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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[37]

Nr. 3.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Zum 18. Januar

Du ruhst so öd’ in winterlichem Schweigen,
Park von Versailles! Von schneebedeckten Zweigen
Es leis auf Marmorbilder niederflockt!
Kein Abenteuer, im Boskett verloren –
Des großen Ludwigs Pracht ist eingefroren,
Der Lebensatem seiner Wasser stockt!

Doch dort im Schloß – welch kriegerisches Regen!
Da klirren Schwert und Sporn, da blitzt der Degen
Und Fahn’ auf Fahne sammelt sich im Kreis.
Der Kriegslärm in der Künste Heiligtume –
Frankreich erblaßt mit dem gemalten Ruhme,
Deutschland ergrünt mit frischem Lorberreis.

Bald ist der opferreiche Kampf beendet;
Paris verstummt – und Lavagüsse sendet
Nicht mehr uns der verlöschende Vulkan,
Vor dessen Flammengruß die Erde bebte,
Solang’ der sieggewohnte Cäsar lebte,
Und dann sein Schatten – der Cäsarenwahn!

Ein Kaiserreich starb auf den Schlachtgefilden;
Ein Kaiserreich wird auf den Kriegerschilden
Erhöht von siegender Germanen Schar.
Nach manchem Kampfessturm und Todesritte –
Der greise Fürst in deutscher Fürsten Mitte,
Des Rotbarts Diadem im Silberhaar!

Du schönster von des Ruhmes großen Tagen!
Wofür der Jugend Herz so heiß geschlagen,
Das ist kein Bild mehr eines Traumgesichts!
Nicht der Kyffhäuser hat das Reich geboren;
Aufsteht es, vor der fremden Hauptstadt Thoren,
Errungen durch die That, ein Reich des Lichts!

O mög’ es treu den eignen Zauber hüten,
Ein Wundergarten aller Geistesblüten,
Wo jedem Fleiß die schöne Frucht gedeiht!
Und nah’n noch einmal der Entscheidung Tage,
So werf’ sein Schwert es in Europas Wage
Und in die Schale der Gerechtigkeit!
 Rudolf von Gottschall.


[38]

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (2. Fortsetzung.)


Am Frühstückstische des Doktors entspann sich jetzt eine lebhafte Unterhaltung, bei der sich nur Sonneck schweigsam und zerstreut zeigte. Man sah es, wie schwer die Nachrichten über Bernried, die er von dem Arzte empfangen hatte, auf ihm lasteten. Ehrwald sprühte dagegen wie gewöhnlich von Uebermut und spielte den Liebenswürdigen bei Frau Doktor Walter, die sich so wenig wie ihr Mann dem Zauber seiner Persönlichkeit entziehen konnte. Endlich brachen die Herren auf, Sonneck verabredete noch mit dem Doktor die Stunde, wo sie im Hospital zusammentreffen wollten, und wandte sich dann wieder zu dem Kinde.

„Nun, Elsa, willst Du mir nicht Lebewohl sagen?“ fragte er freundlich.

Klein-Elsa besaß jedenfalls einen stark ausgesprochenen Eigenwillen. So entschieden sie sich von Ehrwald abgewandt hatte, so zutraulich zeigte sie sich seinem älteren Freunde gegenüber. Sie kam sofort herbei, bot ihm die Hand und ließ sich zum Abschied küssen.

„Nun, kleine Landsmännin, wollen wir nicht auch Frieden schließen?“ sagte Reinhart scherzend. „Du hast mich zwar sehr schlecht behandelt, aber ich will es Dir nicht nachtragen.“

Er machte Miene, sich gleichfalls zu nähern, aber es bedurfte nur dieser Bemühung, um sofort wieder die ganze Feindseligkeit des Kindes zu entfesseln. Es flüchtete hinter Sonneck und rief angstvoll und zornig zugleich:

„Er soll mich nicht wieder küssen! Nicht wahr, Du leidest es nicht?“

„Gewiß nicht,“ beschwichtigte Sonneck. „Laß das Kind in Ruhe, Reinhart, Du siehst ja, es fürchtet sich vor Dir!“

„Fürchten?“ wiederholte der junge Mann, halb ärgerlich, halb belustigt durch diesen Widerstand. „Da sind Sie doch im Irrtum. Sehen Sie nur, wie das kleine Ding dasteht, als wolle es sich auf Leben und Tod gegen mich verteidigen! Was habe ich Dir denn gethan, Du Trotzkopf? Ich habe Dich ja nur geküßt.“

Da flammte es wieder auf in den Augen des Kindes, ebenso seltsam wie vorhin, und mit der ganzen früheren Leidenschaftlichkeit rief es:

„Ich wollte, Du hättest mich lieber geschlagen!“

Reinhart trat unwillkürlich einen Schritt zurück, aber seine Stirn zog sich finster zusammen, er schien förmlich beleidigt zu sein.

„Nun, schmeichelhaft ist das gerade nicht für Dich,“ sagte Sonneck mit leisem Spott. „Du bist etwas verwöhnt in dieser Beziehung und nun findest Du auf einmal eine junge Dame, die lieber einen Schlag als einen Kuß von Dir hinnehmen will. Merke Dir das, Reinhart!“

Der junge Mann lachte laut auf, aber das Lachen klang etwas gezwungen und dabei fiel ein tiefgereizter Blick auf das Kind, das ihn unverwandt anschaute.

„Nun, ich werde mich wohl zu trösten wissen über meine Niederlage,“ entgegnete er achselzuckend und wandte sich zu dem Doktor und seiner Frau, um sich zu verabschieden.

„Was war denn das heute mit Elsa?“ sagte Frau Walter, als sie allein waren. „Das Kind ist sonst so liebenswürdig, so habe ich es ja noch niemals gesehen.“

Der Doktor blickte nachdenklich auf die Kleine, die ihr Spiel mit dem Hündchen wieder begonnen hatte, und entgegnete ernst:

„Ich fürchte, Sonneck hat recht, es ist das Blut des Vaters, das sich da verrät. Aber wir wollen Klein-Elsa nicht schelten, heute nicht – denn vielleicht wird sie schon heute abend eine Waise sein.“




Der überraschende Verlauf des Rennens bildete noch am nächsten Tage das Hauptgespräch in der Gesellschaft von Kairo. Man sprach überall von der „Faida“ des deutschen Generalkonsuls, von Reinhart Ehrwald und auch von dem vielbeklagten „Darling“, der infolge seiner Verletzung hatte getötet werden müssen, von seinem Herrn war nur sehr wenig die Rede. Man fand jenen ersten „rücksichtsvollen“ Ausspruch des englischen Arztes, daß der Sturz wohl keine schweren Folgen haben werde, sehr bequem, denn nun war man der Mühe überhoben, sich eingehend um den Gestürzten zu kümmern, und konnte in einigen Tagen wieder nachfragen. Es fiel niemand ein, sich näher zu erkundigen oder den Kranken aufzusuchen. Bernried hatte in der That keinen einzigen Freund in Kairo, nur Bekannte, die mit ihm verkehrten, weil er doch nun einmal ein deutscher Baron war und sich in der Sportswelt geltend zu machen wußte.

Seine Abkunft war allerdings zweifellos. Er war der jüngere Sohn einer alten, süddeutschen Adelsfamilie und schien in seiner Jugend ein echtes Kind des Glückes gewesen zu sein. Schön, reich begabt, mit allen möglichen blendenden Eigenschaften ausgestattet, gewann er sich alle Herzen. Er stand als junger Offizier mit seinem Regimente in der Universitätsstadt, wo Sonneck sich kürzlich als Docent niedergelassen hatte, und dort knüpfte sich die Freundschaft zwischen den beiden an.

Lothar Sonneck, der nur einige Jahre älter war, galt für ernst und verschlossen, aber er hatte schon damals den Kopf voll von all den Zukunftsplänen, die er später so glänzend verwirklichte. Er stammte von armen Eltern, hatte mit eisernem Fleiße seinen Studien obgelegen und gab sich nun mit demselben Eifer seinem Berufe hin. Kurz, er war in allen Stücken der Gegensatz zu dem jungen, lebenslustigen Offizier, dem die reichsten Mittel zu Gebote standen, und vielleicht war es gerade diese Verschiedenheit, die sie zu Freunden machte.

Professor Helmreich, der damalige Rektor der Universität, nahm an dieser wie in der Gesellschaft eine der ersten Stellen ein. Er war mit dem Vater Sonnecks befreundet gewesen und blieb auch dem Sohne ein väterlicher Freund. Lothar verkehrte oft und viel in seinem Hause, wo eine einzige Tochter aufwuchs, und vielleicht war es der geheime Wunsch des Professors, daß der junge hochbegabte Mann, für den er eine glänzende Zukunft voraussah, ihm einst noch näher treten möge. Vorläufig aber gab sich von beiden Seiten keine tiefere Neigung kund und es blieb bei einem fast geschwisterlichen Verhältnis zwischen den jungen Leuten.

Da brachte Sonneck seinen Freund in das Helmreichsche Haus und führte damit, ohne es zu ahnen, das Unheil über dessen Schwelle. Bernried, der leicht entflammt und hingerissen war, verliebte sich leidenschaftlich in das schöne Mädchen und gewann im Sturme dessen Herz, fand aber dann, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, eine unübersteigliche Schranke in dem Widerstande des Professors. Die Bernriedsche Familie war als hochmütig und adelsstolz bekannt und der jüngere Sohn war mit seiner Zukunft ganz auf den Vater angewiesen. Helmreich sah eine endlose Reihe von Kämpfen und Demütigungen für seine Tochter voraus und versagte mit aller Entschiedenheit seine Einwilligung so lange, bis der Bewerber die volle rückhaltlose Zustimmung seiner Eltern bringe.

Bernried wußte am besten, daß man ihm damit eine unmögliche Bedingung stellte, denn, ganz abgesehen davon, daß seine Eltern eine derartige Heirat niemals zugegeben hätten, standen hier noch ganz andere Familieninteressen auf dem Spiel. Da die Güter Majorat waren, das nur der ältere Sohn erbte, hatte man beizeiten Sorge getragen, auch dem jüngeren dasselbe glänzende Los zu sichern. Ihm war bereits die Hand einer entfernten Verwandten, einer reichen Erbtochter, zugesagt, die noch in sehr jugendlichem Alter stand und die er erst in einigen Jahren heimführen sollte. Von einer Preisgabe dieser Pläne von seiten seiner Eltern konnte nicht die Rede sein.

Lothar Sonneck war selbstverständlich der Vertraute des jungen Paares und that, was er nur konnte, um den Freund zum Abwarten, zum ruhigen Ausharren zu bestimmen, bis er wenigstens die Einwilligung des Professors erlangt haben werde; aber er predigte tauben Ohren. Der vom Glück verwöhnte junge Baron war gewohnt, alles im Sturme zu erreichen und zu erringen, und glaubte, das auch hier durchsetzen zu können. Als das erste schroffe Nein von seinem Vater eintraf, zugleich mit dem Befehl, sofort nach Hause zu kommen, damit den „tollen Streichen“ ein Ende gemacht werde, griff er ohne Besinnen zu einem Gewaltmittel.

Er bestürmte den Freund, ihm eine letzte Zusammenkunft mit der Geliebten zu ermöglichen, von der ihn das strenge Verbot ihres Vaters fernhielt. Sonneck entschloß sich nur widerstrebend dazu, und erst als Bernried ihm versprach, daß es nur ein Abschied sein sollte, vertraute er und gab nach. Das Vertrauen wurde getäuscht [39] und das gegebene Wort gebrochen. Die beiden jungen Leute benutzten die Zusammenkunft zu einer heimlichen Flucht und gingen auf und davon.

Der Vorfall machte ungeheures Aufsehen in der Universitätsstadt, gerade wegen der hervorragenden Stellung des Professors, und dieser, den der Schlag wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf, brach fast zusammen darunter. Er war von jeher ein ernster, strenger Mann gewesen, dessen starre Ehrbegriffe bis zur Härte gingen, und nun that ihm die einzige Tochter das an! Es änderte nichts an seinen Anschauungen, als nach einigen Wochen zugleich mit der Nachricht, daß die beiden im Auslande getraut seien, die Bitte um Verzeihung eintraf. Er zeigte sich jedem Versöhnungsversuche unzugänglich, beantwortete keinen der Briefe der jungen Frau, auch den letzten nicht, in dem sie ihm die Geburt eines Kindes anzeigte – für ihn gab es hinfort keine Tochter mehr.

Die Familie Bernrieds zeigte sich ebenso unversöhnlich. Sie verzieh dem ungehorsamen Sohne nicht den eigenmächtigen Schritt und vergab ihm noch viel weniger die Vernichtung ihrer Zukunftspläne, sie sagte sich völlig los von ihm. Der junge Baron seinerseits war viel zu stolz und eigenwillig, um da um Verzeihung zu bitten, wo er nur sein Recht der freien Selbstbestimmung auszuüben geglaubt hatte. Er antwortete auf jene Lossagung in der schroffsten Weise und damit war der Bruch endgültig vollzogen.

Man hatte dem jungen Ehepaare selbstverständlich alle Mittel entzogen, aber für die ersten Jahre reichte das Vermächtnis eines alten Verwandten hin, über das Bernried freie Verfügung hatte. Es wäre vielleicht ausreichend gewesen, irgendwo eine bescheidene aber sichere Existenz damit zu begründen, doch der im Schoße des Reichtums erzogene Mann, der nie Mangel und Sorge gekannt hatte, dachte nicht an eine solche Verwendung. Er lebte in gewohnter Weise weiter mit seiner Frau, und als die Summe reißend schnell zu Ende ging, verfiel er nach und nach dem Abenteurerleben, zog mit Weib und Kind unstet bald hierhin bald dorthin und wurde endlich nach Kairo verschlagen, wo seine Laufbahn ein so jähes Ende finden sollte. –

Das deutsche Hospital lag weit draußen in der Vorstadt, in einer Umgebung von Gärten und Villen. Hier sah und hörte man nichts von dem bunten, lärmenden Treiben der Stadt und das helle, freundliche Gebäude lag so friedlich da, als berge es nur Ruhe und Frieden in seinem Innern.

Es war am Spätnachmittage, als Sonneck durch den Garten schritt und in das Haus eintrat. Er bat die Pflegerin, die ihn empfing, den Doktor Walter herbeizurufen, der auch gleich darauf erschien.

„Sie kommen zur rechten Zeit,“ sagte er ernst. „Ich habe soeben meinen Wagen nach der Stadt zurückgesandt, um die kleine Elsa zu holen, denn – es geht zu Ende!“

„Schon jetzt?“ fragte Sonneck erbleichend.

„Ja, ich habe schon heute morgen befürchtet, daß Bernried den Abend nicht mehr erleben wird, und auch meine andere Voraussetzung hat sich bestätigt. Die Besinnung ist noch einmal voll und klar zurückgekehrt. Ich habe ihn auf Ihren Besuch vorbereitet und er verlangt danach, Sie zu sehen. Kommen Sie!“

Sie schritten durch einen Gang und betraten ein einfach aber freundlich eingerichtetes Gemach, dessen Fenster weit offen standen.

Neben dem Bette, wo der Kranke lag, saß eine der Schwestern, die sich jetzt erhob, als der Doktor ihr einige Worte zuflüsterte, und das Zimmer verließ. Sonneck trat leise näher und beugte sich über den Kranken.

„Ludwig!“ sagte er halblaut, aber das ganze Weh dieses traurigen Wiedersehens lag in dem einen Worte.

Der Mann, der sich gestern noch in voller stürmischer Lebenskraft so wild aufbäumte gegen die Möglichkeit einer Niederlage, lag jetzt bleich und still da, aber der Ausdruck herber Verbitterung war aus seinem Antlitz gewichen. Es hatte ausgestürmt in diesen Zügen wie in diesem Leben.

„Lothar!“ sagte er matt. „Jetzt endlich kommst Du zu mir?“

Lothar verstand den Vorwurf und senkte das Auge. Er wollte sprechen, aber Bernried machte eine abwehrende Bewegung.

„Laß, Du hattest ja recht, ganz recht, es hat mir nur so wehe gethan. Ich habe viel Bitterkeit und Demütigung erfahren, seit es – abwärts ging mit meinem Leben, aber das Bitterste war doch die Stunde, wo Du an mir vorübergingst, ohne mich kennen zu wollen.“

„Hätte ich gewußt, daß Du eines Freundes bedarfst, ich wäre gekommen,“ entgegnete Sonneck gepreßt. „Ich ahnte es nicht, Ludwig, daß Du so allein standest mitten in dem großen Kreise.“

„Jawohl, allein, ganz allein! Ich hatte niemand als –“ der Kranke wandte plötzlich den Kopf nach dem Arzte, der an der anderen Seite des Bettes stand. „Mein Kind, meine kleine Elsa! Ist sie denn noch nicht da? Noch nicht?“

„Sie wird in zehn Minuten hier sein,“ beruhigte ihn Doktor Walter. „Ich führe sie dann sofort zu Ihnen.“

Sonneck hatte sich niedergesetzt und die Hand des Kranken in die seinige genommen. Dieser schien körperlich gar nicht zu leiden, aber es sprach eine angstvolle Unruhe aus dem Blick, mit dem er zu dem einstigen Freunde aufsah.

„Ich habe ein Kind, Lothar, ein einziges – was wird aus ihm, nach meinem Tode?“

„Ich weiß, ich habe Dein Kind heute morgen gesehen,“ sagte Lothar mit mühsam unterdrückter Bewegung. „Wie gern nähme ich es schützend in meine Arme! Aber Du weißt es ja, ich habe nicht Haus noch Herd, in wenigen Tagen ziehe ich wieder hinaus in die weite Ferne und kehre vielleicht erst nach Jahren zurück. Aber verlassen ist Deine Kleine ja nicht, sie hat einen Großvater.“

„Helmreich? – Er hat mir und seiner Tochter nie vergeben – er wird auch unser Kind nicht lieben.“

„Du thust ihm unrecht. Es ist das Kind seiner verstorbenen Tochter, die er trotz alledem mehr als alles andre auf dieser Welt liebte, es ist seine Enkelin, sein Blut, und sie wird sich bald genug in sein Herz stehlen. Wenn Du aber wünschest, daß wir uns an Deine Familie wenden –“

„Nein, nein, nur das nicht!“ unterbrach ihn Bernried erregt. „Nur da nicht betteln! Soll mein Kind das Gnadenbrot essen bei denen, die seinen Vater ausstießen? Versprich mir, Lothar, daß da kein Versuch gemacht wird.“

„Regen Sie sich nicht auf, Herr von Bernried,“ mahnte der Arzt besorgt. „Es wird ja alles geschehen, wie Sie es wünschen.“

Das kurze, fieberhafte Aufflammen hatte in der That die Kräfte des Kranken erschöpft. Er sank zurück und lag nun regungslos mit geschlossenen Augen. Da wurde die Thür von neuem geöffnet und an der Hand der Schwester erschien die kleine Elsa. Man hatte ihr gesagt, daß der Papa krank von der Reise zurückgekommen sei und daß sie sehr still und artig sein müsse, wenn sie ihn besuchen wolle. Sie hatte es auch versprochen, aber als sie nun den Vater erblickte, totenbleich, mit geschlossenen Augen, den Kopf mit weißen Tüchern umwunden, da schien dem Kinde doch die Ahnung von irgend etwas Furchtbarem zu kommen. Ehe die Schwester es verhindern konnte, machte es sich los, lief auf das Bett zu und rief mit einem lauten, angstvollen Aufweinen:

„Papa! Papa!“

Bernried zuckte zusammen bei dem Klange dieser Stimme und schlug die Augen auf. Er hatte noch die Kraft, die Arme auszustrecken und sein Kind an die Brust zu ziehen, es war ja das Einzige, was er wahrhaft geliebt hatte.

„Dein Papa ist sehr krank, Elsa!“ sagte Doktor Walter halblaut. „Du darfst jetzt nicht weinen oder laut sprechen, denn das thut ihm wehe, und dann darfst Du auch nicht bei ihm bleiben.“

Das Kind sah erschrocken zu ihm auf mit den großen, thränenvollen Augen, aber die Mahnung half. Es schluckte tapfer die Thränen hinunter und versicherte mit rührender Innigkeit:

„Ich will ganz, ganz still sein und nimmer weinen, wenn ich nur bei meinem lieben Papa bleiben kann!“

Ein Lächeln – das letzte! – flog über das Antlitz Bernrieds, dann begann er mit seinem Kinde zu reden. Es war nur ein Geflüster, matt und abgebrochen, mit schon erlöschender Stimme, aber die Kleine beruhigte sich dabei sichtlich. Der Vater sprach ja zu ihr mit der gewohnten Zärtlichkeit, nannte sie wie sonst seinen süßen kleinen Liebling; darüber vergaß sie den traurigen Anblick. Sie schlang beide Aermchen um seinen Hals und begann nun auch ihrerseits leise zu plaudern. Sie erzählte ihm, daß sie jetzt bei dem Onkel Doktor wohne und dort bleiben werde, bis der Papa ganz gesund sei und zurückkomme, erzählte von der guten Tante Walter, dem schönen Garten und dem weißen Hündchen.

Die süße, schmeichelnde Kinderstimme umspann den Sterbenden wie eine weiche, holde Melodie, die allmählich verklingt. Anfangs hörte und verstand er wohl noch die Worte und seine Augen waren unverwandt auf das Gesicht seines Lieblings gerichtet, dann aber [40] sanken die Lider wie todmüde herab und die Melodie erklang ferner und ferner – sie geleitete ihn hinüber in die Ewigkeit.

„Es geht zu Ende!“ flüsterte der Arzt Sonneck zu. „Aber es wird kein Kampf stattfinden, wir wollen das Kind bei ihm lassen, wenn er noch irgend etwas fühlt, so ist es seine Nähe. – Du darfst Dich jetzt nicht regen, Elsa. Du siehst es ja, der Papa will schlafen. Wecke ihn nicht!“

Die Kleine nickte ernsthaft und verständig und schmiegte leise ihr warmes, rosiges Gesichtchen an die erkaltende Wange des sterbenden Vaters. Tiefes Schweigen herrschte in dem Gemach, das ganz erfüllt war von dem goldigen Glanze der sinkenden Sonne, und durch das offene Fenster sah man weit hinaus in die schimmernde Ferne. Sonneck stand regungslos da, aber ein paar schwere Thränen rollten langsam über seine Wangen, als er auf den Freund blickte, den er im Glanze der Jugend und des Glückes gekannt, den ein einziger falscher Schritt hinausgetrieben hatte in ein unstetes, friedloses Leben und dem der Tod nun als ein Erlöser nahte.

„Vorbei!“ sagte Walter leise und legte seine Hand auf die Brust des Toten, wo kein Atem mehr zu spüren war.

Die kleine Elsa hob das Köpfchen, und mit glücklichem Lächeln zu den beiden Männern aufblickend, flüsterte sie: „Nun schläft der Papa!“

Da beugte sich Sonneck nieder, das Kind emporhebend, schloß er es fest an seine Brust und rief mit ausbrechendem Schmerze:

„Ja, Elsa, er schläft – und das ist gut für ihn, sehr gut! – Wir wollen ihn schlafen lassen!“




Der deutsche Generalkonsul, Herr von Osmar, nahm in Kairo eine in jeder Beziehung hervorragende Stellung ein. In seiner amtlichen Eigenschaft war er selbstverständlich das Haupt der deutschen Kolonie und überdies machten ihn sein Reichtum und seine vielfachen Beziehungen, die bis in die höchsten Kreise hinaufreichten, zu einer sehr einflußreichen Persönlichkeit. In seinem glänzenden, gastfreien Hause verkehrten die Spitzen der Gesellschaft, jeder Fremde von Bedeutung ließ sich dort vorstellen und es galt für eine Auszeichnung, in diesem Hause Zutritt zu haben.

Herr von Osmar war schon seit Jahren Witwer und hatte nicht wieder geheiratet, wohl aus Liebe zu seiner Tochter, der er keine Stiefmutter geben wollte. Ihm war es recht, daß sie noch immer keine Lust zeigte, sich zu vermählen, und gegen all die Bewerbungen, deren Ziel das schöne und reiche Mädchen war, die vollste Gleichgültigkeit zeigte. Er wünschte und erwartete selbstverständlich eine glänzende Partie für Zenaide, aber er hatte durchaus nichts dagegen, wenn dieser Zeitpunkt noch länger hinausgeschoben wurde, die Tochter war ihm allzusehr ans Herz gewachsen.

Das Osmarsche Haus, eine weitläufige, prachtvolle Villa, lag im vornehmsten Teile der Stadt und vereinigte in seiner inneren Einrichtung den europäischen Luxus mit orientalischer Pracht. Nur die persönliche Bedienung des Konsuls und seiner Tochter war deutsch, sonst sah man überall auf Gängen und Treppen die schwarzen oder braunen Gesichter der Eingeborenen in ihrer malerischen Tracht. –

Herr von Osmar befand sich in seinem Arbeitszimmer mit Lord Marwood, der vor einer halben Stunde gekommen war. Das Gespräch der beiden Herren mußte wohl etwas Wichtiges betreffen, denn der junge Lord hatte, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, viel und angelegentlich gesprochen und sah jetzt erwartungsvoll den Konsul an, der mit ruhiger Aufmerksamkeit zuhörte und nun mit derselben Ruhe antwortete:

„Es ist mir gerade kein Geheimnis mehr, was Sie mir da eröffnen, Mylord. Ich habe es längst bemerkt, daß Ihre Besuche in meinem Hause meiner Tochter galten, und die näheren Aufschlüsse, die Sie mir soeben über Ihre Familie und Ihr Vermögen gegeben haben, befriedigen mich in jeder Hinsicht. Aber hier handelt es sich doch vor allen Dingen um die Einwilligung Zenaidens. Ich lasse ihr volle Freiheit, ihrer Neigung und ihrem Herzen zu folgen, aber ich habe, offen gestanden, noch nichts von einer solchen Neigung bemerkt.“

„Ich habe auch noch nicht versucht, mich der jungen Dame zu erklären,“ warf Francis ein. „Ich hielt es für korrekt, mich mit meinem Antrage zunächst an Sie zu wenden, um Ihre Einwilligung und Ihre Fürsprache zu erbitten.“

„Ganz recht, und ich weiß Ihr Vertrauen vollkommen zu schätzen. Aber meine Zenaide hat ein eigenwilliges, romantisches Köpfchen, in dem sich die Welt und das Leben noch so ganz anders malen, als sie in Wirklichkeit sind. Sie will geliebt und gewonnen sein! Wenn da der Vater kommt und ihr ganz nüchtern einen Antrag vorlegt, den er befürwortet, so sagt sie sicher Nein. Ich kenne das, ich bin schon einigemal in diesem Falle gewesen, und eben weil ich Ihnen einen solchen Mißerfolg nicht wünsche, rate ich Ihnen, anders zu Werke zu gehen.“

Der junge Lord zog die Stirne kraus. Man deutete ihm da einen Weg an, den er beim besten Willen nicht gehen konnte, denn die Romantik war seine Sache nun einmal nicht. Er war sich bewußt, mit seinem Reichtum und seinem Range eine glänzende Partie zu sein, selbst für ein so vielumworbenes Mädchen wie Zenaide von Osmar. Er hatte sich mit seiner Werbung ganz „korrekt“ an den Vater gewendet und erwartete eine ebenso „korrekte“ Antwort. Nun mußte er zu seiner Verwunderung erfahren, daß der Konsul die Vermählung seiner Tochter ganz anders behandelte, als dies in den vornehmen englischen Kreisen Sitte war.

„Ich wünschte vorläufig nur zu erfahren,“ hob er wieder an, „wie Sie, Herr Konsul, meine Bitte aufnehmen und ob mir bei Miß Zenaide nicht etwa irgend eine – anderweitige Neigung entgegensteht.“

„Darüber kann ich Sie beruhigen,“ erklärte Herr von Osmar zuversichtlich. „In dem Punkte haben Sie vollkommen freie Bahn bei meiner Tochter.“

„Sind Sie wirklich davon überzeugt?“

„Gewiß, ich wüßte nicht, daß Zenaide irgend jemand von der Gesellschaft besonders auszeichnet.“

„Man kann den Begriff der ‚Gesellschaft‘ sehr weit ziehen und Miß Zenaide scheint das in der That zu thun.“

Die Worte klangen in so unverkennbarer Gereiztheit, daß der Konsul ihn befremdet ansah. „Was soll das heißen? Sie scheinen eine ganz bestimmte Persönlichkeit im Auge zu haben; da muß ich Sie aber doch bitten, sich näher zu erklären. Ich habe keine Ahnung davon, wen Sie meinen.“

„Das sehe ich und bitte im voraus um Entschuldigung, wenn ich Sie auf unliebsame Dinge aufmerksam machen muß. – Herr Sonneck verkehrt sehr viel in Ihrem Hause.“

„Allerdings, er ist einer meiner nächsten Freunde, aber ihn werden Sie doch kaum in Verdacht haben.“

„Nicht ihn, aber seinen Günstling, der ihn stets begleitet und es gründlich auszunutzen weiß, daß er Ihre ‚Faida‘ damals zum Siege geführt hat.“

Osmar stutzte einen Augenblick, dann aber lachte er laut auf.

„Reinhart Ehrwald? Da spielt Ihnen die Eifersucht wirklich einen Streich, Mylord. Der hat ja nichts im Kopfe als die Nilquellen und all die Kämpfe und Abenteuer, die ihn auf dem Zuge erwarten. Er ist weit ungeduldiger, fortzukommen, als Sonneck selbst und kaum mehr in Kairo zu halten. Nein, der träumt nur von der Romantik seines Wüstenzuges, darauf gebe ich Ihnen mein Wort!“

„Und eben das macht ihn interessant für Miß Zenaide,“ sagte Francis mit Nachdruck. „Sie haben es ja selbst vorhin zugestanden, daß sie der Romantik sehr zugänglich ist.“

Der Konsul wurde ernster, aber er schüttelte ungläubig den Kopf. „Thorheit! Meine Tochter hört ihm gern zu, wenn er von seinen Zukunftsplänen schwärmt, das thut sie auch, wenn Sonneck von seinen Fahrten erzählt; sie hat nun einmal eine Vorliebe für solche Dinge, aber von einem persönlichen Interesse ist dabei nicht die Rede. Sie sehen Gespenster, Mylord.“

„Ich will es hoffen,“ sagte Lord Marwood kühl. „Jedenfalls aber möchte ich Sie bitten, die junge Dame einmal zu beobachten, wenn sie im Gespräch ist mit diesem – diesem kecken Glücksritter, der sich einzubilden scheint, daß ihm nichts unerreichbar bleibt, wenn er verwegen genug ist, die Hand danach auszustrecken. Er rechnet wohl auf Ihre Liebe zu der einzigen Tochter, die selbst eine solche Wahl –“

„Das würde ich mir denn doch sehr verbitten!“ fiel Osmar erregt ein. „Wenn ich vorhin erklärte, daß ich der Neigung meiner Tochter freies Spiel lasse, so hatte ich dabei selbstverständlich eine angemessene Wahl im Auge. Aber dieser junge Mann, von dem ich nicht viel mehr weiß als den Namen, über dessen Herkunft

[41]

Eine Ausfahrt der Großen Vestalin.
Nach dem Gemälde von H. Motte.

[42] und Verhältnisse auch Sonneck nur sehr oberflächlich unterrichtet zu sein scheint, und der nichts auf der Welt besitzt, kann doch füglich nicht ernst genommen werden in dieser Hinsicht. Ich habe ihn um Sonnecks willen in meinem Hause empfangen und ihm damit die Kreise der hiesigen Gesellschaft geöffnet. Ich will hoffen, daß seine Wünsche nicht höher fliegen, sonst wäre ich genötigt, ihn an die Schranken zu erinnern, die ihm gezogen sind.“

Francis sah mit Genugthuung, daß seine Warnung die beabsichtigte Wirkung hatte, und dabei ließ er es vorläufig bewenden. Das Hetzen und Wühlen war seine Sache nicht, dazu dünkte er sich zu vornehm. Er hielt es mir für notwendig, den „kecken Glücksritter“ unschädlich zu machen, und das schien erreicht zu sein. Herr von Osmar war in der That bedenklich geworden, wenn er es auch nicht für gut fand, es einzugestehen.

„Uebrigens brauchen wir uns darum keine Sorge zu machen,“ begann er wieder. „Es ist ganz überflüssig, so viel Worte zu verlieren um einer Sache willen, die sich von selbst erledigt, auch wenn es sich wirklich um eine flüchtige romantische Laune meiner Tochter handeln sollte. Der Verkehr, der Sie so beunruhigt, nimmt jetzt ein Ende, denn wir gehen schon in der nächsten Woche nach Luksor, auf meine dortige Besitzung.“

„Wie, Sie wollen Kairo verlassen?“

„Jawohl, ich habe mich etwas überarbeitet in der letzten Zeit und spüre jetzt doch die Folgen. Doktor Walter rät mir dringend, mich für einige Wochen von den Geschäften wie von der Geselligkeit zurückzuziehen, deshalb wurde die Reise beschlossen. Ich will dort meine angegriffenen Nerven wieder einigermaßen in Ordnung bringen, und wenn wir zurückkehren, sind Sonneck und Ehrwald längst fort. Ihnen aber, Mylord, möchte ich Gelegenheit geben, Ihre Werbung selbst anzubringen. Wollen Sie unser Gast in Luksor sein?“

Lord Marwood erhob sich in offenbar sehr angenehmer Ueberraschung. „Das bedarf keiner Frage, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Einladung.“

„Und das übrige ist dann Ihre Sache,“ ergänzte der Konsul lächelnd. „Aber einen Rat möchte ich Ihnen noch geben – lassen Sie sich Zeit mit Ihrer Erklärung. Sie werden ja nun täglich Gelegenheit haben, meine Tochter zu sehen und zu sprechen, aber ich wiederhole es Ihnen, Zenaide will gewonnen sein! Sprechen Sie das entscheidende Wort nicht eher, als bis Sie Ihrer Sache sicher sind. Was ich thun kann, Ihnen den Weg zu ebnen, soll geschehen.“

Er reichte dem jungen Lord die Hand, die dieser mit ungewohnter Lebhaftigkeit ergriff. Es war eine Bundesgenossenschaft, die dieser Händedruck besiegelte, und die beiden Herren schienen gleich befriedigt davon.

Als Herr von Osmar allein war, klingelte er und fragte nach seiner Tochter. Der Diener berichtete ihm, das gnädige Fräulein sei vor einer Stunde ausgefahren, mit den Herren von Sonneck und Ehrwald. Die Stirn des Konsuls faltete sich, obgleich er sich erinnerte, daß die Ausfahrt gestern verabredet worden war. Sonneck hatte in irgend einer alten verfallenen Moschee etwas Interessantes entdeckt, das er der jungen Dame zeigen wollte, und Osmar, der sehr wenig Sinn für arabische Bauten und Inschriften hatte, war ganz einverstanden damit, wenn man ihm mir nicht zumutete, mitzukommen. Aber Reinhart Ehrwald war auch dabei, wie immer! Wenn er wirklich verwegene Hoffnungen und Pläne hegte, wie Lord Marwood angedeutet hatte, an Gelegenheit fehlte es ihm nicht!

Der Konsul begann unruhig auf und nieder zu gehen. Jetzt, wo er aufmerksam gemacht worden war, kam ihm manches in Erinnerung, was er früher nicht beachtet hatte. Dieser Ehrwald mit seinem feurigen, lebensprühenden Wesen hatte etwas Bestrickendes, das ließ sich nicht leugnen, er glich so gar nicht den anderen jungen Männern und Osmar kannte am besten die Vorliebe seiner Tochter für das Ungewöhnliche. Die Sache war vielleicht doch nicht so ganz ungefährlich und im Hinblick darauf gewann die Werbung des jungen Lords eine erhöhte Bedeutung für den Vater. Begünstigt hätte er sie auch ohnehin, denn es war zweifellos eine Partie ersten Ranges und eine erste Rolle, die Zenaide als Lady Marwood in der englischen Gesellschaft spielen würde. Jetzt aber trat vielleicht noch die Notwendigkeit ein, durch eine standesgemäße Heirat einer etwaigen Thorheit vorzubeugen, und das war entscheidend für den Konsul. Er beschloß, seine ganze väterliche Autorität dafür einzusetzen. (Fortsetzung folgt.)


Kieler Sprotten und Bücklinge.

Von Georg Hoffmann. Mit Abbildungen von H. Haase.

Die Zeiten sind heute vorüber, in denen die Produkte der Kieler Fischräucherkammern es so ziemlich allein waren, welche den Deutschen im Binnenlande hin und wieder unter willkommenem Gaumenkitzel an die Existenz der stammverwandten Holstenstadt an der Ostsee erinnerten. Denn zum Vorort der deutschen Reichsmarine erhoben, ist die Stadt der Sprotten und Bücklinge zum wertvollen nationalen Besitz geworden, und dazu hat das letzte Jahr mit dem glanzvollen Akt der Eröffnung des Kaiser Wilhelm-Kanals auch den Namen Kiels auf immer in die Annalen internationaler Kultur- und Verkehrsgeschichte eingetragen.

Auf dem Heringsfang bei Kiel.

Indessen durch solche Vergünstigungen hat die Anwohnerschaft des deutschen Reichskriegshafens in der Ausübung praktischer Lebensgewohnheiten und nahrhafter Erwerbsthätigkeiten alten Herkommens sich keineswegs beirren lassen. Im Gegenteil! Den Bedürfnissen der erstaunlich schnell angewachsenen Bevölkerung Rechnung tragend, treibt man Handel und Schiffahrt kraftvoller als vor einem Vierteljahrhundert; energischer übt der Fischer von Ellerbek, Möltenort und Laboe sein schwieriges Handwerk, um, von der Konkurrenz gedrängt, ergiebige Fänge zu erzielen, und mächtig qualmen jahraus jahrein über den Räucherherden am Föhrde-Ufer Schlote und Strohdachfirste, damit die wachsende Nachfrage nach den goldglänzend geschwelten, schmackhaften Bewohnern der Ostsee Deckung finde. Gerade der Export und die Fabrikation von Fischräucherwaren haben in den letzten Jahren einen außerordentlichen Aufschwung genommen; mehr und [43] mehr haben diese Produkte auf dem Weltmarkt an Wertschätzung gewonnen.

Wer den ersten Kieler Sprott geräuchert, den ersten Herbsthering zum Bückling umgewandelt hat? – Ich habe mir redliche Mühe gegeben, dem Manne nachzuspüren; aber die vergilbten Blätter holsteinischer Lokalchroniken konnten mir seinen Namen ebensowenig nennen wie die gelehrten Volkswirtschaftler der Kieler Christian Albrecht-Universität oder die greisen Senioren der Föhrdefischerei. Und so gilt auch vom ersten Sprottenräucherer, wie von so manchem Menschenfreund, das Wort in der Eingangsstrophe zu Klopstocks bekannter Eislaufselegie:

„Vergraben ist in ewige Nacht
Der Erfinder großer Name zu oft!“

Im übrigen ist zwar die Kunst, Fische durch Räuchern zu konservieren, auch in Schleswig-Holstein hohen Alters; aber der geräucherte Fisch hat jahrhundertelang sein Absatzgebiet fast ausschließlich an den Stätten seiner Bereitung, das heißt an den Küstenorten und in deren unmittelbarem Hinterlande, gefunden, und noch heute giebt es in allen Fischerdörfern Leute, die es bezeugen, daß man in früheren Jahrzehnten dieses Jahrhunderts nach reichlichem Fang den Ueberschuß an Sprotten und Heringen als Dünger auf die Felder werfen mußte, weil man einer vorteilhafteren Verwertung desselben sich nicht zu erfreuen hatte. Denn nur in möglichst frischem Zustand üben Sprotten und Bücklinge ihren Reiz auf den Gaumen des Feinschmeckers, und daher hat es erst einer einigermaßen gesicherten und regelmäßigen Verkehrsverbindung zwischen Ostsee und Elbe bedurft, ehe der Hamburger Hausierer gemütlichen Angedenkens allmorgendlich mit einigem Erfolg sein eintönig rhythmisches „Kieler Bückeln!“ durch die Straßen der Freien Hansestadt johlen konnte. Heute aber machen es nur die schnellen Eisenbahnzüge und schnellsten Oceandampfer möglich, daß die Bewohner zweier Welten sich mit Behagen der Delikatesse erfreuen können, die der holsteinische Fischer in finsterer Nacht aus der Tiefe des Meeres emporhebt.

Auf dem Frischfischmarkt zu Kiel.

Freilich! wenn der holsteinische Fischer oder gar derjenige von der Kieler Föhrde allein den ganzen Weltmarkt mit Bücklingen versorgen sollte, dann würde es um diesen mager genug bestellt sein. Glücklicherweise ist indessen der Reichtum an Heringen, die ja in volkswirtschaftlicher Beziehung vor den Sprotten in Betracht kommen, in der ganzen Ostsee ein so großer, daß der an der westlichen Küste gemachte Fang durch Sendungen aus allen Teilen des Baltischen Meeres, insonderheit aber aus den schwedischen und dänischen Gewässern, seine überreichliche Ergänzung findet. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß die verschiedenen Arten des Fisches, deren es in der Ostsee einige dreißig giebt, was Nährwert, Geschmack und Verwendbarkeit für den Export anbelangt, keineswegs ebenbürtig nebeneinander stehen. Unterschieden werden diese Arten unter den Händlern einfach nach den Fangplätzen; denn, wie die Erfahrung interessanterweise gelehrt hat, kehrt der Hering zum Laichen stets an dieselbe Stelle zurück, an welcher die Brut ausgekrochen ist, so daß zum Beispiel im Schleibusen zur Frühjahrszeit seit Menschengedenken nur eine einzige, durch Schmackhaftigkeit und Fettheit ausgezeichnete Art gefangen wird, die man sonst in der ganzen Ostsee vergeblich sucht. Dieser allgemein gültigen Gewohnheit des Fisches gegenüber ist daher die bisher noch nicht aufgeklärte Erscheinung um so auffallender, daß der in den Kieler Räuchereien viel verarbeitete schwedische Hering, der alljährlich seit alten Zeiten die Gewässer von Gotenburg bevölkerte, dort zu Anfang dieses Jahrhunderts mit einem Male spurlos verschwunden war, um erst im Jahre 1873 ebenso plötzlich wieder aufzutauchen und seither in jedem Spätsommer in altgewohnter Massenhaftigkeit gefangen zu werden. Hunderttausende dieser schwedischen, sowie der dänischen Heringe werden während der Fangzeit täglich durch die Postdampfer nach Kiel befördert, um in den Räuchereien am Föhrde-Ufer sofort verarbeitet oder nach Lübeck und Eckernförde weiter gesandt zu werden; wozu gleich hier bemerkt werden mag, daß die Lübecker Exporteure mehr Gewicht auf den massenhaften Versand legen, während in Kiel und Eckernförde die Qualität der Ware die Hauptrolle spielt. Letzteres liegt zum Teil in der Thatsache begründet, daß kein anderer Ostseehering, mag er im Kattegat oder in den Belten, im Limfjord oder in einer anderen jütischen oder schleswigschen Bucht gefangen werden, was Zartheit des Fleisches und Feinheit des Geschmacks anbelangt, sich mit der an Größe zwar hinter den meisten Arten zurückstehenden Rasse der Kieler Föhrde und der unmittelbar benachbarten Eckernförder Bucht messen kann. Wie Professor Möbius, ehemals in Kiel, jetzt in Berlin, der beste Kenner der Ostseefauna, nachgewiesen hat, handelt es sich hier um zwei für den Laien äußerlich schwer unterscheidbare, durch Uebergänge verbundene Lokalrassen: den Herbst- oder Seehering, der im Herbst und Winter laicht, und den Frühjahrs- oder Küstenhering, der die Buchtungen zu gleichem Zweck im April und Mai aufsucht und sich dann gern in dem halbsalzigen Brackwasser vor den Flußmündungen aufhält. Da von den beiden, in denselben Gewässern vorkommenden Sprottarten die eine mit der ersteren, die andere mit der letzteren Heringsrasse gleichzeitig laicht, so ergiebt sich, daß der ganze Kieler Sprotten- und Heringsfang im wesentlichen in das Winterhalbjahr fällt.

Die ersten Schwärme von Fischen beider Art treffen allerdings auch an der schleswig-holsteinschen Küste schon Ende August und Anfang September ein; und vielerorts wird auch um diese Zeit mit dem Fang begonnen, ohne daß derselbe, da die Fische noch nicht recht ständig geworden, sonderliche Erträge lieferte. An der Kieler Föhrde aber, und insonderheit in Ellerbek, dem großen, stadtartig erweiterten, Kiel gegenüber hart am Terrain der Kaiserlichen Werft gelegenen Dorfe der Fischer und Räucherer, denkt selten jemand daran, den Sprotten und Heringen vor Beginn des Oktobermonats nachzustellen. Während daher die Räuchereien vielleicht schon seit Wochen mit der Verarbeitung schwedischer und dänischer Ware zu thun haben, beschäftigt sich der Ellerbeker Fischer noch mit dem Buttfang für den Frischfischmarkt und wartet [44] nach altem Übereinkommen, dem niemand zuwiderhandeln würde, ab, bis Sprotten und Heringe in und vor der Föhrde stationär geworden und die Millionen schleimiger Quallen, welche die Handhabung der Netze unter Umständen ganz außerordentlich erschweren, mit dem Eintritt kühler Witterung seewärts verschwunden sind. Naht aber die Zeit heran, dann heißt’s, das Fanggeschirr in Ordnung zu bringen; und während für die Sommerfischerei das aus feinstem Garn weitmaschig geknüpfte Setznetz verwendet wurde, wird nunmehr die aus bestem baumwollenen Bindfaden gefertigte, schwere, engmaschige Wate (Waade) hervorgeholt – ein Zugnetz, welches, von daumendicken Tauen eingerahmt, zwölf Meter breit und 140 Meter lang, in der Mitte in einen geräumigen, langen Beutel zusammenläuft.

Das Waschen und Ausspülen der Fische.

Die Ausfahrt zum Fang erfolgt zu vorgerückter Nachmittagsstunde, früher oder später, je nach der Entfernung der Fangplätze, dem Charakter der Witterung und der Stunde des Sonnenuntergangs, in welcher der erste Zug stattfindet. In Ellerbek pflegt die ganze Fischerflottille von gegenwärtig 34 Booten, deren allemal zwei, mit je zwei Mann besetzt, zusammen arbeiten, möglichst gleichzeitig aufzubrechen. Ist der Wind günstig, so wird gesegelt; ist er flau oder konträr, so muß im Schweiße des Angesichts „gepullt“ werden, was bei der Schwere der Riemen in den mit allerlei Geräten vollgepackten Fahrzeugen kein leichtes Stück Arbeit ist. Und dabei muß sich jeder ins Zeug legen; denn in dem zwar niemals schriftlich festgesetzten, aber darum doch allerseits aufs peinlichste beobachteten Statut der Föhrdefischer besagt ein Paragraph, daß derjenige das Recht zum ersten Zuge hat, der zuerst an der betreffenden Fangstätte anlangt. Gegen diese Satzung zu fehlen, würde keinem Fischer einfallen, mag er der großen Ellerbeker Gilde angehören oder zu den Bewohnern der weiter seewärts gelegenen Stranddörfer Möltenort und Laboe zählen, welche in diesem Winter je vierzehn Boote mit sieben Waten stellen. Wenn daher je nach dem Ruf, dessen sich ein solcher stets in der Nähe des Ufers befindlicher Fangplatz erfreut, an demselben zwei, drei und mehr Paare von Fahrzeugen eintreffen, so legen sich die später ankommenden Fischer zunächst vor Anker, holen die „Etenbütt“, den altmodischen, kübelartigen Eßkober, hervor und zünden zwecks Aufwärmens des mitgebrachten Kaffees die Petroleummaschine im Boote an.Das zuerst eingetroffene Paar aber beginnt sofort mit dem Fang.

Zu diesem Zweck werden die Enden des auf beide Fahrzeuge verteilten Zugnetzes je mit einem 900 Fuß langen Tau verknüpft, deren eines in dem einen, das zweite in dem anderen Boote um eine quer über den letzteren liegende hölzerne Welle gehaspelt ist. Sodann wird der inmitten der Wate befindliche Fangbeutel zwischen den beiden Booten ins Wasser versenkt, und nun rudern die Fahrzeuge, indem jedes derselben seinen Netzflügel schubweise über Bord gleiten läßt, in entgegengesetzter, mit der Uferlinie paralleler Richtung auseinander. Hat jedes Boot seinen 70 Meter langen Flügel vollständig zu Wasser gelassen, so bildet der unter der Wirkung der nach unten sinkenden Gewichte und der aufwärts strebenden Schwimmhölzer gleichmäßig entfaltete Netzplan eine senkrecht auf dem Grunde stehende Wand, welche, 140 Meter lang und 12 Meter hoch, sich in mäßigem, seewärts vorspringendem Bogen von einem Fahrzeug zum anderen erstreckt und in der Mitte durch die hohe und breite, in den Fangbeutel führende Oeffnung unterbrochen wird. Nunmehr rudern beide Boote, ihren Abstand voneinander beibehaltend und die erwähnten Taue von den Wellen abhaspeln lassend, senkrecht gegen die Uferlinie ins seichte Wasser, soweit es eben das abrollende Tau zuläßt. Ist dies geschehen, und befindet man sich mithin 900 Fuß von der Wate entfernt, so wird jedes Boot an einem mit eiserner Spitze versehenen, in den seichten Grund gerammten starken Pfahl festgelegt, worauf man beginnt, die abgerollten Taue wieder aufzuhaspeln und damit allmählich die Netzwand, über den Grund hin, zu den Booten heranzuziehen.

Das Trocknen der frischen Fische.

Hat jedes Boot auf diese Weise sein Ende der Wate wiedergewonnen, so fährt das eine Fahrzeug im Bogen zum andern hinüber, führt dadurch das eine Ende des Netzes zum andern, macht wiederum fest, und nun beginnt die auf unserem Bilde S. 42 veranschaulichte Schlußarbeit. Ruckweise wird das schwere Netz eingezogen, aus welchem ein Entweichen der Fische nur noch zwischen und unter den Booten hindurch möglich ist; und um auch dies zu verhüten, muß in jedem Fahrzeug ein Mann, mit der einen Hand ziehend, mit der andern den „Pultscher“ handhaben, einen am unteren Ende glockenartig sich erweiternden Schaft, der beim Einstoßen ins Wasser in diesem lebhafte Unruhe verursacht und die Fische dem nachschleppenden Fangbeutel zutreibt. Schon geraume Zeit bevor der letztere in die Boote emporgehoben wird, kann der Fischer wenigstens ungefähr beurteilen, ob der Zug, der durchschnittlich anderthalb Stunden in Anspruch nimmt, lohnend ist oder nicht. Denn war’s mit dem Fange [45] nichts, dann sind die Maschen der verkrauteten und verschlammten Netzflügel leer: hat’s aber geglückt, dann blitzt es und blinkert’s auch in ihnen schon von Sprotten und Heringen, daß die Fischer ihre liebe Not haben, sie unter dein Einziehen der Wate loszulösen.

Befindet sich nur ein Paar Boote an der Fangstelle, so beginnen die Insassen nach kurzer Pause, während welcher die gestörten Fische wieder zur Ruhe kommen, den nächsten Zug und so fort die Nacht hindurch; und da ist es denn vorgekommen, daß in der Travemünder Bucht, unweit des Seebades Niendorf, in einer Nacht und mit einer Wate 5000 Pfund Sprotten im Werte von 4000 Mark gefangen wurden; allerdings eine ganz seltene Ausnahme, die in der Kieler Föhrde so leicht nicht vorkommt. Denn dort werden die besten Fangplätze natürlich am stärksten belagert; und die erste Fischergruppe kann sich, nachdem sie sich aus „Etenbütt“ und Kaffeekanne gestärkt, zumeist in aller Ruhe, wenn auch keineswegs in aller Bequemlichkeit, in den Booten auf ein paar Stunden schlafen legen. Daß sie, wenn die Reihe wieder an ihnen ist, von den Kameraden geweckt werden, darauf können sie sich verlassen, weil solches jener ungeschriebene, nie verletzte Ehrenkodex der Föhrdefischer verlangt.

Auf der Rückfahrt von dem bei Sonnenaufgang geräumten Fangplatz sortieren die Fischer die gewonnene Ware, trennen, wenn, wie es meistens der Fall, beide Fischarten gleichzeitig gefangen wurden, die Sprotten von den Heringen, scheiden die mehr oder weniger zahlreich ins Netz gegangenen Dorsche für den Frischfischmarkt aus und sind somit bei der Ankunft am heimischen Strand für die sofort beginnende Auktion gerüstet. Denn ausnahmslos erfolgt der Verkauf der Sprotten und Heringe, mag es sich nun um schleswig-holsteinische, dänische oder schwedische Ware handeln, auf dem Wege der Versteigerung, die sich auf dem Kieler Großmarkte besonders lebhaft zu gestalten pflegt. Kommt der tägliche dänische Postdampfer morgens fünf Uhr in Kiel an, so stehen die mit dem Verkauf der Fische betrauten Kommissionäre bereits an der Landungsbrücke, um die in Kisten mit je fünf bis sechs Wall zu achtzig Stück verpackten, bereits am Abgangsort gesalzenen Heringe in Empfang zu nehmen. Die Entlöschung des Schiffes, das in der günstigsten Fangzeit oft Tausende solcher Kisten importiert, beginnt sofort; und schon um sieben Uhr jeden Morgen hebt die Versteigerung an. Die Preise sind ganz außergewöhnlichen Schwankungen unterworfen, so daß in der besten Fangzeit für das Wall Heringe heute vielleicht 25 bis 50 Pfennig und morgen schon eine bis anderthalb Mark gezahlt werden, Preise, die zur Zeit geringer Zufuhren bis zu sechs oder sieben Mark steigen.

„Kieler Bückeln!“

Unmittelbar nach der Versteigerung, die in gleicher Weise auch nach Ankunft des zweimal wöchentlich fälligen schwedischen Postdampfers vor sich geht, wird die Ware teils in die Kieler und Ellerbeker Räuchereien befördert, teils waggonweise nach Lübeck, Hamburg-Altona und Eckernförde versandt. An letzterem Ort, dessen ausgedehntes Räuchereigeschäft auch einen umfangreichen eigenen Fischfang bedingt, gestaltet sich die Auktion der über Nacht gefangenen Ware ganz besonders interessant. Denn dort stehen schon in der Frühe allmorgendlich die Räucherer und Exporteure am Quai des kleinen Hafens beisammen und harren der Ankunft der Fischer. Diese haben schon unterwegs ihre Ware auf den Bänken des Boots ausgebreitet; und nun beginnen die Käufer am Lande von weitem ihre Gebote zu den Fischern hinüberzurufen und erledigen das ganze Geschäft, ehe diese noch einen Fuß an Land gesetzt haben.

Ist in Ellerbek der Verkauf der über Nacht gefangenen Ware beendigt, so wandern die Sprotten und der größere Teil der Heringe direkt in die Räuchereien, welche zumeist selbständige Betriebe, teilweise aber auch Filialen größerer Kieler Geschäfte sind; der Rest der Heringe wird samt den gefangenen Dorschen in „grünem“, d. h. rohem Zustande von den Fischerfrauen, die das Ruder in ihrem etwas „seelenverkäuferischen“ Einbaum mit Geschick zu regieren wissen, nach Kiel gebracht, um daselbst am sogenannten Fischerleger, dem auf unserem Bilde S. 43 wiedergegebenen Frischfischmarkt der Marinestadt, an Hausfrauen und Mägde in kleinen Partien verkauft und in den Kieler Familien mariniert oder gebraten verspeist zu werden. Das Bild, mit dem großen Packhause im Hintergrund, zeigt uns ein paar echte Typen der an ihren Körben und Mulden feilschenden Weiber und läßt zur Linken, von der Rückseite gesehen, auch jene kleinen, aus etwa zwei Quadratmetern Grundfläche erbauten, in einer langen Reihe eng nebeneinander gerückten Ellerbeker Fischbuden erkennen, in denen die delikaten Produkte der Kieler und Ellerbeker Räuchereien - Sprotten und Bücklinge, Makrelen und Flundern, Aale und Aalquabben, den Passanten von teilweise recht wohlbeleibten Markthallendamen angepriesen werden. Natürlich alles „frisch aus dem Rauch!“ und, man kann fast sagen: frisch aus dem Wasser! Denn recht häufig haben die dort am Nachmittage verkauften Bücklinge noch in der Nacht zuvor als ahnungslose Heringe sich vergnügt in der Flut getummelt.

Die ganze Bearbeitung der Fische in den Räuchereien ist nämlich an sich recht einfach und nimmt verhältnismäßig kurze Zeit in Anspruch; zumal in den größeren Kieler Räuchereien, wo die große Zahl beschäftigter Leute, zumeist Frauen, eine praktische Arbeitsteilung ermöglicht und wo das Gros der verarbeiteten Ware aus dänischen oder schwedischen Heringen besteht, die bereits gesalzen in Kiel eintreffen. Bei den in der Kieler Föhrde gefangenen Sprotten und Heringen hingegen ist die Prozedur des Einsalzens zunächst noch vorzunehmen und währt durchschnittlich eine Stunde. Sodann werden die Fische in wassergefüllten Kübeln oder gemauerten Bassins durch Bearbeitung mit gewöhnlichen Reisbesen entschuppt, gewaschen und schließlich, wie überall, aufgespillt. Letzteres geschieht, wie auf unserem Bilde S. 44 ersichtlich, in Ellerbek noch vielfach unter freiem Himmel in der Weise, daß man die Heringe auf fingerdicken hölzernen, die Sprotten auf stricknadelstarken eisernen Stäben aneinander reiht, und zwar so, daß [46] dieselben durch das Kiemenloch hineingesteckt werden und aus dem Maul wieder hervorkommen. Sind zwanzig Heringe, bezw. eine entsprechend größere Zahl Sprotten, aufgespillt, so wird der gefüllte Stab, wie das zweite Bild auf S. 44 zeigt, in einen von vier senkrechten Pfeilern getragenen wagerechten, rechteckigen Rahmen, deren zwei oder mehrere übereinanderliegen, eingefügt; dein ersten Stab folgt ein zweiter, dritter etc., bis der oder die Rahmen vollständig durch die von den nebeneinanderliegenden Spillen herabhängenden Fische ausgefüllt sind. Letztere werden nunmehr eine Weile der Luft ausgesetzt, um zu trocknen; eine Prozedur, die in großen Räuchereien, in denen nur in geschlossenen Räumen gearbeitet wird, nicht mehr zur Ausführung gelangt. Alle folgenden Manipulationen hingegen sind in sämtlichen Betrieben, mögen dieselben einen einzigen oder vier und mehrere Räucheröfen umfassen, die gleichen.

Die Räucherkammer.

In der Räucherkammer werden die aufgespillten Heringe, Stab neben Stab, in hölzerne, blechbeschlagene Rahmen eingefügt, welche, je 1000 Heringe oder 2400 Sprotten fassend, aus dem sie tragenden Gerüst herausgehoben werden können. Ist ein solcher Rahmen fertig ausgefüllt, so wird er mittels der sogenannten Kehrmaschine zum Herde befördert. Diese Maschine, aus dem nebenstehenden Bilde deutlich erkennbar, besteht in einem Flaschenzug, dessen obere „Flasche“ an der Achse einer Rolle hängt, die auf dem unter der verräucherten Decke ausgespannten, als Leitschiene dienenden Kabel läuft. An der unteren Flasche hängt wagerecht ein Kreuz aus Eisen, von dessen vier Enden je eine in einem Haken auslaufende Kette herabhängt. Die Haken greifen nun in die auf unserem Bilde sichtbaren, an jeder Seite des Rahmens angebrachten Oesen; der Flaschenzug wird angezogen, und wagerecht schwebend wird der aus dem Gerüst gehobene Rahmen dem Herde zugeführt und in die Nuten, welche in den Seitenwänden desselben sich befinden, hineingeschoben. Nachdem drei solcher Rahmen übereinander dem Herde eingefügt sind, wird auf dem Boden desselben zunächst aus Eichen-, Erlen- oder Buchenholz ein helles Feuer entzündet, über welchem der Hering im Laufe einer Stunde gar wird, und nun erst kommt es darauf an, ihm durch Räucherung den eigenen Geschmack und den tadellosen Goldglanz zu verleihen, auf den der Händler so viel Gewicht legt. Zu dem Zweck wird der untere Rahmen mit Decken und Säcken belegt und dadurch von den zwei oberen abgeschlossen, so daß er allein den vollen qualmigen Rauch erhält, der gleichzeitig durch Dämpfen des Feuers mittels aufgeschütteter Eichenlohe entwickelt wird. Nachdem der Hering auch in diesem Rauch eine Stunde gehangen, ist er zum fertigen Bückling geworden; der Rahmen wird durch die Kehrmaschine aus dem Herde, der übrigens in einigen städtischen Räuchereien durch blecherne Thüren verschließbar ist, herausgehoben und auf das Holzgerüst zurückbefördert, wo die Fische, um versandfähig zu werden, eine halbe Stunde abkühlen müssen. Inzwischen wird der zweite und nach ihm der dritte Rahmen in derselben Weise behandelt und dann der Ofen von neuem gefüllt. Auch die Sprotten werden genau in derselben Weise geräuchert: nur bedarf es bei ihnen, wie auch bei den kleinen Arten des Herings, nicht eines Aufenthalts von zwei, sondern nur von anderthalb Stunden im Herde. Eine besondere Methode der Zubereitung gelangt seit Jahren bei den hervorragend großen Heringen zur Anwendung, welche gleich den Makrelen durch einen Längsschnitt über den Rücken in zwei, nur durch die Bauchhaut zusammengehaltene Hälften auseinandergeteilt oder „gefleckt“ und dann erst geräuchert werden. Diese Fleckheringe gewinnen dadurch, daß sie intensiver vom Rauch durchdrungen werden, an Dauerhaftigkeit und Geschmack, sind aber im Binnenlands bisher nicht so bekannt, wie sie’s verdienen.

Während des Räucherns und der übrigen mit den Fischen vorgenommenen Hantierungen trägt natürlich mancher Bückling einen Schönheitsfehler davon, indem er bricht oder in der Farbe verfehlt wird. Dieser Ausschuß, der in großen Räuchereien, wo täglich Zehntausende von Heringen verarbeitet werden, bisweilen beträchtlich anwächst, ist von volkswirtschaftlichem Wert: denn, an Geschmack der tadellos geratenen Ware vollständig gleich, werden die verkümmerten Bücklinge zu sechs bis acht Stück für zehn Pfennig abgegeben; und so sind denn die Kieler Räuchereien schon in den frühen Morgenstunden von Arbeitern und Frauen belagert, welche sich die ebenso schmackhafte wie billige Zukost zum Frühstücksbrot nicht entgehen lassen wollen. Auch von der marktfähigen [47] Ware wird ein großer Teil in Kiel und der nächsten Umgebung verzehrt. Wer sie garantiert frisch haben will, kauft sie in der Räucherei selber direkt vom Spillrahmen; daneben aber giebt es außer den oben bereits erwähnten Ellerbeker Buden in der Stadt eine ganze Anzahl von Ladengeschäften, welche lediglich geräucherte und marinierte Fische feilhalten; und endlich fehlen auch die Hausiererinnen nicht, welche, oft wenig reizvoll von Gestalt und Angesicht, zwei Körbe am Arm, sich bald an dieser, bald an jener Ecke postieren oder in den Vororten von Haus zu Haus schleichen, um ihre „Kieler Bückeln“ stückweise und freilich nicht selten in ziemlich betagtem Alter an den Mann zu bringen.

Der bei weitem erheblichere Teil sämtlicher Fische gelangt jedoch zur Versendung nach sämtlichen Ländern Europas, sowie nach Amerika und selbst nach dem fernen Australien, wobei wir erwähnen wollen, daß ein Kollo Sprotten, nach Chicago geschickt, keine höhere Fracht erfordert, als wenn die gleiche Menge Ware nach München geht.

Was an Bücklingen innerhalb der Provinz Schleswig-Holstein oder nach Hamburg zum Versand gelangt, wird in Körbe verpackt; nach allen anderen Ländern des Kontinents hingegen erfolgt die Versendung in mit Pergamentpapier ausgelegten Kistchen, nach überseeischen Gebieten gelangen luftdicht verlötete Blechdosen zur Verwendung. Wie groß das Exportgeschäft in geräucherten Fischen in Kiel ist, läßt sich daraus ermessen, daß eine der hervorragenderen Räuchereien in einem Jahre 35 691 Postkolli, je im Gewicht von fünf Kilogramm, ausführte, eine Ziffer, die verneunfacht werden muß, um die Mengen von Bücklingen und Sprotten zu ermitteln, welche alljährlich allein von Kiel und Ellerbek aus in alle Welt geschickt werden.


„Vons.“

Erzählung von Hermine Villinger.

An dem Porzellanschild einer kleinen Parterrewohnung, in einem regen Geschäftsviertel der Stadt, war das Wörtchen „von“ mit schwarzer Tinte so kräftig nachgezogen, daß der Name Feldern daneben sich beinahe unansehnlich ausnahm. Dies und der Umstand, daß Frau von Feldern auch beim Sprechen ihr „von“ über alles Maß zu betonen pflegte, hatte der Familie die überaus kurze, aber vollwichtige Benennung „Vons“ eingetragen.

Man lächelte in der Nachbarschaft, wenn das Paar miteinander über die Straße ging; sie immer in schwarzer Seide, schlank und hager, mit Augen, die eigentlich sehr lebhaft waren, denen sie aber einen blasiert vornehmen Ausdruck zu geben bemüht war.

Auch Herr von Feldern war schlank, er ging immer in Grau, trug einen schön gepflegten Backenbart und weiße glänzende Manschetten bis vor auf die Fingerspitzen. Dies war seine Haupteigentümlichkeit; im übrigen war er die Harmlosigkeit selbst und hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben ausgeschlagen – damals, als er mit neunzehn Jahren als junger Fähnrich urplötzlich selbständig im Leben stand.

Am ersten Tag seiner neuen Würde war er noch brav und wohlerzogen zwischen seinen Eltern nach dem Stadtpark gegangen; am zweiten Tag hatte er mit Kameraden gespielt und getrunken, auch sonstige Excesse verübt, wobei er sich in hervorragender Weise blamierte, und – nach zwei Monaten wurde er seinen Eltern heimgeschickt, mit tausend Mark Schulden und der bündigen Erklärung, daß er sich zur militärischen Laufbahn nicht eigne.

Nachdem es sich bei wiederholten Versuchen erwiesen, daß seine Fähigkeiten überhaupt nicht für einen selbständigen Beruf ausreichten, brachte ihn sein Vater schließlich zu einem Advokaten; und hier, als Schreiber und unter beständiger Aufsicht, machte der junge Feldern seine Sache brav wie ein Schulkind und gab keine Veranlassung mehr zum Klagen.

Da er nie mit seinen Kollegen sprach, noch über einen Witz lachte, hielten ihn diese für hochmütig und richteten ihrerseits auch nie das Wort an ihn.

Allein seine Zurückhaltung entsprang einzig und allein seiner schüchternen Gemütsart. Lucia Höpfer, das „Fräulein“ eines gräflichen Hauses, die dem jungen Manne jeden Morgen begegnete, hatte dessen wahre Natur sehr bald durchschaut.

Erst hatte sie ihn angesehen, er sah sie wieder an; sie lächelte, er lächelte ebenfalls; sie grüßte, er zog den Hut. Darauf fingen sie an, miteinander zu reden – das heißt, sie redete, und er hörte voll Andacht zu. Das war ein Schwirren von erlauchten Namen! Seit ihrem sechzehnten Jahre verkehrte Lucia in „hohen Kreisen“ und hatte deren Gewohnheiten, Manieren und Denkungsart überall angenommen; o, sie hatte einen feinen Instinkt, sofort das Richtige zu erraten, und war abwechselnd in einem Hause strenggläubig, im andern aufgeklärt, im dritten exklusiv und im vierten die Leutseligkeit selbst gewesen. Aber im Grunde, ein Dienen war es doch, und sie fühlte sich oft nicht zum sagen unglücklich, so ohne eine Menschenseele, die an ihr hing. Lucia brach in Thränen aus und ließ ihren Begleiter in großer Bestürzung mitten auf der Straße stehen.

Sie ging nun ein paar Tage stumm und steif grüßend an ihm vorbei, und erst nach einer Woche, als die junge Dame einmal eine kleine Wendung nach ihm hinmachte, faßte er Mut und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie überschüttete ihn mit einem Wortschwall von Vorwürfen: er habe kein Herz, sie habe sich ihm anvertraut, aber das rühre ihn nicht, o nein, er bleibe kalt, er sei eben auch ein Mann und wisse die feinfühligen Empfindungen eines Mädchens nicht zu schätzen.

Feldern verteidigte sich so gut er konnte, wußte absolut nicht, was er gethan haben sollte, und bat dringend um eine nähere Erklärung. Nun, meinte sie schüchtern, als Mädchen könne sie doch nicht zuerst sprechen, ob es schön und männlich von ihm sei, dies zu verlangen?

Ein neuer Thränenstrom entstürzte ihren Augen, und Feldern fing an zu begreifen und stammelte in höchster Verlegenheit: „Sprechen Sie mit meinem Vater –“

Die Mutter war tot, und der alte Herr von Feldern, der über eine bescheidene Pension verfügte, kam trotz seiner vernünftigen Bedenken, daß er nicht ewig lebe und sein Sohn zu wenig verdiene, um ein mittelloses Mädchen zu heiraten – gegen die Beredsamkeit einer Lucia Höpfer nicht auf. Sie hätte lieber das Leben gelassen als dieses „von“, durch das sie jenen Kreisen einverleibt zu werden glaubte, in deren Luft sie allein atmen zu können vermeinte.

Der alte Feldern war ein einfacher Mann; er hatte es zum Rechnungsrat gebracht, sein Vater war Geometer gewesen, und man hatte von dem „von“ in der Familie niemals ein Aufhebens gemacht. Er hatte nichts gegen die Freude, die seine Schwiegertochter täglich an den Tag legte, nunmehr Lucia von Feldern zu heißen, wenn sie aber mit ihren „höhern Richtungen“ kam, wie er ihre Versuche nannte, die Gewohnheiten und die Lebensweise ihrer ehemaligen Herrschaften in dem kleinen Haushalte einzuführen, da legte der alte Herr sein Veto ein, und Lucia war so gescheit, sich zu fügen. Sie bewies, daß sie in der That etwas gelernt hatte, denn sie ließ sich nichts anmerken von ihrem Aerger [48] und blieb immer freundlich, so sehr sie auch das spießbürgerliche Wesen ihres Schwiegervaters genierte; auch daß man in einem gewöhnlichen Hause wohnte, neben einem Lädchen, dem ein ewiger Heringsgeruch entströmte, war nicht nach ihrem Geschmack.

Der Schwiegervater bewohnte die beste der beiden nach vorn liegenden Stuben; das Ehepaar schlief in dem schmalen Hofzimmer neben der Küche; man hatte also nur einen Raum zum Speisen und Wohnen; daß es unter solchen Verhältnissen nicht angebracht war, Besuche zu machen, lag auf der Hand. Und gerade danach sehnte sie sich am meisten – da und dort ihre Karte abzugeben und denen, die sie bisher als Gouvernante gekannt, als gnädige Frau entgegenzutreten. Inzwischen war sie die Gnädige, Jungfer und Putzfrau alles in einer Person; kühn, wie sie war, hatte sie auch das Amt der Köchin verwalten wollen, aber der alte Herr zog die Kost aus dem Speisehaus vor, sich energisch wehrend, seine alten Tage mit einer Armensuppe zu beschließen.

Auch hier fügte sich die junge Frau, obwohl sie das viele Geld, das für das Essen draufging, entsetzlich kränkte; wie viel wichtiger war es doch in ihren Augen, schön zu wohnen und sich schön zu kleiden. Sie selber war, dank ihrer außerordeutlichen Geschicklichkeit, die sie von ihrem Vater geerbt, welcher Schneider gewesen, immer aufs zierlichste geputzt, und wenn es irgend einer Ladenjungfer einfiel, sie, ihrer Vornehmthuerei wegen, Baronin zu nennen, so hatte Lucia ihr Ziel erreicht und konnte sich den ganzen Tag vor Vergnügen nicht lassen.

Aber eines Tages starb der alte Herr und mit ihm ging nicht nur die Haupteinnahme der Familie verloren, sondern auch der Halt, die Fessel, deren Lucias Natur bedurfte.

Die Felderns hatten jetzt ihren Speisesaal und ihren Salon; sie machten auch jene Besuche, nach denen Lucias Seele so lange gelechzt hatte. Es waren aber nur einige Kärtchen zurückgekommen, allerdings Kärtchen mit Kronen, die im Salon auf einem versilberten Teller ausgestellt wurden, aber die Einladungen, auf die man gehofft, waren in Jahr und Tag nicht eingetroffen.

Frau von Feldern war nicht die Natur, sich irgend eine Kränkung oder Demütigung anmerken zu lassen. Sie sagte sich, es wird schon noch anders kommen, und machte sich mutig über ihre Pflichten her. Sie waren nicht gering, denn die Familie hatte sich vergrößert, und es war unmöglich, von der bescheidenen Einnahme des Mannes zu leben. Frau von Feldern hatte sich also entschlossen, unter dem Deckmantel tiefster Verschwiegenheit ihr Talent zum Schneidern in Anwendung zu bringen. Sie war so geschickt, so rasch und erfinderisch, daß sie sich ganz vorzüglich zur Leiterin eines großen Geschäftes geeignet hätte, allein Frau von Feldern wußte, was sie ihrem Namen schuldig war. Ein paar Freundinnen verschafften ihr die Kundschaft.

Kam nun eine neue Dame, eingeschüchtert durch das fette „von“ auf dem Porzellanschild, mit der bescheidenen Anfrage, ob sie recht sei, man habe ihr gesagt, hier wohne eine ausgezeichnete Kleidermacherin, so verfehlte Frau von Feldern nie, durch eine gut gespielte Scene ihrer Ehre genugzuthun. Der ahnungslose Kunde wurde in den Salon geführt, und bevor er wußte wie ihm geschah, rang Frau von Feldern mit dem Ausdruck einer Niobe die Hände und teilte der bestürzten Dame unter mühsam unterdrücktem Schluchzen mit, sie sei nicht zum Kleidermachen geboren, sowohl ihre Natur als ihr Name hätten sie zu einem andern Leben bestimmt, allein, was könne der Mensch gegen Schicksalsschläge – einfach nichts; mit dem Falle ihres Mannes vom Pferde hätten seine geistigen Fähigkeiten gelitten und ihn zum Offizier untauglich gemacht, nun müsse sie die Sache in die Hand nehmen, wenn sie nicht anders leben wolle, als sie es gewohnt sei.

Schließlich wurde dann doch Maß genommen und das Nötige verabredet; der Kunde war unter den Reden der Frau von Feldern ganz klein geworden und empfahl sich mit der größten Hochachtung. Kunochen wurde gerufen, der in seinen enganliegenden Höschen, den kurzen Strümpfen und langen blonden Locken wie aus einem englischen Kupferstich geschnitten aussah; er gab der Dame das Geleite, küßte ihr die Hand und machte ihr unter der Thüre einen Diener bis auf die Erde.

Frau von Feldern wußte recht wohl, warum sie immer Kunochen rief und nie Edu – ihren ältesten Sohn. Sie erzog beide gleich streng, mit dem festen Vorsatz, in ihnen zwei außerordentlich feine und hervorragende Menschen heranzubilden. Was sie nicht erreicht, das sollten ihre Kinder erreichen; eine Zierde sollten sie werden jener ersten Kreise, die das Ziel ihrer Sehnsucht geblieben; den Adel hatten sie ja, es bedurfte nur der Epauletten, um sie dort heimisch zu machen; und dann war es ihnen, den Söhnen, vorbehalten, sie als Matrone dort einzuführen, wo sie hingehörte!

Vor der Hand war es aber nur Kunochen, der sie zu diesen Hoffnungen berechtigte. Bei ihm war ihr es vollkommen gelungen, die wenigen Anwandlungen von Eigenwillen zu brechen, die er als kleines Kind gezeigt, und das bißchen Uebermut in jene Form zu bannen, die angenehm wirkte. Er war mit fünf Jahren ein kleines Wunderchen von Wohlerzogenheit, ein Kind ohne alle Unarten, das weder Zorn noch Gefräßigkeit kannte und nie seine Kleider beschmutzte. Es war rührend, wie ihn die Roheit der Gassenkinder empörte, und mit welcher Beflissenheit er ihnen aus dem Weg ging; auch konnte er Schillers „Bürgschaft“, den „Handschuh“ und den „Gang nach dem Eisenhammer“ mit allerlei zierlichen Gesten hersagen. Dagegen Edu! – wie kam dieser derbe klotzige Bursch in diese ätherische, allen materiellen Genüssen abholde Familie!

Frau von Feldern hatte es dahin gebracht, daß an ihrem Tisch nie ein Wort über das Essen verloren wurde; seit der alte Herr tot war, kochte sie selbst; das „Fleisch“ bestand meist nur aus heißer oder kalt aufgeschnittener Wurst; da sich Frau von Feldern zur Herstellung von Gemüse und Kartoffeln so wenig Zeit wie möglich nahm, so war auch die Zukost danach. „An das Essen sollte der Mensch nie denken,“ prägte sie den Ihrigen ein, und nun – dieser Edu!

Er verlangte nichts, aber unablässig glotzten seine großen gierigen Augen die Platten an, so lang noch das Geringste darauf war. Er war ein Jahr älter als sein Bruder und konnte nicht ein einziges Gedicht auswendig; weder Schelte noch Schläge hatten ihn je dazu vermocht, jemand einen tiefen Diener zu machen oder einer Dame die Hand zu küssen. Und wie sah er neben dem reizenden Kunochen aus; alle Bemühungen, ihn zu einer eleganten Erscheinung herauszuputzen, waren erfolglos; er haßte gute Kleider, ging mit dem Ausdruck tiefsten Verdrusses hinter den Seinen her und rieb die Ellbogen an allen Häusern ab. Er fühlte, daß er in seinen engen Sammetkleidern und dem Sammetbarett auf seinem dicken Kopf eine lächerliche Figur spielte, und war daher beflissen, den Sachen wenigstens den Anstrich der Neuheit zu rauben, in der Einbildung, daß man alsdann weniger nach ihm sehen würde.

Frau von Feldern hielt das Gebahren ihres Sohnes für Auswüchse eines schlechten Charakters und ging ernstlich ins Zeug, diesen dem kleinen Gesellen auszutreiben. Er hingegen glaubte, seine Mutter mache sich ein besonderes Vergnügen daraus, ihn in Kleider zu stecken, darin er sich zu schämen habe, und wenn sie auf seine Bitte um Brot ihn mit der Bemerkung abspeiste: „Ich will keinen fetten Jungen zum Sohn haben“ – so hielt er das für eine ihm unbegreifliche Grausamkeit, gegen die er murrte.

Er begriff freilich nicht, daß seine Mutter ihre triftigen Gründe hatte, den Zuschnitt ihres Haushaltes für bescheidene Magen einzurichten, er begriff nur, daß er Hunger hatte, einen ewig nagenden, ihn bis zur Raserei quälenden Hunger. Daß er unter solchen Umständen kein liebenswürdiges Kind war, sondern mit finstern Blicken umher ging, jeden Augenblick bereit, über sein ihm stets als Muster vorgehaltenes Brüderchen herzufallen, war weiter kein Wunder. Herr von Feldern fuhr zwar manchmal heimlich seinem Aeltesten liebevoll über das schwarze Haar, aber der Knabe hatte es bald weg, daß er an dem Vater keine Stütze hatte, denn es war noch nie geschehen, daß Herr von Feldern seiner Frau widersprochen oder Einsprache gethan hätte, wenn sie eine Abstrafung für nötig fand.

Eines Tages zog Frau von Feldern ihre Knaben mit besonderer Feierlichkeit an, nahm sie bei der Hand und führte sie zum erstenmal den Weg zur Schule. Eduard war sieben, Kunochen noch nicht sechs Jahre alt; aber bei der außerordentlichen Begabung des Kindes wäre ein Zuwarten nur schade gewesen; nein, um den sorgte sie sich nicht; sie sah ihn schon steigen von Klasse zu Klasse; anders stand’s leider mit dem Aeltesten!

So legte sie unter einem ungeheuren Wortschwall dem Lehrer ihr begabtes und ihr unbegabtes Kind ans Herz, und die Knaben rückten nach ihrem Weggehen in die Schulbank. Als an

[49]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Auf dem Rückzug.
Nach dem Gemälde von Herm. Kaulbach.

[50] Kunochen die Frage erging, wer er sei, gab er die Antwort: „Ich bin von“. Da ertönte ein großes schallendes Gelächter, und Kunochen hatte von Stunde an seinen Spitznamen weg und wurde von der ganzen Klasse „’s Vonle“ genannt.

Eduards erste That in der Schule war, daß er sich den großen weißen Spitzenkragen vom Hals riß und zerknäult in die Tasche steckte. Zu Hause erklärte er seiner Mutter, sie seien affig angezogen und er wolle nicht anders aussehen wie die anderen Kinder, denn das wäre eine Schande. Frau von Feldern ließ sich von ihrem Jungen nicht belehren, und so nahmen die Kämpfe kein Ende.

Aber indes Kunochen artig spielend oder lernend zu den Füßen seiner Mutter saß, war Eduard eine andere Welt aufgegangen, an der sein bis dahin verbittertes Kindergemüt ein herrliches Genügen fand.

Im Hause des Kaufmanns Schneider, wo sie wohnten, befand sich ein großer nicht eben wohlgehaltener Hof, in dessen Mitte eine herrliche Linde zum Himmel ragte. Eduard hatte die Weisung, im Frühjahr die Blüten zu sammeln und der Mutter zu bringen. Wer nämlich um die Sechsuhrstunde des Nachmittags bei Felderns eintrat, dem mußte der Anblick der um den Thee versammelten Familie den angenehmsten Eindruck machen; der Tisch war äußerst sauber und nett gedeckt; Frau von Feldern hatte den blank gescheuerten Theekessel neben sich und bereitete den Thee mit einer Würde und Sorgfalt, daß der feinste Souchong oder Pecco bei dieser Behandlung hätte zufrieden sein können; es waren aber nur Lindenblüten, die das strudelnde Wasser übergoß. Nach Genuß des Getränkes saß dann die ganze Familie in Schweiß gebadet da, und Frau von Feldern stellte noch außerdem die Anforderung an die Ihrigen, daß jedes diesen Prozeß so gut als thunlich zu verbergen habe, denn sparen sei keine Schande, nur dürfe man sich’s nicht merken lassen.

Herr von Feldern dachte zuweilen ein wenig anders als seine Gattin, aber er hatte schon lange aufgehört, dies zu äußern. Er war nie glücklich gewesen, weder in seinen Entschlüssen, noch in seinen Ratschlägen, so daß er es vorzog, sich nicht länger den Kopf zu zerbrechen, sondern das Schalten und Walten seiner um so viel klügeren und praktischeren Frau zu überlassen. Nur manchmal, wenn sie sich so gar unbillig über das Aeußere ihres Aeltesten ausließ und nicht begreifen wollte, wie sie zu einem so häßlichen Kinde komme, da konnte sich der Gatte nicht enthalten, ihr mit einer gewissen Schadenfreude vorzuhalten: „Er ist Dir ja wie aus dem Gesichte geschnitten.“

Beleidigenderes konnte es für Frau von Feldern nicht geben, denn sie hielt etwas auf ihr Aeußeres: ihre Nase war freilich etwas zu stark und ihr Kinn zu spitz, aber ihr volles schwarzes Haar umrahmte ein schön geschnittenes Gesicht und ihr dunkles Auge hatte einen gebietenden Blick.

Vielleicht wenn sie ihren Jungen oben in der Linde gesehen hätte, würde er ihr auch besser gefallen haben als am Mittagstisch, in ihrer beständig maßregelnden Nähe, vor dem nie nach Wunsch angefüllten Teller. Denn schließlich wußte sie den trotzigen Sinn des Buben doch zu bändigen, eben mit dem Mehr oder Weniger, das sie ihm zum Essen verabreichte, und der Ausdruck des innerlich gekränkten und gedemütigten Kindes wurde dadurch nicht schöner.

Aber dort oben in der Linde, ob es Blüten zu sammeln gab oder nicht, da war der kleine Bursche ein anderer, sobald er seine Wanderungen unternahm in sein Hochgebirge, die Krone; da saß er wie in einem Urwald zwischen dem dichten Blätterwerk, kein menschliches Auge konnte zu ihm dringen, kein „das schickt sich nicht“ und „das gehört sich nicht“ ihn ereilen; er streckte die Zunge heraus, bloß aus Vergnügen, weil es sich nicht schickte; er ließ sein frisches, lautes Kinderlachen ertönen, bloß weil seine Mama ihm gesagt hatte: „So lacht man nicht, das ist ordinär!“ Und was hatte er für Fernsichten; über welch’ eine Unmasse von Dächern sah er hinweg, weit, weit in die Ebene, in deren blaue Ferne die Sonne ihren feurigen Untergang hielt! Lichtete sich die Linde, indem sich ihr Blätterwerk färbte und sich allmählich zu ihren Füßen versammelte, da gab’s für den kleinen Burschen Einblicke in die nähere Umgebung, Köchinnenkämpfe von Küchenfenster zu Küchenfenster, Kinderabstrafungen, die in den Hofzimmern abgehalten wurden – kurz, es fehlte nie an unterhaltlichen und anregenden Scenen; indes, des Knaben höchstes Interesse war stets den Wohnräumen des Kaufmanns Schneider im Erdgeschosse zugewendet. Die Fenster der niedrigen Hofzimmer standen zur guten Jahreszeit stets offen, sowie die Thüre des kleinen Speisezimmers, zu welchem ein paar Stufen führten. Das ganze Leben und Treiben der Leute spielte sich auf diese Weise ebensogut im Hof wie in den Stuben ab. Zur Sommerszeit wurde an dem Tisch unter der Linde zu Mittag gespeist, gevespert und Abendbrot gegessen, und Herr Schneider wurde in den heißen Zeiten nicht müde, seiner geliebten Linde Gießkanne um Gießkanne erfrischenden Wassers zuzutragen. Für Eduard aber war dieser Mann mit dem zerknitterten Hemdenkragen und dem mit Flecken aller Art übersäten Rock das Höchste, was es auf der Welt gab. Immer kam er mit einer Zeitung daher geschossen und war außer sich über irgend einen Hagelschlag, eine Ueberschwemmung oder über sonst ein Unglück, das in der Welt geschehen war. Aber nur was das Volk anging, interessierte ihn, dessen Freuden und Leiden wären die seinen; gleich nahm er seinen Hut und lief davon, um da und dort sein Scherflein an eine Sammelstelle zu tragen. Anders war’s, wenn in der „haute vollée“, wie sich Herr Schneider ausdrückte, etwas vorgekommen war; da rieb er sich die Hände und freute sich, ob sich’s um ein Unglück oder um einen Skandal handelte, und hielt seine Rede, immer dieselbe, ob er am Wirtstisch oder an seinem eigenen saß.

„Ganz recht, freut mich, wenn der Herr Baron einen Lumpenstreich gemacht und der Graf ein Schwindler ist – sollen sehen, daß sie auch nur Menschen sind, Menschen wie wir, gut und schlecht. Beneid’ sie nicht, bin kein Sozialdemokrat und will sie nicht zu Grund’ richten, mögen ihren Namen behalten und ihre Grafenkronen und seidenen Betten dazu, aber sie sollen mir nicht in meinen Laden kommen wie die Pfauen. Ich bin der friedfertigste Mensch auf der Welt, aber sowie ich den Hochmut wittere, krieg’ ich ein Gallenfieber, ich könnt’ dann alles krumm und klein schlagen und so einen ‚Nas’-in-die-Luft‘ an den Beinen aufhängen. Aber ich nehm’ mich zusammen, denn ich sag’ mir – so lang’ die Welt steht, kommt der Hochmut vor dem Fall, nur werden die Menschen nie gescheiter.“

Mehr als diese Reden machte auf Eduard das „Nimm Dir – nimm Dir!“ Eindruck, womit Herr Schneider seine zwei Lehrlinge zum Essen aufforderte, während er selbst alle paar Augenblicke vom Tisch aufsprang und einem entsetzlich unruhigen kleinen Mädchen nachlief, das nicht am Tisch still sitzen konnte; unter den heißesten Bitten und Versprechungen nötigte er dem Kind bald eine Gabel voll Fleisch, bald einen Löffel mit Gemüse auf und war immer vergnügt, wenn er mit seiner Fütterung nicht unverrichteter Sache abziehen mußte.

Eduard malte sich’s aus, wie wunderschön das wäre, wenn am elterlichen Tisch auch solches „Nimm Dir – nimm Dir!“ an der Tagesordnung wäre und man so nach Herzenslust drauf los essen dürfte wie bei Schneiders. Aber welch’ ein Unterschied zwischen dem vollständigen Sichgehenlassen an diesem wohlversorgten Tisch und den Mahlzeiten im elterlichen Hause!

Und als sich eines Sonntags Eduard, im Hinblick auf die paar dünnen Wursträdchen auf seinem Teller, nicht enthalten konnte, mit einem Seufzer zu bemerken: „Heute haben Schneiders Gansbraten –“ da wurde der unbescheidene Sprecher mit ein paar Ohrfeigen zurechtgewiesen, daß ihm zu der kargen Mahlzeit auch noch der Kopf brummte.

Es gab nämlich nicht leicht zwei Menschen auf Gottes Erdboden, die sich mehr haßten als Frau von Feldern und der Kaufmann Schneider. Sie war für ihn der leibhaftige Inbegriff jenes Hochmuts, den er mit seinem Ingrimm verfolgte, während sie ihn nie anders als den bethranten Mann mit dem Heringsduft nannte. Sie bekriegten einander und lebten sich zu Leid, wo sie nur konnten, und alle paar Quartale flogen die Wohnungskündigungen zwischen dem Hausherrn und Frau von Feldern nur so hin und her, wurden aber immer wieder durch den demütig und freundlich bei Herrn Schneider vorsprechenden Gatten rückgängig gemacht. Denn hier blieb der sonst so nachgiebige und willensschwache Mann fest – er wollte das Haus nicht verlassen, in dem seine Eltern gestorben waren. Alles Reden und Drohen von seiten seiner Frau glitt an ihm ab; so oft sie gekündigt hatte, legte er sich ins Bett und stand nicht eher auf, bis sie ihm erlaubte, mit dem Hausherrn zu reden.

Frau von Feldern aber wäre aus mehr als einem Grunde gern gezogen; vor allem schämte sie sich, ihre spärlichen, kargen Einkäufe bei Herrn Schneider zu machen, und holte deshalb ihren Bedarf Gott weiß wo des Abends zusammen; allein sie näherte sich [51] nie dem Hause, ohne daß Herr Schneider sie händereibend unter der Thür erwartete.

„Einkäufe gemacht, Frau von Feldern, recht billige Einkäufe?“ lautete seine stete Frage, und sie vergalt ihm die Bosheit mit Entgegnungen wie: „Man wird ja ohnmächtig in Ihrem Lädchen, Herr Schneider, wenn man nicht Ihre gottgesegneten Geruchsnerven besitzt.“

So sehr sie nun übertrieb – im Schneiderschen Geschäft ging’s in der That nicht übermäßig reinlich zu; er ließ so ziemlich fünfe gerade sein, und es genierte ihn nicht, daß seine halbe Wohnung voll Kisten und Kistchen stand bis heraus in den ebenfalls vollgekramten Hof. So oft nun aber Frau von Feldern ein bissiges Wörtlein über diese Angelegenheiten fallen ließ, überkam Herrn Schneider ein plötzliches Grausen vor seiner Unordnung, und es war in solchen Zeiten nicht gut Kirschen essen mit ihm. In dieser Stimmung stürmte er denn auch eines Tages, wie er ging und stand, in die Feldernsche Wohnung und teilte der Dame des Hauses mit nicht zu verkennender Genugthuung mit, ihr wohlerzogenes Söhnlein Eduard habe ihm eine feine Göttingerwurst aus einer seiner Kisten im Hofe gestohlen.

Frau von Feldern rief ihren Aeltesten herbei, dem noch verräterische Spuren an den Fingern klebten, und nun wurde vor den Augen des Klägers die Strafe an dem kleinen Verbrecher vollzogen. Sie fiel aber so aus, daß es dem im Grunde höchst gutmütigen Manne himmelangst wurde und er, sich selber verwünschend, der unbarmherzigen Frau ein Halt ums andre zurief. Aber sie hörte erst mit Zuschlagen auf, als ihr der Atem ausging.

„Erziehung ist alles,“ sagte sie zu Herrn Schneider, „wissen Sie, wir erziehen unsre Kinder; was kostet die Wurst?“

Herr Schneider bückte sich zu dem dumpfschluchzenden Buben nieder und suchte ihn aufzuheben.

„Was kostet die Wurst?“ wiederholte Frau von Feldern.

„Ach Gott, was wird sie gekostet haben,“ stammelte Herr Schneider. „Schweiß bat sie gekostet – wie kann man ein Kind so schlagen!“

„Kümmern Sie sich nicht um meine Kinder; wenn Sie mich aber wieder beehren sollten, so bitte ich mir aus, daß Sie in einem anständigen Rock erscheinen; Sie nehmen diese zwei Mark!“

Er war so verlegen und geniert, daß er that, was sie wollte, und sich schleunigst zur Thür hinaus drückte. Drüben knirschte er freilich, daß er sich von der hochnäsigen Person so hatte dran kriegen lassen; im tiefsten Innern aber quälte er sich um den geprügelten Jungen und konnte sich nicht genug schämen, ihn angezeigt zu haben.

Der folgende Tag war ein Sonntag; Eduard stand unter der halbgeöffneten Hofthür mit einem Ausdruck dumpfer Wut und nagte an der Unterlippe; er war noch immer in der Strafe für seine That, hatte bei Tisch nur Kartoffeln bekommen und sollte nicht zum Sechsuhrthee erscheinen. Der Sonntag war aber Mamas „Jour“, da ging’s ihm immer am besten, denn da war die Aufsicht keine so strenge. Er stand und starrte die Linde an, die, schmuck und jungbelaubt, ihre Zweige zum Himmel streckte. Aber dem bestraften Sünder war’s heute nicht ums Klettern zu thun; aus Verdruß und Langerweile sah er der kleinen Gustel zu, die im Hofe mit ihren Puppen spielte und ein gar geschäftiges und lebhaftes Wesen an den Tag legte. Sie war ein kleines kraushaariges Dingelchen mit den treuherzigsten Augen der Welt, und ihr Vater hatte keinen Augenblick Ruhe vor ihr. Er saß auf der Treppe des Eßstübchens, in seine Zeitung vertieft; kam dann die Kleine und klagte: „Vaterle, mein Pupple ist krank“ und legte er – dabei aber immer weiterlesend sein Gesicht in tausend Verzweiflungsfalten, so war das Kind zufrieden und lief wieder fort. Zuweilen aber weinte er, wenn er lachen sollte, oder umgekehrt, und dann wurde er gehörig gescholten, war gar kein „liebs Vaterle“ und hatte alle Mühe, sich wieder in Gunst zu setzen. Schließlich stellte er den Frieden durch ein großes Butterbrot her, auf das er noch außerdem Zucker streute. Nun war die Kleine zufrieden, stellte sich mitten in den Hof und machte Anstalten, in ihr Vesperbrot zu beißcn, als sie Eduard unter seiner Hofthür entdeckte, dessen Augen mit unverhohlener Gier an ihrem Butterbrot hingen; schnurstracks ging sie auf ihn zu und forderte ihn auf: „Beiß auch –“

Er ließ es sich nicht zweimal sagen und verschlang gleich das halbe Butterbrot. Des freute sich die Kleine und befahl, ihm die andere Hälfte hinhaltend:

„Das auch!“

Es war im Nu weg.

„Bist jetzt satt?“ fragte sie.

Eduard schüttelte den Kopf.

„Ich bin nie satt.“

Da lief sie zu ihrem Vater. „Schnell noch ein Butterbrot, ’s pressiert, Vaterle!“

Herr Schneider, der dem Beginnen der Kinder zugeschaut, beeilte sich, was er konnte, den Wunsch seines Kindes zu erfüllen, und sah dann mit innerer Genugthuung zu, wie die Kleine den dickköpfigen Jungen fütterte, der mit fabelhafter Geschwindigkeit auch dies zweite Butterbrot vertilgte. Aber auf die Frage der Kleinen, ob er jetzt satt sei, schüttelte er wiederum den Kopf, und erst nach dem fünften Butterbrot kam’s zögernd über seine Lippen:

„Ich glaub’, jetzt bin ich beinah’ satt.“

Da rief Herr Schneider den Jungen zu sich; es war ihm ein wahres Bedürfnis, sich in dessen Augen zu rechtfertigen.

„So oft Du Hunger hast, komme nur und halte mit uns; nur, weißt Du, nehmen darf man nichts, da muß Strafe sein; ich war auch einmal so ein kleiner Knirps wie Du und hab’ tüchtig Schläg’ gekriegt – ja was hab’ ich denn nur genommen? – ich glaube, meines Vaters Taschenmesser: das ist so der Welt Lauf; nun spielt miteinander und laßt mich meine Zeitung lesen!“

Eduard wurde alsbald zum willigen Pferdchen, ließ sich von Gustl vor den Puppenwagen spannen und fuhr mit einem solchen Ungestüm um die Linde herum, daß es ein lustiges Unglück ums andere gab und die Unterhaltung an Abwechslung nichts zu wünschen übrig ließ.

Herr Schneider sah zwar in seine Zeitung hinein, aber seine Gedanken gingen ihren eignen Weg. Natürlich war’s ein Unrecht, den Buben hinter dem Rücken seiner Mutter herauszufüttern, aber wie verlockend, der hochmütigen Person das zu Leid zu thun! Für Eduard konnte die Sache zwar ungünstige Folgen haben; entweder es kam heraus und er erhielt schreckliche Schläge, oder er wurde zum Lügner, um sein Geheimnis festzuhalten, und das war noch schlimmer.

„Nein,“ sagte sich Herr Schneider, „es darf nicht sein, es thut mir sehr leid, aber es darf nicht sein.“

Indes Eduard stellte sich am andern Tag mit so rührender Pünktlichkeit um die Butterbrotzeit ein, daß Herr Schneider seine guten Vorsätze vergaß und den Knaben nach Herzenslust zugreifen hieß.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.


Die Kaiserproklamation in Versailles. Was der Traum der besten Söhne des Vaterlandes fast ein Jahrhundert lang vergeblich gewesen, das heißersehnte Ideal unserer patriotischen Dichter und Kämpen seit den Befreiungskriegen gegen den Korsen – der 18. Januar des glorreichen Kriegs- und Friedensjahres 1871 brachte davon die Erfüllung! Daß die Proklamation der Wahl König Wilhelms des Siegreichen zum deutschen Kaiser sich im Schlosse zu Versailles vollziehen durfte, gehört zu den großartigsten Offenbarungen jener ausgleichenden Gerechtigkeit, die das Dichterwort „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!“ kennzeichnet. Die Prunk- und Ruhmsucht desselben französischen Königs, dessen Eroberungsgier unser deutsches Vaterland wieder und wieder mit räuberischen Söldnerscharen überschwemmte, hatte einst das Versailler Schloß sich zum Denkmal errichtet, und die Mehrzahl der Nachfolger Ludwigs XIV. waren seinem Beispiel gefolgt, es mit Bildwerken auszustatten, die Frankreichs „Gloire“ zum Gegenstand hatten. „A toutes les gloires de la France“ steht auf den Flügelbauten des glänzenden Gedändes zu lesen. Der „Spiegelsaal“ vollends, in dem nunmehr vor den versammelten deutschen Fürsten und Heerführern durch Bismarck die feierliche Kaiserproklamation erfolgte, ist ganz im besondern der schmeichlerischen Verherrlichung Ludwigs XIV. und seiner Triumphe über Deutschland geweiht. Die Gemälde an Wänden und Decke sind ein Denkmal jenes Uebermuts, mit dem „König Sonne“ der Eroberungen seiner Feldherren jenseit des [52] Rheines gedachte, während er sich selbst den rauschenden Lustbarkeiten und Hoffestlichkeiten hingab, deren Schauplatz die Säle und Gemacher des Schlosses und seiner prunkvollen Gärten waren. Eines jener Bilder trägt die Unterschrift „Passage du Rhin en présence des ennemis 1672“ („Uebergang über den Rhein in Gegenwart der Feinde“). Jetzt, zweihundert Jahre später, hatte auch eine Passage du Rhin stattgefunden. Sie aber hatte die Deutschen von Sieg zu Sieg geführt und zu Herren des Schlosses werden lassen, in dem nun, jenem gemalten Ruhm zum Spott, die Waffenbrüderschaft der deutschen Völker in dem festen Zusammenschluß zu Reich und Kaisertum seine machtvolle Krönung fand. Dem freudigen Stolz, mit welchem wir heute auf den erhabenen Vorgang zurückblicken, hat Rudolf von Gottschall in dem schwungvollen Gedicht auf der ersten Seite dieser Nummer begeisterten Ausdruck gegeben.

Die Große Vestalin. (Zu dem Bilde S. 41.) Unter den Priesterinnen des Altertums nahmen die Vestalinnen Roms eine ebenso bevorzugte wie eigenartige Stellung ein. Die Einsetzung derselben wird dem König Numa zugeschrieben. Der runde Tempel der Vesta, eigentlich nur eine überbaute Feuerstätte des heiligen Feuers, lag mit dem zu ihm gehörigen Hain am Abhange des Palatin gegeu das Forum hin. Ein durch Matten umspannter Raum enthielt die für den Dienst der Götter nötigen Vorräte, ein anderer das Palladium und mehrere verborgene Heiligtümer; der Tempel selbst mit dem Herdfeuer war bei Tag für jedermann zugänglich und nur in der Nacht durften Männer ihn nicht betreten. Hier herrschte die größte Reinlichkeit; die Geräte des heiligen Dienstes mußten einfaches Thongeschirr sein, alle Waschungen mit frischem Quellwasser stattfinden. Anfangs gab es vier Vestalinnen, später sechs – der Pontifex Maximus, der Oberpriester, wählte sie aus den besten Familien der Stadt und sie standen unter seiner Oberaufsicht. Zwischen dem sechsten und zehnten Lebensjahre traten sie ein und verpflichteten sich, dreißig Jahre lang der Göttin zu dienen. In den ersten zehn Jahren lernten sie; in den zweiten übten sie den Dienst aus und in den dritten zehn unterrichteten sie die Novizen. Tag und Nacht mußten sie das heilige Feuer hüten; vor Ablauf der dreißig Jahre durften sie nicht an das Glück der Ehe denken. Außer der Pflege des heiligen Feuers waren sie hauptsächlich mit dem Schöpfen, Tragen und dem Gebrauche des reinigenden Wassers beschäftigt. Dieses Wasser durfte nur ein fließendes sein, aus dem Tiberstrom oder den Quellen der Stadt, namentlich aus der Quelle der Egeria geschöpft werden. Die Vestalinnen trugen es auf ihren Köpfen herbei; sie durften es nie auf die Erde stellen. Erlosch einmal das heilige Feuer, so durfte es an keiner Flamme neuentzündet werden, welche für alltägliche Bedürfnisse bestimmt und durch sie entweiht war: das Feuer mußte entweder an der Sonne, seinem Urquell, entzündet oder hervorgerufen werden, indem man ein Stück Holz von einem fruchttragenden Baume so lange rieb, bis sich eine Flamme bildete. Sehr streng bestrafte man die Vestalinnen, die ihre Pflicht vergaßen.

Doch wie hart die Strafen sein mochten für das Verschulden der heiligen Jungfrauen: groß waren auch die Auszeichnungen, die ihnen zu teil wurden. Wir sehen auf dem Bilde von Henri Motte, wie die „Große Vestalin“, die Oberin, welcher die anderen Gehorsam schuldeten, auf ihrem von zwei Schimmeln gezogenen Wagen, unter Vorautritt der Liktoren mit ihren Fasces, durch die Straßen der Stadt dahinfährt. Alles Volk, jung und alt, verneigt sich ehrfurchtsvoll und läßt ihr den Weg frei; ja selbst die höchsten Behörden mußten den Vestalinnen bei solcher Begegnung den Vorrang einräumen. Vor allem hatte sie das Vorrecht der Gnade, da der zur Strafe geführte Verbrecher, wenn sie seinen Weg kreuzte, freigelassen werden mußte. Vor jedem Angriff schützte ihre Begleitung und ihre Fürbitte gereichte allen Angeklagten zum Heil. So sehen wir die Priesterin, in der einfachen Tracht, von welcher abzuweichen ebenfalls ein strafbares Vergehen war, hehr und stolz, im vollen Bewußtsein ihrer Würde, auf die ihr huldigende Menge herabsehen. †      

Ein Nebenbuhler des Diamanten. Es ist bekannt, wie oft wichtige Entdeckungen den sonderbarsten Zufällen ihr Dasein verdanken. Das Porzellan, der Phosphor sind bei alchimistischen Versuchen erfunden worden. Die fruchtlosen Bemühungen um das Perpetuum mobile haben erhebliche Fortschritte im Maschinenwesen gezeitigt, und heutzutage ist es wiederum das unablässige Bestreben, den Diamanten auf künstlichem Wege herzustellen, was schon manche wichtige Entdeckungen als Zufallsgewinn abgeworfen hat. Unter diesen aber ist die neueste und vermutlich wichtigste der sogenannte „Karborund“, ein Körper, der gleichzeitig von Schützenberger in Paris und von Atcheson in Pennsylvanien entdeckt wurde, in Amerika sofort den Anlaß zur Bildung einer großen industriellen Gesellschaft gab und auf der großen Chicagoer Weltausstellung bereits als patentiertes Fabrikerzeugnis dem Publikum vorgelegt wurde.

Was ist nun der Karborund, der nach den wissenschaftlichen Untersuchungen der Chemiker mit der Härte und Unschmelzbarkeit des Diamanten eine völlige Unverbrennlichkeit und, für die technische Verwendung der Hauptpunkt, eine verhältnismäßig billige Herstellung verbindet?

Man hat zum Zweck der Herstellung künstlicher Diamanten oft den Versuch gemacht, eine Masse pulverisierten Kohlenstaubes durch einen starken elektrischen Strom teilweise zu schmelzen, um dann aus dem bei diesem Prozeß frei werdenden Kohlenstoff Diamanten zu krystallisieren.

Thatsächlich sind bei diesen Versuchen mehrfach kleine diamantähnliche Krystalle gefunden worden, welche man lange für schwarze Diamanten hielt, obgleich sie einige von diesen abweichende Eigenschaften besitzen.

Bei der Anwesenheit von Kieselstoff in der verwendeten Kohlenart entstehen diese kleinen Körperchen reichlicher, und bei ungefähr gleichen Mengen von Kohlen- und Kieselstoff entstand endlich der merkwürdige Körper, dessen Härte, Feuerfestigkeit und Unschmelzbarkeit so groß ist, daß man ihn technisch noch über den Diamanten zu stellen berechtigt ist, der „Karborund“. Seine feinsten puderartigen Teile sind hart genug, den Diamanten und andere Edelsteine zu polieren, was bisher mit dem Staube des Diamanten selbst geschehen mußte; gröberes Pulver dient zum Glasschleifen und Aetzen, sowie zum Schmirgeln harter Metalle; kleine, aus dem Karborundpulver hergestellte Steinchen, Rädchen oder Scheiben werden zum Glasschneiden und zum Einsetzen in chirurgische Instrumente (z. B. in Zahnsägen etc.) gebraucht. Größere Schleifscheiben oder -räder endlich können, in schnelle Drehung versetzt, jedes Glas, Metall oder andere harte Körper mit unübertrefflicher Schnelligkeit abschleifen, zerschneiden oder polieren, der härteste Stahl wird von der Karborundscheibe zerschnitten wie Holz von der Säge. Gerade das Schleifen der Metalle anstatt der langsamen Bearbeitung mittels stählerner Werkzeuge gewinnt aber neuerdings so große Bedeutung, daß die Karborund-Schleifscheibe allein hinreichen würde, der neuen Entdeckung eine Zukunft zu verschaffen. Eine solche steht ihr ohnehin schon offen, da der billige Karborund den Diamanten als Arbeitsmittel für den Glaser, Schleifer, Steinschneider etc. sicherlich sehr bald verdrängen wird. Die Herstellung ist, wenn sie im großen betrieben wird, bereits jetzt so einfach, daß sie sich kaum noch vervollkommnen lassen wird. Ein etwa zwei Meter langer Ofen aus feuerbeständigen Steinen wird der Hauptsache nach mit ungefähr zwei Centnern Koaksmehl, kieselhaltigem Sand und Seesalz gefüllt, und dieses Gemisch durch einen starken elektrischen Strom gewaltig erhitzt. Nach siebenstündiger Glut findet man fast 25 Prozent der wertlosen Rohmaterialien in Karborund verwandelt.

Auf dem Rückzug. (Zu dem Bilde S. 49.) So geht es in der Welt! Kaum hat man sich mit Puppe, Bilderbuch und Vesperbrot behaglich auf der Hoftreppe eingerichtet (sie ist kein hervorragender Aufenthalt, aber für bescheidene Gemüter nicht ohne Annehmlichkeit!), so stößt das feindliche Schicksal in Gestalt des frechen schwarzen Gesellen hernieder, und nur die schleunigste Flucht kann vor seinem fürchterlichen Schnabel retten. Das schöne Butterbrot, der angebissene Apfel, der noch eben so süß schmeckte – alles hin, man muß froh sein, das nackte Leben und die Puppe zu retten, und so schnell, als die dicken unbehilflichen Beinchen vermögen, nach aufwärts streben, wo der rettende Mutterarm die beiden Schicksalsverfolgten aufnehmen und hoffentlich auch dem frechen Raubgesellen einen ordentlichen Hieb versetzen wird. Dann werden sie sich wieder trösten, die zwei drolligen Dickerchen, die Hermann Kaulbach, der Schilderer so vieler ergötzlicher Familienscenen, uns hier mit gewohntem Humor vorführt. Bn.     



KLEINER BRIEFKASTEN.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

L. Zr. in Rostock. Sie stellen als einer der ältesten Abonnenten der „Gartenlaube“, der im Besitz von 32 Jahrgängen unsres Blattes sich befindet, an uns die Anfrage, wer wohl der älteste Abonnent der „Gartenlaube“ sei. Die Beantwortung dieser Frage kann nur durch unsre Leser erfolgen. Die ältesten Abonnenten würden diejenigen sein, welche die „Gartenlaube“ seit ihrer Begründung, also seit 1853 halten. Selbstverständlich würde es uns herzliche Freude bereiten, so alte und treue Freunde mit Namen kennenzulernen.

G. W., Rotenburg i. H. Wir danken Ihnen für Ihre gefl. Mitteilung, die uns einen neuen Schleichweg eines alten Geheimmittelkrämers enthüllt hat. Vor „Dr. Dressels Nervenfluid“ ist schon oft und viel, auch in der „Gartenlaube“, gewarnt worden, und es macht das Mittel nicht besser, daß der Herr „Dr.“ es zur Abwechslung einmal nicht direkt anpreist, sondern als Strohmann einen Herrn in Leipzig-Connewitz vorschiebt, an welchem das „Nervenfluid“ angeblich Wunder gewirkt haben soll. Das Nervenfluid ist nach einer früheren Bekanntmachung des Karlsruher Ortsgesundheitsrats ein mit Menthol versetzter alkoholischer Auszug der Arnikablüten. Es ist demnach lediglich eine neue Auflage des Roman Weißmannschen Schlagwassers, vor dem ebenfalls schon vielfach gewarnt worden ist. Sie haben also sehr wohl gethan, daß Sie, ehe Sie sich weiter einließen, erst Erkundigungen bei der „Gartenlaube“ einzogen.


Inhalt: Zum 18. Januar. Gedicht von Rudolf von Gottschall. Mit Randzeichnung. S. 37. – Fata Morgana. Roman von E. Werner (2. Fortsetzung). S. 38. – Eine Ausfahrt der Großen Vestalin. Bild. S. 41. – Kieler Sprotten und Bücklinge. Von Georg Hoffmann. S. 42. Mit Abbildungen S. 42, 43, 44, 45, 46 und 47. – „Vons.“ Erzählung von Hermine Villinger. S. 47. – Auf dem Rückzug. Bild. S. 49. – Blätter und Blüten: Die Kaiserproklamation in Versailles S. 51. – Die Große Vestalin. S. 52. (Zu dem Bilde S. 41.) – Ein Nebenbuhler des Diamanten. S. 52. – Auf dem Rückzug. S. 52. (Zu dem Bilde S. 49.) – Kleiner Briefkasten. S. 52.



An unsere Leser.

      manicula Um den praktischen Interessen der Familie zu dienen, haben wir in dem Anzeigeteil der „Gartenlaube“ eine besondere Rubrik, den „Kleinen Vermittler“ eingeführt. In denselben werden Anzeigen, welche Stellengesuche und Stellenangebote, Unterricht und Pensionatswesen betreffen, Inserate über Kauf und Verkauf von Grundstücken, sowie überhaupt Ankündigungen aus dem täglichen Kleinverkehr zu besonders ermäßigtem Insertionspreise aufgenommen. Das Wort in gewöhnlicher Schrift kostet 15 Pf., in fetter Schrift 20 Pf. Wir empfehlen den „Kleinen Vermittler“ der freundlichen Beachtung unserer Leser. Die Anzeigen sind an die Anzeigen-Administration der „Gartenlaube“ (Herrn Rudolf Mosse in Berlin), also nicht an den unterzeichneten Verlag, zu richten. Der Verlag der „Gartenlaube“. 


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 3. 1896.


Karl Ludwig Henckes Wohnhaus in Driesen. Im Dezember vorigen Jahres wurde die Erinnerung an einen Astronomen aufgefrischt, der mit geringen Mitteln aus eigener Kraft und Liebe zur Wissenschaft Hervorragendes leistete. Am 8. Dezember waren fünfzig Jahre verflossen, da Karl Ludwig Hencke den Planetoiden Asträa entdeckte. Heute werden jedes Jahr neue Planetoiden entdeckt, und die Gesamtzahl dieser kleinen, zwischen dem Mars und Jupiter kreisenden Himmelssterne beträgt bereits über vierhundert. Der erste Planetoid wurde 1801 entdeckt, dann bis 1807 noch drei weitere; trotz allen Suchens blieb es bei der Vierzahl, bis nach 38 Jahren Hencke die Asträa und 1847 die Hebe entdeckte.

Des Postmeisters Hencke Sternwarte in Driesen.
Nach einer Aufnahme von L. Grünert in Driesen.

Die Berliner Akademie verlieh auf A. v. Humboldts Betreiben dem bis dahin unbekannt gebliebenen Forscher die Goldene Medaille. Karl Ludwig Hencke wurde im Jahre 1793 zu Driesen in der Altmark geboren. Während der Freiheitskriege diente er als freiwilliger Jäger und wurde bei Lützen verwundet. Er wandte sich später dem Postdienst zu und war Postmeister zu Friedeberg in der Neumark. Mit der bescheidenen Pension von 225 Thalern lebte er dann, nachdem er den Postdienst verlassen, in Driesen, wo er sich der Astronomie widmete. König Friedrich Wilhelm IV. beschenkte den Entdecker der Asträa mit einem Jahresgehalt von 300 Thalern. Hencke starb im Jahre 1866 zu Marienwerder. Das bescheidene Haus in Driesen, in dem er seine Himmelsstudien betrieb, führen wir unseren Lesern im Bilde vor.

Hörhelfer nennt sich ein von Luise Freifrau von Ketelhodt in Rudolstadt neu erfundenes Instrument, welches bei geringerem Grade von Schwerhörigkeit so viel Schallverstärkung bewirkt wie die hinter das Ohr gehaltene Hand. Es besteht aus Ohrhaltern von durchsichtigem Celluloid, rechtsseitig, linksseitig, oder doppelt, die an federnden, über den Kopf gehenden Bügeln oder in einem elastischen Stiel befestigt sind, um das unter ihnen nach vorn gestellte Ohr in dieser Lage zu erhalten. Der Apparat kann jedem Kopfe angepaßt werden, er gewährt also allen jenen, welche gewohnt sind und damit ausreichen, das Ohr mittels der Hand zu unterstützen, einen Ersatz dieser, doch auf längere Dauer recht ermüdenden Stellung. In Gesellschaft, Konzert und Theater dürfte darum der durch seine glasartig durchsichtigen Schalen wenig auffällige „Hörhelfer“ gute Dienste thun, ebenso bei etwas schwerhörigen Schulkindern. Freilich besteht erfahrungsgemäß gerade im Anfang des Leidens eine große Abneigung gegen Gehörinstrumente. Sehr mit Unrecht, weil gerade die nur wenig Schwerhörigen durch deren Unterstützung den so bitter empfundenen Verzicht auf gesellige Unterhaltung, Theater etc. bedeutend hinausschieben können. Die stark Schwerhörigen haben nichts von dem „Hörhelfer“ zu erwarten, für sie gilt durchaus die vortreffliche Darlegung, welche im Jahrgang 1890 der Gartenlaube S. 14 Professor Brückner über Gehörinstrumente und ihren Nutzen veröffentlicht hat.

Ein Büchereizeichen.

Ein „Ex libris“ oder Büchereizeichen dürfte als Geschenk für solche Herren, die „schon alles haben“ und nach gehäkelten Westen und gestickten Pantoffeln kein Verlangen tragen, empfehlenswert sein. Dasselbe besteht in einer Vignette, welche auf die Rückseite des vorderen Buchdeckels aufgeklebt wird, um den Eigentümer zu bezeichnen. Entweder trägt sie den Namenszug allein oder zugleich das Wappen, einen Spruch, ein paar allegorische Embleme oder Figuren, oft eine Mischung von diesen Dingen. Die Heraldiker finden in den alten Bücherzeichen dieser Art manchen wichtigen Aufschluß; unsere Zeit hat sie neu hervorgesucht in der richtigen Empfindung, daß ein solches „Ex libris“ („Aus der Büchersammlung von …“) dem Buche einen Schmuck verleiht und den Eigentümer mehr erfreut als ein nüchternes Stempelzeichen. Fleißige Hände werden in den Abendstunden einer einzigen Woche mit Feder und Tuschpinsel manches Dutzend zu stande bringen, aber auch die mechanische Vervielfältigung steht gegen mäßiges Entgelt zur Verfügung, um Hunderte davon herzustellen. Vorlagen der verschiedensten Art und Größe finden sich reichlich in den letzten Jahrgängen der „Liebhaberkünste“. Wir veröffentlichen untenstehend ein Muster.

Vorlagen für Porzellanmalerei in Delfter Manier. Von Agnes Henriques. (Berlin, Schultz-Engelhard.) Zu den verschiedenen schönen bunten Vorlagen für Porzellan- und Majolikamalerei gesellt sich jetzt das oben genannte Werk, ausschließlich dem berühmten „Delfter Blau“ gewidmet. Die Anwendung dieser Malweise hat ja heutzutage für Kacheln, Krüge, Töpfe etc. wieder eine große Verbreitung erlangt; hier werden nun den fleißigen Dilettanten echte alte Muster geboten, vom kleinen holländischen Landschäftchen an bis zu größeren Seestücken, von den charakteristischen Ornamentecken und Streifen begleitet. Die Zeichnung und Farbengebung der hübschen Blätter ist vortrefflich, die Muster sind alle mit Rücksicht auf leichte und bequeme Verwendbarkeit gewählt, der freundliche blauweiße Effekt macht einen durchaus echten Eindruck und lockt zur Wiedergabe. Der verhältnismäßig billige Preis der beiden schönen Hefte wird ihre Verbreitung sicher fördern: wir können sie unseren Liebhaberkünstlern bestens empfehlen.


Ein neuer Hörhelfer.


Hauswirtschaftliches.

Putzmittel. Um Metalle der verschiedensten Art nicht nur blank zu putzen, sondern auch von denselben etwaigen Rost zu entfernen, schlagen wir folgende Mischungen vor, welche sich jedermann schnell und leicht bereiten kann: 1. 500 g feinst pulverisierter Schlemmkreide werden mit 75 g feinst geschlemmter Kieselgur (Infusorienerde) und 60 g gepulverter Oxalsäure (Kleesäure, giftig!!), oder 2. 50 g feinst gepulverter Schlemmkreide werden mit 25 g Talkpulver und 100 g rotem Eisenoxyd (Colcothar, Totenkopf, Caput mortuum) aufs beste gemischt.

Um die betreffenden Metalle zu putzen oder vom Rost zu befreien, taucht man einen mit Wasser angefeuchteten wollenen Lappen in die erhaltenen Mischungen, reibt damit die beschmutzten Metallwaren etc. ab und poliert mit einem trockenen Flanelllappen nach. Die so gereinigten Metallgegenstände erhalten auf diese Weise einen hohen Glanz.

[52 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier - zumindest vorerst - nicht transkribiert wird.]