroschke. Seit einiger Zeit sieht man in Berlin ein Gefährt hin und her fahren, das wir im Bilde unsern Lesern vorführen. Das eigenartige Fahrzeug wird dadurch in Bewegung gesetzt, daß der Kutscher durch sein Körpergewicht ein hinter dem Wagen angebrachtes Trethebelwerk niederdrückt, wodurch ein ebenso sinnreicher wie einfacher Mechanismus zur Wirkung gelangt. Das Lenken und Bremsen geschieht durch leicht handliche und sicher funktionierende Vorrichtungen seitens des Tretkutschers. Die neue „Droschke“ bewegt sich mit großer Leichtigkeit und Gewandtheit in dem Straßengewühl der Großstadt; sie kann Pferdebahnen und gewöhnliche Droschken überholen, und der Tretkutscher soll bei einer Besetzung des Fahrzeugs mit zwei Personen selbst bei Zurücklegung langer Strecken (wie eine Meile) nicht sonderlich ermüden. Der Erfinder des Motors dieser Droschke ist Hermann Ganswindt in Schöneberg-Berlin, der schon durch seine Bemühungen, ein lenkbares Luftschiff zu bauen, weiteren Kreisen bekannt geworden ist. Wie wir noch erfahren, steht der Erfinder mit dem Berliner Polizeipräsidium betreffs Konzessionserteilung zum öffentlichen Tretdroschkenbetrieb in Unterhandlung. Auch soll demnächst auf Anregung des Berliner Branddirektors Giersberg ein mit diesem Motor getriebenes Feuerwehrfahrzeug gebaut werden.
Zum Frauenstudium. Professor Laskowski, Anatom in Genf, gab im vorigen Jahre einen Bericht über das medizinische Frauenstudium, welcher die schon öfter geäußerte Ansicht zu bestätigen scheint, daß der praktische Gewinn dieses Studiums für den Frauenerwerb nicht sehr hoch anzuschlagen sein dürfte. Während der letzten 17 Jahre sind in Genf 175 Frauen bei der medizinischen Fakultät zugelassen worden. Darunter waren 50 Polinnen, und man hat nur feststellen können, daß vier von ihnen ihre Studien zu Ende geführt haben. Von den anderen 125 haben zehn die Doktorwürde erlangt, und von diesen zehn ist eine gestorben, zwei haben die Medizin verlassen und sich verheiratet, vier erwarben mit Mühe ihren Lebensunterhalt und drei haben eine ziemlich gute Praxis erlangt. Was die übrigen 115 betrifft, so hat man über ihren Verbleib nichts erfahren können. Nicht so schlimm, aber doch auch im ganzen wenig ermutigend, lauteten vor einiger Zeit die Nachrichten von Zürich. Wenn man nun auch annimmt, daß unter den 115 „Unbekannten“ noch manche sich befinde, die das Ziel ihres Strebens an anderem Orte erreichte, und wenn auch zu hoffen steht, daß gründlicher vorgebildete Köpfe ihr Studium ernsthafter zu Ende führen, so sollte man sich doch darüber keiner Täuschung hingeben, daß nur ausnahmsweis Begabte das Ziel erreichen können. Eine ausgiebige Versorgung unbemittelter Mädchen wird damit nicht angebahnt. Auch nicht mit der Freigabe des höheren Lehrberufes an Mädchenschulen, indem auch hierfür ganz bedeutende Fähigkeiten mit dem pädagogischen Talent verbunden sein müssen.
Daß beide Berufsarten für die Hochbegabten
erschlossen werden, ist eine Forderung
der Gerechtigkeit. Die vielen Mittellosen aber,
deren Talente und Fähigkeiten nicht über den
Durchschnitt hinausgehen, sollten sich den praktischen
Berufszweigen zuwenden, welche durch
die fortwährenden Verschiebungen unserer gesellschaftlichen
Bedürfnisse teils neu erzeugt werden,
teils anders ausgeübt werden sollten als
bisher. Wir werden auch ferner mit positiven Vorschlägen
diese große Angelegenheit fördern. Bn.
Aspinalls Emailfarben sind von unschätzbarem Wert für jede Art von künstlerischer Dekoration im Hause. Von den zartesten Tönen bis zu den tiefen und gesättigten bieten sie alle Möglichkeiten der Mischung, ihre Anwendung durch einfaches Auftragen ist die denkbar leichteste, sie trocknen rasch und behalten einen glasartigen Glanz. Vor einigen Jahren wurden sie zuerst zur Bemalung von gepreßten Thongegenständen verwendet, seitdem haben sie aber eine Menge von neuen Verschönerungsdiensten übernommen, darunter mit ganz besonderem Erfolg das Auffrischen alter Möbel. Steht irgendwo ein unansehnlicher Schrank, eine Kommode, deren Lackierung bedenkliche Schäden zeigt, ein abgescheuerter Tisch, Waschtisch oder dergleichen – flugs ist eine Büchse dunkelroter „Aspinalls Enamel“ zur Hand, und nachdem das Möbel sauber mit Seifenwasser abgewaschen wurde, beginnt man, mit gleichmäßigen Strichen eines breiten Pinsels seine Flächen zu bemalen. Die Füllungen können heller gehalten werden, auch macht es sich sehr hübsch, wenn, nachdem der erste Anstrich vollendet und getrocknet ist, in die Ecken der Schrankthüren, Kommodeschubladen u. s. w. leichte weiße Blumen (nach Art der bekannten Bauernmalereien auf Schwarzwälderuhren) als Verzierung aufgesetzt werden. Reizend in der Wirkung macht sich die Einrichtung eines ganzen Kinderzimmers mit derartig gestrichenen Möbeln, z. B. himmelblau mit weiß oder zartgrün mit dunkelrot. Spielschrank, Bauernstühle und Tischchen mit gekreuztem Fuß, Bettladen, alles wird gleichmäßig im Ton gehalten und mit hübschen Verzierungen geschmückt. Aber auch wenn nicht eine neue Einrichtung beschafft werden soll, lassen sich die ältesten, ungleichartigsten Möbel durch dieselbe Firnisfarbe zu hübscher Uebereinstimmung bringen. Dann noch Kattunvorhänge in lichten, frischen Farben an die Fenster, und ein allerliebst anheimelndes Kinderzimmer ist mit wenig Kosten hergestellt! Alle Blechgefäße gewinnen ebenfalls durch Aspinalls Lack einen sehr schönen und dauerhaften Anstrich. Mustertafeln für die gewünschten Farben, sowie die Büchse und Pinsel sind durch jede größere Farbenhandlung zu beziehen.
Hauswirtschaftliches.
Bei unerwartet eintreffendem Besuch macht die Bereitung einer süßen Speise oft besondres Kopfzerbrechen. Die meisten Aufläufe, die ja sonst am raschesten herzustellen sind, verlangen eine größere Backhitze, als sie der Ofen bei der Bereitung des täglichen Mittagsmahls bietet. Eine Ausnahme macht die „Fixigkeitsspeise“, zu deren Bereitung alle nötigen Zuthaten wohl fast immer zur Hand sind. Man schlägt 4 Eigelb mit 120 g feinem Zucker, an dem man vor dem Reiben eine viertel Zitrone abgerieben hat, schäumig, gibt ¼ l Weißwein – auch guter Apfelwein ist zu verwenden – dazu und schlägt sie über dem Feuer dick, bis sie einmal aufgepufft ist. Dann schüttet man sie unter beständigem Schlagen in eine Schüssel von feuerfestem Porzellan, schlägt nun die Eiweiß zu steifem Schnee, unter den man etwas Vanillezucker mischt, und besteckt ihn mit Mandelstreifen. Man stellt die Schüssel 10 Minuten in einen mäßig warmen Ofen, um sie dann sofort zu servieren. Ein Stehenbleiben verträgt sie nicht. L. H.
Backpulver. In jeder Haushaltung, wo man Brot oder feinere Gebäcke herstellt, sollten die sogenannten „Backpulver“, welche man dem Teig als Ersatz für die nicht immer gut und frisch zu beschaffende Hefe beigibt, selbst bereitet werden, denn viele der im Handel vorkommenden Präparate sind etwas teuer, auch ist es schon vorgekommen, daß sie gesundheitsschädlichen Alaun enthielten. Wir können zwei Arten von Backpulver besonders empfehlen: 1. das „weinsaure Backpulver“. 100 g Weinsäure und 100 g doppeltkohlensaures Natron werden, jedes für sich, aufs feinste gepulvert und bei 75° C. vollständig ausgetrocknet, z. B. auf einer heißen Ofenplatte. Dann mengt man die beiden Pulver zusammen und bewahrt die Mischung in einem fest verschließbaren Glase auf. Beim Gebrauche werden für 1 kg Mehl 2 Theelöffel des Pulvers mit trockenem Mehl, Salz und etwas Zucker gemischt und Wasser hinzugegegossen. – 2. „Backpulver für feinere Gebäcke.“ Auf 1 kg Weizenmehl nimmt man 10 g doppeltkohlensaures Natron und 40 g Weinstein. – Weinstein, Weinsäure und doppeltkohlensaures Natron liefert jeder Droguist. Kr.
Ein Mittel zur Reinigung des Hutleders. Die sogenannten „Schweißleder“ der Hüte werden oft fettig. Um diesen Uebelstand zu beseitigen, reibt man das Leder mit einem Schwämmchen ab, das man in eine Mischung aus 10 Teilen Wasser und 1 Teil Salmiakgeist (Ammoniakflüssigkeit) getaucht hat. Auch dieses Mittel findet sich bei jedem Droguisten. Kr.
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