Die Gartenlaube (1896)/Heft 1
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Nr. 1. | 1896. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Fata Morgana.
Die Bahn war geöffnet und Reiter wie Zuschauer harrten erwartungsvoll auf das Zeichen zum Beginn des Rennens. Die Schranken umlagerte eine dichte Volksmenge und auf den Tribünen war jeder Platz besetzt. Es war jenes bewegte, farbenreiche Bild, das man bei solcher Veranlassung auf allen europäischen Rennplätzen sieht, aber hier, unter einem fremden Himmel, in einer ganz anderen Welt, erschien es in so eigenartigem Rahmen, daß sich das oft Gesehene zu einem ganz neuen, fesselnden Schauspiel gestaltete.
Im Hintergrunde dehnte sich weit und hellschimmernd die Stadt aus, ein Meer von Straßen, Palästen und Häusern, aus dem die Kuppeln der Moscheen, die schlanken, zierlichen Minarets überall emportauchten. Dazwischen Gruppen von mächtigen Palmen und, über dem Ganzen thronend, auf der Höhe die Citadelle mit ihren Türmen. Wie eine Märchenstadt lag das schöne Kairo da, überflutet von dem heißen Lichtglanze der afrikanischen Sonne, und darüber wölbte sich der Himmel mit einem so tiefen, leuchtenden Blau, wie es selbst der Süden Europas nicht kennt.
In der Volksmenge, welche sich an den Schranken der Rennbahn drängte, waren alle Völker und Stämme des Orients vertreten. Eine Fülle von seltsamen Gestalten, in der malerisch phantastischen Tracht ihrer Heimat, ein Gewoge von leuchtenden, oft schreienden Farben, von gelben, braunen, tiefschwarzen Gesichtern, deren dunkle, brennende Augen bald an der beim Start versammelten Reiterschar, bald an den Tribünen hingen.
Dort unter den weit ausgespannten Sonnendächern war die ganze vornehme Welt von Kairo versammelt, eine Gesellschaft, die vielleicht nicht weniger bunt zusammengesetzt war als jene, die sich da unten vor den Schranken drängte. Neben den vornehmen Orientalen sah man die ganze Fremdenkolonie der Stadt, und ihr hatte sich der große Strom der europäischen Touristen angeschlossen, die Reiselust oder Erholungsbedürfnis hierher gezogen. Auch hier waren alle Länder vertreten, alle Sprachen schwirrten durcheinander, Nord- und Südländer fanden sich zusammen und neben der reichsten, gewähltesten Toilette zeigte sich der einfachste Reiseanzug. Man sah und hörte es ringsum, daß man sich in einer der großen Fremdenstationen des Orients befand.
Vor den Tribünen stand eine Gruppe von Herren in angelegentlicher Unterhaltung, die selbstverständlich das bevorstehende Rennen betraf. Der mutmaßliche Verlauf desselben wurde sehr lebhaft erörtert und die Meinungen darüber schienen
[2] geteilt zu sein, bis ein englischer Oberst, der soeben herangetreten war, mit voller Bestimmtheit erklärte: „Ich kann Ihnen den Ausgang vorhersagen, meine Herren. Bernried schlägt mit seinem ‚Darling‘ all die übrigen.“
„Wirklich?“ – „Das ist doch noch die Frage.“ – „Halten Sie das für so ausgemacht?“ klang es von verschiedenen Seiten.
„Gewiß. Ich kenne ‚Darling‘, er ist ein vorzüglicher Renner. Wenn ich nur wüßte, wie Bernried zu dem prächtigen Tiere gekommen ist! Ich hätte es gern gehabt, aber mir war der Preis zu hoch – er hat es vor acht Tagen gekauft.“
„Aber schwerlich bezahlt,“ warf ein junger Offizier ein, der gleichfalls englische Uniform trug. „Dieser deutsche Baron hat ein großartiges Talent, alles schuldig zu bleiben, obwohl man ihm nirgends mehr Kredit geben will.“
„Da sind Sie doch wohl im Irrtum, Hartley,“ sagte der Oberst. „In diesem Falle hat man es sicher gethan, denn Bernried ist bekannt als der beste Reiter, und wenn er nun vollends ‚Darling‘ reitet, so gilt sein Sieg als beinahe zweifellos. Die meisten Wetten stehen ja auf den Fuchs. Sie halten gleichfalls auf ihn, Lord Marwood?“
Er wandte sich an einen Herrn, der neben ihm stand und dem Gespräche zuhörte, ohne sich daran zu beteiligen. Auch jetzt fand er es nicht für nötig, eine Antwort zu geben, sondern bejahte nur mit einem leichten Kopfnicken.
„Ich glaubte, Du würdest auf die ‚Faida‘ des deutschen Generalkonsuls halten, Francis,“ sagte Hartley. „Wie steht es denn eigentlich damit? Du mußt es doch wissen, Du bist ja oft genug im Hause des Herrn von Osmar.“
„‚Faida‘ hat gar keine Aussichten,“ ließ sich Lord Marwood jetzt endlich vernehmen. „Sie hat noch kein Rennen mitgemacht und ist überhaupt noch nicht ordentlich trainiert. Aber Miß Zenaide wollte ihr Lieblingspferd durchaus auf der Rennbahn sehen.“
„Und Du hältst trotzdem nicht auf ‚Faida‘?“ neckte der junge Offizier. „Du würdest die Wette verloren haben, aber geschadet hätte Dir das durchaus nicht bei Deiner Dame, ganz im Gegenteil.“
Dem jungen Lord schien die Neckerei nicht angenehm zu sein, er erwiderte keine Silbe darauf.
Francis Marwood mochte am Ende der Zwanzig stehen. Groß und schlank, mit Zügen, die in ihrer strengen Regelmäßigkeit unbedingt Anspruch auf Schönheit machen konnten, mit den hellen, nur etwas matten Augen und dem vollen aschblonden Haar war er das echte Bild eines vornehmen Engländers. Haltung, Sprache, Bewegung, alles war kühl, förmlich und abgemessen, aber die Erscheinung des jungen Mannes wäre eine sehr angenehme gewesen ohne die kalte, hochmütige Zurückhaltung, die einen hervorstechenden Zug seiner Persönlichkeit bildete und selbst seinen Landsleuten und Standesgenossen gegenüber hervortrat.
„Nun gegen ‚Darling‘ hat jedes Pferd einen schweren Stand,“ nahm der Oberst wieder das Wort. „Wer reitet denn ‚Faida‘?“
Lord Marwood zuckte die Schultern und seine Lippen kräuselten sich verächtlich, als er im wegwerfenden Tone sagte: „Ein Fremder, ein ganz junger Bursche, den Sonneck eingeführt hat und der wahrscheinlich gar nichts vom Reiten versteht!“
„Ah, der junge Deutsche!“ rief Hartley. „Wie heißt er doch? Ich habe den Namen vergessen. Ein hübscher, kecker Bursche ist er jedenfalls und reiten wird er wohl auch können, sonst würde ihn Sonneck schwerlich auf seinem Zuge in das Innere mitnehmen. Der berühmte Afrikaforscher pflegt sonst sehr wählerisch zu sein mit seinen Gefährten.“
„Möglich, daß er für den Wüstenzug taugt, aber man führt den ersten besten Abenteurer nicht in ein Haus wie das Osmarsche ein, und etwas anderes ist dieser Mensch schwerlich. Niemand weiß, woher er kommt. Man kann da auf sehr unliebsame Enthüllungen gefaßt sein, aber Sonneck schlägt mit seinem Einfluß und seinen Verbindungen jeden Einwand nieder.“
Es lag ein unglaublicher verletzender Hochmut in den Worten des jungen Lords, der Oberst aber sagte leichthin: „Ja, Sonneck setzt so ziemlich alles durch, was er will, zumal bei Herrn von Osmar. – Ah, da giebt man das Zeichen! Jetzt gilt’s!“
Das Zeichen zum Beginn des Rennens war in der That soeben gegeben worden und die Reiter brausten in vollem Laufe dahin. Alle Gespräche verstummten und aller Augen richteten sich auf die Bahn, wo der Wettkampf seinen Anfang genommen hatte.
„Sehen Sie, meine Herren, ich behalte recht,“ rief der Oberst lebhaft. „Bernried führt, ‚Darling‘ ist allen voran!“
„Und ‚Faida‘ ist die letzte!“ ergänzte Marwood mit herbem Spott. „Ich dachte es mir. Freilich, bei einem solchen Reiter ist nichts anderes zu erwarten. Ich begreife den Konsul nicht, daß er das immerhin kostbare Pferd solchen Händen anvertraut hat.“
„Ja, der Reiter verspricht allerdings nicht viel,“ stimmte Hartley bei. „Wenn er das schöne Tier nur nicht zu Fall bringt bei einem der Hindernisse.“
Die Pferde wurden meist von den Besitzern selbst geritten und die edlen Tiere gehorchten dem leisesten Schenkeldruck. Die Herren waren sämtlich vortreffliche Reiter, aber sie jagten schon nicht mehr in geschlossener Reihe dahin. Gleich nach dem ersten Hindernis hatte sich das Feld gelockert, und die Zurückgebliebenen suchten das Verlorene mit leidenschaftlichem Eifer wieder einzubringen. Das Bild wurde mit jedem Augenblick stürmischer und bewegter. Die Führung hatte ein englischer Fuchs übernommen, ein prächtiges Tier, das sich seiner Ueberlegenheit bewußt zu sein schien. Er hatte, allen voran, das erste Hindernis genommen und jagte nun in langgestrecktem Galopp dahin, die anderen weit hinter sich zurücklassend. Auf ihn waren hauptsächlich von Anfang an die Augen der Zuschauer gerichtet, und der Reiter wurde mit lebhaftem Zuruf begrüßt. Es war ein Mann von einigen dreißig Jahren, mit scharf ausgeprägten Zügen, in denen etwas Herbes, Düsteres lag. Jetzt freilich spielte ein leises triumphierendes Lächeln um seine Lippen. Herr von Bernried schien im Vertrauen auf die Schnelligkeit seines Pferdes seines Sieges vollkommen sicher zu sein.
Da schoß von den Nachzüglern einer, der letzte von allen, plötzlich vorwärts, mit einer so jähen, blitzartigen Schnelligkeit, daß alles aufmerksam wurde. In kurzer Zeit hatte er seine Gefährten erreicht, bald überholte er sie, einen nach dem andern. Jetzt nahm er das Hindernis, leicht und sicher, ohne jede Anstrengung und jagte nun weiter, dem führenden Reiter nach, so daß der Raum zwischen ihnen kleiner und kleiner wurde.
Bernried hatte sich umgesehen und ein halb erstaunter, halb zorniger Blick traf den unerwarteten Gegner. Es war ein noch sehr junger Mann, den man bisher kaum bemerkt, jedenfalls nicht beachtet hatte; er saß wie festgewachsen im Sattel. Der Schimmel, den er ritt, erschien fast klein gegen den riesigen Fuchs, war aber unstreitig von edelster Rasse. Der schlanke Bau des schönen Tieres, der zierliche Kopf mit den großen klugen Augen verrieten das arabische Blut. Jetzt war er dicht hinter „Darling“, jetzt wieder jenes jähe, blitzartige Vorwärtsschießeu und beide Pferde waren auf gleicher Höhe.
Der Kampf wurde ernst. Bernried hatte nur eines Blickes bedurft, um zu erkennen, daß der so plötzlich aufgetauchte Gegner ihm ebenbürtig war, daß er absichtlich sein Roß geschont und zurückgehalten hatte, um jetzt erst die volle Kraft einzusetzen. Ein Zucken ging wie Wetterleuchten über sein Gesicht und seine Stirn faltete sich drohend, aber er war nicht der Mann, sich den Sieg so leicht streitig machen zu lassen. „Darling“ fühlte die Sporen und setzte seine ganze Kraft ein, aber umsonst. Der Araber blieb dicht an seiner Seite, und Seite an Seite nahmen sie das nächste Hindernis.
Das anfängliche Interesse der Zuschaner an diesem überraschenden Verlauf des Rennens hatte sich längst zur leidenschaftlichen Teilnahme gesteigert. Die anderen Reiter, die in größerer oder geringerer Entfernung nachjagten, wurden kaum mehr beachtet, man sah nur auf die beiden, die so hartnäckig um den Siegespreis rangen. Alles andere trat zurück vor diesem Wettkampfe zwischen dem anerkannt ersten Reiter in der Sportswelt von Kairo und dem jungen Fremden, den die wenigsten kannten. Aber gerade dies Unerwartete, Blitzähnliche seines Erscheinens gewann ihm die Sympathie der Menge, der vornehmen Zuschauer wie des Volkes da unten; wo er vorüber kam, wurde stürmischer Zuruf laut.
Herr von Bernried mochte es wohl fühlen, wem diese Rufe jetzt galten, und je zweifelloser sein Sieg im Anfang geschienen hatte, desto schwerer empfand er die Möglichkeit einer Niederlage. Sein Gesicht war flammendrot, jede Fiber an ihm bebte in wilder Erregung, aber diese Erregung drohte ihm verhängnisvoll zu werden. Er verlor mit der Herrschaft über sich selbst auch die über sein Roß. Wie im Sturmwind jagten die beiden Reiter vorwärts, [3] „Darling“ in langen, mächtigen Sätzen, neben ihm „Faida“ leicht dahinfliegend wie ein Vogel, so daß ihre zierlichen Hufe kaum den Boden zu berühren schienen.
Da endlich gewann der Araber einen Vorsprung, der Fuchs blieb zurück, erst um Kopfeslänge, dann weiter und weiter, er schien zu ermatten. Gelang es „Faida“, vor ihm das letzte Hindernis zu nehmen, so war der Sieg entschieden. Vielleicht war es dieser Gedanke, der Bernried den letzten Rest von Besinnung und Selbstbeherrschung raubte. Die dunkle Glut in seinem Antlitz wich einer Totenblässe. Mit fest zusammengebissenen Zähnen, jede Muskel gespannt, peitschte er wie wahnsinnig sein Roß. Der Schaum floß am Gebiß „Darlings“ nieder, seine Flanken bebten, aber er gehorchte. Mit einer letzten äußersten Anstrengung gelang es ihm, den Araber wieder zu erreichen, und beide setzten fast gleichzeitig zum Sprunge an.
In weitem mächtigen Satze flog „Faida“ über das Hindernis hinweg. Ein halb erstickter Aufschrei, der in demselben Augenblick ertönte, ging unter in dem jubelnden Beifall, mit dem die Zuschauer dies tollkühne Reiterstück begrüßten, dann jagte der Reiter dem Ziele, dem Siege zu, den ihm niemand mehr streitig machte.
Niemand! – „Darling“, der nur einige Sekunden später das Hindernis zu nehmen sich anschickte, war gestürzt bei dem Sprunge. Er lag zusammengebrochen an der Hürde und sein Herr, aus dem Sattel geschleudert, lag einige Schritte davon, regungslos auf dem Boden ausgestreckt. Rasch hob man den Bewußtlosen auf, trug ihn aus der Bahn und übergab ihn den Händen eines Arztes. Das Rennen selbst erlitt keine Unterbrechung, auf dergleichen Unfälle muß man ja bei jedem Rennen gefaßt sein!
Lauter, stürmischer Jubel empfing den Sieger, der soeben durchs Ziel ritt, von allen Seiten wurde er mit Beifall und Zurufen überschüttet, und die wehenden Tücher der Damen grüßten ihn von den Tribünen her. Er hatte allerdings glänzend gesiegt, denn es vergingen Minuten, ehe die anderen Reiter anlangten.
Der junge Mann – er konnte höchstens drei- oder vierundzwanzig Jahre zählen – hatte die Mütze abgenommen, um zu danken. Es war eine schlanke aber kraftvolle Gestalt, dichtes, blondes Kraushaar legte sich in überreicher Fülle um die Stirn, das leicht gebräunte Antlitz war nicht eigentlich schön, eher das Gegenteil, aber es lag etwas eigentümlich Fesselndes in diesen vollkommen unregelmäßigen Zügen. In den dunklen feurigen Augen blitzte kecker Uebermut, stolzes Selbstvertrauen, und als er jetzt nach allen Seiten hin sich verbeugte, noch glühend erhitzt von dem wilden Ritte, strahlend im Triumph des Sieges, da erschien er wie die leibhaftige Verkörperung der stürmischen Jugend, in ihrer ganzen Kraft und Schönheit.
Er grüßte nach den Tribünen hinüber, wo in der vordersten Reihe ein älterer Herr und eine junge Dame ihm lebhaft zuwinkten. Der erstere verließ jetzt rasch seinen Platz und kam ihm entgegen.
„Das nennt man ja im Sturme siegen!“ rief er in freudiger Erregung. „Meinen Dank, Herr Ehrwald! Da überschüttet man mich mit Glückwünschen von allen Seiten nein, meine Herren, hier an diesen jungen Reitersmann müssen Sie sich wenden! Er allein hat meiner ‚Faida‘ zum Siege verholfen.“
Er hatte deutsch gesprochen und wandte sich bei den letzten Worten an einige Herren, die ihm gefolgt waren und nun den jungen Landsmann gleichfalls mit Glückwünschen umringten.
„Und Sie haben uns beiden den Sieg doch nicht zugetraut, Herr Konsul,“ sagte Ehrwald lachend, indem er auf dem Platz vor der Wage aus dem Sattel sprang. „Sie fürchteten im vollen Ernste eine Niederlage und zuckten die Achseln, als ich mich erbot, Ihre ‚Faida‘ in acht Tagen für das Rennen zuzureiten.“
„Hätte ich eine Probe Ihrer Reitkunst gesehen, ich wäre wohl zuversichtlicher gewesen,“ entgegnete der Konsul, ein älterer Mann von vornehmer Erscheinung. „Nun, in diesem Falle war die Ueberraschung eine sehr angenehme. Aber jetzt gehen Sie zu meiner Tochter, Zenaide möchte ihre ‚Faida‘ sehen, sie ist sehr stolz auf deren Sieg.“
Herr von Osmar, der augenscheinlich ebenso stolz war, winkte freundlich mit der Hand und wandte sich dann zu den beiden englischen Herren, die jetzt auch herantraten, während Ehrwald nach einer kurzen Begrüßung derselben das Pferd am Zügel nach der Tribüne führte. „‚Faida‘ möchte sich nun auch einen Dank von ihrer Herrin holen,“ sagte er, mit einer leichten Verneigung vor der jungen Dame, deren Hand sich liebkosend dem Tiere entgegenstreckte. Es senkte schmeichelnd den schönen Kopf und ließ ein leises Wiehern hören, als sei es sich bewußt, die Liebkosung verdient zu haben.
„Und der Reiter? Will er keinen Dank für seinen kühnen Ritt?“ fragte die Dame lächelnd.
„Im Gegenteil, mein gnädiges Fräulein, ich habe Ihnen zu danken,“ versetzte Ehrwald, „denn ohne Ihre Fürsprache hätte man mir ‚Faida‘ gar nicht anvertraut. Der Herr Konsul war ja anfangs entschieden dagegen und gab nur Ihrer Bitte nach.“
„Spotten Sie nur, Sie haben ja all die Zweifler glänzend geschlagen und auch den armen Herrn von Bernried. Sein Sturz ist doch nicht gefährlich gewesen?“
„Ich hoffe: nicht. Ich habe mich bereits danach erkundigt, aber Lord Marwood, den ich fragte, geruhte nicht, mir eine Antwort zu geben. Ich stand zwar nie in Gnaden bei Seiner Lordschaft, seit Sie aber gesehen haben, daß ich doch einigermaßen fest im Sattel bin, scheinen Sie mich mit Ihrer vollen Ungnade zu beehren. Ich bin ganz untröstlich darüber.“ Es lag ein übermütiger Spott in den Worten und eine gewisse Absichtlichkeit in der Bewegung, mit welcher der junge Mann jetzt dicht an die Schranke trat und den Arm darauf stützte. Er hatte recht gut gesehen, daß Lord Marwood, der drüben im Gespräch mit dem Konsul stand, ihn und die junge Dame beobachtete.
Zenaide von Osmar mochte etwa zwanzig Jahre zählen. Es war eine schlanke, zarte Erscheinung, in der trotz der deutschen Abkunft etwas von der fremdartigen, glühenden Schönheit des Landes lag, in dem sie geboren war. Auf dem tiefschwarzen Haar, das einfach gescheitelt und am Hinterhaupt in einem griechischen Knoten aufgenommen war, ruhte ein leichter bläulicher Schimmer und die großen Augen hatten gleichfalls jenes tiefdunkle, sammetartige Braun, das man nur bei den Kindern des Südens findet. Der Blick war sanft und träumerisch und doch schlummerte darin ein verborgenes leidenschaftliches Feuer. Das Antlitz erschien etwas bleich, es fehlte ihm die rosige Frische, aber mit seinen weichen, zarten Linien hatte es einen ganz bezaubernden Reiz. Die junge Dame hätte wahrlich nicht die Tochter eines der reichsten Männer von Kairo zu sein brauchen, um begehrenswert zu erscheinen.
Das mochte auch Lord Marwood finden, der unausgesetzt hinüberblickte. Seine Lordschaft konnten es augenscheinlich nicht begreifen, daß der „junge Bursche“ es wagte, so vertraulich mit der Tochter des Generalkonsuls zu plaudern. Herr von Osmar schien das jedoch nicht zu bemerken, er sprach gerade mit den beiden englischen Offizieren, die ihn gleichfalls beglückwünscht hatten, von dem Sturze des Herrn von Bernried.
„Nun, der Arme scheint noch ziemlich glücklich davongekommen zu sein,“ äußerte der Konsul. „Seine Verletzungen sind nicht gefährlich, wie ich hörte. Aber ‚Darling‘ ist wirklich verloren?“
„Leider!“ bestätigte der Oberst. „Er hat das eine Hinterbein gebrochen. Schade um das prächtige Tier, aber Bernried spornte es ja wie ein Unsinniger. Er ist selbst schuld an dem Verlust, der für ihn den Ruin bedeutet.“
„Er setzte eben alles dran, zu siegen,“ sagte Hartley. „Und dieser Ehrwald ritt ja wie auf Tod und Leben. Wer ist denn eigentlich dieser Herr?“
„Ein junger Landsmann, der sein Glück in der weiten Welt versuchen will,“ entgegnete Herr von Osmar heiter. „Viel mehr weiß ich auch nicht über ihn. Sonneck hat ihn aus Deutschland mitgebracht und will ihn auf seinem Zuge in das Innere mitnehmen. Mir gefiel er gleich bei der ersten Vorstellung. Ein prächtiger, gescheiter Junge, er sprüht nur so von Feuer und Leben!“
„Ja, solche Leute kann Sonneck brauchen,“ sagte der Oberst. „An Tollkühnheit fehlt es diesem Ehrwald jedenfalls nicht. War das ein Sprung, mit dem er über das letzte Hindernis wegsetzte!“
Der Name, auf den die Herren sich vorhin nicht besinnen konnten, war ihnen jetzt sehr geläufig geworden. Er ging ja auch seit einer Viertelstunde wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund, der junge unbeachtete Fremde hatte sich auf einmal in den Vordergrund gestellt. Sein Gespräch mit Fräulein von Osmar wurde bald genug unterbrochen, der Konsul rief ihn ab, um ihn noch einigen Bekannten vorzustellen, und er wurde von neuem mit Glückwünschen überhäuft, während sich „Faida“ der gleichen Aufmerksamkeit erfreute.
Man war so ausschließlich mit den beiden beschäftigt, daß niemand sich um den geschlossenen Wagen kümmerte, der soeben im langsamen Schritt davonfuhr und die Richtung nach der Stadt einschlug. Nur ein einzelner Herr befand sich in der Nähe, er
[4][5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] hatte dem Kutscher die nötigen Weisungen gegeben und wollte eben nach der Bahn zurückkehren, als er unvermutet angeredet wurde.
„Nun, Herr Doktor Walter, Sie haben leider Arbeit bekommen bei dem heutigen Vergnügen. Es ist wohl Herr von Bernried, der dort nach der Stadt fährt? Die Sache scheint bei alledem noch verhältnismäßig gut abgelaufen zu sein. Der Unfall ist nicht ernst, wie es heißt.“
„Er scheint im Gegenteil sehr ernst, Herr Sonneck,“ sagte der Arzt, der sich rasch umgewandt hatte, und seine Miene bestätigte nur zu sehr die Worte. „Wir haben einstweilen einen Notverband angelegt, die eingehende Untersuchung werde ich erst im deutschen Hospital vornehmen, wohin Herr von Bernried jetzt gebracht wird.“
„Nach dem Hospital?“ wiederholte Sonneck betroffen. „Können Sie ihn nicht in seiner Wohnung behandeln?“
„Nein, er hat überhaupt keine eigene Wohnung mehr seit dem Tode seiner Frau, nur ein paar Zimmer im Hotel. Da kann von einer ordentlichen Pflege nicht die Rede sein. Wenn ich nur wüßte, was aus dem Kinde, seinem kleinen Töchterchen, werden soll! Im Hotel kann sie nicht bleiben, denn es kann lange dauern, bis der Vater zurückkehrt – wenn es überhaupt geschieht!“
Sonneck, der mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte, schien bei den letzten Worten zu erschrecken.
„Sie fürchten doch nicht etwa einen tödlichen Ausgang?“ fragte er rasch und gepreßt. „Das wäre allerdings sehr traurig.“
„Wer weiß!“ sagte der Arzt ernst. „Vielleicht wäre es das beste für den Mann. Der Verlust seines ‚Darling‘ hat ihn ja doch ruiniert und ich glaube nicht, daß er selbst noch Freude gehabt hat an dem Leben, das er in der letzten Zeit führte. Für das Kind war es auch kein Segen, in solchen Verhältnissen und Umgebungen aufzuwachsen, obgleich der Vater es abgöttisch liebte. Ich werde jedenfalls mein möglichstes thun, ihn zu retten, aber viel Hoffnung habe ich nicht.“
Es trat eine Pause ein. Sonneck sah stumm zu Boden, endlich begann er wieder in einem Tone, durch den eine mühsam unterdrückte Bewegung zitterte: „Herr von Bernried scheint nicht besonders beliebt zu sein in Kairo. Man kümmert sich sehr wenig um ihn und seinen Unfall und spricht fast mehr von seinem ‚Darling‘ als von ihm. Man begegnete ihm ja auch nie in der eigentlichen Gesellschaft, und Herr von Osmar empfing ihn überhaupt nicht in seinem Hause.“
Der Arzt zuckte mit sehr bezeichnender Miene die Achseln.
„Das ist begreiflich, der deutsche Generalkonsul hat seine Stellung zu wahren und muß sich Persönlichkeiten fernhalten, denen doch mehr oder weniger Bedenkliches anhaftet. Bernried ist ja allerdings von altem deutschen Adel und spielt in der Sportswelt eine Rolle; Freunde hat er aber nie besessen und sein Treiben war auch nicht danach. – Doch da kommt Herr Ehrwald, er scheint Sie zu suchen. Ich will nur noch mit meinem Kollegen sprechen und fahre dann sofort nach dem Hospital hinaus.“
Der Arzt grüßte und ging. Es war in der That Ehrwald, der jetzt den Gesuchten entdeckt hatte und rasch näher kam. Sonneck fuhr mit der Hand über die Stirn, als wollte er irgend eine quälende Erinnerung fortscheuchen, dann ging er dem jungen Manne entgegen und bot ihm die Hand.
„Kann man endlich Deiner habhaft werden, Du Held des Tages,“ sagte er. „Ich konnte Dir vorhin nur aus der Ferne zuwinken, so umdrängt warst Du von allen Seiten. Meinen Glückwunsch, Reinhart! Du hast ja glänzend gesiegt!“
„Habe ich es gut gemacht?“ fragte Reinhart mit aufleuchtenden Augen.
„Beinahe zu gut, denn ich fürchte, man wird Dich gründlich verderben mit all der Bewunderung und den Schmeicheleien. Aber warum hast Du denn mit aller Welt Komödie gespielt und Dich für einen höchst mittelmäßigen Reiter ausgegeben, um heute erst zu zeigen, was Du kannst?“
„Weil es mir Spaß machte,“ versetzte Ehrwald. „Was war das für eine Verwunderung und für ein Achselzucken, als es bekannt wurde, daß ich mich mit ‚Faida‘ in die Bahn wagen wollte, wo der vielbewunderte ‚Darling‘ lief! Kein Mensch ahnte, was das Tier wert war, am wenigsten der Konsul selbst, nur Fräulein von Osmar hatte unbedingtes Vertrauen.“
„Fräulein von Osmar – so?“ Sonneck streifte mit einem eigentümlich forschenden Blick das Gesicht des jungen Mannes. „Nun, vielleicht galt ihr Vertrauen ebenso sehr dem Reiter wie dem Roß.“
„Vielleicht! Jedenfalls habe ich es nicht getäuscht,“ sagte Reinhart leichthin.
Sie hatten während des Gespräches den Rückweg angetreten, blieben aber diesmal außerhalb der Schranken, mitten unter der Volksmenge. Sonneck, dessen Namen man in ganz Europa kannte als den eines der kühnsten und erfolgreichsten Afrikaforscher, schien auch hier in Kairo vielfach gekannt zu sein, denn man machte ihm überall ehrerbietig Platz.
Er war kleiner als der schlanke, hochgewachsene Ehrwald, eine mittelgroße, sehnige Gestalt. Das dunkelgebräunte Antlitz mochte in der Jugend schön gewesen sein, jetzt war es tief durchfurcht von all den Linien, die ein ganzes Leben voller Kämpfe und Gefahren, voll Anstrengungen und Entbehrungen darin eingegraben hatte. Das dunkle Haar des kaum vierzigjährigen Mannes zeigte an den Schläfen schon einen weißen Schimmer und in den tiefen grauen Augen lag ein schwermütiger Ernst, der nur selten von einem flüchtigen Lächeln verdrängt wurde.
Er sah schweigsam und zerstreut dem Wettfahren zu, das jetzt auf der Rennbahn stattfand, und plötzlich wandte er sich an seinen jungen Gefährten mit der Frage: „Weißt Du, daß der Sturz des Herrn von Bernried ein sehr schwerer gewesen ist?“
Ehrwald sah betroffen auf. „Nein, ich hörte das Gegenteil! Man sagte, daß seine Verletzungen nicht bedenklich sind.“
„So sagte man: aber Doktor Walter, den ich soeben sprach, scheint die Sache sehr ernst zu nehmen. Wir wollen morgen zu ihm gehen und uns erkundigen, wie es steht. – Uebrigens, Reinhart, es war nicht nötig, daß Du das letzte Hindernis in dieser tollkühnen Weise nahmst, anstatt einfach darüber hinwegzusetzen. Der Luftsprung hätte Dir den Hals kosten können und der armen ‚Faida‘ dazu. Solche Kunststücke gehören in den Cirkus, für die Rennbahn passen sie nicht.“
„Ich habe es auch im Cirkus gelernt,“ sagte Reinhart lachend.
Sonneck stutzte und sah ihn befremdet an.
„Wo hast Du das gelernt?“
„Im Cirkus, bei den Kunstreitern. Ich bin ja fast ein Jahr lang mit ihnen herumgezogen.“
„So? Und das erfahre ich erst heute?“
„Sie fragten mich ja nicht und ich hatte bisher noch keine Veranlassung, davon zu sprechen. Ein Geheimnis wollte ich Ihnen nicht daraus machen, oder – nehmen Sie Anstoß daran?“
„Nein,“ entgegnete Sonneck ruhig. „Ich schenke selten einem Menschen unbedingtes Vertrauen, geschieht es aber einmal, dann pflege ich auch nicht viel mehr zu fragen und zu forschen. Du hast mir offen bekannt, was Dich aus Deiner Heimat fortgetrieben hat, das ist mir genug, aber Du scheinst Dich doch bisweilen in etwas bedenklicher Gesellschaft umhergetrieben zu haben. Ich glaube, es war Zeit, daß Du wieder in andere Kreise kamst.“
Ueber die Züge des jungen Mannes legte sich ein tiefer Schatten und seine Stimme klang in unterdrückter Bewegung, als er antwortete: „Ja, es war hohe Zeit! Man fühlt es ja selbst, wie man verwildert in solchen Umgebungen, und kann’s doch nicht ändern. Ich hatte keine Wahl, wie ich mein Brot verdienen wollte, und leben mußte ich doch. Aber wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn Sie mir nicht rechtzeitig die Hand gereicht und mich emporgerissen hätten! Viel Worte habe ich freilich nicht gemacht mit meinem Danke. Sie wollen es ja nicht, aber ich hoffe, ihn dereinst abtragen zu können.“
„Schon gnt,“ wehrte Sonneck ab, „Du wirst auf unserem Zuge Gelegenheit genug dazu haben. Nun weiß ich doch wenigstens, woher Dein tolles Reiten stammt! Aber diese Kunstreiterstücke verbitte ich mir ein für allemal. Ich bestreite Dir entschieden das Recht, Dir schon hier in Kairo Hals und Beine zu brechen, später geben sich solche Thorheiten von selbst. Wenn man von Gefahren aller Art umringt ist und sich sein Leben täglich erst erkämpfen muß, dann setzt man es nicht mehr so leichtsinnig aufs Spiel, um einer bloßen Eitelkeit willen.“
„Wären wir nur erst draußen!“ rief Reinhart aufflammend. „Sie ahnen nicht, wie ich mich danach sehne. Wann endlich ziehen wir hinaus?“
„Sobald ich die nötigen Leute und die nötigen Mittel zur Verfügung habe, und das kann noch wochenlang dauern. Mir macht das wahrlich kein Vergnügen, denn mit jeder Woche geht ein Teil der besten Reisezeit verloren. Aber Dir ist Kairo ja noch neu und fremd, Du mußt ja förmlich berauscht sein von all den [7] Eindrücken, und nach dem heutigen Tage wirst Du vollends Glück in der Gesellschaft machen – zumal bei den Frauen!“
Es war derselbe forschende Blick wie vorhin, der bei den letzten Worten das Antlitz des jungen Mannes streifte, aber dieser warf beinahe unwillig den Kopf zurück und seine Lippen kräuselten sich verächtlich. „Was kümmern mich die Frauen! Mich zieht es in die Ferne. Hier ist alles noch so zahm und europäisch, hier ist man noch eingeengt von tausend Formen und Fesseln, aber wenn ich droben auf jenen Höhen stehe und in die Wüste hinaus blicke, die sich so weit, so endlos vor mir ausdehnt, dann ist’s mir immer, als wäre dort allein, in dieser grenzenlosen Weite die Freiheit zu finden – die Freiheit und das Glück!“
Ueber Sonnecks Gesicht zog ein flüchtiges Lächeln bei diesem stürmischen Ausbruch, aber seine Stimme klang tiefernst, als er sagte:
„Du wirst Dich auch noch bescheiden lernen. Fesseln giebt es überall, und wenn man sie sich selbst schmieden sollte, und ein Glück ist diese schrankenlose Freiheit nicht! Es kommt eine Zeit, wo man sie gern hingäbe für – doch was nützt das Predigen! Solch ein vierundzwanzigjähriger Feuerkopf glaubt ja doch nicht, was ihm der Erfahrene sagt, und will alles besser wissen. Dich muß das Leben erst in die Schule nehmen, einstweilen bin ich Dein Mentor und werde dafür sorgen, daß Du nicht gar zu tolle Streiche machst.“
Die Volksmenge kam jetzt in Bewegung, das Wettfahren war zu Ende und damit die letzte Nummer des Programms erledigt, auch die Zuschauer auf den Tribünen brachen auf. Der ganze Platz vor der Rennbahn war gefüllt mit an- und abfahrenden Wagen und dazwischen drängten sich Reiter und Fußgänger.
Herr von Osmar saß mit seiner Tochter bereits im Wagen, und am Schlage stand Lord Marwood, der sich etwas umständlich von der jungen Dame verabschiedete. Er mußte aber leider die Bemerkung machen, daß sie sehr zerstreut war und kaum zuhörte.
Sie schien irgend etwas in der Menge zu suchen und mußte es wohl jetzt gefunden haben, denn die dunklen Augen strahlten plötzlich auf, während eine leise Röte das schöne Antlitz färbte. Francis folgte der Richtung jenes Blickes, dort drüben stand Sonneck mit Reinhart Ehrwald und beide grüßten herüber. Der junge Lord biß sich auf die Lippen, er brach plötzlich das Gespräch ab und trat mit kühlem Gruße zurück. Der „Abenteurer“, auf den er so vornehm herabsah, war ihm bisher nur unbequem gewesen, jetzt sah es beinahe aus, als könne er gefährlich werden.
(Fortsetzung folgt.)
Wie bekämpft man die Abmagerung?
Nicht nur der ästhetische Sinn stellt die Schönheitsanforderung an den menschlichen Körper, daß derselbe eine gewisse Fülle besitze, die Formen eine bestimmte Rundung haben: auch die medizinische Wissenschaft weiß die Wichtigkeit eines in normalen Grenzen stattfindenden Fettansatzes für die Gesundheit des Individuums zu schätzen. Und so wie die plötzliche Abmagerung den Körper verunstaltet, den Gesichtsausdruck verändert, die Ebenmäßigkeit des Körperbaues stört, die Muskeln straffer hervortreten läßt, den Bewegungen die Anmut nimmt und die Wellenlinien der Schönheit beeinträchtigt, so gilt auch dem Arzte das rasche Schwinden des Fettpolsters, die wesentliche Abnahme des Körpergewichtes als ein sehr wichtiges und zugleich ungünstiges Symptom, das zuweilen einen höchst beachtenswerten Weckruf bildet, ein Alarmzeichen, daß im Organismus bedrohliche Vorgänge von statten gehen. Ist doch der plötzliche Verbrauch des aufgespeicherten Fettes nicht selten das erste sichtbare Zeichen eines Lungenspitzenkatarrhs oder einer im Körper sich entwickelnden bösartigen Neubildung, häufig aber nur die Folge einer ungünstigen Beeinflussung des Nervensystems durch psychische Momente wie Sorge, Kummer, Aerger und Kränkung. Abmagerung ist immer der Ausdruck eines fehlerhaften Ganges des Stoffwechsels. Sie deutet an, daß die Ernährung des gesamten Körpers beeinträchtigt ist, daß in dem Haushalte des Organismus mehr ausgegeben wird als eingenommen werden kann, wobei das Fett, welches als Spardepot den Organismus vor zu raschem Verbrauche schützen soll, verzehrt wird.
Schreitet die Abmagerung fort, so wird nicht nur das Fett aufgezehrt, sondern auch der Eiweißbestand des Organismus angegriffen: das Fleisch des Körpers nimmt ab, die Muskeln büßen an Kraft ein, ihre Leistungsfähigkeit ist herabgesetzt, der gesamte Körperbau ist erschüttert. Das sehr abgemagerte, fettarme Individuum vermag infolge des Fettschwundes wie der Abnahme der Muskelkraft nicht längere Zeit zu gehen oder zu stehen, aber auch das Sitzen und Liegen wird ihm schwer und schmerzhaft, denn es fehlt ihm das in der Norm so mächtige Lager von Unterhautfett, welches wie ein Luftkissen äußeren Druck und Stoß schonend abwehrt. Dieser Schmerz giebt sich besonders in der Fußsohle, in der Hohlhand und am Gesäße, wo äußerer Druck bei den Bewegungen und Lagerungen des Körpers am stärksten und anhaltendsten wirkt, zumeist kund. Der stark Abgemagerte ist ferner sehr empfindlich gegen den Wechsel der Lufttemperatur, er friert sehr leicht und ist zu Erkältungen geneigt, denn er ist des Schutzes beraubt, welchen das Fett als schlechter Wärmeleiter auf die von diesem bedeckten und umhüllten Gewebe, sie vor Abkühlung wahrend, ausübt. Es wird aber weiters durch den raschen Schwund des Fettes eine schwere mechanische Störung in dem Aufbaue des Körpers herbeigeführt, die sich besonders durch Erschütterung der Struktur des Herzmuskels bedrohlich gestaltet, Herzschwäche mit allen ihren das Leben gefährdenden Erscheinungen herbeiführt. Endlich leidet unter dem gewaltsamen Verbrauche des Fettgewebes und der damit einhergehenden Schädigung des Eiweißbestandes des Körpers die Bildung der roten Blutkörperchen und die ganze Blutbeschaffenheit in wesentlicher Weise. Es ist also von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, die Abmagerung schon in ihren Anfängen festzustellen, sie zu beachten und ihr, wo es nötig ist, durch geeignetes Verfahren Einhalt zu thun.
Bei Bekämpfung und Verhütung der Abmagerung muß nun vor allem in Betracht gezogen werden, wie überhaupt ein stärkerer Fettansatz im Körper stattfindet. Während man früher der Anschauung huldigte, daß nur gewisse Nahrungsstoffe, nämlich Fett, Stärke und Zucker, darum auch Fettbildner genannt, die Ansammlung von Fett im Körper fördern und die Verbrennung des gebildeten und abgelagerten Fettes vermindern, ist es jetzt festgestellt, daß auch bei der Zersetzung der eiweißartigen Stoffe, also bei Fleischnahrung, eine stetige Abtrennung von Fett erfolgt und daß jede Art von Ueberernährung, das heißt jede Zuführung von Nahrungsstoffen aller Art in einer zur Erhaltung des Organismus bedeutend übersteigenden Menge, zur Fettbildung führt, das Fett anmästet. Ein anderes, in dieser Beziehung förderliches Moment ist andauernde Ruhe, Mangel an körperlicher Bewegung bei reichlicher Nahrung, während erhöhte Muskelthätigkeit den Fettverbrauch im Körper steigert, die Zersetzung des Fettes zu Kohlensäure und Wasser beschleunigt. Sehr ausgiebige Ernährung, besonders mit einer Kost, in welcher Fette, Butter, Mehlspeisen, Kartoffeln, Süßigkeiten überwiegen, lange dauernde beschauliche Ruhe, langes Schlafen sind unerläßliche Erfordernisse einer Lebensweise, welche der Abmagerung Einhalt thun und eine stärkere Fettbildung zuwege bringen soll.
Auf diesen Grundsätzen beruht die zuerst von dem amerikanischen Arzte Weir-Mitchell gegen Blutarmut, Nervenschwäche und allgemeine Ernährungsstörungen empfohlene, nun aber auch von deutschen Aerzten häufig angewandte diätetische Kurmethode, die sogenannte Mastkur. Diese Kurmethode sucht den Zweck, binnen kurzer Zeit, im Laufe weniger Wochen, die ganzen im herabgekommenen Zustande befindlichen Ernährungsverhältnisse eines kranken, abgemagerten Individuums zu bessern, den allgemeinen Kräftezustand zu heben, Fett und Blut in reichlicher Menge zu bilden und so das Körpergewicht bedeutend zu steigern – dadurch zu erreichen, daß die betreffende Person in vollkommener körperlicher und geistiger Ruhe gehalten wird, also sich möglichst wenig bewegen und gar nicht arbeiten darf, dabei aber eine ungewöhnlich große Menge von Nahrungsstoffen zu sich nehmen muß. Am geeignetsten ist die Durchführung dieser Kur bei Entfernung der Patienten aus der gewohnten Umgebung, in einer eigenen Anstalt oder in einem Kurorte, wo es auch möglich ist, die bessere Verdauung und Anbildung der Nährstoffe durch Massage in geeigneter Weise zu unterstützen. Die Steigerung der Nahrungszufuhr, die Vermehrung der Mahlzeiten darf nur allmählich geschehen. Im [8] Beginne wird empfohlen, nur Milch zur Ernährung zu verwenden, wobei die Vorsichtsmaßregel zu beachten ist, die Milch stets in sehr kleinen Portionen, schluckweise trinken zu lassen, weil sie nur solchermaßen sehr leicht verdaut wird. Man läßt also zunächst alle 2 bis 3 Stunden 90 bis 120 Kubikcentimeter Milch trinken und steigert diese Portionen binnen 3 bis 4 Tagen auf 2 bis 3 Liter in 24 Stunden. Nachdem diese Milchdiät durch mehrere Tage vorbereitend auf die Verdauungsorgane eingewirkt hat, kann man diesen eine höhere Leistung zumuten und läßt die gewöhnlichen Mahlzeiten, Frühstück, Mittag und Abendbrot, einhalten, dazu aber leicht verdauliche und nahrhafte Speisen in großer, allmählich steigender Menge nehmen. Es ist erstaunlich, an welch bedeutende Quantitäten sich der Magen gewöhnt und wie sehr der Organismus, besonders angeregt durch Massage, solche Fütterungskur verträgt, welche sich nach und nach nicht mehr auf die drei Mahlzeiten beschränkt, sondern jede zweite Stunde und noch öfter die Verdauungsthätigkeit in Anspruch nimmt. Den Gang einer solchen gesteigerten Nahrungszufuhr mag folgende Liste der Speisen veranschaulichen, welche dem betreffenden Individuum am elften Tage der Fütterungskur gereicht wurden. Sie lautet: Morgens um 7½ Uhr ½ Liter Milch, 2 Zwiebacke, um 8½ Uhr Kaffee mit Sahne, 80 Gramm Fleisch, Weißbrot, Butter, geröstete Kartoffeln, um 10 Uhr 1/4 Liter Milch, 3 Zwiebacke, um 12 Uhr mittags ½ Liter Milch; um 1 Uhr Suppe mit Ei, 200 Gramm Fleisch, Kartoffelbrei, Gemüse, 125 Gramm Pflaumenkompott, süße Mehlspeise, um 3½ Uhr nachmittags ½ Liter Milch, um 5½ Uhr 1/3 Liter Milch, 80 Gramm Fleisch, Weißbrot, Butter, um 9½ Uhr abends 1/3 Liter Milch, 2 Zwiebacke. Wenn sich dauernde Uebelkeit und Erbrechen einstellen, so muß die Kur auf einige Tage unterbrochen werden, während welcher Zeit dann wiederum nur Milch zur Nahrung gereicht wird. Es braucht wohl nicht erst betont zu werden, daß eine solche Mastdiät nur auf Verordnung eines Arztes und unter steter Kontrole desselben durchgeführt werden darf. Dann ist aber auch der Erfolg oft ein überraschender, nach einer Woche zeigt sich die Menge des Fettansatzes bereits durch Zunahme des Körpergewichtes um 2 bis 3 Kilo, dabei wird das Aussehen besser, die Gesichtsfarbe röter; eine Gewichtszunahme von 8 bis 10 Kilo nach einer vier- bis sechswöchigen Kur ist kein seltenes Ereignis.
Wer an Fett zunehmen will und einen guten Magen hat, wird eine leichte Mastkur in der Weise vornehmen können, daß er zu seiner reichlichen Kost vorzugsweise solche Speisen wählen wird, welche sich durch großen Gehalt an den oben erwähnten Fettbildnern auszeichnen. Unter den Fleischarten wird er den fettreichsten den ersten Rang einräumen: dem Schweinefleisch, Kalbfleisch, Hammelfleisch, dem Fleische der Ente und Gans, dem geräucherten Ochsenbraten, der geräucherten Gänsebrust, den fettreichen Würsten, fettem Schinken. Von Fischen wird er sich den Lachs, die fetthaltigen Bücklinge, Sprotten und Heringe gönnen, und auch dem Kaviar wird er einen Ehrenplatz an der Tafel zuweisen, einerseits wegen des Fettgehaltes, anderseits schon deshalb, weil dieses pikante Genußmittel den Appetit anregt und steigert. Brot, mit viel Butter oder Schmalz bestrichen, süße Mehlspeisen sind ausgezeichnete Förderer des Fettansatzes. Von Gemüsen sind Kartoffeln am reichsten an stickstofffreien fettbildenden Substanzen; anderen Gemüsen wird man, um sie „mästend“ zu gestalten, recht viel Butter, Schmalz oder Oel zusetzen. Als Dessert werden sich für solchen Kandidaten eines Fettbäuchleins süßes Obst, Trauben, Mandeln, Nüsse, Datteln empfehlen und auch der Käse, namentlich der Rahmkäse, darf nicht vergessen werden. Von Getränken sind zum Zwecke der Fettanbildung fette Bouillon, nicht abgerahmte Milch, Chokolade, Kakao zu empfehlen, desgleichen schwere süße Ungarweine, Champagner, malzreiche Biere, Liqueure. Nach der Erfahrung ist reichliches Trinken, und wenn es auch nur gewöhnliches Wasser oder Sodawasser ist, ein die Fettbildung förderndes Moment und wird darum mageren Personen anzuraten sein.
Günstige Erfolge hat man bei Abmagerung auch von dem methodischen Gebrauche des Kumys und Kefir, welche in jüngster Zeit vielfach empfohlen werden, gesehen. Das erstere Getränk, auch Weinmilch genannt, wird von asiatischen Steppenvölkern aus Stutenmilch durch alkoholische Gärung bereitet und gilt besonders bei Baschkiren und Kirgisen als beliebtes Volksmittel gegen Lungenschwindsucht und andere „zehrende“ Krankheiten. Der Gebrauch dieses Getränkes, welches in der That durch seinen bedeutenden Gehalt an Fett, Milchzucker und Alkohol eine rasche Zunahme der Fettbildung beim Menschen bewirkt, hat sich in unseren Gegenden, trotz mehrfacher Versuche, wegen des hohen Preises nicht einzubürgern vermocht. Besser ist dies bei dem Kefir der Fall, einem ursprünglich von Tataren des kaukasischen Gebirges hergestellten Getränk, welches gleichfalls wie der Kumys ein Gärungsprodukt der Milch ist. Dasselbe läßt sich sehr leicht aus Kuhmilch durch Zusatz der jetzt in vielen Apotheken erhältlichen Kefirkörner herstellen. Diese Körner bestehen aus Hefezellen und einem stäbchenförmigen Mikroorganismus (Bacillus), welche die alkoholische Gärung der Kuhmilch bewerkstelligen. Dieses sehr angenehm erfrischende, säuerlich schmeckende, wie Champagner schäumende Getränk bewährt sich, mehreremal des Tages ein Glas (1/4 Liter) voll getrunken, in der That als ein Feind der Magerkeit und begünstigt in rascher Weise eine größere Fettablagerung im Körper. Ein Gleiches läßt sich, vorausgesetzt, daß die Verdauungsorgane sich in gutem Zustand befinden, von dem Gebrauche des Leberthrans, jenes Fettes, das bekanntlich aus der Leber des Kabliaufisches gewonnen wird, rühmen, welches, durch längere Zeit genossen, die Zunahme des Körpergewichtes in wesentlichem Maßstabe vermehrt und vor allen anderen Fetten den großen Vorteil besitzt, im Darme überaus rasch aufgesaugt, ferner in größeren Einzelgaben und durch einen längeren Zeitraum (wochenlang mehrmals täglich selbst 15 bis 30 Gramm) vertragen zu werden. Der Leberthran ist neben Milch das beste Mittel, um Kindern, welche nach dem zehnten Lebensjahre bis zur Entwicklungszeit mager und schwächlich bleiben, einen fettbildenden Zusatz zu der aus Fleisch- und Mehlspeisen bestehenden Kost zu gewähren. Kinder im Säuglingsalter, welche an der Brust oder durch Ersatzmittel der Frauenmilch nicht gedeihen und nicht in normaler Weise an Gewicht zunehmen, darf man nicht ohne weiteres durch Fettbildner wie Mehlbreie, süße Grütze etc, recht dick und rund aufzupäppeln versuchen, sondern in diesen Fällen ist der Rat des Arztes einzuholen, welcher die Ernährungsweise sorgfältig den Umständen entsprechend zu regeln hat. Dasselbe gilt auch in allen Fällen bei Erwachsenen, wenn das Körpergewicht in rascher Weise unter die Norm heruntergegangen, die Abmagerung eine plötzlich entstandene oder sehr bedeutende ist; denn bis zu einem gewissen Grade gehört die Fettaufspeicherung zum Normalbestande unseres Organismus und muß Magerkeit als krankhafter Zustand betrachtet werden.
Das Opfer eines Kaisertraums.
(Mit dem Bildnis der Kaiserin Charlotte von Mexiko.)
Seit langem vergeht kein Jahr, ohne daß aus der Einsamkeit des belgischen Schlosses Bouchoute irgendeine kurze Kunde in die Oeffentlichkeit dringt, die über das Befinden der unglücklichen Fürstin berichtet, welche dort in geistiger Umnachtung lebt. Vor dreißig Jahren ist die einst vielbewunderte Kaiserin Charlotte von Mexiko dem furchtbaren Verhängnis verfallen, das sie aus einer stolzen Kaiserin zu einer armen Irrsinnigen machte, und noch immer ist sie nicht von ihren Leiden erlöst. Viel ist in dieser Zeit über den Ausbruch desselben und seinen Charakter gefabelt worden, denn dunkel wie das Schicksal selbst blieben auch vielfach die Pfade, auf denen die Katastrophe herannahte. Heute breitet eine neue, an bisher unbekannten, wichtigen Einzelheiten reiche Publikation mehr Licht auf den tragischen Vorgang.
Prinzessin Charlotte von Belgien, eine Tochter jenes glücklichen Hauses von Sachsen-Koburg, das gegenwärtig seine Abkömmlinge auf den Thronen Englands, Belgiens, Portugals und Bulgariens sieht, hatte von väterlicher und mütterlicher Seite gewissermaßen revolutionäres Blut in den Adern. Ihr Vater hatte sich zum König der Belgier wählen lassen, nachdem sich dieses Volk gewaltsam von Holland losgerissen, und ihre Mutter war
[9][10] die Tochter des französischen Bürgerkönigs Ludwig Philipp, der nach der Absetzung des legitimen Herrschers, Karls des Zehnten, den Thron bestiegen. Sie selbst war ein sehr lebhaftes und intelligentes Mädchen, welches durchaus von der Tradition der Häuser Orleans und Sachsen-Koburg erfüllt war, wonach erst die persönliche Tüchtigkeit die Vorrechte der Geburt rechtfertigt. Im frühen Alter von siebzehn Jahren schloß sie im Jahre 1857 die sehr standesgemäße Ehe mit Maximilian, dem ältesten Bruder des Kaisers von Oesterreich, der nur um acht Jahre älter war als sie. Diese Verbindung war, wie üblich, zum voraus von den beiden Höfen abgemacht worden, da aber beide ihrem Charakter gemäß es durchsetzten, sich erst kennen und schätzen zu lernen, bevor sie den Bund fürs Leben schlossen, so ist ihre Heirat, soweit das in dynastischen Kreisen irgend möglich ist, eine Neigungsheirat zu nennen.
Das Hochzeitsgeschenk des kaiserlichen Bruders war die Ernennung des Erzherzogs Max, der sich bereits einige Verdienste um die österreichische Marine erworben hatte, zum Generalgouverneur der Lombardei. Das junge Paar gefiel sich sehr in dieser fast königlichen Stellung, welche ihnen das schöne Mailand zur Residenz gab. Beide hatten Geschmack an einer großen Hofhaltung und suchten sich bei ihren Unterthanen beliebt zu machen, indem sie ihnen das Joch der Fremdherrschaft möglichst erleichterten. Leider dauerte die Herrlichkeit nur zwei Jahre. Man fand gar bald in Wien, daß das erzherzogliche Paar viel zu viel Geld verbrauche und sich in der Politik zu wenig an die von der kaiserlichen Regierung ausgehenden Vorschriften halte, und berief daher den im Jahre 1857 ernannten Generalgouverneur schon im Jahre 1859 wieder ab. Max und Charlotte kehrten ziemlich mißmutig auf ihr herrliches Schloß Miramar bei Triest zurück, von wo aus der Erzherzog nach wie vor sein Flottenkommando ausübte. Aber Miramar kam ihnen nun zu eng vor. Sie suchten daher Zerstreuung auf Reisen, welche Charlotte bis nach Madeira und Max bis nach Brasilien führten und welche die erstere in einer gedruckten Schrift „Voyages à bord de La Fantaisie" mit schriftstellerischem Talente beschrieb. „La Fantaisie“ hieß nämlich die Jacht des Erzherzogs.
So lagen die Verhältnisse, als im Jahre 1862 der Versucher nahte, welcher den schwärmerischen Geist des Erzherzogs und dem brennenden Ehrgeiz seiner jungen Gattin einen glänzenden Ersatz für die verlorene Herrscherpracht von Mailand und Monza bot.
Es war der Kaiser Napoleon der Dritte, der unter dem Vorwand, daß die mexikanische Republik ihre europäischen Gläubiger nicht bezahle und daß man in der Hauptstadt Mexiko auf den französischen Gesandten geschossen habe, eine kriegerische Expedition unternommen hatte und den Einfluß Frankreichs in Mexiko dadurch am besten befestigen zu können glaubte, daß er dem Lande einen europäischen Fürstensohn seiner Wahl zum Monarchen gab.
Maximilian, der wie seine Gemahlin einen großen Respekt vor dem Willen der Völker empfand, stellte für die Annahme der mexikanischen Krone nur die eine Bedingung, daß ihn das Land selbst berufe. Dem willfahrten die Franzosen, nachdem sie erst einmal die Hauptstadt Mexiko am 10. Juni 1863 eingenommen, mit Leichtigkeit, indem sie eine Versammlung von 216 Notabeln, die der franzosenfreundlichen klerikalen Partei angehörten, einberiefen, welche am 10. Juli dem österreichischen Erzherzog die Krone anbot. Maximilian zögerte dennoch, während Charlotte, die das Beispiel ihres Vaters und Großvaters vor Augen hatte, sofort Feuer fing. Sie übersah nur das eine, daß weder Leopold I. noch Ludwig Philipp ihre Kronen fremden Waffen verdankt hatten. Der Kaiser von Oesterreich suchte seinen Bruder dadurch zum Bleiben zu nötigen, daß er seine Zustimmung zur mexikanischen Thronbesteigung an die Bedingung knüpfte, daß Max auf jede Erbfolge im Hause Habsburg verzichte. Da reiste Charlotte eigens nach Wien, um sich dem Kaiser zu Füßen zu werfen und um die Zurücknahme der harten Bedingung zu flehen. Der Kaiser ließ sich jedoch nicht erweichen, und Max gab nunmehr nach und unterzeichnete die Verzichtleistung. Doch soll er in jener Zeit einmal zu einem Freunde gesagt haben: „Wenn ich jetzt plötzlich erführe, daß trotzdem aus der ganzen Geschichte nichts wird, so würde ich mich in mein Zimmer einschließen und vor Freude tanzen, aber Charlotte ...!“
In Paris bekam das Herrscherpaar einen Vorgeschmack der neuen Würde, indem der Kaiser, die Kaiserin und die ganze vornehme Gesellschaft ihnen kaiserliche Ehren erwiesen und sie in jeder Weise auszeichneten. Dumas ließ gerade damals im Gymnase-Theater ein neues Stück „L’Ami des Femmes“ aufführen. Max und Charlotte wohnten der Vorstellung in der kaiserlichen Loge bei und erregten das Interesse des Publikums fast mehr als das Stück.
Der erste Eindruck, den Charlotte von ihrer neuen Heimat, die sie mit ihrem Gatten im Juni 1864 betrat, erhielt, war nicht günstig. Die reichen Handelsleute der Hafenstadt Veracruz waren gegen die klerikale Partei eingenommen, welche die Franzosen ins Land gerufen hatte, und daher thaten sie nichts, um den Schützling Napoleons zu begrüßen. Das Unglück wollte überdies, daß der Regent Almonte, der die provisorisch ausgeübte Gewalt dem neuen Herrscher übergeben sollte, auf dem Wege von Mexiko nach Veracruz aufgehalten worden war und der Landung nicht beiwohnen konnte. Aber Puebla, die zweitgrößte Stadt Mexikos, tröstete alsbald durch seinen begeisterten Empfang über die Kälte von Veracruz. Charlotte war so gerührt, daß sie ein langes Dankschreiben an den Präfekten dieser Stadt richtete und 25 000 Franken zur Ausbesserung des Spitals spendete. Das war nur ein Anfang, dem sie während ihrer ganzen Regierungszeit treu blieb, denn sie gab in den zwei Jahren vom Juni 1864 bis zum Juni 1866 jeden Tag durchschnittlich 10 000 Franken zu wohlthätigen Zwecken aus und erfreute sich schon deswegen bald der größten Beliebtheit im ganzen Lande. Während einer Reise ihres Gatten in die nördlichen Provinzen führte sie in der Hauptstadt die Regentschaft und leitete zur großen Zufriedenheit der Bevölkerung das Unabhängigkeitsfest. Sie war mit Leib und Seele Mexikanerin geworden und Max, dem das seine germanische Natur weniger leicht machte, richtete ebenfalls sein ganzes Streben darauf, sich heimisch zu machen und Mexiko durch und für die Mexikaner zu regieren. Anfangs ging auch alles gut. Der republikanische Präsident Juarez irrte von allen Anhängern verlassen in der Wildnis umher und alle civilisierten Teile des Landes huldigten dem neuen Kaiser. Ein besonders starkes Zeichen der Anhänglichkeit an die neue Heimat gab das kinderlose Kaiserpaar dadurch, daß es die Enkel des im Jahre 1826 erschossenen Kaisers Augustin Jtúrbide adoptierte, damit diese die Dynastie fortpflanzen sollten.
Dem guten Anfang sollte leider der Fortgang nicht entsprechen. Maximilian ließ es gar bald in allen Dingen an Entschlossenheit fehlen. Er folgte heute dem einen, morgen dem andern Ratgeber und mißtraute schließlich allen. Selbst Charlotte, die an allen Staatsgeschäften den lebhaftesten Anteil nahm, hatte unter dieser Eigentümlichkeit zu leiden. Es gab Zeiten, wo sich ihr Gatte ganz in seine Gemächer verschloß und selbst sie sich anmelden lassen mußte, wenn sie mit ihm sprechen wollte; und nicht immer fand sie Zutritt. Zur Entschuldigung des Kaisers muß gesagt werden, daß seine Gesundheit, die schon früher nicht die beste war, in Mexiko von allen Leiden der heißen Länder heimgesucht wurde.
Napoleon hatte sich verpflichtet, seine Truppen drei Jahre lang in Mexiko zu lassen, beschloß aber, da er einsah, daß die Sache hoffnungslos sei, und da das mexikanische Abenteuer in Frankreich Unwillen erregte, schon am Ende des zweiten Jahres das Land zu räumen. Er ließ den Entschluß rechtzeitig Maximilian mitteilen, um ihm die Zeit zur Abdankung und zur gefahrlosen Abreise zu lassen. Dieser glaubte jedoch mit Recht oder Unrecht, daß der Marschall Bazaine, der die französischen Truppen in Mexiko befehligte, an allem Unheil schuld sei, daß er, der kurz nach dem Tode seiner ersten Frau eine vornehme Mexikanerin geheiratet hatte, das neue Kaisertum absichtlich unmöglich machen wolle, um nachher selbst als französischer Generalgouverneur oder auf andere Weise Mexiko zu regieren. Charlotte teilte diese Ansicht, und daher beschlossen beide, daß sie nach Paris reisen solle, um Napoleon den Sachverhalt darzulegen und ihn zur ferneren Unterstützung ihres Thrones durch französische Truppen unter einem andern Chef zu bewegen.
Ueber diese Reise der Kaiserin Charlotte, die sie im Sommer 1866 mit großen Hoffnungen antrat und die in Rom mit dem Ausbruch der Raserei enden sollte, liegt uns nun heute jener neue Bericht vor, der nicht nur mit Herz und Geist geschrieben ist, sondern auch eine ganze Fülle bisher nur den Eingeweihten bekannter Einzelheiten enthält. Die von einigen französischen Geschichtschreibern des mexikanischen Abenteuers hartnäckig geleugnete Annahme, daß der Wahnsinn der unglücklichen Fürstin durch die Weigerung Napoleons, seine Truppen in Mexiko zu lassen, verursacht worden sei, findet hier eine unwiderlegliche Bestätigung. Wir verdanken diesen Bericht dem als Engländer naturalisierten hannoverschen Diplomaten Baron von Malortie, der ihn einer Sammlung von Erinnerungen aller Art einverleibt hat, welche kürzlich in London unter den: Titel „Here,
[11] there and everywhere“ („Hier, dort und überall“) erschienen sind. Malortie schloß sich als junger Mann dem österreichischen Expeditionscorps an und hatte als Adjutant des Generals Grafen von Thun-Hohenstein, der in Puebla befehligte, die Pflicht, die Kaiserin von dieser Stadt bis nach Veracruz zu geleiten.
Graf Thun und Baron von Malortie ritten der Kaiserin entgegen und trafen sie abends spät in der Nähe von Rio Prieto. Charlotte hatte als leidenschaftliche Reiterin ihren Wagen nicht benutzt. Sie erschien ihnen hoch zu Roß auf der mondbeglänzten Straße, auf welche die dunklen Kaktushecken phantastische Schatten warfen. Die hohe, königliche Erscheinung der Fürstin wurde durch diese Umgebung besonders imposant. Obschon sie den ganzen Tag im Sattel zugebracht hatte, gab die Kaiserin noch am gleichen Abend, nachdem sie in zehn Minuten ein Bad genommen und ihre Garderobe gewechselt hatte, in Rio Prieto ein offizielles Diner mit nachfolgendem Empfang, wo sie bei der üblichen Steifheit der mexikanischen Damen fast allein die Kosten der Unterhaltung bestritt.
Schon dieser Umstand beweist, welche ungemein kräftige Konstitution Charlotte besaß und daß zu jener Zeit ihr Geist noch keine irgendwie bemerkbare Trübung erfahren hatte. In den Gesprächen, die sie während der Weiterreise mit Thun und Malortie führte, trug sie die festeste Zuversicht auf den guten Erfolg ihrer Mission zur Schau und zeigte sich sogar gern zu heiterem Scherz aufgelegt.
Den Gegenstand zum Spott lieferte der Marschall Bazaine, den das Kaiserpaar glücklich überlistet hatte. In der Voraussicht, daß er sich der Reise Charlottens nach Europa widersetzen würde, hatte man offiziell die Halbinsel Yucatan, wo Charlotte schon früher begeisterten Empfang gefunden, als Ziel ihrer Fahrt angegeben und Befehle zum feierlichen Einzug in Campeche und den anderen dortigen Städten erteilt. Außerdem hatte man in Veracruz sechs Plätze auf dem nach Brest fahrenden Schiffe „Impératrice Eugénie“ angeblich für zurückkehrende Offiziere belegen lassen. Selbst der die Kaiserin begleitende mexikanische Minister des Aeußern Castillo erfuhr erst in Veracruz, daß die Herrscherin nicht nach Campeche hinüberfahre. Er wollte die Nachricht sofort nach Mexiko telegraphieren, aber Graf Thun hatte in weiser Vorsicht das Telegraphenamt besetzen lassen und gestattete seine Benutzung erst eine Stunde nach der Abfahrt der Kaiserin. Bazaine geriet in Wut, als er die gelungene List erfuhr, und telegraphierte den Befehl, das Schiff einzuholen und die Kaiserin zurückzubringen. Aber der Vorspruug der „Impératrice Eugénie“ war zu bedeutend, als daß der in Veracruz liegende Kreuzer sie hätte einholen können.
Für die weiteren Ereignisse der Reise ist Malortie nicht mehr Augenzeuge, aber seine Quellen sind die denkbar besten. Die Freundin und Hofdame Charlottens, die Gräfin del Barrio, welche vor zehn Jahren gestorben ist, erzählte ihm im Jahre 1868 in Paris den Hergang und von Graf Bombelles, der vor wenigen Jahren dem Kronprinzen Rudolf, dem er als Hofmarschall diente, im Tode nachfolgte, und von Mora, dem damaligen mexikanischen Gesandten in Paris, wurden ihm alle ihre Angaben bestätigt. Frau del Barrio versicherte ihm zunächst, daß Charlotte auch auf dem Schiffe ihr körperliches und geistiges Gleichgewicht vollständig bewahrte und daß die erste Wolke des Verdrusses erst bei der Landung in Brest über ihre Stirne zog, als sie daselbst nur den Gesandten Mora, aber keinen Sendboten Napoleons vorfand, der sie beim Betreten des französischen Bodens als befreundete Souveränin der Etikette gemäß begrüßt hätte. Noch mehr verdüsterte sich ihr Blick, als sie von Mora erfuhr, daß der französische Hof rechtzeitig von ihrer bevorstehenden Ankunft in Kenntnis gesetzt worden sei, aber nicht einmal einen der kaiserlichen Paläste zu ihrer Verfügung gestellt habe.
Die Einfahrt im Pariser Bahnhof rechtfertigte die schlimmsten Befürchtungen. Niemand war zum Empfang da, kein Hofwagen, kein Kammerherr, kein Lakai, nicht einmal der rote Teppich, der auf den Bahnsteig gelegt zu werden pflegt, wenn fürstliche Personen die Eisenbahn besteigen oder verlassen. Nichts! Nichts!
Und nun gestand auch Mora, daß er dies vorausgesehen und bereits Wagen beordert habe, um die Kaiserin und ihr Gefolge ins „Grand-Hotel“ zu bringen. Charlotte zitterte am ganzen Körper, als sie am Arme Moras den Zug verließ. Dieser unglaubliche Mangel an Höflichkeit war nicht nur eine tödliche Beleidigung für ihre persönliche fürstliche Würde, sondern auch ein unwiderlegliches Zeichen, daß sie nichts zu hoffen habe, daß das traurige Schicksal des mexikanischen Kaisertums für immer besiegelt sei. Sie brachte denn auch die erste Nacht im „Grand-Hotel“ in Thränen zu. Ein ganzer Tag verging, ohne daß der Hof von dem hohen Gaste Notiz nahm, obschon Mora seine Ankunft sofort nach Saint-Cloud gemeldet hatte, wo sich das Kaiserpaar in jenen heißen Tagen des Augusts 1866 aufhielt. Am zweiten Tag erschien endlich der erste Kammerherr des Kaisers, Graf Laferrière. Er entschuldigte den Mangel jeder Ehrenbezeigung bei der Ankunft durch ein Mißverständnis. Alles sei zum Empfang bereit gewesen, aber statt am Orleansbahnhof am Westbahnhof, wo die Züge von Brest meist ankämen. Zugleich lud er die Kaiserin zum Mittagsmahl nach Saint-Cloud ein.
Charlotte hatte diesem Besucher gegenüber ihre ganze würdevolle Fassung wiedergewonnen. Sie lehnte die Einladung zum Essen ab, versprach aber ihren Besuch für nachmittags drei Uhr. Im geschlossenen Wagen, der Charlotte am Nachmittag nach Saint-Cloud führte, nahm die Aufregung wieder überhand. Sie bekam einen nervösen Anfall und schrie laut auf, so daß Frau del Barrio fürchtete, sie müsse auf den Besuch verzichten. Aber die Fassung kehrte zurück, und als die königliche Frau im Schlosse die neue Enttäuschung erfuhr, daß das Kaiserpaar ihr nicht auf der Treppe entgegenkam, verriet kein Zucken in ihrem Gesicht die Beschämung, die sie empfand. Die Herrschaften blieben, nachdem die üblichen Vorstellungen des Gefolges geschehen waren, eine Stunde lang im Gespräch, während Frau del Barrio mit den Damen Eugeniens im Vorzimmer wartete und für ihre arme Herrin zur Jungfrau von Guadalupe betete. Was zwischen den drei gekrönten Häuptern vorgegangen, das kann heute allein noch die Kaiserin Eugenie sagen. Nach Malortie hörte Frau del Barrio im Vorzimmer, wie Charlotte, nachdem der Kaiser ihre Bitten entschieden zurückgewiesen, mit lauter Stimme ausrief: „Ich hätte nicht vergessen sollen, was ich bin und was Sie sind. Ich hätte bedenken sollen, daß Bourbonenblut in meinen Adern fließt und daß ich mein Geschlecht nicht hätte beschimpfen sollen, indem ich mich vor einem Bonaparte erniedrigte und mich mit einem Abenteurer einließ!“ Darauf fiel sie ohnmächtig zu Boden.
Der Kaiser rief sofort Frau del Barrio herein, welche Eugenie neben ihrer Gebieterin knieend und ihr die Schläfen mit Kölnischem Wasser reibend fand. Charlotte kam bald wieder zu sich. Eugenie bot ihr nun ein Glas Wasser an, aber Charlotte rief entsetzt aus: „Hinweg! Gift! Mörder! Sie wollen mich umbringen, Manuelita, rette mich!“ Mit diesen Worten schlug sie der Kaiserin das Glas aus der Hand. Dann wurde sie aufs neue ohnmächtig. Eugenie erklärte nun der Hofdame Charlottens den Vorgang. Ihre unglückliche Freundin habe mit größter Beredsamkeit ihre Sache vorgetragen, aber der Kaiser habe infolge der neuen Lage, welche die preußischen Siege über Oesterreich in Europa geschaffen und welche ihn nötige, sogar die algerischen Truppen nach Frankreich zu ziehen, nur mit einem unerbittlichen Non possumus (Wir können nicht) zu antworten vermocht. Darauf habe sich Charlottens eine große Entrüstung bemächtigt, die sich in Verwünschungen Luft machte, und dann sei sie ohnmächtig zusammengebrochen. Der österreichische Leibarzt Charlottens, Dr. Seneleder, wurde aus dem „Grand-Hotel“ herbeigeholt und ließ die Kranke sofort in fast bewußtlosem Zustande nach Paris zurückführen.
An den folgenden Tagen waren Napoleon und Eugenie von der zartesten Aufmerksamkeit für die Kranke. Sie ließen sich täglich nach der Gesundheit Charlottens erkundigen, schickten ihr Blumen und Früchte, boten ihr Compiègne und Fontainebleau als Landaufenthalt an. Aber Charlotte wollte sie nicht wiedersehen und reiste auf den Rat des Arztes sobald wie möglich nach der Schweiz. Dort fand sie den Schlaf und den Appetit wieder, aber die Besserung war nur scheinbar. Bei einer Ausfahrt erblickte sie am Straßenrand einen alten Bauer, der mit einer blumengeschmückten Flinte von einem Schützenfeste heimkehrte. Sie erklärte, er sei der mexikanische General Almonte, der ihr in dieser Verkleidung auflauere, um sie niederzuschießen. Das war ein offenbares Symptom von Verfolgungswahn, umsomehr, als Almonte von Anfang bis zu Ende einer der treuesten Anhänger Maximilians gewesen war. Da sich ähnliche Anfälle wiederholten und die kranke Fürstin dringend begehrte, nach Rom zu gehen, um beim Papste Schutz zu suchen, gab Seneleder die Schweiz als Heilstätte auf und willigte in die Romfahrt.
In Rom beging die Kaiserin zunächst absichtlich den Verstoß gegen die Etikette, daß sie sich im Hut und nicht im Schleier zur Audienz beim Papst begab. „Du scheinst zu vergessen, Manuelita,“ sagte sie zu Frau del Barrio, „daß Kaiser und Kaiserinnen die Etikette beherrschen und sich nicht von ihr beherrschen lassen.“ [12] Pius IX. war sichtlich überrascht, Charlotten im Hut vor sich zu sehen, ahnte aber wohl ihre getrübte Geistesverfassung und gab ihr mit besonders liebevollem Ausdruck den päpstlichen Segen. Einige Minuten später empfing er sie allein in seinem Studierzimmer und bat sie um die Erlaubnis, sein Frühstück in ihrer Gegenwart einzunehmen. Während sie nun beide ganz ernsthaft über die kirchlichen Verhältnisse in Mexiko sprachen, tauchte Charlotte plötzlich drei Finger in des Papstes Chokoladentasse, leckte sie ab und rief aus: „Das ist wenigstens nicht vergiftet. Alles, was man mir giebt, ist vergiftet und ich bin buchstäblich am Verhungern!“ Der Papst bot ihr an, eine zweite Tasse kommen zu lassen, aber sie flüsterte: „Nein, nein, man würde sie vergiften, wenn man wüßte, daß sie für mich sei! Ich teile lieber die Tasse Ihrer Heiligkeit.“ Damit tauchte sie wieder ihre Finger in dieselbe und fuhr damit fort, bis sie leer war. Der Papst ließ nun den Kardinal Antonelli rufen. Auch Dr. Seneleder war bald zur Stelle. Beide machten vergebliche Versuche, die Kranke zum Verlassen des Vatikans zu bewegen, denn diese beharrte darauf, zu bleiben, da draußen Mörder auf sie lauerten. Sie brachte den ganzen Tag in der Bibliothek des Papstes mit dem Ansehen von Miniaturen zu und bestand darauf, samt ihrem Gefolge auch die Nacht hier zu bleiben. Um die Kranke nicht zu reizen, gab Pio Nono sogar diesem unglaublichen Wunsch nach und ließ zwei prächtige Betten für Charlotte und ihre Begleiterin in die Bibliothek stellen.
Mit Aufbietung aller Diplomatie gelang es am folgenden Morgen, die Kaiserin dazu zu bewegen, ein nahegelegenes Nonnenkloster, das zugleich ein großes Erziehungshaus war, zu besuchen. Sie nahm zwischen zwei Nonnen im Wagen Platz, welche sie allen Blicken verbergen mußten, und breitete ihr Taschentuch über ihr Gesicht. Im Kloster schien sie sich wieder so sicher zu fühlen wie im Vatikan. Ein Zufall führte jedoch einen neuen Anfall herbei. Die Oberin bot ihr in der Küche eine kleine Portion des eben gekochten Mittagessens an, damit sie die Kochkunst der Anstalt beurteilen könne. Da entdeckte Charlotte an dem Messer, das man ihr reichte, einen kleinen Fleck. „Siehst Du das Gift?“ flüsterte sie ihrer Hofdame zu. „Sie haben vergessen, das Messer abzuwischen. Gott der Allmächtige,“ fuhr sie laut fort, „hat noch einmal Erbarmen mit seiner armen Magd gehabt. Gott sei gelobt! Denn wäre dieses Atom von Gift nicht auf dem Messer gewesen, so wäre der Plan meiner Feinde geglückt und würden Sie jetzt neben einer Leiche trauern!“ Dann kniete sie mitten in der Küche nieder und sprach ein stummes Gebet. Umsonst machte der Leibarzt sie darauf aufmerksam, daß jener Flecken einfach von Rost herrühre. Aber diese traurige Scene wurde von der folgenden noch überboten. Charlotte tauchte ihren Arm bis zum Ellbogen in einen kochenden Kessel, zog ein Stück Fleisch heraus und begann daran zu nagen. „Ich war so hungrig und dies Stück können sie nicht vergiftet haben,“ sagte sie dabei zu der entsetzten Oberin. Erst nach und nach schien sie die Brandwunden ihres Arms zu fühlen, und als der Leibarzt sie zu verbinden anfing, fiel sie in Ohnmacht. – Das war noch das beste, was geschehen konnte, denn nun ließ sie sich ohne Mühe in den Wagen bringen, der sie in ihr Hotel zurückführen sollte. Aber schon unterwegs erwachte sie, blickte zum Fenster hinaus, erkannte die Piazza di Spagna, die nicht auf dem Wege zum Vatikan lag, und verfiel in furchtbare Wut, so daß Dr. Seneleder und Frau del Barrio sie gewaltsam festhalten mußten. Die Kranke wehrte sich trotz ihres verwundeten Armes mit einer solchen Löwenstärke, daß sechs Personen die allergrößte Mühe hatten, sie nach der Ankunft vor dem Hotel aus dem Wagen und in ihre Gemächer zu bringen. Sie sah nun in allen, die sie umgaben, nur noch Mörder und Giftmischer, schrie und tobte und das Ende war, daß man der Unglücklichen die Zwangsjacke anziehen mußte. Ihr Schwager, Erzherzog Karl Ludwig, erschien zuerst von den Verwandten, die Graf Bombelles herbeitelegraphierte, und führte Charlotte nach Miramar. Dort trat nochmals eine Besserung ein. Charlotte, die noch immer an ihrem Kaisertraum festhielt, empfing hier ihren vierzehnjährigen Adoptivsohn, den Prinzen Itúrbide, den sie in Europa erziehen ließ, und gab ihm zu Ehren ein Galadiner.
Es war ihr letzter Akt als Kaiserin, bald trat völlige Umnachtung ein und führte zu ihrer Internierung in zwei belgischen Schlössern, zuerst Laeken und dann Bouchoute. Der Kaisertraum ist ihr aber auch hier geblieben. Sie sieht ihr einfaches Kleid und die sie umgebende Einsamkeit nicht, sie glaubt sich in glänzender Toilette, von einer großen Hofgesellschaft umgeben. Hat sie je den tragischen Tod ihres Gatten erfahren, der sich am 19. Juni 1867 in Queretaro mit mutiger Entschlossenheit den Kugeln der Republikaner preisgab? Man muß leider annehmen, daß ihr der Wahnsinn nicht einmal den Dienst geleistet hat, ihr dieses Ereignis zu verbergen. Wenigstens besitzt Hidalgo, einer ihrer treuesten mexikanischen Anhänger, einen Brief von ihr aus dem Jahre 1868, den sie in einem lichten Augenblick geschrieben zu haben scheint und worin sie von „dem edlen und heldenhaften Tode des Kaisers, einzig durch seine Selbstverleugnung wie durch die Größe des Opfers und den Geist, in dem es gebracht wurde,“ spricht. Auch hier nennt sie Max den Kaiser, auch hier hält sie noch am feierlichen Tone der Herrscherin fest.
So fiel der hervorragende Geist der hochbegabten Fürstentochter den Enttäuschungen und dem Verrat zum Opfer. Das Schicksal hat sich beeilt, sie dafür zu rächen. Der Sturz des französischen Kaiserreichs folgte dem des mexikanischen auf dem Fuße und wurde zum Teil durch jenen veranlaßt. Napoleon starb in der Verbannung, Eugenie erlebte den tragischen Tod ihres einzigen Sohnes im Zululande und Marschall Bazaine wurde wegen Landesverrats verurteilt und starb nach seiner Flucht aus der Festung Sainte-Marguerite in armseligen Verhältnissen zu Madrid. Verglichen mit ihnen ist Charlotte, die unter der besorgten Obhut ihrer Schwägerin, der Königin von Belgien, im Schlosse Bouchoute ihre Tage in stumpfer Bewußtlosigkeit verbringt, beinahe noch glücklich zu nennen.
Vielliebchen.
Ueber dem altfränkischen Hausgarten lag die Septembersonne. Ein sechzehnjähriger Knabe, das kluge hübsche Gesicht leuchtend vor Uebermut und quellender Jugendlust, schritt nach der Geißblattlaube, wo ein schlankes, wunderschönes zwanzigjähriges Mädchen auf der hellgrün gestrichenen Bank saß und ein Buch in der Hand hielt.
„Störe ich?“ fragte er eintretend.
Die junge Dame sah auf. „Ach, Du bist’s, Feodor?“
„Ja, ich, Tante Marie! Erwartest Du sonst wen?“
„Das nicht,“ versetzte Marie Sanders. „Aber ich dachte, Du hättest noch Schularbeiten …“
„Das eilt nicht, Tante. Erst kommt das Wichtigere. Ich lauere nämlich seit ein paar Tagen schon auf eine gute Gelegenheit, Dich einmal ganz unter vier Augen zu sprechen.“
„So? Das klingt ja beinahe feierlich.“
„Es ist auch feierlich. Aber dabei auch ein bißchen komisch. Vielleicht lachst Du mich aus.“
[13]
[14] „Du machst mich neugierig. Setz’ Dich da einmal her und sprich frei von der Leber weg!“
„Tante, ich muß Dir etwas Merkwürdiges mitteilen. Unser Professor ist sterblich in Dich verliebt.“
Das schöne blonde Mädchen errötete. „Unsinn! Wie kommst Du darauf?“
„O, das ahnt mir schon seit geraumer Zeit. Neulich jedoch ist mir die Sache zur vollen Gewißheit geworden. Und, bei Lichte besehen, ist es ja doch wohl gerade kein Wunder. Ich bin zwar der Sohn deiner Schwester, aber ich muß Dir trotzdem das ehrliche Kompliment machen: Du bist das reizendste, liebenswürdigste Mädchen, das ich mir denken kann.“
„Herr Gott, Junge, was schwatzest Du da alles zusammen? Wie alt bist Du jetzt?“
„Im April werde ich siebzehn. Da hab’ ich wohl schon ein Urteil über dergleichen. Also Professor Lotichius liebt Dich zum Närrischwerden. Du in deiner Naivetät merkst das natürlich nicht. Ich aber habe ihm tief in das Herz geblickt. Selbstverständlich, ohne daß er es weiß. Er in seiner Mutlosigkeit möchte das ja geheimhalten. Große Gelehrte sind auf diesem Gebiet oft wie die Kinder. Und er ist doch einmal ein Archäologe ersten Ranges, trotz seiner achtundzwanzig Jahre. Das sagte erst heute noch unser Klassenführer …“
„Ich bitte Dich, Feodor …“
„Thu’ nur nicht gleich, als ob Du mich fressen wolltest! Ich bin ein Gemütsmensch. Ich halt’ es für meine Pflicht, da den Mund aufzuthun, wo nur ein thörichter Mangel an Selbstvertrauen das Glück zweier Menschen bedroht. Lotichius in seiner blöden Bescheidenheit bildet sich ja natürlich ein, Marie Sanders, die Vielumworbene, wie Homer sagen würde, die allgefeierte blonde Schönheit, sei hundertmal zu schade für ihn.“
„O!“ fuhr Marie heraus.
„Ich weiß,“ lächelte Feodor altklug, „Du teilst diese Anschauung nicht. Würde ich denn dies Thema berührt haben, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß meine schöne Tante im stillen ebenso heiß für den Professor schwärmt wie er für sie?“
„Nun hört aber alles auf! Wenn Du Dich je unterstehst …“
„Ich wiederhole Dir, blondrosiges Tantchen: Du brauchst gar nicht so wild zu werden! Selbstverständlich bleibt das alles ganz unter uns. Diskretion Ehrensache! Aber die Wahrheit läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Meinst Du, ich wüßte nicht, daß Du vorhin geglaubt hast, es wäre Professor Lotichius, der auf die Laube zuschritt? Tantchen, Tantchen! Du hast ja keinen andern Gedanken mehr!“
„Junge, Du machst mir ordentlich Angst!“
„Nicht wahr? Der geborene Menschenkenner! Der zukünftige Jurist, wie er im Buche steht! Aber damit Du auch siehst, wie ich bei Lotichius zu Werke gegangen bin, um gravierende Indizien zu sammeln, und damit Du befähigt wirst, Dir selber ein Urteil zu bilden, höre mir nur einen Augenblick zu! Willst Du?“
„Was kann ich machen? Du überrumpelst mich ja …“
„Item, es war am verflossenen Montag, als ich mit unserm Professor den Gang in den Haßwald machte. Na, da hab’ ich denn also expreß von Dir angefangen. Ich habe ihm vorgeschwärmt, Du kannst Dir nicht vorstellen wie – und dein Loblied geblasen in allen Tonarten. Da hättest Du sehen sollen, wie das unwiderstehlich auf ihn einwirkte! Er ahnte ja nicht, daß mein fanatischer Hymnus Absicht war. Zunächst hat er in allen, selbst in den übertriebensten Punkten mir zugestimmt; und zwar so eigentümlich bewegt, daß man schon ganz hätte vernagelt sein müssen, um nicht das leidenschaftlich pochende Herz deutlich herauszuhören. Ich bitte Dich, laß mich nur ausreden! Du denkst wieder, ich hätte Dich kompromittiert? Ganz und gar nicht! Ich stellte das alles so hin, als fühlte ich selber den Drang, meiner Begeisterung für Dich einmal gründlich Luft zu schaffen, als sei ich selber ein wenig in Dich verknallt, wie das ja auch wirklich der Fall ist. Bei Gott, süßes Tantchen, wäre ich zehn Jahre älter, ich wüßte mir was Gescheiteres, als einem andern so voll Inbrunst das Wort zu reden …“
Er schlang ihr heftig den Arm um den Hals und drückte ihr einen sehr unerwarteten stürmischen Kuß auf die Wange.
„Du bist heute rein des Teufels!“ wehrte das junge Mädchen.
„Durchaus nicht. Als Neffe hab’ ich das Recht, meine Tante zu küssen. Kann ich dafür, daß Du erst einundzwanzig zählst? Aber nun hör’ mich weiter! Nachdem der Professor mir so warmherzig beigestimmt hatte, fügte er noch aus eigenem Vorrat ein paar Sätze hinzu, die ich Dir eigentlich in Goldlettern auf feinstem Velinpapier überreichen sollte. Er sagte zum Beispiel: ‚Fräulein Marie ist in der That ein liebenswürdiges, reichbegabtes Geschöpf und vom edelsten Streben erfüllt.‘ Siehst Du, das kommt davon, daß Du soviel Interesse für seine altgriechischen Götter bekundet hast! Dir liegt ja natürlich weit weniger an diesen Göttern als an ihm selbst …“
„Erlaube einmal …“
„Sei nur ganz ruhig! Darin hab’ ich ein sehr unbefangenes Urteil. Und ich will Dir noch etwas sagen. Die auffallende Freundschaft des Professors für mich wurzelt eigentlich nur in der Thatsache, daß er bemerkt hat, wie gut wir zwei, Du und ich, miteinander stehen …“
„Da thust Du ihm unrecht. Das wäre ja schnöde Berechnung.“
„Nein, das ist unbewußt. Neulich las ich im Molière, daß ein Verliebter sogar Sympathie für den Hund seiner Flamme empfindet. Da ich als Neffe doch um etliche Stufen höher stehe …“
Marie mußte trotz ihrer Aufregung lachen. Dann sagte sie ernsthaft: „Ich fürchte, Du bist doch unvorsichtig gewesen. Es war nicht recht, Feodor …“
„Weshalb nicht? Ich wollte mir doch Gewißheit verschaffen. Ich bin ein Gemütsmensch; ich kann zwei liebende Herzen nicht so trostlos verschmachten sehen. Und, wie gesagt: alles mit diplomatischer Feinheit! Am Schluß hab’ ich denn recht heimtückisch vor mich hingemurmelt: ‚Ja, ja, der Mann, der Tante Marie ’mal heiratet, wird’s gut bekommen.‘ Da ist er ganz blaß geworden – ich sage Dir, blaß wie hier deine Batistbluse – und hat beinahe kläglich durch die zuckenden Lippen gehaucht: ‚Unzweifelhaft!‘ Hiernach lenkte er mit aller Gewalt das Gespräch auf ein anderes Thema. Aber die Blässe seines guten, treuen Gesichts und der klägliche Ton seiner Stimme hat eine Weile noch vorgehalten. Ich merkte sehr wohl: er hatte im Geist einen blendenden Kavalier erblickt, der Dich glückstrahlend zum Altar führte. Etwa den Rittmeister Scholl. Kurz, die Sache ist klar und der Indizienbeweis vollständig erbracht. Die Geschworenenbank erklärt Herrn Professor Lotichius der leidenschaftlichsten Liebe zu Fräulein Marie Sanders einstimmig für schuldig.“
Marie holte tief Atem. „Ja, mein Gott,“ sagte sie stirnrunzelnd, „ich verstehe noch immer nicht recht, was Du denn eigentlich willst.“
„Nicht? Bist Du schwer von Begriff! Als zukünftiger Rechtsanwalt möchte ich jetzt schon den achtungswerten Beruf üben, das Verworrene zu schlichten und alles recht hübsch ins Gleiche zu bringen. Ich sehe doch, wie meine Worte Dein zwanzigjähriges Herz aufgewühlt haben. Und da Du nun gar keinen besseren, lieberen, edleren Mann kriegen kannst als den Professor, so will ich durch meinen verwandtschaftlichen Rat darauf hinwirken, daß Du ihm Deine Liebe ein wenig zeigst und seinem schwachen Mut auf die Beine hilfst.“
Marie blickte zu Boden.
„Ich weiß nicht, wie ich mir vorkomme,“ sprach sie in banger Verlegenheit. „Du halbwüchsiger Junge mischest Dich da in Dinge, die doch meilenweit über Deinen Gesichtskreis hinausgehen. Warum bleibst Du nicht bei Deinem Sophokles …?“
„Auch im Sophokles kommt ’was von Liebe vor. Und ich kann ja doch nun einmal nichts dafür, daß mein Herz für Euch beide in so bewundernder Sympathie und Freundschaft entbrannt ist. Es lebt was in mir, das mir unausgesetzt zuruft: ‚Ebne den Zweien den Weg!‘ Und sag’ mal selbst: der Professor als Onkel – wäre das nicht eine großartig schöne Errungenschaft für die Familie? Lotichius steht bereits im Konversations-Lexikon.“
Marie zog plötzlich ihr Taschentuch und fing an zu weinen.
„Was hast Du nur, Tantchen?“
„Ich schäme mich, daß ich so etwas von Dir anhören muß.“
„Ach, das glaube ich nicht! Du weinst nur vor Glückseligkeit, weil ich Dir eine so frohe Botschaft gebracht habe.“
„Feodor,“ hub sie nach einer Weile an und ergriff, seine Hand, „Du bist wirklich älter als Deine Jahre – und leider besitze ich nicht das Talent, zu heucheln. Wenn Du’s denn weißt – gut! Ich gebe Dir’s zu: Professor Lotichius ist mir nicht gleichgültig. Aber noch weniger gleichgültig ist mir mein Ruf und mein weiblicher Stolz. Du giebst mir Dein Ehrenwort, daß Du von dem, was ich jetzt eben gesagt habe, nie das Geringste verlauten läßt! [15] Das sähe doch aus … Wahrhaftig, der Gedanke wäre mir furchtbar. Also die Hand darauf, daß Du mich nie wieder bei dem Professor erwähnst, geschweige denn gar von dem redest, was Du so aus mir herausgefragt hast. Versprich mir das, oder, bei Gott, es geschieht ein Unglück!“
Feodor blickte ihr staunend in das erregte Antlitz.
„Gut,“ sagte er zögernd. „Wenn Du’s denn absolut haben willst. Aber im Grunde seh’ ich nicht ein …“
„Dein Ehrenwort!“
„Ja, ja, mein Ehrenwort! Du hast es in aller Form! Aber Du wirst mir gestatten, daß ich zu Deiner Forderung nachträglich eine Bemerkung mache. Ich sehe nämlich durchaus nicht ein, in wie weit es Dich kompromittieren könnte, wenn er’s erführe, daß Du ihn lieb hast. Sieh’ mal, er ist in gewisser Beziehung ein Unikum. Er bildet sich ein, daß er der unscheinbarste, häßlichste Mensch unter der Sonne ist …“
„Das ist ja unmöglich!“
„Doch. Es ist so! Und das macht ihn so über die Maßen schüchtern, so ungewandt – wie soll ich nur sagen? Ich wette, Lotichius hat in Herzensangelegenheiten nicht einmal die Erfahrungen eines Primaners. Jedenfalls hält er es für undenkbar, daß ein Geschöpf wie Du, so schön, so gefeiert, so vornehm, sich auch nur im entferntesten für seine Persönlichkeit interessieren könne. Vielleicht ein wenig für seine Forschungen, aber doch niemals für ihn selbst. Da fände ich es nun ganz in der Ordnung, wenn man ihm diese Thatsache, die er nicht zu erhoffen wagt, irgendwie zu Gemüt führte. Neulich hab’ ich erst noch gelesen, wie der berühmte italienische Dichter Anselmo Colombi zu seiner Frau kam …“
„Wie denn?“
„Nun, der war auch so ein schüchterner Herr. Monatelang hat er geschmachtet, und jedesmal, wenn die Gelegenheit da war, an seine Flamme das entscheidende Wort zu richten, war er wie auf den Mund geschlagen. Bis dann endlich einmal das kluge junge Mädchen, das später Frau Dichterin werden sollte, ihm bei einem solchen Tete-a-tete mütterlich sanft in die Augen sah und ihn fragte: ‚Nicht wahr, Herr Doktor, Sie möchten mich heiraten?‘ Und Anselmo Colombi sank der freimütigen Jungfrau mit einem aufjauchzenden Ja in die Arme. Siehst Du, aus dieser später sehr glücklichen Ehe wäre nie ’was geworden, wenn sich das junge Mädchen auf den Standpunkt gestellt hätte: es ist unweiblich, in solchen Dingen die Initiative zu ergreifen. Es handelt sich ja gar nicht um die Initiative – denn die hat er ja längst innerlich selbst ergriffen – sondern nur um das erlösende Wort. Na, Du weißt nun, wie Du daran bist! Leb’ wohl und überlege Dir, was Du zu thun hast! Ich denk’ nicht daran, gegen Deine Erlaubnis Schritte zu thun. Aber wenn Du zur Einsicht gelangst, daß die Vermittlung eines geistvollen Jünglings ihre Vorzüge hat, dann, liebes Tantchen, steh’ ich Dir jederzeit zur Verfügung.“ Er lachte, strich ihr zärtlich über das blonde Haar und trat in den Garten hinaus, wo rechts und links unter den halb gefärbten Bäumen die Astern und Georginen leuchteten. Dann verschwand er im Hause.
Marie Sanders blieb nachdenklich bei ihrem Buche zurück. Sie konnte nicht weiter lesen. Ja, sie liebte den ernsten, klugen, dabei so weichen und gütigen Mann mit der ganzen Unwiderstehlichkeit einer ersten Leidenschaft. Und was Feodor ihr erzählt hatte, war in der That eine frohe Botschaft für sie; denn bis jetzt hatte sie immer noch heimlich daran gezweifelt, daß ihre Liebe erwidert sei. Die neue glückverheißende Lage flößte ihr aber zugleich eine wühlende Unruhe ein. Sie fühlte, daß Feodor den Professor nur zu richtig beurteilte. Dieser scheue, zaghafte Mann würde ohne Aufmunterung die entscheidende Frage niemals über die Lippen bringen. Diese Aufmunterung jedoch, gleichviel in welcher Form, widerstrebte ihr. Die Anekdote von dem Dichter Colombi klang in ihr nach. Sie rief sich jedes Wort Feodors ins Gedächtnis zurück. Nein! Bei aller Glut ihres Herzens würde sie doch niemals imstande sein, ihr weibliches Zartgefühl so sehr zu vergessen. Das war völlig undenkbar.
Die Eltern Feodors, der Justizrat Merck und seine Frau Karoline, gaben zur Feier der zwanzigsten Wiederkehr ihres Vermählungstages ein kleines Familienfest. Außer den nächsten Verwandten hatte man auch ein paar gute Freunde geladen: vor allem Professor Lotichius und den Rittmeister Scholl, der unbedingt für den glänzendsten Offizier der Glaustädter Garnison galt. Feodor, der mit seiner noch jugendlichen Mama auf einem fast kameradschaftlichen Fuße stand, hatte sich die Vergünstigung ausgewirkt, bei der Tafelordnung ein Wort mitzureden. Die Folge war natürlich ein Arrangement, das den Professor Lotichius zum Tischherrn der blonden Marie Sanders machte. Die andere Seite des liebenswürdigen jungen Mädchens mußte man allerdings zum Leidwesen Feodors dem Rittmeister Scholl gönnen. Feodor hatte ursprünglich die Absicht gehabt, diesen schneidigen Kavalier möglichst am entgegengesetzten Ende der Tafel kalt zu stellen. Aber er fügte sich, da ihn die Mutter belehrte, es sei geradezu unartig, wenn man die offenkundigen Sympathien der Gäste so wenig berücksichtige.
Bei nochmaliger Ueberlegung fand er die Anordnung auch gar nicht so zweckwidrig. Wenn der Professor sah, wie eifrig der Rittmeister bei seinen Huldigungen ins Zeug ging, so übte das doch vielleicht einen günstigen Einfluß auf seine Zaghaftigkeit aus. Die Eifersucht war ja ein mächtiger Hebel.
Das kleine Diner verlief zur allgemeinsten Befriedigung. Küche und Keller boten Vorzügliches. Ein jovialer Onkel des Hausherrn brachte den Toast auf das glückliche Paar aus, rühmte das traute Familienleben, dessen die Mercks nun seit zwanzig Jahren sich ohne Trübung erfreuten, warf ein paar liebenswürdige Streiflichter auf die zwei hoffnungsvollen Kinder des Hauses, Feodor und die fünfzehnjährige Frieda, und wob zuletzt auch die reizende junge Schwester der Hausfrau mit vielerlei blumigen Schmeicheleien in das Gespinst seiner Rede. Allem Liebenswürdigen, was dieser Tante galt, pflichtete Feodor, der ihr schräg gegenüber saß, durch lebhaftes Kopfnicken bei, nicht ohne im stillen den guten Professor Lotichius mit hoffender Aufmerksamkeit zu beobachten. Der junge Gelehrte aber hielt seinen Blick starr auf den Teller gerichtet, preßte die Lippen fest aufeinander und spielte mit unsicherem Finger am Stengel seines Champagnerglases.
Stürmische Hochrufe unterbrachen diese Versunkenheit. Flüchtig errötend stieß Professor Lotichius mit seiner blonden Nachbarin an. Er brachte kein Wort über die Lippen, sondern wandte sich gleich zu den übrigen, vorab zu dem Jubelpaar. Der Rittmeister dagegen drehte sich mit einem vielsagenden Lächeln seinen mächtigen Schnurrbart und flüsterte seiner lieblichen Nachbarin schmeichlerisch zu:
„Mir ganz aus der Seele gesprochen – besonders was er da über Sie bemerkt hat! Famoser Herr, dieser Onkel! Ich gestatte mir, gnädiges Fräulein …“ Er leerte das Glas bis auf den letzten Tropfen und seine tiefschwarzen Augen schleuderten einen flammenden Blitz in die ihrigen.
Feodor sah zu seiner tiefsten Betrübnis, daß die Angelegenheit seines lieben Professors nicht den geringsten Fortgang nahm. Und wenn er die beiden Herren da rechts und links von Tante Marie vorurteilslos miteinander verglich, so gab es für ihn doch gar keinen Zweifel, wem von den Zweien der Kranz gebühre. Professor Lotichius war nicht nur ein genialisch veranlagter Mensch, sondern auch eine stattliche Männererscheinung; wohl gewachsen und von gewinnenden Zügen. Nur der Mangel an Selbstvertrauen, die trübe Scheu einer weltfremden Natur und dann auch eine gewisse Traumhaftigkeit und Zerstreutheit lieh ihm etwas vom Sonderling. Der Rittmeister dagegen war nur ein flotter, vielerfahrener Courmacher, ein liebenswürdiger Schwadroneur, aber im Grund seines Wesens hohl und ohne andere Interessen als die seines Dienstes und seines Amüsements. Wenn dem Professor erst einmal diese holde Marie als Lebensgefährtin zur Seite stand, würde sich alles, was ihn jetzt vielleicht in den Augen gewisser Leute beeinträchtigte, völlig verlieren; der wahre Kern seines Wesens würde siegreich zum Durchbruch gelangen. Der Rittmeister dagegen war und blieb ein gefälliger Durchschnittsmensch, der zu einem so tiefen, wundervollen Geschöpf wie Marie durchaus nicht paßte.
Feodor wunderte sich, daß er jetzt überhaupt solche Betrachtungen anstellte. Marie war ja doch ganz seiner Ansicht. Sie hatte ihm ja ihre Neigung zu dem Professor eingeräumt. Und streng genommen lieferte auch die Art, wie sie mit beiden Herren verkehrte, den Beweis für diese Neigung. Wenn sie mit dem Professor sprach, schien sie ganz eigentümlich befangen, während sie mit dem Rittmeister ohne Rückhalt scherzte und lachte und seine unbedeutendsten Späße mit augenscheinlicher Dankbarkeit aufnahm.
Freilich konnte ja diese Dankbarkeit von Professor Lotichius mißdeutet werden … Die Möglichkeit eines derartigen Irrtums [16] ärgerte den frühreifen Menschenkenner über die Maßen. Und der Professor ward immer schweigsamer. Feodor Merck beschloß daher, in diesen Herzensroman seines Freundes Lotichius fördernd einzugreifen, sobald sich ihm irgendwie die Gelegenheit böte.
Man war beim Dessert. Als er sich eine Handvoll Knackmandeln aus der silbernen Schale nahm, verfiel er sofort auf den Gedanken, Fräulein Marie Sanders müsse mit dem Professor ein Vielliebchen essen. Wenn Professor Lotichius in die Lage versetzt wurde, dem Gegenstand seiner Liebe etwas zu schenken, so begründete das doch immerhin einen Zusammenhang, der bei kluger Berechnung ausgenutzt werden konnte. Noch besser war es, wenn der Professor gewann. Marie mußte ihm dann etwas arbeiten, etwas recht Sinniges, Hübsches, Bedeutungsvolles, und Feodor wollte dann schon dafür Sorge tragen, daß diese Gabe möglichst erkennbar die Gesinnungen der Geberin aussprach. Da lag ja der Punkt, auf den’s hier vor allem ankam. Er mußte unzweideutig erfahren, was in der Seele Mariens vorging....
Feodor schmunzelte stillvergnügt vor sich hin. Beim Aufknacken der dritten Mandel fand er schon, was er suchte. Er legte die beiden Kerne auf einen Teller und reichte sie über den Tisch mit den Worten: „Für Dich, Tantchen, und den Herrn Professor als Deinen Tischherrn! Willst Du?“
„Ah, ein Vielliebchen!“ lachte der Rittmeister selbstbewußt und zwirbelte seine Schnurrbartspitze. „Die alte, fromme Sitte ist noch nicht ausgestorben!“
„Wenn es dem Herrn Professor recht ist …,“ sagte Marie, etwas verlegen. Sie glaubte, es würde auffallen, wenn sie nicht harmlos auf die Idee Feodors einginge.
„Selbstverständlich,“ meinte Lotichius errötend. „Ich muß nur zu meiner Schande gestehen, daß ich auf diesem Gebiet wenig Erfahrung habe.“
„Sehr einfach.“ Marie setzte ihm nun die üblichen Bedingungen kurz auseinander. Er nickte. Und dann vollzog man die Ceremonie mit einer gewissen ans Komische grenzenden Feierlichkeit.
„Absichtliches Verlieren ist ausgeschlossen,“ fügte Feodor in seiner Rolle als Unparteiischer eifrig hinzu. „Nicht wahr, Tante?“
„Natürlich. Sonst wäre ja gar kein Witz bei der Sache.“
„Also aufgepaßt, Herr Professor!“ mahnte der Rittmeister.
„Keine Sorge! Ich werde schon acht geben!“
Und wirklich schien Professor Lotichius von diesem Moment ab all’ seine Gedanken auf den Sieg in dieser scherzhaften Fehde zu richten. Er ward noch schweigsamer als zuvor; nur die Worte „Ich denke dran“ klangen etliche Male von seinen seltsam gekräuselten Lippen.
Kurz vor dem Aufstehen wollte der Zufall, daß Mariens Serviette von ihrem Schoße herab unter den Tisch glitt. Lotichius, voll arger List, bückte sich, hob sie auf und überreichte sie der nichtsahnenden Nachbarin mit einer artigen Handbewegung. Marie war von dieser Aufmerksamkeit des sonst nicht übermäßig galanten Professors derart verblüfft, daß sie die Anwendung des Schutzwortes vergaß und erst durch das triumphierende „Guten Morgen, Vielliebchen!“, das Lotichius ihr zurief, an die Lage der Dinge erinnert ward.
„Bravo!“ rief der übermütige Sohn des Hauses. Marie Sanders aber ward purpurrot, denn sie befürchtete, daß man trotz ihres vorhin so deutlich ausgesprochenen Grundsatzes dies rasche Verlieren für Absicht halten möchte. Sie stammelte ein paar Worte, die ihren Mangel an Aufmerksamkeit entschuldigen sollten, brach aber dann rasch ab.
Den Rest des Tages über war der Professor merkwürdig aufgeräumt. Besonders liebenswürdig und lebhaft unterhielt er sich mit seinem jungen Freunde Feodor, dem er von seiner griechischen Reise erzählte und auch sonst manche vertrauliche Mitteilung machte. In seiner Anspruchslosigkeit freute er sich seines Vielliebchen-Sieges wie eines großen Erfolges. Der Gedanke, Marie Sanders je zu besitzen, lag ihm dabei ferner als je, zumal er fest davon überzeugt war, dieser glänzende Rittmeister Scholl habe die ernsthaftesten Absichten. Mit einem solchen Rivalen aber es aufnehmen zu wollen, wäre ja doch der barste Wahnsinn gewesen. Im Grund seines Herzens hatte Lotichius dauernd entsagt. Für ihn war es Glück genug, wenn er ein kleines Andenken von ihr mit hinüber nach Bonn rettete. Er stand nämlich mit der dortigen Hochschule in Unterhandlung. Bis jetzt hatte er noch gezögert. Nun aber war es beschlossen: er würde den Ruf annehmen. Dieser Entschluß war es, der ihm eine gewisse Klarheit und Festigkeit lieh und ihn fast heiter erscheinen ließ.
Nach dem Kaffee begab sich die ganze Gesellschaft in den Hausgarten. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Ueber den Bäumen, Sträuchern und Blumenbeeten lag die wehmütige Poesie des scheidenden Sommers. Feodor wußte es einzurichten, daß der Professor sich plötzlich mit Fräulein Marie allein in der Laube sah. Es entspann sich ein kurzes Gespräch. Lotichius teilte ihr mit, daß er wohl spätestens Anfang November abreisen werde. Er gehe nach Bonn, wo sich ein größerer Wirkungskreis ihm erschließe als hier in Glaustädt. Als sie nicht antwortete, fügte er halblaut hinzu:
„Ja, Fräulein Sanders! Ich verbessere mich ganz augenscheinlich. Auch hoffe ich dort gewisse Aufregungen und thörichte Träumereien leichter vergessen zu können als hier. Nicht jedem ist es auf Erden vergönnt, seine goldnen Phantasmen in Wirklichkeit umzusetzen, – – wie etwa bevorzugte Persönlichkeiten nach Art des Rittmeisters Scholl. …“
Er schwieg, selber erstaunt über die tollkühne Anspielung, die er sich niemals im Leben zugetraut hätte. Mariens Herz pochte. Aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, trat der so befremdlich erwähnte Rittmeister Scholl dazwischen und überreichte ihr mit blendender Ritterlichkeit „die letzte Rose“ – „the last rose of summer“ –, die er soeben im großen La-France-Beet für sie gepflückt hatte.
(Schluß folgt.)
Havelschilf.
Wie Saphire und Türkise, an schwarzer Schnur aufgereiht, blitzen hier und da die Havelfluten durchs Kieferngehölz; nun treten wir aus dem sommerlich duftenden Hag heraus, und der prachtvolle Strom, dem dieses Gebiet der Mark ihren reizvollsten Zauber, ja vielleicht überhaupt all ihre Schönheit verdankt, liegt im Glanze der jungen Morgensonne vor uns. Von der bewaldeten Höhe lustwandelt das Auge über die mächtigen, sprühenden Wassermassen, über wogende Baummeere und die roten Ziegeldächer der Dörfer hinweg nach Norden und Süden; vom jenseitigen Ufer her winken eigenartig gebaute Gotteshäuser, fern im Westen steigen Türme und Kuppeln, steigt eine Stadt weißleuchtend aus dem glitzernden Gerinne. Es ist sehr still, und nur zuweilen, wenn ein vollbesetzter Dampfer prustend vorüberzieht, wühlt er die ruhenden Wasser auf und läßt sie in kleinen Wellen ans Gestade klatschen. Dann geht ein heftiges Zittern durchs Röhricht, das die flachen Ufer breit umsäumt, geheimnisvolles Rauschen erwacht und schwillt machtvoll an, weckt den schlafenden Wind, der in den schwarzgrünen Kronen des Nadelwaldes seine Fugen orgelt. Mag im Wandel der Jahrtausende, die die Welt entgöttert und aus dem Schlupfwinkel des dreiköpfigen Triglav ein Lieblingsziel hauptstädtischer Sonntagsausflügler gemacht haben, mag hier im Wandel der Jahrtausende durch Menschenhand und Elementarmacht auch alles in seinen Fundamenten geändert worden sein – diese Musik ist doch dieselbe geblieben. Das grüne Schilf dort unten sang die gleiche Melodie, als Sleipnirs Hufe vor dem weißen Rosse Radigasts weichen mußten und das tapfere, gastfreie Wendenvolk seinen Einzug in diese Sumpflande hielt; es brauste und jubelte, als Mistewoi, der schmählich Betrogene und Beschimpfte, von neuem alle Kapellen des Christengottes in Trümmer legte, und es seufzt und weint heute noch wie in jener Zeit, da man den letzten, schweren Kampf gegen deutsche Uebermacht kämpfte und Jaczo, bei Groß-Glienicke geschlagen, auf erhitztem, abgetriebenem Rosse die Havelflut durchschwamm, um sich vor seinen Verfolgern zu retten. Nichts blieb, wie die Vorzeit es sah; der Fluß mußte sich eindämmen und „regulieren“ lassen, die endlosen Waldungen fielen der Axt und kamen unter die Obhut des königlichen Forstärars, die Inseln und die Niederungen selbst wechselten völlig ihr Gesicht. Und nur das
[17][18] Schilf treibt Jahr um Jahr Halme und Rispen wie vordem, der Geist altmärkischer Geschichte lebt allein in seinem Wogen und Singen.
Die Havel, zu Beginn ihres Laufes und auch noch in brandenburgischen Gauen ein bescheidenes Rinnsal, das zwar schon frühzeitig Schiffe und Flöße trägt, es aber zu keiner ausschlaggebenden Stellung im Landschaftsbilde zu bringen vermag, wälzt sich unterhalb Spandaus bereits in einer Breite von 80, selbst 90 Metern durchs Gefild und nimmt weiterhin an Umfang dermaßen zu, daß sie es bis auf 310 Meter Breite bringt. In allen Dingen ein echter Tiefland- und Niederungenfluß, vergeudet sie außerdem ihren Wasserreichtum an der Bildung zahlreicher, zum Teil sehr ausgedehnter Seen, und so ist es nicht zu verwundern, daß ihre Ufer an Flachheit von keinem anderen deutschen Strome übertroffen werden. Nirgendwo finden deshalb die ehrenwerten und bei allen Lyrikern so beliebten Pflanzengattungen der Phragmites und Arundo ein besseres Fortkommen, eine geeignetere Heimatstätte als bei ihr. Schilffelder begleiten breiten Ringes ihren behäbigen Gang durch die sandige Mark, und wo selbst Wälder und Gehöfte von ihr zurücktreten, da verleiht noch das grüne, lebendige Gewoge des Rohres dem Flusse ein freundliches und schmuckes Aussehen. Sommerlang dient es, hoch aufgeschossen, immer bewegt und immer plaudernd, vor allem Malern und Dichtern als erwünschtestes Motiv; das Sumpfgetier vermehrt sich reißend in seinen Dschungeln, und die märkischen Bengel dürfen sich, wenn schon in keiner anderen Hinsicht, so doch wenigstens darin einer Bevorzugung seitens der Natur rühmen, daß ihnen zum Pfeifenschneiden reichere Gelegenheit als sonst jemandem geboten wird.
So verlebt das Schilf eine äußerst lustige und unterhaltsame Jugend, schiebt seine Vorposten immer weiter in Wasser und Wiese hinein und sproßt mit ungestümer Kraft, daß es vorbeigleitenden Booten die dahinter liegenden Ansiedlungen vollkommen verbirgt, den braunen Dorfmädchen aber selbst Sonntag nachmittags jede Möglichkeit nimmt, mit den Ruderern auch nur das allernothwendigste zu kokettieren. Ist demnach das Rohr den Menschen während der guten Jahreszeit keineswegs nützlich, sondern der jüngeren Generation sogar entschieden schädlich, so ändert es seinen Charakter überraschend, wenn die trüben Tage beginnen und die grüne Jugendfarbe einer gesetzten, graugelben Reife Platz macht. Nun kümmern sich auch die Anwohner, die sich des Besitzes einer „Flußgerechtigkeit“ erfreuen, eifrig um die fortschreitende Entwicklung ihrer Schilfplantagen, und sobald der Frost den Strom allenthalben überbrückt und gangbar [19] gemacht hat, beginnt die Ernte. – So heiteren Sinnes und mit so ruhelosem, fröhlichen Fleiß, wie ihn der Juli und der August auf dem golden schimmernden Aehrenfelde sehen, läßt es sich auf dem Eise, bei Ostwind und bedecktem Himmel, nicht arbeiten, aber die Einbringung des Schilfes gewährt doch gerade zur schlimmsten Zeit des Jahres vielen Bewohnern der Havelniederung lohnende Beschäftigung. Es ist ein ernstes, mühevolles Thun, und trotz der Kälte, trotz der nahen Berührung mit dem „Parkett des Königs Winter“ kostet’s manchen Schweißtropfen. Man erntet das wertvolle Rohr gewiß seit Urväterzeiten, und just die Früheren, die es beim Bau ihrer Katen und in den Ställen gar nicht entbehren konnten, waren darauf angewiesen wie aufs liebe Brot – indes nirgendwo haben sich freundliche und neckische Bräuche, mit denen das märkische Volk sonst all sein Thun und Schaffen so gern umhängt, bei dieser Arbeit herausgebildet. Werkzeug und Art der Einbringung sind geblieben wie sie immer waren, sie erinnern in fesselndster Weise daran, wie die alte, wendische Bevölkerung zu ernten pflegte. Was im Kornfelde selbst lange schon deutscher Gewohnheit weichen mußte, hat sich auf dem unfruchtbaren Eise als praktisch bewährt und erhalten. Kurz über der „Erde“ mit der Slavensichel abgeschnitten, wird das Schilf in breiten Garben dem Hofe zugefahren und zum vollständigen Austrocknen ausgelegt. Gemeinhin gehört die gesamte Ernte eines größeren Bezirks dem Fabrikanten, der sich mit ihrer Verarbeitung befaßt; hier und da teilen sich kleine Pächter in sie und versuchen, die Konjunktur in ihrer Weise auszunutzen. Obwohl absolut sichere Zahlen nicht gegeben werden können, sei doch bemerkt, daß die Rohausbeute in günstigen Jahren etliche hunderttausend Mark erreicht und den mit ihrer Einbringung Beschäftigten eine recht angenehme Zubuße zum sonstigen Erwerbe gewährt.
Ist das Schilf trocken und fest genug, um seiner endlichen Bestimmung entgegengeführt werden zu können, so gelangt es in ein Prokrustesbett, wo es von den Rispen und dem dünnen „Kopfe“ befreit wird. Der Abfall dient als Streu und gelangt auf nicht allzuweiten Umwegen zum Düngerhaufen; das eigentliche Produkt aber stellt sich nach der Sortierung als langes, vollkommen gleichmäßig starkes Rohr dar und kann ohne weiteres in fabrikmäßige Behandlung gelangen. Aus der freien Natur, wo es zum letztenmal die melancholischen Kiefern grüßt, mit denen es einen frohen Sommer über fleißig musizierte, aus den braunen Händen munterer Dorfdirnen kommt das Schilf in die staubige Webstube, in die geschickten Finger der Arbeiterinnen. Die Stühle verwandeln es hier in Matten und Decken von jeder gewünschten Länge; Phragmites hat seine letzte Form erhalten, und aus dem stolzen, freien Rohre, das wohl vier oder fünf Meter hoch aus dem plätschernden Wasser aufstieg, das um die Wette sang mit verliebten Fröschen und bunten Zwergvöglein, ist ein fühlloser, lebloser Sklave des Menschen geworden, der sich täglich ungezählte Fußtritte gefallen lassen muß. Im Lagerhause wartet das Havelkind den Ruf ab, der es endgültig seinem Geschicke überantwortet.
Ist das Schilf als Dachdeckmaterial einigermaßen aus der Mode gekommen, so findet es dafür beim Hausbau als Mauerrohr noch immer eifrige Verwendung. Den Decken und Wänden verleiht das an Wasseraufnahme gewöhnte Halt und Trockenheit, und während seine Halme das Gebäude tragen und erhalten helfen, prunken seine getrockneten, glänzenden Rispen in den Makartbouquets, die drinnen die Wohnung schmücken. Was die Sinne des Naturfreundes entzückt und nicht zuletzt das anmutige, eigenartige Bild märkischer Flur in seinem Gedächtnis festhält, das speist gleichzeitig mehrere, keineswegs unbedeutende Industrien, schafft fortdauernd Arbeit und Verdienst denen, die des Lebens Not nicht zum heiteren Genuß seiner reinsten Schönheiten und Freuden kommen läßt...
BLÄTTER UND BLÜTEN.
Wirtschaftliche Hochschulen für Mädchen. Es ist ein erfreuliches
Zeichen für die Gesundheit der deutschen Frauenbewegung, daß sie eine bessere
wirtschaftliche Vorbildung der Mehrzahl der Mädchen ebenso dringend verlangt
wie die Freigebung der Studien für die Minderzahl. Das weibliche
Geschlecht muß auf jedem Arbeitsfeld den Anforderungen unserer Zeit eine
gesteigerte Tüchtigkeit entgegenbringen. Denn auch der Hausfrauenberuf
ist heute durch Maschinenhilfe und technische Verbesserungen nur scheinbar
erleichtert, in Wirklichkeit erfordert er auch in der Stadt ein bedeutendes
Mehr an wirtschaftlicher Kopfarbeit, Einteilung und Verantwortung als
der der „guten alten Zeit“. Kartoffeln und Brennmaterial eben so sicher
auf Wert und Nutzen taxieren wie den Umgang der heranwachsenden
Kinder, Sinn und Verständnis für das geistige Leben der Zeit behalten
und zugleich allmorgendlich durch Aufsicht und Beispiel die hundert kleinen
Räder der Haushaltsmaschine in Gang setzen, Gastlichkeit pflegen auch bei
kleinen Mitteln und den vergnügten Erholungsabend durch ein paar angestrengte
Schneidertage erkaufen – dies alles und wieviel mehr! setzt
ein gehöriges Maß von Eigenschaften und Fähigkeiten voraus. Kein
Zweifel, daß sie sämtlich unter der Leitung einer tüchtigen Mutter zu
erwerben sind – aber die Mehrzahl der städtischen Mädchen entbehrt der
konsequenten wirtschaftlichen Leitung und hat in der Enge der Großstadtwohnung
auch zu wenig Gelegenheit zur vielseitigen Bethätigung dafür.
Dieser Sachverhalt fängt an, als öffentlicher Uebelstand empfunden zu werden,
und Vorschläge aller Art tauchen auf, um ihm zu steuern. Unter ihnen
zeichnet sich durch praktischen Wert das zum Gedächtnis an die verstorbene
Fürstin Johanna v. Bismarck benannte Projekt: Bismarckspende zu
gunsten wirtschaftlicher Frauenhochschulen aus. Eine Reihe angesehener
Persönlichkeiten in Hannover beabsichtigt, eine Anstalt auf dem
Lande zu gründen, wo neben den eigentlichen Hausfrauenkenntnissen auch die
Grundlagen für sonstige, landwirtschaftliche und gewerbliche Frauenberufe zu
erwerben sind, in ein bis drei Jahreskursen. Das Nähere über diesen Plan
ist nachzulesen in einer Broschüre von I. v. Kortzfleisch „Der freiwillige
Dienst in der wirtschaftlichen Frauen-Hochschule“ (Hannover, C. Meyer).
Die Verfasserin denkt sich als Leiterinnen der Anstalt zwei akademisch gebildete
Frauen, welchen der geistige Lehrstoff (Geschichte, Deutsche Sprache,
Kunstgeschichte, Elemente der Physik und Chemie) zufiele, unter ihnen
stünde ein Stab von Lehrmeisterinnen für die praktischen Fächer (Kochen,
Waschen, Weben, Färben, Hand-, Garten- und Feldarbeit, Milch- und
Honigwirtschaft, Geflügelzucht u. dergl.). Daß derartige Anstalten auf
dem Lande mit allen Möglichkeiten von Luftgenuß, Bad, Eislauf etc. für
die jungen Stadtmädchen unendlich viel gesünder und vorteilhafter wären
als die heute beliebten kurzen Aufenthalte in fremdländischen Instituten,
darüber braucht man kein Wort zu verlieren. Und zugleich wären solche
Anstalten ein natürlicher Wirkungskreis für die akademisch gebildeten
Zukunftsfrauen. Eine Aerztin fände in jeder Beschäftigung, und ein paar
Betten für Kranke aus der ländlichen Umgebung dienten der Ausbildung
in der Krankenpflege. Ein gratis von Fräulein v. Kortzfleisch zu beziehendes
[20] Flugblatt giebt die näheren Anhaltspunkte, sowie die Namen der Damen und Herren, welche die Gaben zur „Bismarckspende“ entgegennehmen. Möge dieselbe auch im Kreis unserer Leserinnen viele offene Hände finden! Denn nur durch thätige Frauenhilfe wird die Frauensache gefördert. R. A.
Neujahrsmorgen vor Paris. (Zu dem Bilde auf S. 1.) Sie war recht kalt, die Sylvesternacht 1870/71 vor Paris, und wer von den Deutschen im Einschließungsheere sie nicht im Quartier, sondern auf Feldwache oder Vorposten verbrachte, dem wurden wehmütige Vergleiche zwischen sonst und jetzt recht nahe gelegt. Je mehr der Dezember zu Ende ging, desto stärker war die Kälte geworden, und bei den dafür sehr empfindlichen Franzosen versicherten die bekannten „ältesten Leute“, seit Menschengedenken keinen derartigen Frost erlebt zu haben – den hätten die „Barbaren des Nordens“ eigens mit aus ihrem Lande gebracht. „Es ist freilich auch arg genug,“ denkt der Posten, den wir im Hintergrunde unseres Bildes gewahren. Bei solch einer Hundekälte macht das Postenstehen doppelt wenig Vergnügen, zumal am Neujahrsmorgen! Es ist blutgetränkter Boden, auf dem er steht: die von der Marne umflossene Halbinsel Joinville mit den am 30. November und 2. Dezember so heiß umstrittenen Oertlichkeiten Champigny, Bry, Villiers, Coeuilly und Chennevières. An dem lodernden Fener im Vordergrunde sind drei Soldaten von jenen Truppenteilen vereinigt, die dort in treuer Waffenbrüderschaft den in gewaltiger Ueberzahl unternommenen Durchbruchsversuch Ducrots so ruhmvoll zurückwiesen. Ein sächsischer Schütz, ein Württemberger und ein Pommer vom II. Armeecorps sind dabei, sich ihren Morgenmokka zu kochen, jedoch mit Kaffee kann man das neue Jahr nicht begrüßen! Zum Glück enthalten die Feldflaschen noch einen ordentlichen Schluck; mit gutem Humor stoßen die Drei an und rufen einander zu: „Prosit Neujahr, Bruder, und auf treue Kameradschaft!“, während in der Ferne die Kanonen den „Salut“ dazu „böllern“. F. R.
Der Einzug der Sieger. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) Das stimmungsvolle Bild von Franz Simm führt uns in die Napoleonische Zeit, in die Zeit der Befreiungskriege, wie uns schon die Toiletten der Damen beweisen. Wir befinden uns in einer deutschen Stadt, in welche heimkehrende siegreiche deutsche Truppen ihren Einzug halten. Jubelnd werden sie von der Bevölkerung begrüßt und alles stürzt auf die Straßen oder drängt sich an die Fenster. Da sehen wir hier die junge Mutter mit ihren Kindern, die liebreizende Schwester, die vom Nähtisch aufgesprungen ist, noch die Schere in der Hand, freudig den Einzug der deutschen Regimenter begrüßen. Der kleine Sohn kann sich nicht satt sehen an dem Glanz der Waffen und der ganzen soldatischen Herrlichkeit; er schiebt mit der Hand die Gardine zurück, die ihm einen Teil des schönen Schauspiels zu verhüllen droht. Ganz anders als dieser kleine Patriot, in dem sich bereits der künftige Soldat regt und zu welchem die neugierig schauende größere Schwester ein Pendant bildet, verhält sich das kleine Mädchen im Arm der Mutter; es hat zwar ein Schnupftuch in der Hand, das ihm wohl anvertraut worden ist zum Zwecke, den tapferen Kriegern zuzuwinken; aber sein Herz ist ganz wo anders, und soweit ist es noch nicht, daß ihm die blanken Knöpfe und Epauletten den üblichen tiefen Eindruck machen könnten; es blickt ins Zimmer zurück, als suche es bei der Schwester Anerkennung für die Geschicklichkeit, mit der es seine Siegesfahne schwingt. Diese Gruppe ist in helles Licht gerückt, im Dunkel aber weilt ein französischer Offizier, offenbar ein Verwundeter und Gefangener, wie sie damals bei der Ueberfüllung der Lazarette oft in Privatwohnungen untergebracht wurden. Er trägt den Arm in der Binde; mit Schmerz und stiller Ergebung hört er draußen den Siegesmarsch, blickt er auf den Freudenrausch der Hausgenossen – die Sonne von Austerlitz ist ja ihm und seinem Volke untergegangen. †
Angriff von Kormoranen auf Reihernester. (Zu dem Bilde S. 9.) Unter den verschiedenen Arten des Kampfes ums Dasein, der in der Vogelwelt tobt, kann als der hartnäckigste der Kampf um die Stand- und Brutquartiere gelten, der mit großer Regelmäßigkeit jahraus jahrein geführt wird. Der Naturfreund ist alljährlich der Zeuge vieler derartiger Tragödien, in denen glückliche Paare von Haus und Hof vertrieben werden! Zumeist handelt es sich dabei um Einzelkämpfe der Paare. Wo aber die Vögel in Gesellschaften nisten, wo ganze Ansiedlungen von Nestern einer und derselben Art einander nahe gerückt sind, dort werden die Kämpfe zu regelrechten Luftschlachten, in denen die eine Art die andere zu verdrängen sucht. Namentlich die Wasservögel pflegen in Gesellschaften zu nisten, und so bauen auch die Reiher, wo sie häufiger vorkommen, ihre Horste dicht aneinander, sei es in Rohrwaldungen, sei es auf Bruchweiden und anderen an Ufern der Gewässer stehenden Bäumen. An großen Flüssen haben solche Ansiedlungen oft die Ausdehnung von tausend und mehr Schritten und auf jedem Baume erblickt man eine ganze Anzahl von Horsten, die aus starkem Reisig gebaut sind. Hier an ihren Brutplätzen sind die Vögel nicht so scheu wie in ihren weiter entfernten Jagdbezirken; man kann dicht bis an die Bäume heranrudern und das Thun und Treiben in der Kolonie beobachten. Die Bilder, die wir da erblicken, sind nicht gerade schön; der Reiher ist ein an und für sich häßlicher Vogel und auch sein Charakter ist wenig anziehend – er ist schlau und heimtückisch, aber dabei feig. Das zeigt sich hier, wo er seine Brut groß zieht. Habichte, Elstern und Krähen schleichen heran und stehlen die Jungen aus den Nestern; es würde ein einziger Stoß des mächtigen Reiherschnabels genügen, um den Räubern das Handwerk zu legen; aber der Reiher benutzt diese furchtbare Waffe nur, wenn er sich in Verzweiflung oder der größten Lebensgefahr befindet, hier schreit er ein wenig, schlägt matt mit den Flügeln, nimmt eine drohende Haltung ein, läßt aber die Räuber gewähren. Es fehlt ihm an Mut, sein Nest mit Nachdruck zu verteidigen. Und so geschieht es, daß mitunter andere Vögel, die gleichfalls von der Fischbeute leben, an die Gewässer kommen und kurz entschlossen zum Sturm auf die neugebauten Reiherhorste fliegen. Das naturgetreue Bild von F. Specht zeigt uns einen derartigen Angriff der Kormorane oder Eisscharben, die öfters in großen Scharen von den Seeufern ins Binnenland kommen, um hier zu fischen und zu brüten. Der Lärm, der bei solchen Kämpfen entsteht, ist ein großer, aber Heldenthaten werden von den Reihern nicht verrichtet; ein Nest nach dem anderen wird geräumt und die Eindringlinge richten sich in den eroberten Horsten heimisch ein. *
Vetter Emils Statue. (Zu unserer Kunstbeilage.) Eine hübsche mutwillige Cousine beim Ferienbesuch vorzufinden, ist ohne Zweifel für jeden Vetter sehr angenehm, aber gleich drei von dieser Sorte auf einem Fleck beisammen – das ist ein bißchen viel! Da muß man, um ehrenvoll aus dem Kampf hervorzugehen, ein Ausnahmsvetter sein, schön wie Paris und erfindungsreich wie Odysseus. Ob der hier hinterrücks durch ein Standbild Geehrte solchem Ideal entspricht? Wir wollen es ihm wünschen, aber sehr verdächtig macht sich immerhin das zufriedene Künstlerlächeln, womit die Hauptsünderin ihr Werk betrachtet und ihm die letzte Zierde beifügt, während die zweite sich abmüht, der tonnenförmigen Gestalt Arme anzusetzen, und die dritte jubelnd die kostbaren Attribute für dieselben aus dem Hause herbeischleppt. Armes Original! Wenn sein Gesamteindruck halbwegs getroffen ist, so wird er schwerlich die „Schneid“ haben, den drei Unholdinnen in gebührender Münze heimzuzahlen, aber sicher die Gemütsruhe, sich die Frühschoppenstimmung durch dieses schnöde am Weg zum Wirtshaus aufgerichtete Denkmal nicht verderben zu lassen. Bn.
Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner. S. 1. – Am Neujahrstage 1871 vor Paris. Bild. S. 1. – Der Einzug der Sieger. Bild. S. 4 und 5. – Wie bekämpft man die Abmagerung? Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch. S. 7. – Das Opfer eines Kaisertraums. Von Felix Vogt. S. 8. Mit dem Bildnis der Kaiserin Charlotte von Mexiko auf S. 12. – Angriff von Kormoranen auf Reihernester. Bild. S. 9. – Vielliebchen. Novelle von Ernst Eckstein. S. 12. – Der längst Ersehnte. Bild. S. 13. – Havelschilf. Ein Bild märkischen Gewerbfleißes von Richard Nordhausen. S. 16. Mit Abbildungen S. 17, 18 und 19. – Blätter und Blüten: Wirtschaftliche Hochschulen für Mädchen. S. 19. – Neujahrsmorgen vor Paris. S. 20. (Zu dem Bilde S. 1.) – Der Einzug der Sieger. S. 20. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) – Angriff von Kormoranen auf Reihernester. S. 20. (Zu dem Bilde S. 9.) – Vetter Emils Statue. S. 20. (Zu unserer Kunstbeilage.) – „Ich gratuliere!“ Bild. S. 20.
[20 a]
Die Gartenlaube.
Rudolf Leuckart. Im verflossenen Dezember feierte der berühmte Zoologe und Professor an der Leipziger Universität, Rudolf Leuckart, sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum. Der Jubilar wurde durch zahlreiche Glückwünsche aus nah und fern ausgezeichnet, denn hinter ihm liegt nun ein halbes Jahrhundert ernster und für das Menschengeschlecht höchst nutzreicher Arbeit. Leuckart, gleichzeitig Zoologe und Mediziner, hat es wie wenige seiner Fachgenossen verstanden, die Interessen der Zoologie mit denen der praktischen Medizin zu vereinigen. Frühzeitig wandte er sich der Erforschung der tierischen Parasiten zu, die den menschlichen Leib befallen und allerlei Krankheiten hervorrufen. Auf diesem Gebiete hat er Großes geleistet; für immer ist sein Name mit der Entdeckung der Trichinen verbunden, und als grundlegend und unvergänglich muß sein großes Werk „Die Parasiten des Menschen und die von ihnen herrührenden Krankheiten“ bezeichnet werden. Ferner zählt Leuckart zu denjenigen, welche die Lebensweise und Entwickelungsgeschichte der Bienen gründlich erforscht und dadurch die Bienenzucht wesentlich gefördert haben. Rudolf Leuckart wurde am 7. Oktober 1822 zu Helmstedt (Braunschweig) geboren, studierte in Göttingen und habilitierte sich daselbst für Zoologie. 1850 folgte er dem Rufe nach Gießen, und seit 1870 wirkt er als Professor der Zoologie in Leipzig. Seine Vorträge zeichnen sich nicht nur durch wissenschaftliche Schärfe, sondern auch durch formgewandte Darstellung aus, und so versteht er wie wenige Lehrer seine Zuhörer zu fesseln und für die Fragen der Wissenschaft zu begeistern. Der hochverdiente Gelehrte erfreut sich noch voller körperlicher und geistiger Rüstigkeit. Möge ihm die Schaffensfreude noch lange erhalten bleiben!
Glatte Bahn! Das ist der innigste Wunsch eines jeden Schlittschuhläufers. Leider bleibt eine vielbenutzte Eisbahn nicht lange glatt, und man muß alsdann das Eis glätten. Zumeist geschieht dies in der Art, daß die Eisbahn nachts mit Wasser besprengt wird. Der Gartendirektor Kowallek hat seit einigen Jahren auf den städtischen Eisbahnen zu Köln a. Rh. ein anderes, sehr praktisches Glättungsverfahren eingeschlagen. Er benutzt zu diesem Zwecke eine von ihm ersonnene Eiswalze, die auf unserer untenstehenden Abbildung in Thätigkeit vorgeführt wird. Dieselbe ist aus entsprechend starkem Eisenblech gearbeitet; ein Coakskorb, der mit glühenden Coaks gefüllt wird, hängt in der Walze frei herab. Zur Bedienung gehören drei Mann, welche die Walze fortbewegen, und ein Mann, der mit einem Besen das geschmolzene Wasser, wo nötig, verteilt und den Leuten das Kommando „Schneller“ oder „Langsamer“ gibt. Eine vollkommen gefüllte Walze hält etwa drei Stunden warm, und man walzt damit in dieser Zeit etwa 2000 qm Eisfläche, wobei für Arbeitslohn und Feuerung 6,60 Mark verausgabt werden. Die Vorzüge dieses Verfahrens sind mannigfach: die Arbeit kann bei Tage besorgt werden, indem man einen Teil der Bahn absperrt; die Glättung ist eine vollkommene, da stets Kerneis entsteht, eingefrorene Gegenstände, wie Steinchen, Holzstücke, können leicht entfernt werden, und schließlich gestaltet sich die Arbeit billiger als beim Berieselungsverfahren.
Einfrieren von Gasleitungen. Starker Frost ist bekanntlich ein unangenehmer Feind der Gasbeleuchtung, indem er das Einfrieren freigelegener Leitungen bewirkt. Untersucht man ein zugefrorenes Gasrohr, so findet man, daß in seinem Innern sich reifartige Gebilde angesetzt haben. Man hat früher gemeint, daß der im Leuchtgase vorhandene Wasserdampf zu Eis werde und die Röhren verstopfe, und suchte auf verschiedene Art das Gas vom Wasserdampf zu befreien. Das half aber nicht; bei starken Frösten erschienen die reifartigen Gebilde dennoch in den Röhren, und die Untersuchung ergab, daß sie aus einem der Bestandteile des Leuchtgases, aus Benzol sich bilden. Im vorigen Winter ist es nun Dr. Bueb von der Dessauer Gasgesellschaft gelungen, ein Mittel zu finden, welches diesen Uebelstand beseitigt. Es besteht darin, daß man dem Leuchtgase während der Frostzeit verdampften Spiritus zuführt. Der Spiritus wirkt dabei derart, daß das Benzol durch starken Frost nur verflüssigt, aber nicht mehr in den festen Zustand übergeführt wird. Die Flüssigkeit fließt nun in den Rohrleitungen nach abwärts und sammelt sich in den Kondenstöpfen, so daß ein Einfrieren der Leitung nicht mehr erfolgen kann. Während der starken Frostperioden des vergangenen Winters wurde das Mittel in Dessau versucht und bewährte sich vorzüglich. Damit ist ein beachtenswerter Fortschritt in der Gasbeleuchtung erzielt worden.
Hauswirtschaftliches.
Für den gastlichen Tisch werden einige kleine Winke jungen Hausfrauen stets willkommen sein. Zwei Punkte sind es für heute, auf welche wir die Aufmerksamkeit derselben lenken wollen: den Platz, den jeder Gast beansprucht, richtig zu schätzen, und die richtige Behandlung der Weine. Beides ist für das Wohlbehagen der Gäste von großer Bedeutung. Wird der Platz zu gering bemessen, so wird das Mittags- oder Abendesssen jedem bald zur Qual. Wer einmal von Tellermitte zu Tellermitte nur auf einen Raum von 45 oder auch 50 cm angewiesen gewesen ist, weiß, welch eine Qual ihm das Speisen war. 55 cm muß man zum mindesten rechnen, bequem aber ist es erst bei 60, weit sitzt man bei 65 und ungemütlich leer wird’s bei 70 cm. – Was nun die Weine anbetrifft, so ist eine richtige Temperatur von größter Wichtigkeit für die Entfaltung ihres Aromas und Wohlgeschmacks. Rotweine müssen wärmer gereicht werden als Weißweine, und unter diesen können wieder die Rheinweine költer als die Moselweine sein, doch sollen sie nie eine Temperatur unter 5° Wärme haben, beschlagen soll das Glas, aus dem man sie trinkt, nicht. Rotwein verlangt ZImmerwärme, er steht am besten einige Stunden vor dem Gebrauch unverkorkt im auf 14° erwärmten Raum. Soll er rasch erwärmt werden, ist das beliebte Durchziehen durch heißes Wasser wenig empfehlenswert; Kenner behaupten, daß der Wein dann „abgeschreckt“ würde und an Geschmack verlöre. Es ist am besten, ihn mit einem in heißes Wasser gesteckten dicken wollenen Tuch zu umhüllen und so die Wärme allmählich auf ihn einwirken zu lassen. Auch Dessertweine müssen erst einige Zeit in mäßig warmem Raum stehen, bevor sie gereicht werden. Schaumwein wird etwa vier Stunden in Eis gepackt, auch moussierende Wasser sollen mindestens eine Stunde in Eis stehen, während eine Bowle gerade wie die Rheinweine nicht kälter als 5° sein soll, da sonst ihr Aroma nicht zur Geltung kommt. L. H.
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