Die Gartenlaube (1894)/Heft 50
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Nr. 50. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Um fremde Schuld.
O, die furchtbare Zeit! Ich lag ein paar Tage im Fieber; nur undeutlich war mir bewußt, daß etwas Schreckliches sich ereignet habe. Ich fühlte den Druck des Unglücks in seiner ganzen überwältigenden Schwere, wußte, daß ich nichts mehr in der Welt besaß, und hätte doch nicht sagen können, was mir geschehen. Ich wollte mich besinnen, wollte die verzerrten Gesichter abwehren, die sich über mich neigten, mich bedrohten, aber ich war wie gelähmt. Mitunter hörte ich Mamas Stimme, dann versuchte ich aus dem Bett zu springen und zu ihr zu eilen, doch ich fühlte mich festgehalten, und immer von neuem grinsten mich die Fratzen an. Zu mir kam ich erst durch ein eigenartiges tiefes Summen und Tönen, das in das offene Fenster meines Stübchens drang. Ich lag mit offenen Augen da und suchte mich zu besinnen. Ach, die Glocken wurden geläutet – wann hatte ich sie so gehört, so ernst, so feierlich? Als Papa begraben wurde – –
„Mama!“ sagte ich und sank kraftlos zurück.
Die alte Josephine, die am Fenster stand, wandte sich, und ihre noch vom Weinen geröteten Augen blickten mich erschreckt an. „Die Komtesse ist nicht zu Hause, gnä’ Fräulein – wollen Sie irgend etwas? Haben Sie Durst?“
„Nein, ich danke. Können Sie hinübersehen auf den Friedhof, Josephine?“
„Ja freilich,“ sagte sie, und zögernd setzte sie hinzu: „aber es ist nichts zu sehen, gnä’ Fräulein.“
„Doch, Josephine – Mama wird begraben.“
„Liebes gnädiges Fräulein,“ schluchzte sie, „regen Sie sich doch nur nicht auf!“ Und sie schloß rasch das Fenster, denn glockenhell tönten jetzt die Stimmen der singenden Kurrendeknaben herauf. „Wie sie so sanft ruhen.“
Ach, wie gönnte ich ihr diese Ruhe neben Papa – man würde sie doch neben Papa gebettet haben? Ich faltete die Hände und ein traumhafter Friede, eine große feierliche Stimmung überkam mich, das erlösende Gefühl, das Liebste, das man hat, gerettet zu sehen aus Schande und Pein, geborgen zu wissen vor allem Elend.
Es war so ruhig, so friedvoll hier; über der Kommode ein großer Stahlstich – Christus, auf den Meereswellen stehend, reicht dem sinkenden Jünger die Hand, eine antike Uhr in Staubgehäuse, auf deren Zifferblatte bei jedem Stundenschlag eine Figur hervortrat, vor der ich mich immer heimlich gegraut hatte und die ich erst heute verstand – der Tod mit der Sense, die er schwang, so oft es schlug. „Von allen eine ist die Deine“, stand zwischen den zierlichen Arabesken auf der Metallplatte. Der Tod hatte
[842] für mich nichts Grausiges mehr, er erschien mir heute wie der volle reine Schlußaccord des grellen irren Musikstückes, das wir Leben nennen, ein Accord, in dem alle Dissonanzen so mild, so versöhnend ausklingen – Friede, Ruhe, ewige Ruhe!
Die Komtesse kehrte zurück und trat an mein Bett; sie hatte ein paar Epheublätter mitgebracht. Die große düstere Gestalt mit dem langen schwarzen Kreppschleier und dem verweinten Gesicht beugte sich über mich. „Bist nun mein Gör, Anneliese! Wir bleiben zusammen, ja, sollst sehen, wir vertragen uns.“
Ich küßte ihr still die Hand.
Sie ging, um Hut und Mantel abzulegen, dann kam sie wieder und setzte sich an mein Bett. Josephine brachte ihr eine Tasse heißen Kaffees, den sie trank. Sprechen that sie nicht, sie sah mich nur forschend an. „Tante Komtesse, ich bin ganz gesund, ich kann mich auf alles besinnen,“ sagte ich endlich. „Erzähle mir – nicht wahr, Mama liegt neben Papa?“
„Ja, mein Herz; und auf ihren Hügel setzen wir keinen Stein, Anneliese, wir ziehen die Epheuranken von Papas Grab zu ihrem hinüber, dann wissen die Menschen, daß sie zusammengehören. Es soll nicht dastehen: Hier ruht Helene Wollmeyer.“
Ich nickte stumm.
„Die Base war nicht da, ist vielleicht nicht wohl, das alte Wurm. Wollmeyer hatte den Orden angelegt, den er vorgestern erhielt,“ fuhr sie fort, und ihre Oberlippe zuckte.
Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. „Tante,“ bat ich, „ich kann das nicht hören!“
„Freilich, freilich! – Wir wollen nicht mehr von ihm reden – verzeih’, mein armes Kind! Weine nur, weine!“
Wochen waren verflossen, und nichts geschah in dieser Zeit, nichts. Herr Wollmeyer ging als tieftrauernder, allgemein bemitleideter Witwer mit Kreppbinde um Hut und Aermel und mit vergrämtem Gesicht umher. Das vergrämte Gesicht war höchstwahrscheinlich echt, ihm mochte sicher nicht wohl zu Mute sein, aber er konnte nichts weiter thun als abwarten. Ich vermied, ihn zu sehen; die Komtesse ließ sich nie sprechen, wenn er kam – ihrer Natur gemäß, die nichts halb thun konnte; sie verabscheute ganz oder liebte – liebte wäre in diesem Falle zuviel gesagt – oder sie tolerierte ganz. Wollmeyer war ihr, wie sie sagte, gänzlich aus der Tasche gefallen. „Ich kann ein Verbrechen aus Leidenschaft, einen Mord verstehen,“ sagte sie, „aber Wucher ist etwas so Gemeines, daß ich nicht ein einziges Motiv zum Verständnis desselben finde, und – Gemeines hasse ich.“
Nun sprangen die Knospen an der Linde auf, und drüben auf dem Kirchhof blühten die Veilchen zwischen dem Epheu der Gräber. Ein durchsichtiger köstlicher grüner Schleier wehte über all den Sträuchern und die Stare sangen.
Die Komtesse hatte Frühjahrs-Reinmachen; sie ging umher mit hochgeschürzten Röcken, großer blauer Leinwandschürze, ein weißes Tuch über den Kopf gebunden, den Federwedel wie einen Dolch im Schürzenbund, ein riesiges Wischtuch in der Hand, und stäubte ihre Nippes ab, ihre alten Porzellanfiguren und sonstige Raritäten, und ich half ihr dabei.
„Siehst Du, Kind,“ sagte sie in Anschluß an eine Strafpredigt, die sie mir eben über mein allzustilles Wesen gehalten hatte, „Du solltest ’mal eine von Deinen Freundinnen einladen, solltest ’mal ein bißchen plauschen! Jugend will zu Jugend, in Leid wie in Freud’. Ich kann Dir so ’n Plappermaul von achtzehn Jahren nicht ersetzen, denn schließlich ist alles Heitere, was Du von mir zu hören bekommst, altmodischer Kram, und das andere sind Lebenserfahrungen, und zu allermeist traurige. Dir aber thät’ ein wenig Zukunftsträumen gut, so ein Träumen von aufblühenden Rosen und blauem Sommerhimmel. Da kann ich nicht mehr mitmachen; ich schau’ in der Zukunft nur dürre Aeste. Wie? Soll ich zu Tollens schicken um die Käthe oder zu Aennchen Arnstadt oder Marie Linden?“
„Tante, um Gotteswillen, was soll ich damit?“ rief ich und setzte einen kopfnickenden Chinesen wieder an seinen Platz unter dem Spiegel. „Was diese Mädchen von der Zukunft erwarten, ist etwas anderes wie das, was ich zu erhoffen habe. Ich sehe auch nur dürre Aeste.“
„Mit neunzehn Jahren? Na ja, Kind, das ist für jetzt natürlich, aber in diesen dürren Aesten, da sitzt schon der ganze Saft, der Blüten und Früchte treibt. Kind, Kind, das Schlimmste ist, den Mut zu verlieren. Das darfst Du nicht! Nein, laß nur, ich muß Dich ’mal schelten. Siehst Du, wenn Du die Nächte durchweintest, wenn Du verzweifelt täglich an Mamas Grabe säßest, wenn Du mit einem Worte Deinen Schmerz austobtest, so wäre mir gar nicht bange um Dich. Aber das thust Du eben nicht! Du stehst auf, als wäre Dir nichts geschehen, Du sitzest da am Fenster mit der Arbeit und stichelst, als hättest Du Dein Lebtag da gesessen; Du redest mit mir, als ob’s in der Welt nichts Erschütterndes für Dich gegeben hätte – – – Wer Dich nicht genau kennt, der sollte meinen, Du wärst einfach herzlos. Siehst Du, nicht einmal eine Miene verziehst Du jetzt; ich aber, ich weiß, daß Du nicht herzlos bist, ich sehe an Deinem veränderten Gesicht, daß Du die ganze Sache tausendmal schwerer trägst, als andere es thun würden. S’ist unnatürlich, Anneliese! Du bist wie tot, Du mußt Dich einmal schütteln, Du mußt wieder Schmerz und Freude empfinden lernen – so geht’s nicht weiter. Scheintot geht in wirklichen Tod über; Du kannst doch nicht weiterleben mit einem gestorbenen Herzen? Sei doch meinetwegen eigensinnig und unausstehlich und vorlaut, aber nur nicht so, so, wie Du in diesen Wochen warst!“
„Tante,“ sagte ich, „wie soll ich es denn machen? Ich gucke mich in der Welt um und finde, daß es nichts giebt, was des Beweinens wert ist, nichts, worüber ich lachen möchte. Es ist gut so, wie es ist, laß doch – mir thut wenigstens nichts weh.“
Sie blieb vor mir stehen. „Du bist ein garstiges Ding, Anneliese; es lohnt sich nicht, Dich lieb zu haben. An mich denkst Du gar nicht!“
Ich blickte sie an. Sie hatte Thränen in den Augen. „Gute Tante!“ sagte ich bestürzt, „ach Tante!“ Und auf einmal ward es mir klar, welch eine Welt voll treuer ehrlicher Liebe ich in ihr besaß. „Um Gotteswillen, Tante, vergieb mir, Du bist ja jetzt meiu Alles,“ stotterte ich, „ich will ja – habe nur Geduld – ich werde anders – –“
„Laß gut sein, Kücken!“
„Schicke mich nicht fort, Tante, jetzt noch nicht – später! Siehst Du – jetzt, ich fände mich nicht zurecht da draußen!“
„I, Gott bewahre – wie Du das nur wieder auffaßt! Ich Dich fortschicken? So lange ich atme, kannst Du hier bleiben; aber aufwachen sollst Du, bekümmern sollst Du Dich um den Nachlaß Deiner Mama, ihre Siebensachen sollst Du Dir herholen, Papas Bild und so weiter, dann auch Wollmeyer bitten, daß er Dich hier läßt –“
„Ihn bitten, Tante?“
„Na ja! Er ist doch einmal Dein Vormund und Dein Stiefvater.“
Die alte Dame hatte das rechte Mittel gewählt, mich aufzurütteln. „Was habe ich mit diesem Menschen zu thun?“ rief ich erregt.
Sie blieb ganz ruhig und zupfte an den gestickten Tüllgardinen. „Er war mehreremal hier und hat jedesmal die Josephine gefragt, wann Du wieber zu ihm kämest. Gestern, wie Du auf dem Kirchhof die Blumen begossen hast, traf ich ihn im Hausflur; ich dachte, als es klingelte, es wäre die Dambitzer Butterfrau, und machte selbst auf. Da saß er denn im Gartenzimmer bei mir und sprach von seinem verödeten Hause, und daß er sich nach Dir sehne. Ich habe innerlich gezittert vor Angst, Anneliese, aber ich sagte ganz ruhig: ‚Das Kind ist noch viel zu krank, Herr Wollmeyer, lassen Sie sie einstweilen noch hier.‘ Darauf erklärte er: ‚Das kann ich nicht, ich muß den letzten Willen meiner teuren Helene erfüllen; sie hat mir noch kurz vor ihrem Tode das Versprechen abgefordert, Anneliese ein treuer Vater sein zu wollen.“
„Er lügt!“ rief ich außer mir. „Ich mag nicht zu ihm, nie, nie! O Tante, hilf mir! Aber er geht mich ja auch gar nichts an, dieser Mensch – wie kann er mich zwingen?“
„Anneliese, hör’ doch zu! Ich erklärte ihm also deutlich genug, Du wünschtest vorläufig hier zu bleiben. Darauf lächelte er, erhob sich, machte mir eine seiner merkwürdigen viereckigen Verbeugungen und empfahl sich; was er nun vorhat, mag Gott wissen.“
Im nämlichen Augenblick klingelte es, und Josephine brachte einen Brief.
„Von ihm,“ sagte ich und stützte mich auf den Tisch. Ach, die Komtesse hatte recht; ich war seit Mamas Tode wie im [843] Schlafe gewesen, nun kam das Erwachen, ein schreckliches Erwachen. Ich riß den Umschlag auf, entfaltete den Brief und erschrak schon über die Anrede:
„Meine liebe Tochter und Mündel! Hierdurch fordere ich Sie auf, in mein Haus zurückzukehren. Es ist der ausdrückliche Wunsch Ihrer Mutter, den sie mir auf dem Sterbebette noch ans Herz legte, daß Sie unter meinem Schutz weiterleben.
Ich erwarte Sie an einem der nächsten Tage, den zu bestimmen ich Ihnen überlasse. Mit väterlichem Gruß IhrDas hatte ich nicht erwartet!
„Ich thue es nicht,“ sagte ich verzweifelt, indem ich der Komtesse den Brief gab.
„Armes Gör!“ murmelte sie, setzte sich in einen Sessel und zog die Stirn in hundert krause Falten. „Du bist neunzehn?“
„Ja. Alt genug, um zu wisseu, was ich will.“
„Freilich, mein Kücken, aber das Gesetz!“
„Gesetz?“ fragte ich empört, „giebt es ein Gesetz, das mich zwingen kann, in Gemeinschaft mit einem Schurken zu leben?“
„Nein, Anneliese, aber erst mußt Du beweisen, daß er einer ist.“
„Tante, Du weißt so gut wie ich – –“
„Ja, ich weiß, daß er gemeine Geschäfte macht, wenigstens habe ich ihn so verstanden, aber beweisen kann ich’s nicht, und Du auch nicht.“
„Ich laufe fort, aber diesmal soll mich niemand finden!“ rief ich, mit einem Anflug meiner alten Energie.
„Vorläufig warte nur, ich erkundige mich erst bei meinem Anwalt,“ sagte die Komtesse, „und zwar werde ich das gleich besorgen.“ Und sie rief mit Donnerstimme auf den Flur hinaus nach Regenmantel und Gummischuhen.
Bald darauf stelzte sie die breite schlecht gepflasterte Straße hinunter, mitten auf dem Fahrdamm; den schmalen Bürgerstieg verachtete sie, weil man da entweder gerempelt werde oder in den Rinnstein ausweichen müsse, und heute glichen diese Rinnsteine kleinen reißenden Bächen.
Rechtsanwalt Schulzen war ihr Berater. Er stand in hohem Ansehen bei allen Adelsfamilien der Umgegend und war nicht allein ein geistreicher Jurist, sondern auch ein liebenswürdiger Gesellschafter; erst seit dem Tode seiner Frau lebte er zurückgezogen – sie war vor zwei Jahren gestorben.
Ich saß während der Abwesenheit der Komtesse mit einem empörten verzweifelnden Herzen in meiner Stube und lehnte mich gegen dieses Verlangen meines Stiefvaters auf mit aller Macht der Seele. Die Tante kam nach einer Stunde zurück, sie sah blaß aus, mit einem hochroten Fleck auf der rechten Wange.
Ich war ihr entgegen gegangen bis in den untern Hausflur; nun nahm ich ihr Hut und Tuch ab und sah sie angstvoll fragend an, aber sie sprach keine Silbe. Endlich drinnen im Zimmer sagte sie kurz, indem sie sich etwas am Kanarienbauer zu schaffen machte: „Da ist nichts zu wollen, Kind, Du mußt hin.“
Ich schwieg, ich war fest entschlossen, nicht hinzugehen.
„Das mit dem letzten Willen Deiner Mutter, das ist offenbar eine Lüge,“ fuhr sie fort, „hat in der Sache auch gar nichts zu bedeuten; aber Du kannst ohne seine Einwilligung nicht sein Haus verlassen, bevor Du großjährig bist; Deine Lebensführung untersteht seiner Bevormundung.“
„Und wenn ich trotzdem davongehe?“
Sie räusperte sich. „Ich fragte den Anwalt, was Dir geschehen könne, wenn Du – wenn ich Dich heimlich fortbrächte, nach Hamburg zum Beispiel?“
„Ja, Tante, thue es, bitte, bitte – bring’ mich hin!“ unterbrach ich sie flehend.
„Da nahm er ein Buch vom Tische,“ erzählte sie weiter, ohne meinen Ausruf zu beachten, „und las mir etwas vor. Siehst Du, Kind, da heißt es ungefähr: ,Wer es versucht, eine minderjährige Person durch List, Drohung oder Gewalt dem Vormund zu entziehen, macht sich nach Paragraph so und so des Reichsstrafgesetzbuches strafbar!‘ ,Wieso denn, lieber Justizrat?‘ fragte ich, ,eine Geldstrafe? Na, darauf soll’s mir – –‘ ,Pardon, Komtesse,‘ unterbrach er mich lächelnd und nahm eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger, ,das ist nicht mit Geld abzumachen, Sie müssen sitzen!‘ Und nun stopfte er sich den Tabak in die Nase, als ob das gar nichts wäre, das Sitzen!“
„Tante!“ rief ich entsetzt.
„Ja, mein Herz! Also Du siehst ein, ich kann Dir jetzt nicht helfen.“
„Natürlich, natürlich!“ stotterte ich.
„Er fragte mich dann, ob ich verwandt sei mit Dir. Aber ich bin ja nicht verwandt mit Dir armem Gör, sonst hätte ich das Recht, beim Vormundschaftsgericht zu beantragen, daß Du mündig gesprochen wirst. Aber so –“ Sie rückte mit einer ärgerlichen Gebärde die Haube von einem Ohr zum andern, nahm ihr Strickzeug zur Hand, eine riesige, teilweise in Servietten verhüllte Arbeit, eine für irgend welche Kousine bestimmte Wiegendecke von zartestem Blau und Weiß, und bald schlugen die Holznadeln aneinander: fortissimo.
In mir tobte Schrecken und Zorn zugleich.
„Das ist alles die Folge der unüberlegten Heirat,“ grollte die Komtesse. „Wäre die Len’ nicht in ihrer kopflosen Sorge um Dich mit beiden Füßen zugleich in diesen Sumpf gesprungen, es schaute anders aus heute – Du hättest sie noch, Deine Mutter. Jawohl, das behaupte ich, denn wie er sie gequält hat, das ist mir erst jetzt ganz klar geworden.“
Ich schlug die Hände vor das Gesicht; was hatte Mama gelitten!
„Jetzt wird er Dich peinigen, und unsereiner weiß das und kann nicht helfen! O, ich wollte, die Sündflut käme und nähme diese ganze erbärmliche Menschheit mit fort!“ Die Komtesse war eine so religiöse, wahrhaft fromme Natur, daß diese Worte ganz befremdend klangen. „Und wenn man nur absehen könnte, wann es endet!“ fuhr sie fort, „ich meine den Aufenthalt bei Wollmeyer, zwei Jahre hältst Du das ja gar nicht aus. Wenn Du wenigstens Gelegenheit hättest, Dich zw verheiraten! Aber wer ist denn hier in Westenberg, der zu heiraten wäre? Keiner! Ein paar Referendare, die noch auf der Tasche ihres Vaters leben – der Steinberg hat sich mit Käthe Tollen verlobt – und der Diakonus paßt zu Dir, wie wenn man den Katechismus neben einen Band lyrischer Gedichte stellt – ach Kind, ’s ist trostlos!“
Es würde auch gerade einer Wollmeyers Tochter nehmen! dachte ich.
Und als wollte sie widersprechen, meinte die Komtesse: „Es wird freilich nicht fehlen an solchen, die Dein Geld wollen, oder vielmehr dem Wollmeyer seines – du bist ja nun wohl seine Erbin?“
Und ich dachte wieder: Du solltest nur wissen, Tante, wem das Geld von Gottes und Rechts wegen gehört!
„Aber sie werden danach sein, diese Herren,“ sprach sie weiter, „Gott erbarme sich – so’n verkrachter Gutsbesitzer oder Lieutenant, oder so etwas wie Brankwitz – hm – dieser Brankwitz!“ Und nach einer langen Pause wütenden Strickens meinte sie seufzend: „Siehst Du, bist ja nun neunzehn Jahre und hast noch nicht ’mal die übliche erste Liebe durchgemacht, armes Gör!“
Ich wurde flammend rot und unwillkürlich preßte ich die gefalteten Hände zusammen.
„Du bist ja so rot geworden, Anneliese!“
„O, wirklich?“ stotterte ich.
Sie sah mich forschend und ungläubig an. „I, Gott bewahre!“ murmelte sie.
Und auf einmal – es kam über mich mit elementarer Macht – begann ich zu schluchzen, so heftig, so bitterlich, daß ich keine Gewalt mehr über mich hatte. Ich stürzte der Erschrockenen zu Füßen und wühlte meinen Kopf in die Falten ihres Kleides, während mein ganzer Körper bebte. „O, wenn Du wüßtest! Wenn Du wüßtest!“ stieß ich hervor. „Warum hat Mama mich nicht gleich mitgenommen!“
Sie ließ mich ausweinen; es dauerte lange. Endlich sagte sie, nachdem sie beruhigend über meinen Kopf gestrichen hatte: „Wer ist’s denn, Anneliese?“
Ich schluchzte leise weiter, aber ich antwortete nicht.
„Nun?“ fragte sie.
„O, Tante, frage mich nicht! Ich könnte Dir’s nicht sagen –“
„Nun wenn Du es nicht sagen willst, quälen werd’ ich die Leute nicht um ihre Geheimnisse; ich dachte nur, es thäte Dir wohl, Dich auszusprechen.“ Es lag nicht eine Spur von Empfindlichkeit in ihren Worten. „Sei gut, Anneliese, steh’ auf,“ setzte sie freundlich hinzu, „keiner kann mit dem Kopf durch die Wand, und der alte Gott lebt noch.“
Keiner kann mit dem Kopf durch die Wand! Ich wollte es nicht glauben, daß der verhaßte Mensch das Recht haben sollte, mich zurückzufordern, und doch war es so. Es gab keinen Grund [844] dagegen, wenigstens keinen offiziellen Grund, und flehentlich bat mich die Komtesse, nicht etwa heimlich davonzulaufen, „denn,“ erklärte sie, „er hat das Recht, Dir alle Existenzmittel zu entziehen, er kann Dich auf alle mögliche Weise quälen und drangsalieren.“
„Aus Deinem Hause laufe ich nicht fort, Tante, heute und morgen nicht,“ sagte ich. „Aber es wird, es muß sich ein Ausweg finden - nimm mir nicht jede Hoffnung!“
Drei Tage nach dem Eintreffen seines Briefes, gegen Abend, holte mich Wollmeyer ab. Die Komtesse ließ sich nicht sehen. Sie hatte mich in meinem Stübchen ans Herz gedrückt, bis mir der Atem verging. „Im Notfalle weißt Du, wo ich wohne,“ sagte sie mit seltsam gedämpfter Stimme; „es giebt Situationen, da fürchte ich mich vor dem Teufel nicht. Gott behüte Dich, mein Kind!“
Die Aprilsonne stand noch hoch am Himmel, als ich neben ihm durch die Gassen schritt. Ich hatte nicht geweint; ich war wieder in den finstern starren Trotz verfallen, der mich seit Mamas Tode gepackt hielt, der mich selber schmerzte und quälte. Jedenfalls um den Leuten zu zeigen, daß er in bestem Einvernehmen mit mir sei, redete Herr Wollmeyer in einem fort mit freundlicher Miene auf mich ein. Ich sah auf die Steine des Pflasters und antwortete nicht. Der lange Kreppschleier meines Hutes flog im leisen Winde zu seiner Schulter hinüber und blieb dort liegen, ich riß ihn zurück, als sei der ganze Mensch Gift.
„Nun! Nun!“ sagte er lächelnd.
Als ich in das Haus trat, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte, den Flur wiedersah, in dem ich gespielt, die Treppe, über die mein Vater so oft geschritten an glückliche Tagen, die Thür, an die Mama so oft geklopft in der letzten schweren Zeit, wenn sie mich besuchen wollte – da drohte meine Fassung mich zu verlassen. Zu seinem Befremden ließ ich Herrn Wollmeyer stehen und schlug sofort den Weg nach meiner alten Stube ein. Wie im Taumel kam ich über die Schwelle, die Base saß dort – gottlob, gottlob! „Aber, Annelieseken,“ sagte sie, als ich bebend und schluchzend in ihre Arme fiel, „weinen Sie doch nicht; Sie bleiben hier bei mir. Ich will Sie schon pflegen, tausendmal mehr als früher, mein Goldpünktchen, mein Vögelchen!“ Und sie nahm mir den Hut ab und brachte mir ein Glas Wasser. „Schauen Sie, da ist Papas Bild, und im Garten ist’s in diesem Frühjahr so schön, so schön, Sie glauben’s nicht; eine Baumblüt’, wie seit Jahren nicht – sehen Sie nur ein einziges Mal aus meinem Stübchen hinaus!“
Ach, was half mir die Baumblüte! Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf die Estrade; sie ging in ihr Stübchen und kam mit einer Photographie zurück.
„Ist’s ähnlich?“ fragte sie.
Mein Herz klopfte so laut, daß ich es zu hören vermeinte, als ich Robert sah, zum Sprechen ähnlich, in der knappen Uniform, das ernste hübsche Gesicht dem Beschauer entgegengewendet, als wollte es sagen: „Schau mich nur an, ich kann deinen Blick ertragen.“
Ich legte das Bild auf den Tisch und betrachtete die alte Frau, deren Benehmen ich in der letzten Zeit so gar nicht begriffen hatte. „Base,“ sagte ich, „weshalb kamen Sie nicht einmal, mich zu besuchen, so lange ich bei Tante Komtesse war?“
Sie senkte den Kopf und bastelte am Schürzenband. „Ich konnte nicht fort, Anneliese, konnte um die Welt nicht aus dem Hause.“
„Liebste Güte, Base, Sie brauchten doch nicht Angst zu haben, daß das alte Gerümpel hier mitsamt seinem kostbaren Inhalt fortgetragen werde? Was sollte denn passieren? Vor was hatten Sie Angst?“ Ich legte ihr die Hand auf die Schulter; sie sah so schrecklich bekümmert aus.
„Ja, freilich,“ murmelte sie, „aber es ging eben doch nicht!“
„Hat er es Ihnen verboten?“
„Gott bewahre, Anneliese, o nein, nein! Im Gegenteil, er hat ’mal gefagt, ob ich denn festwachsen wollte in meiner Stube. Aber – es ging doch nicht!“
„Ist es wahr, daß Brankwitz fort ist?“
„Anneliese, das wissen Sie nicht? Er ist in Amerika. Die Nacht noch, in der Mama starb, haben sie alle Drei zusammengesessen bei verschlossenen Thüren, Ihr Stiefvater, Brankwitz und Olga Sellmann, und haben verhandelt. Es ist heftig zugegangen, sehr heftig, aber dann ist Ruhe geworden. Frau Sellmann ist zuerst abgereist, und am Begräbnistage auch Herr von Brankwitz. Einmal ist er noch wiedergekommen, da haben sie sich wieder lange eingeschlossen, und endlich ist er ganz fort mit dem Hamburger Schnellzug. Wollmeyer erzählte, er wolle nach San Francisko, ‚den sehen meine Augen nicht wieder‘, setzte er hinzu, aber er that einen Seufzer dahinterher. Was wird’s sein, Anneliese? Er hat ihn eben unschädlich gemacht – für Geld ist ja alles feil auf dieser Welt. Kurz und gut, der ist besorgt und aufgehoben!“
O weh, er hat ihm seine Papiere abgekauft, dachte ich, nun hat Robert Nordmann einen Beweis weniger. „Ach, Base, wie soll ’s werden hier! Ich glaube, ich halt’s nicht aus.“ Müde sah ich mich im Zimmer um, das mir wie ein Gefängnis vorkam. „Ich sterbe gewiß bald, Base, und das wäre das beste!“
„Da sei Gott vor!“ rief sie erschreckt. „Es geht alles vorüber, das Gute und das Schlimme – Sie müssen leben, lange und glücklich!“
„Glücklich?“ Ich lachte auf. „Hören Sie, Base, da kommt schon mein Glück!“
Herrn Wollmeyers schwere Schritte klangen durch das Vorzimmer. Ich preßte die zitternden Hände fest um mein Taschentuch und sah ihm finster entgegen. Er trat ein und suchte mich mit etwas unsicheren Blicken.
„Ich wollte Ihnen nur sagen, wie ich mir unser ferneres Zusammenleben wünsche,“ begann er. „Ich erwarte natürlich gar keine Rücksichten von Ihnen, Sie haben mir nie Veranlassung gegeben, dies zu thun. aber das verlange ich, daß Sie wenigstens die äußere Schicklichkeit beobachten. Wir werden also unsere regelmäßigen Mahlzeiten zusammen halten; Entschuldigungen unter allerlei nichtigen Vorwänden wie Kopfschmerzen und so weiter, die Ihre gütige Mama gelten ließ, finden bei mir kein Verständnis. Ihre Spaziergänge werden sie in meiner Begleitung machen; Sie mögen Ihre Freundinnen empfangen, die Zimmer Ihrer Mutter stehen Ihnen dazu zur Verfügung; Sie mögen diese Besuche auch erwidern – aber diese eigenmächtige rasche Ausführung von allem, was Ihnen gerade durch den Kopf fährt, hört auf, meine liebe Anneliese, so lange Sie noch unter meiner Aufsicht stehen. Im übrigen –“
Ich sah ihn an von oben bis unten – er wollle mir Vorschriften machen!
Er ward um einen Schein fahler. „Im übrigen fürchten Sie nicht,“ sprach er weiter, „daß ich jemals wieder versuchen werde, Ihnen eine sorgenfreie Zukunft zu verschaffen. Sie können, wenn Sie mündig sind, mit Ihrer Hand und Ihrem Herzen beglücken, wen Sie wollen, falls Sie es nicht vorziehen, als Erzieherin Ihr Brot zu verdienen – in Armut und Edelsinn. So lange ich aber noch Pflichten gegen Sie habe, bitte ich mir Gehorsam aus. Doch darum keine Ungemütlichkeit! ’s ist immer gut, wenn man weiß, woran man ist!“ Er lachte wie früher auch nach solchen Phrasen, aber es klang anders als sonst. „Damit Sie indes sehen, daß es keineswegs eine so grausame harte Zukunft ist, der Sie einstweilen entgegengehen, teile ich Ihnen und der Base mit, daß wir das Pfingstfest auf der Mühle verleben werden – ich sage immer noch ,auf der Mühle‘ – im Schlößchen natürlich. Die Base mag sich hinsetzen und dazu in meinem Namen den Herrn Nordmann einladen. ’s ist lächerlich, daß das Gezank ewig dauern soll – es war eben ein Dummerjungenstreich, daß er davonlief. Was sagten Sie, Anneliese?“ unterbrach er sich.
Ich hatte nichts gesagt, hatte nur nervös gelacht über diese ungeheure verzweifelte Frechheit meines Stiefvaters. Die Base stand an dem Tische mit gesenktem Kopf und schwieg.
„Sie lachten? Es ist auch zum Lachen, daß man sich so herumbringen läßt; aber man wird weich, man wird wie Wachs, wenn man einen so großen Schmerz erlebt hat, wenn man in die Hand einer Sterbenden ein Versprechen gab, ein Versprechen, das gefordert wurde als letzter Liebesbeweis. Es betraf Sie und den Jungen – verstanden?“
Er griff täppisch zuthulich nach meinem Ohr; ich stieß die plumpe Hand unsanft zurück. „Sie halten mich für blödsinnig oder für ganz –“
„– furchtbar verliebt“, vollendete er neckend, als ich stockte, und blinzelte mir zu. „Meine gute Anneliese, man küßt sich doch nicht im Schlitten, im dunklen Wintermorgen, wen man sich nicht von ganzem Herzen gut ist – wenigstens Sie würden das nicht thun und einen Mann küssen, den Sie nicht zu heiraten gedenken.“
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Ich war sprachlos und fühlte, wie mir eine Flamme über das Gesicht schlug. Verwirrt, bestürzt, keines Wortes mächtig stand ich da. Mein süßes, mein heiliges Geheimnis im Besitz dieses Mannes!
„Ich will Sie nicht länger stören,“ sagte er dann, und ein heimlicher Triumph klang aus seiner Stimme. „Guten Abend, liebe Anneliese!“
Als die Thüre hinter ihm zugefallen war, schlug ich die Hände vor das Gesicht; ein rasender Zorn überkam mich. „Sie, Sie!“ rief ich der Base zu, „o, wie durften Sie das thun!“
Das alte runzlige Gesicht blickte in grenzenloser Verlegenheit zu mir empor.
„Sie haben mich verraten, mich und ihn! Sie sind schlecht, Sie sind so schlecht wie alle die andern! Und wissen Sie denn, was es war? Ein Abschied war es, für immer – und Sie – –“
„Anneliese, hören Sie mich doch, liebe Anneliese,“ jammerte die alte Frau. „Es war an dem Tage, ehe die Mama starb. Sie können sich nicht denken, in welcher Herzensangst sie Ihretwegen lebte. Sie hatte mich des Morgens an ihr Bett kommen [846] lassen und mich beschworen, Sie um Gotteswillen darin zu bestärken, Nein und wieder Nein zu sagen, wenn der Wollmeyer Sie wegen Brankwitz bestürme. Ich sah, wie sie sich quälte, und da tröstete ich sie: ,Haben Sie keine Bange, gna’ Frau, die Anneliese ist, wie man so sagt, in festen Händen; Anneliese hat den schon gefunden, der sie liebt.‘ Und ich hab’ ihr erzählt: so und so, gnä’ Frau, ein Blinder hätt’s mit dem Stocke fühlen müssen, wie gut sich die Zwei sind. Da hat sie ungläubig den Kopf geschüttelt und hat gemeint, wenn’s so wär’, dann hätt’s Anneliese ihr gebeichtet. ‚Gnä’ Frau,‘ hab’ ich ihr gesagt, ‚ich hab’s geseheu, wie sie sich küßten‘ und hab’ ihr geschildert, wie es gekommen und was für eine treue ehrliche Seele er ist und daß freilich noch mancherlei zu überwinden sei, bis es so weit wäre. – Und von der Mama muß der Wollmeyer das alles gehört haben.“
„Ich begreife Sie nicht, Base,“ unterbrach ich sie kopfschüttelnd, „da Sie doch wissen mußten –“
„Wäre Ihre Mutter am Leben geblieben, so hätte er verzichtet auf Vergeltung, Sie wissen es, Anneliese, er hat es Ihnen selbst gesagt. Aber Sie haben ihn zurückgestoßen, und – dann ist er fort und hat kein Wort mehr von Ihnen geredet.“
„Das ist recht von ihm,“ sagte ich. „Was soll er mit mir, wenn er die Last auf seiner Seele behält, die abzuschütteln er doch nur herübergekommen ist? Ich kann ihm die Ehre seines Vaters nicht wiedergeben, auch sein Vaterland nicht ersetzen. Ich bitte Sie, Base, reden Sie nichts! Er wird wissen, was er zu thun hat, so gut, wie ich es weiß. Und wenn er in jener schrecklichen Nacht alles vergaß, seinen Vater, seine Heimat, alles, um mich zu retten aus dieses Menschen Nähe, um meiner Mutter willen, so war das ein Edelmut, den anzunehmen ich mich schämen müßte, so lange ich lebe!“
„Aber, wenn Robert vergeben will?“
„Das darf er nicht, liebe Base, denn dies Recht hat er nicht. Seine künftige Frau, sie sei, wer sie wolle, kann einen unbescholtenen Namen verlangen; seine Kinder würden ihm dereinst wenig Dank wissen für diese Schwäche. Und nun will ich Ihnen noch etwas sagen, liebe Base – wenn Sie etwa die nötigen Beweise besitzen und ihm vorenthalten, so sind Sie Wollmeyers Verbündete! Das ist meine Meinung!“
„Gott im Himmel,“ wehrte die alte Frau ab, „was wollen Sie denn, Anneliese?“
„Und wenn Sie noch etwas in Händen haben – und das haben Sie – dann schicken Sie es ihm je eher je lieber, denn Sie werden schwerlich Gelegenheit finden, ihn persönlich auf der Mühle zu sprechen – er kommt nicht, das ist gewiß.“
Ich verstummte; im Vorzimmer war die Thüre gegangen.
„Anneliese, er hat gehorcht!“ rief die zitternde alte Frau.
„Nun, dann weiß er, woran er ist.“
„Anneliese, ach Gott, wenn Sie wüßten, wie er mich beobachtet, mich bewacht, mich nicht aus den Augen läßt! Er weiß ja, ich halt’s mit dem Robert, und weiß, welchen Einfluß ich auf ihn habe, drum behandelt er mich auch trotz alledem gnädig, drum will er, daß wir nach der Mühle kommen, um mit Robert dort zusammenzutreffen.“
„Da muß er also auch glauben, Base, daß Sie irgend etwas in Händen haben?“
Sie sah in eine andere Ecke und schwieg. „Er wußte, daß Hannchen etwas Derartiges besaß,“ gestand sie dann.
„Die Frau wußte von dem Schurkenstreich?“ rief ich, „Hannchen wußte darum?“
„Ach, sie wußte alles, Annelieseken, und beinahe gestorben ist sie daran. Sehen Sie, damals als der Steckbrief hinter dem Nordmann losgelassen wurde – es ist schwer, davon zu sprechen, Kind, der Wollmeyer hatte den flüchtigen Nordmann selbst angezeigt als Dieb von seines Sohnes Vermögen – da ist die Frau wie irrsinnig gewesen, denn“ – und die Base dämpfte ihre Stimme bis zum leisen Flüstern – „denn Wollmeyer selbst war der Dieb, Anneliese! Aus Hannchens Truhe hat er die paar armseligen Staatspapiere genommen, nachts, als er gedacht, die gute Seele schliefe. Nebenan in der Wohnstube hat der schwere Eichenholzkasten gestanden, und sie ist aufgewacht und hinübergeschlichen und hat ihn da hantieren sehen. Todkrank ist sie geworden noch in der nämlichen Nacht, und als sie nach ein paar Wochen wieder zur Besinnung kam, da war das Unglück geschehen – in allen Zeitungen hatte es gestanden.“
„Und die Frau – die arme Frau?“ stammelte ich.
„Was sie mit ihm geredet, weiß ich nicht, mir gegenüber schwieg sie, erst später erfuhr ich einzelnes. Aber wie gebrochen ist sie seitdem gewesen, das Kind, den Robert, hat sie geliebt, abgöttisch geradezu, als müßte sie an ihm alles wieder gutmachen, was an den Eltern gesündigt worden war.“
„Nun und der Steckbrief?“
„Ach, Anneliese, es war von Wollmeyer wohlweislich so eingerichtet, daß der erst losgelassen werden konnte, als der Arme drüben in Amerika verschwunden war und sich nicht mehr wehren konnte.“
„Es ist ja furchtbar, Base! Und das andere, das Schreckliche, das mit dem Bankrott – wußte das Hannchen auch?“
„Durch einen Zufall kam sie auch hinter diese Schuld ihres Mannes. Ach, Fräulein Anneliese, was haben wir armen Frauensleute durchgemacht seit jenem Tag! Ich hab’ gemeint, die Frau stirbt mir unter den Händen, als sie beim Durchsehen des alten Schreibtisches das Ding fand. Es war damals, als wir eben von der Mühle herunterziehen wollten, hierher. Wollmeyer hatte selbst seine Papiere in eine Kassette geräumt, die er sich eigens für diesen Zweck gekauft hatte, er war immer so eigen und sorgsam mit seinen Briefschaften, seinen Büchern; keine Seele, am allerwenigsten Hannchen, durfte an seinen Schrank. Da kommt sie einmal mit wankenden Knien und aschfahlem Gesicht in mein Stübchen hinauf, Sie wissen, das Giebelstübchen, wo der Lindenbaum durchs Fenster hereinguckt. Ich saß da und ruhte mich ein wenig aus, es war so eine arge Räumerei gewesen. ‚Dorchen, Dorchen!‘ hat sie gekeucht, ,o du Allbarmherziger, womit hab’ ich’s verdient, daß ich so gestraft werde! Ist es nicht genug, daß er das Kind bestiehlt und den Vater beschuldigt als Dieb? Nun auch das noch! Mein Tag werd’ ich nicht wieder froh, denn, siehst Du, Dorchen, jeder Bissen Brot, den wir essen, ist unrecht Gut!‘ Sie können glauben, Fräulein Anneliese, daß mir, wie ich das hörte, das Herz stillgestanden hat vor Schreck. Was die arme Seele durchgekämpft hat in den Jahren, die nun folgten, das ist nicht zu beschreiben. Zuerst hat sie versucht, ihn dazu zu bewegen, sein Unrecht einzugestehen, auf den Knien ist sie vor ihm gerutscht und hat die Hände gerungen – er hat alles geleugnet, hat gedroht, er ließe sie ins Irrenhaus sperren, und wie das nicht half, da hat er sie geschlagen. Das Papier solle sie ihm wiedergeben, das sie gefunben, das sie gänzlich mißverstanden habe, hat er gefordert. Und das mit Robert seinem Vermögen sei gar wahnsinnig, denn damals habe sie schon im Fieber gelegen und sei todkrank gewesen. Aber sie gab das Papier nicht heraus, sie log, es sei verbrannt. In Wahrheit trug sie es bei sich, eingenäht in eine Tasche. Er hat damals schon Kisten und Kästen heimlich mit dem Nachschlüssel geöffnet und nach dem Schriftstück gesucht – allein er fand nichts. Und sie, sie hatte nicht den Mut, den Mann, der ihr angetraut war, den Vater ihres verstorbenen Kindes, anzuklagen. Aber sie waren getrennt für immer, nie hat sie sich überwinden können, wieder ein freundliches Wort zu ihm zu reden. Seine Geschwätzigkeit, seine Phrasen, seine vornehme Art, seine hiesige Stellung beachtete sie gar nicht; unter vier Augen mit ihr wagte er kaum einen Laut zu sagen – er hat ausgekostet, was Verachtung heißt.“
Die alte Frau war ins Erzählen gekommen. Sie saß jetzt neben mir auf dem Fenstertritt, und beim Sprechen wickelte sie die Bänder ihrer Schürze zu kleinen Rollen auf und wieder ab, obgleich die Hände heftig zitterten.
„Base,“ sagte ich, „es ist also wahr, daß er die Nordmanns durch einen falschen Bankrott betrog?“
Sie nickte. „Er hatte ja ein paar Verluste gehabt, aber was will das sagen bei solcher Besitzung! Da ist der Brankwitz gekommen, und der mag ihm den teuflischen Vorschlag zuerst gemacht haben, und, kurz und gut, er war schwach dem Gelde gegenüber.“
„Und der Nordmann hat das natürlich gemerkt und ihn als Betrüger verklagt?“ fragte ich.
„Ja! Und da, mein Gott, da hat er halt das Fürchterliche gethan – da hat er den Eid geleistet, da hat er geschworen, daß er nichts mehr besitze, daß er alles verloren habe. Und aus Rache, sehen Sie, aus Rache stempelte er Nordmann zum Diebe.“
Sie nickte, mit starren Augen.
Alle Rechte vorbehalten.
Ein moderner Charakterspieler.
Sie können nur abbrüchige Charaktere spielen! So schnarrte Heinrich Laube, der unvergessene Großmeister unserer praktischen Dramaturgie, als Friedrich Mitterwurzer wieder einmal eine Bühnengestalt in kritischer Zergliederung dargestellt hatte, anstatt nach dem Plane des Dichters ein harmonisches Ganzes daraus zu formen.
Abbrüchige Charaktere! Das Wort kennzeichnet seinen Sprecher: hart, ohne Wohlklang, ungelenk, aber so klar, so unzweideutig, daß jeder wissen muß, was damit gemeint sei. Und in der That: der damalige Friedrich Mitterwurzer war wohl auch ein verwandlungsfähiger, abwechslungsreicher, fesselnder Schauspieler – nur jene großen, geschlossenen Wirkungen, die von harmonischen Naturen ausströmen blieben ihm versagt. Aber Laube war ein ebenso geübter als eifriger Forscher nach den Quellen wahrhafter Begabung, immer wieder horchte er nach den Regungen von Mitterwurzers Talent; immer wieder suchte er den unsteten Künstler an sich zu fesseln; immer wieder setzte er große Hoffnungen auf den, der nur „abbrüchige“ Charaktere zu spielen verstand. Laube hoffte eben, daß sich Mitterwurzer selber finden und das geniale Ungestüm seines Wesens durch strenge Selbstzucht besiegen werde.
Ehe dieser Sieg errungen war, gehörten Rollen wie Narciß zu den besten Darbietungen Mitterwurzers. Die innere Zerfallenheit im Charakter des groß angelegten, verlumpteu Narciß fand Berührungspunkte in dem Zwiespalt seines eigenen künstlerischen Wesens. Man betrachte das Bild, das unsern Künstler in der Maske des philosophischen Bummlers zeigt! Welche Weltverachtung drückt sich in den Mienen dieses empfindsamen Cynikers aus, den „nichts mehr begeistern kann“ und dem doch die Sehnsucht nach Begeisterung im Blute liegt. Wie sein Aeußeres ist auch sein Inneres entstellt von den Stürmen des Lebens; schon schleicht der Wahnsinn heran, um seine „Pantherzähne“ in des Verfolgten wirres Hirn zu drücken. Ehe es zur erschütternden Katastrophe kommt, giebt Narciß das Bild eines sprunghaften Geistes, der sich aus wehmütigen Stimmungen gewaltsam herausreißt, um in gesteigerte Lustigkeit zu verfallen. Solch jäher Stimmungswechsel gelang nun von jeher Mitterwurzer am besten. Auch in einzelnen Momenten der Verzückung erreichte er schon immer die äußerste Grenze der überhaupt möglichen Wirkung. Eugen Guglia berichtet in einem dem Künstler gewidmeten Aufsatze, bei Mitterwurzers Narciß sei der Ausbruch innerer Erregung mehrmals so heftig, als müßte eine völlige Zerstörung des Organismus die Folge sein.
Iu dieser Charakteristik des Schauspielers, die sich im „Wiener Almanach“ von 1892 findet und von Mitterwurzer selber, auf mein Befragen als sehr zutreffend bezeichnet wurde, wird der Versuch gemacht, die hervorgehobene Eigentümlichkeit seiner Spielweise physiologisch zu erläutern und zu erklären. Fast in allen größeren Partien Mitterwurzers findet sich danach ein Moment, der die innerste Natur des Künstlers heraustreten läßt, der Zuschauer empfängt dann den Eindruck „einer hochgradigen Nervenerregung, die etwas Dämonisches hat und bisweilen die Grenze des Wahnsinns streift“. Als Symptome dieses Nervenzustandes werden treffend bezeichnet: vor allem ein grelles Funkeln der Augen, ein eigentümliches Dehnen der Körpermuskeln, die Gestalt scheint über ihr gewöhnliches Maß hinauszuwachsen, die Arme geraten in fast krampfhafte Bewegungen, um zuletzt mit starr geschlossenen Fäusten in die senkrechte Lage überzugehen; konvulsivische Schauer durchzittern den Leib; die Worte werden langsam und gedehnt hervorgestoßen oder hervorgepreßt, oft halb erstickt in einem nervösen Lachen. Dies alles dauert bisweilen nur einen Moment, ist aber nie bloße Nachahmung, immer elementare Offenbarung hochgradiger innerer Erregung. Solche Symptome lassen sich in der That bei fast allen großen Rollen Mitterwurzers feststellen; ich habe dieselben auch in seinem Wallenstein beobachtet – in dem Augenblicke, da sich der Hochverräter selbst verraten sieht und alle kühnen Hoffuungen zusammenbrechen. Besonders heftig tritt diese Art Erregung in Mitterwurzers Shylock zutage – nur zumeist „über das Tragische hinaus in die Karikatur getrieben.“
Mitterwurzer selbst bezeichnete mir den Zustand, in den ihn jede bedeutende Rolle versetzt, als den einer gewissen geistigen Trunkenheit, von der sein ganzes Nervenleben erfaßt wird. Sobald Mitterwurzer den Schlüssel zu den geheimsten Tiefen des darzustellenden Charakters gefunden zu haben glaubt, wird seine Seele durch die Beschäftigung mit der betreffenden Rolle in eine erhöhte Stimmung versetzt, wird sein Inneres ganz davon erfüllt. Bei der Darstellung steigert sich dieser Zustand innerer Ergriffenheit im Gipfelpunkt der Rolle bis zur Ekstase. Wird aber das zarte Gewebe innerer Stimmung durch irgend ein zufälliges Ereignis zerstört, so versagt plötzlich die Wirkung und die Zuschauer sagen grollend: „Mitterwurzer ist heute schlecht aufgelegt!“ Der Theaterbesucher, der sich recht herzlich auf eine berühmte Darbietung Mitterwurzers gefreut hat, wird dann um den erhofften Kunstgenuß kommen und mancher begeisterte Anhänger des Künstlers ist auf diese Weise sein erbitterter Gegner geworden. Aber Mitterwurzer läßt solchen Stimmungswechsel nicht als Launenhaftigkeit gelten. Es ist mir – so erklärt er den Vorgang – als verspürte ich in meinen Nerven einen Riß. Oede Nüchternheit tritt an die Stelle der künstlerischen Begeisterung. Nichts vermag die entflohene Stimmung zurückzubringen; der Wille ist machtlos gegenüber der völligen Abspannung aller Nerven.
Solche Enttäuschungen des Publikums sind zwar ein hoher, aber doch nicht zu hoher Preis für die unvergleichlichen Genüsse, die Mitterwurzers große Kunst zu bieten vermag, so lange seine erhöhte Stimmung anhält, so lange jener Riß in den Nerven nicht erfolgt, oder – wie das Publikum sagt – so lange Mitterwurzer „bei Laune“ ist. In dieser erhöhten Stimmung sind die Leistungen unseres Künstlers nur mit der Natur selber vergleichbar. Denn darin liegt seine Größe, daß Mitterwurzer alle Bühnengestalten wahrhaft zu vermenschlichen weiß.
Um dahin zu gelangen, hatte er einen weiten Weg, denn dem Dresdener Kinde war in der Jugend Emil Devrient als bestechendes Vorbild vorangeleuchtet und sein junges, so ganz anders geartetes Talent drohte dadurch ins Deklamatorische und Theatralische zu geraten. „Alles, was ich an vornehmer Haltung, an theatralischer Pose besitze,“ erzählte mir Mitterwurzer, „verdanke ich dem Beispiel Emil Devrients, der die anmutige Würde eines Edelmanns zu verkörpern wußte wie Keiner.“ Aus eigener Kraft lernte er, den darzustellenden Charakter in seiner eigensten Natur zu erfassen und so darzustellen, daß alle seine Handlungen und Aeußerungen menschlich glaubhaft erscheinen. Dabei ist er weder durch sein Talent, noch durch seine äußeren Mittel an ein bestimmtes Fach gebunden; er spielt den Bösewicht wie die lustige Person; den Träumer Hamlet wie den Recken Quitzow; den Helden der Pflicht im „Pfarrer von Kirchfeld“ wie das Opfer des Branntweins in Zolas „L’Assommoir“. Das Erhabene wie das Rohe, das Gemeine wie das Hohe – alles, was menschlich, ist ihm nicht fremd.
Mitterwurzer leugnet nicht, daß er stets nach dem komischen Material forscht, welches, wie er meint, in jeder Rolle enthalten sei. So macht er den Shylock zur komischeu Figur und weiß den düsteren Wallenstein durch humoristische Lichtlein aufzuputzen. Ja, selbft als Richard III. streift Mitterwurzer durch stärkeres Betonen heuchlerischer Frömmigkeit und ähnlicher Züge das Gebiet der Komik, ohne dadurch die großartige Schrecklichkeit des Charakters abzuschwächen. Keines Bildners Meißel kann die Züge des Tyrannen eindrucksvoller formen, als sie sich in der Maske unserer Künstlers zeigen. Neben den tragenden Rollen der klassischen Tragödie und des zeitgenössischen Schauspiels liebt es Mitterwurzer, burleske Schwänke und Possen darzustellen. Auch darin zeigt sich seine Freude am Humor. Wer gestern über ihn geweint, soll heute über ihn lachen. Bei seinem amerikanischen Gastspiel gab er häufig den sächsischen Theaterdirektor Striese in Schönthans „Raub der Sabinerinnen“ und in dem Putlitzschen Einakter „Das Schwert des Damokles“ den Buchbinder Kleister, dem das Wort „Damokles“ nicht einfallen will. Um Mitterwurzers Vielseitigkeit zu illustrieren, führen wir auch die Maske dieser derb komischen Figur im Bilde vor.
[848] Für unseres Künstlers komische Rollen gilt das Gleiche, was über seine tragischen gesagt wurde. Auch hier begegnen wir einer gesteigerten Nerventhätigkeit, welche die Augen funkeln macht und alle Muskeln in Spannung hält. Mitterwurzers tolle Laune als Conrad Bolz in Freytags „Journalisten“, als Hagen in des lieben, alten Benedix’ „Gefängnis“ und in hundert andern Lustspielen wirkt geradezu zündend; niemand vermag sich der mitreißenden Wirkung zu entziehen, solange die gehobene Stimmung vorhält. Ein Riß – und der elektrische Strom zwischen Bühne und Zuschauerraum ist unterbrochen. Man begreift nicht, wie man über dieses Stück, wie man über diesen Darsteller jemals hat lachen können.
Unseres Künstlers Vater, der berühmte Dresdener Sänger Anton Mitterwurzer, war vor seinem Tode geistiger Umnachtung verfallen. Unter den traurigsten Jugendeindrücken begann Friedrichs künstlerische Laufbahn. Seine Mutter studierte vom Krankenbette aus mit dem Anfänger die ersten Rollen. Wenn der Jüngling verzagen wollte, bat ihn die Mutter, auf Gott zu vertrauen. In der That hatte er in den ersten Jahren seines Künstlertums solch Gottvertrauen ganz besonders nötig. Nach Gastspielen in Meißen und Tetschen fand er Stellungen in Liegnitz und Plauen.
Ging es dort noch leidlich, so folgte dann in allen größeren Städten, in Berlin, Breslau und Leipzig, ein Durchfall dem andern. „In Breslau habe ich seither nie rechten Erfolg,“ behauptet Mitterwurzer. Hülsen löste den für Berlin schon abgeschlossenen Vertrag. Nach Dresden, München, Kassel wandte sich der junge Mann vergebens, er fand keine Stellung. Da wagte es Laube noch einmal in Leipzig. Posa und Coriolan neben zahlreichen Lustspiel- und Possenfiguren trugen dem Künstler Erfolge ein, und der Weg zum Wiener Burgtheater war geebnet. Zwar interessierte Mitterwurzer die Wiener lebhaft, aber, was uns heute als edler Wein mundet, war damals noch gährender Most. Bei der Generalprobe von Goethes „Faust“ fragte der höfische Direktor Dingelstedt: „Werden Sie abends den Mephisto ebenso spielen, lieber Mitterwurzer?“ – „Gewiß, Herr Hofrat.“ – „Dann werden Sie durchfallen,“ schmunzelte Baron Dingelstedt. – „Er hat natürlich recht gehabt,“ fügt Mitterwurzer der Erzählung dieser Episode trocken hinzu. Immer freilich konnte er dem spottlustigen Herrn Hofrat nicht Recht geben. Das Verhältnis zwischen beiden wurde so unleidlich, daß Mitterwurzer beim Kaiser Franz Joseph seine Entlassung aus dem Burgtheater als Gnade erbat. Dann wirkte er in Wien am Ringtheater, am Stadttheater, den beiden inzwischen abgebrannten, und weiter am Carltheater insbesondere als Regisseur verdienstlich. Auch in dieser Eigenschaft galt ihm ein Laubesches Leitwort: „Es muß Hindernisse geben auf dem Theater!“ Wie er danach das Bühnenbild stets durch realistische Ausstattung lebendig zu gestalten wußte, so beschleunigte er auch in realistischer Weise das Tempo der Rede und verbannte dadurch die Langeweile aus dem deutschen Lustspiel.
Nach langen, ebenso erfolgreichen, wie für sein Künstlertum gefahrvollen Gastreisen gehört Mitterwurzer heute wiederum dem Burgtheater an. Den Zwiespalt in seinem Wesen hat er zu meistern gelernt, den Gefahren des Virtuosentums ist er entronnen, er steht im Zenit seiner Laufbahn. Es ist ein entschiedenes Verdienst des jetzigen Burgtheaterdirektors Dr. Burckhard, daß er der ersten deutschen Bühne diesen genialen Schauspieler zurückgewonnen hat. Und könnte Altmeister Laube jene Reihe großdurchgeführter Gestalten sehen, die uns Mitterwurzer als „jüngster“ Hofburgschauspieler bewundern läßt, er würde gerne eingestehen, daß sein bedeutendster Schüler heute Besseres spielen kann als – „abbrüchige Charaktere“.
Gerhard Ramberg.
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Der Böse.
Die unterhalb des Ortlers, stille Menschen, die mit der Natur um ihr bißchen Wiesenland kämpften, was wußten die in ihrer Weltabgeschiedenheit von Leidenschaften? Außer etwa, wenn dem Aelpler in der Bergeinsamkeit einmal ein Gemsbock in den Weg lief; dieser Anfechtung vermochte keiner zu widerstehen. Im übrigen ordneten sie sich in allen Dingen ihrem Kuraten unter, und keiner der neunundneunzig zur Kuratie gehörenden Seelen wäre es je eingefallen, irgend etwas besser wissen zu wollen als er, oder sich gar aus dem engen Hochthal hinauszusehnen.
Einem einzigen Burschen nur war das ewige Einerlei eines Tages nicht mehr ganz recht gewesen; er litt freilich an einem Brustübel, wohl die Hauptursache seiner Unzufriedenheit; auch hatte ihm ein Tourist gesagt – solche waren zur Zeit noch gar seltene Erscheinungen im Suldenthal – drüben im Welschland sei ewiger Sommer und der mache alle Kranken gesund.
Also geschah’s, daß zum erstenmal seit Menschengedenken einer von Sulden die Heimat verließ. Es litt ihn aber nicht lang draußen; schon nach wenigen Jahren kehrte er zurück, gesund, mit einem dunkeläugigen Weib, und es gab großes Aufsehen im Ort, weil die Fremde am helllichten Werktag goldene Ohrringe trug und ein farbiges Gehänge um den Hals. Dieser Uebermut hielt indes nur während der zwei Sommermonate an; der Welschen war’s zu kalt da oben, und nachdem sie einen Buben mit kohlschwarzen Augen zur Welt gebracht, trug man sie auf den kahlen Gottesacker, wo außer ein paar dürren Lärchlein nichts Grünes fortkam.
Der kleine Hans Sepp wuchs auf; wenn die Witwe vom Nachbarhof ihren Aloisl herüber schickte, damit die Kinder zusammen spielten, bekam sie ihren Buben nie anders als bitterlich weinend zurück und in einem Zustand, der die Thränen des Aloisl vollständig rechfertigte.
Hörte der Herr Kurat von dem gewaltthätigen Wesen des Hans Sepp, dann lachte er, daß seine sämtlichen Zahnlücken zum Vorschein kamen, und meinte, mit seinen kleinen Augen lustig zwinkernd: er soll mir nur in die Schule kommen!
Als aber das welsche Kind auf der Schulbank saß, war dem geistlichen Herrn, der zugleich das Lehramt in seiner Gemeinde verwaltete, das Lachen vergangen. Wenn er sonst nach zweistündiger Schulzeit über sein wellenförmiges Wiesenland schritt, das Brevier in der Hand und seine Gebete murmelnd, den Kopf tief drin in den Schultern, mit seinen langen dünnen schwarz bestrumpften Beinen wie ein Storch ausschreitend, da hatte er an nichts weiter gedacht als an den möglichen Heusegen, hatte ihn schon aufgespeichert gesehen an Ort und Stelle und vergnügt zur Sonne hinaufgeblinzelt: nur zu, nur recht kräftig, daß es ausgiebt!
Jezt aber fühlte sich der Herr Kurat gezwungen, immer wieder an den kleinen Kerl da auf der Schulbank zu denken, mit dem er gegen alles Herkommen nicht fertig wurde. Ein Kind, das auf die Lehre, Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen, verächtlich aus der Mitte seiner Genossen rief, die paar Hütten hätte er in einer Stunde fertig gehabt – ein Kind mit großen sehnsuchtsvollen Augen, die unter einem Wust blonder Haare wie zwei feurige Kohlen hervorglühten und alles haben wollten, was ihnen begehrenswert erschien; ein kleiner heißer Streiter um sein eigenes Selbst, das die Leute um ihn her nicht begriffen und einzuengen suchten, wie dem Gebirgsbach geschah, wenn er im Frühjahr von oben herunterbrauste und den Frieden des Thales gefährdete. Aber ihm, dem Bach, grub man ein Bett, wies ihm den Weg, daß er sich austoben und in wildem Ungestüm dem Thale zueilen konnte. Dem Hans Sepp wurde keine Bahn eröffnet, der thatendurstige kleine Mensch sollte sich in das beschauliche Leben fügen, wie man’s da oben angesichts des ewigen Winters nicht anders kannte; die grenzenlose Einsamkeit, die nie ein Vogelgezwitscher belebte, zeitigte nur stille Menschen; selbst der Kinder Lust klang wie gedämpft, wenn sie zu Füßen der Bergriesen ihre Spiele trieben. Sie nannten Hans Sepp den „Bösen“ und stoben alle auseinander, wenn er daher kam, immer bereit, irgend eine in seinen Augen notwendige Strafe an ihnen zu vollziehen, zu welchem Amte er sich kraft seiner Selbstherrlichkeit berufen fühlte.
Nur mit dem Vater machte er eine Ausnahme; der litt wieder an seinem Brustübel, und es lag ihm den ganzen Tag nichts anderes im Sinn, als sich jenseit der Berge wieder die Gesundheit zu holen. Davon sprachen die beiden den lieben langen Tag und freuten sich und lebten so mit ihrer Sehnsucht ein reiches inneres Leben, bis der Vater ein paar Gulden beisammen hatte. Da machten sie sich auf, kamen aber nicht weit, denn der Mann brach schon unterwegs an einem Blutsturz zusammen.
[849] Hilfreiche Menschen brachten den Hans Sepp mit der Leiche seines Vaters heim; ein Hund war ihnen gefolgt, ein ruppiger, langhaariger Schäferhund, und als sein Besitzer wieder heim wollte, hing sich das Kind an das Tier und wollte es nicht fort lassen, indem es unter Thränen behauptete: „Ich habe ja sonst niemand auf der Welt!“ Das rührte den Mann, und er zog ab und ließ seinen Hund zurück.
Der Hans Sepp blieb mit seinem Fex im väterlichen Hause wohnen; er wollte es so, und dagegen kam nicht einmal der Herr Kurat auf. Bei der Witwe nebenan ging der kleine selbständige Mensch in die Kost; da jedoch das, was die Frau kochte, nicht auch den Hund satt machte, so klopfte der Hans Sepp mit seinem Zinnteller an allen zehn Höfen des Thales an, überall ein paar Brocken für seinen Kameraden heischend. Dabei wurde dieser mit glühender Eifersucht bewacht, durfte nichts von einer andern als seines Herrn Hand annehmen und keinem, der ihn rief, Folge leisten.
Da nun aber zur Zeit der Fex der einzige Hund im Dorfe war, so gab’s für ihn der Anfechtungen gar viele, und wehe ihm, wenn er einer solchen zum Opfer fiel. Der Hans Sepp kannte im Strafen keine Grenzen und hieb zu, daß das Jammergeheul des Tieres das ganze Thal erfüllte. Und so war und blieb er der „Böse“, dem jedes Kind aus dem Wege ging, und der sich auch von keinem Großen wollte meistern lassen.
Es war nicht nur für den Hans Sepp eine Erlösung, als er mit zwölf Jahren der dumpfen Schulstube entwachsen war; der Herr Kurat trabte noch einmal so vergnügt über seine hügeligen Wiesen hin, seit er von dem störrischen Buben befreit war, der von allen Dingen, die da gelehrt wurden, Grund und Ursache wissen wollte und ohne Beweisführung den Glauben verweigerte.
Er that ein Uebriges, indem er den Buben zu seinem Hirten machte und ihm dafür die Kleidung stellte; für die Kost kam die Gemeinde auf.
Der Aloisl aber hütete die paar Kühe seiner Mutter, und so hatten die jungen Kameraden ihr Reich für sich – das ganze hintere Thal, vom brausenden Suldenbach aufwärts durch den sich lang hinstreckenden Lärchenwald bis dahin, wo in Geröll und Felsgestein jeder Graswuchs aufhört. Aber der Hirten Leben war kein friedliches; der arme kleine beschauliche Aloisl, der so gern still seiner Wege ging oder auf einem Baumstamm sitzend, sich selber unbewußt die Morgenstille einsog – wenn er sich noch so geborgen wähnte, eh’ er sich’s versah, erscholl des Kameraden Stimme aus der Höhe, und der Hans Sepp kam heruntergerast, seine Augen sprühten, und er lachte aus voller Brust dem Aloisl entgegen: „Gelt, gelt aber, ich habe Dich gefunden!“
So war es immer; er konnte nicht ohne den Aloisl sein, und hatte er ihn gefunden, dann quälte er ihn. Wie auf der Lauer saß er, mit Augen, die ohne Unterlaß vom Aloisl zum Fex wanderten und wieder zurück. Er war überzeugt, zwischen den beiden bestand eine geheime Liebe, und darum mußte ihnen aufgepaßt werden. Der Fex durfte nur ihm die Hand lecken, nur an ihm mit stürmischer Freude emporspringen; der andere ging ihn nichts an. Die geringste Liebkosung für diesen, nur ein freudiges Aufbellen trug dem armen Fex erbarmungslose Schläge ein. Als sich einmal der Aloisl voll Mitleid dazwischen werfen wollte, bekam er eines mit der Peitsche übers Gesicht, daß er ein blutiges Zeichen davontrug. „Du hast Deine Mutter, und der Fex gehört mir,“ wurde ihm bedeutet.
Also gaben sie sich die erdenklichste Mühe, der Fex und der Aloisl, das Wohlwollen, das sie für einander hegten, zu verbergen; nur ein unterdrücktes, wie ein Schluchzen klingendes Geheul entstieg der Hundekehle, wenn der Aloisl daherkam, der seinerseits, aber nur wenn er sich unbeachtet glaubte, schnell mit der Hand über den Kopf des Tieres fuhr. Der unglückselige Fex verriet aber dann immer die That des Aloisl durch das bodenlos schlechte Gewissen, das er zur Schau trug, und wenn er so einherschlich, mit eingeklemmtem Schwanz, und den funkelnden Blick seines jungen Herrn nicht auszuhalten vermochte, dann wußte dieser schon, wieviel die Glocke geschlagen hatte.
Hatte sich jedoch eine Kuh verstiegen und galt es, mit Gefahr des Lebens an schwindelnden Abhängen hinzuklettern, dann war der Hans Sepp an seinem Platz; denn nie war ihm wohler, als wenn er seine ganze Kraft an eine Sache setzen durfte, wenn sich’s um Aufregungen handelte, um Kampf und Gefahren, einerlei welcher Art. Nur im Frieden war er nicht zu gebrauchen.
Es machte ihn traurig, wenn er des Abends heimging durchs Thal, und die Kinder ihm scheu auswichen, oder wenn er mit dem Aloisl am Tisch der Witwe saß und sie freundliche Worte nur für ihren eigenen Buben hatte oder gar jammerte, daß der wieder ein Zeichen heimgebracht von der Hand des gewaltthätigen Kameraden. Zornig warf er dann seinen Löffel auf den Tisch und ging hinüber in sein verwahrlostes Heim, wo die Spinnen ihr Wesen trieben und die Fensterscheiben, vom Staub wie verschleiert, kaum ein gedämpftes Licht einließen. Da saß er in der Totenstille seiner Einsamkeit, die Arme um seinen Fex geschlungen, und haßte sie alle, die Menschen, haßte sie grenzenlos und nahm sich vor: „Ihnen zu leid bin ich bös’, denn sie alle miteinander verdienen’s nicht besser!“
Es war sein Schicksal, er mußte grausam sein auch gegen die, welche er liebte. Er riß im Schweiße seines Angesichtes junge Bäume aus dem Erdreich und schleppte sie hinunter zum Abhang, von wo er sie jauchzend dem tosenden Bach überlieferte; dann mußte der Fex herhalten und mit Gefahr seines Lebens dem reißenden Wasser den Raub abkämpfen, während der Aloisl droben vor Angst schrie und den Kameraden anflehte, von seinem Beginnen abzulassen. Da lachte der Hans Sepp und verhöhnte ihn, und obwohl ihm selbst das Herz vor Angst um seinen geliebten Fex zu zerspringen drohte, er gab nicht nach und hörte nicht auf mit Rufen und Befehlen, bis das Tier stolz erhobenen Hauptes ihm die Beute zu Füßen legte.
Eines Tages hatte sich eine von den Kühen des Aloisl verstiegen; der Hans Sepp, sofort bereit, das Tier herbeizuholen, befahl dem Fex, bei der Herde zu bleiben, und machte sich auf den Weg. Nachdem er seine Aufgabe gelöst und die Kuh auf einen gangbaren Weg gebracht hatte, setzte er sich einen Augenblick nieder, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen; plötzlich beugte er das Haupt weit vor und lauschte hinab; da unten, wo er den Fex gelassen, hörte er des Aloisl Stimme. Er schlich hinab, und durch eine Lichtung der Bäume sah er den Kameraden und zu dessen Füßen den Fex, mit dem Kopf auf des Buben Knien.
Wie der Blitz brach der Hans Sepp durch die Bäume und rutschte jählings über Wurzeln und Stoppeln zu den beiden hinab. Der [850] Hund heulte laut auf und eilte geduckt davon, als spürte er schon im voraus die Schläge, die seiner warteten. Und der Hans Sepp erhob den Stock und stürzte mit einem Wutgeschrei dem Tier nach. Aber der Aloisl ergriff den Kameraden beim Wams und hielt ihn fest und keuchte es ihm ins Gesicht: „Böser – o Du Böser!“
Da that der Hans Sepp einen Stoß mit der Faust gegen des Genossen Brust; der taumelte, überschlug sich und stürzte im nächsten Augenblick in den zischenden Bach hinab, der ihn verschlang. – –
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Stunden waren vergangen, der Hans Sepp watete im Schnee, hoch droben auf dem Kamm des Ortlers; er wußte nicht, wie er heraufgekommen war; besinnungslos vor Entsezen war er dem Orte seiner That enteilt, von dem Gefühl seiner Schuld getrieben wie mit Peitschenhieben; blindlings war er über Spalten gesprungen, auf dem Bauche über Gletscher gekrochen. Und nun stand er oben in der Ureinsamkeit des Bergriesen und vernahm nichts weit und breit als das Atemholen seiner eigenen sündigen Brust.
Mit einem lauten Aufschrei brach er im Schnee zusammen.
Als er erwachte, lag er warm gebettet unter einem schützenden Dach; es fing eben an zu dämmern; ein dunkelbärtiger Mann beugte sich über ihn, lachte ihm zu und reichte ihm ein Glas Wein und ein Stück Brot. Hans Sepp setzte sich auf und aß und trank. Von dem, was der Mann zu ihm sagte, vermochte er nichts zu verstehen, aber soviel erriet er, daß er sich in der auf dem Kamm des Ortlers errichteten Schutzhütte befand, und die Männer, die sich um ihn her bewegten, Bergsteiger waren. Nachdem sich diese überzeugt hatten, daß der Bub, den sie im Schnee aufgefunden hatten, lebte und mit Lust aß, streckten sie sich unverzüglich auf ihren Pritschen aus, denn eine Verständigung blieb ausgeschlossen, da sie Italiener waren.
In der Frühe, als sie aufbrachen, wollte sich ihnen der kleine Mensch ohne weiteres anschließen; sie zeigten hinunter in sein Heimatthal, ob er dahin gehöre, aber er schüttelte den Kopf, als ginge es ihn nichts an; auch von Trafoi jenseit des Ortlers wollte er nichts wissen. Auf das Gebaren der Männer hin, die ihn durchaus nicht mitnehmen wollten, blieb er endlich zurück, auf der Schwelle der Hütte kauernd, wie in sein Schicksal ergeben.
Die Wanderer schritten über den Grat des Ortlers, angeseilt einer an den andern, mit Steigeisen und Pickel bewaffnet. Als sie, einen Augenblick von ihren Mühsalen rastend, sich umschauten, sahen sie zu ihrem Entsetzen den Buben hinter sich herkommen; nur mit einem Stock versehen, kletterte er die schmale Kante entlang, rechts und links schwindelnden Abgrund; dem kaum Vierzehnjährigen schien das Leben keinen Deut zu gelten. Einer der Männer kam ihm ein Stück entgegen, dann nahmen sie ihn in ihre Mitte, nachdem sie ihn mit dem Nötigsten versehen hatten.
Fünf Tage gingen so hin unter allen erdenklichen Strapazen, unterbrochen von einer gelegentlichen Rast in den da und dort für die Bergsteiger errichteten Schutzhütten. Der Unternehmer der Tour war ein junger Italiener mit seinen drei Führern, von denen der kühnste, den sie Felice nannten, in Hans Sepps Augen der Held war; ihm nachzueifern und ähnlich zu werden, war fortan sein ganzes Bestreben. Als dem Felice der Eispickel in eine Lawinenrinne hinuntersauste und kein Mensch daran dachte, ihn wieder zu holen, war’s der Hans Sepp, der in aller Stille die That unternahm. Die Männer hatten sich auf dem Plateau des Hochjoches an einer windgeschützten Stelle gelagert und mit Speise und Trank gestärkt, als der Bub völlig atemlos, mit leuchtenden Augen auf den Felice zutrat und ihm seinen verloren gegebenen Pickel hinreichte. Der junge Italiener, ganz hingerissen von des kleinen Mannes That, griff in die Tasche und schenkte dem Hans Sepp ein großes Silberstück. „Braver, Braver!“ nickte er ihm zu, mehr wußte er nicht von deutschen Lauten, aber diese reichten hin, dem Burschen die Röte der Scham in die Stirne zu treiben. Wie es ihm plötzlich wieder in den Ohren gellte, das „Böser, o Du Böser!“ – jene letzten Worte des Aloisl.
Unter den Gefahren, wenn ihm die Anstrengung Denken und Fühlen raubte, schwieg jene innere Stimme, um ihn dann freilich in den Augenblicken der Ruhe um so lauter zu verfolgen. Wo war sie nun hin, die ihn so plötzlich durchzuckende Freude über das erste eigene Geld, das seine Hand umschloß? Er war der Brave nicht, für den die Männer ihn hielten – der Aloisl war tot durch ihn, für immer von der Welt genommen; es gab keine Sonne mehr für den Armen, keinen Feiertag, nichts mehr, was ihn freuen konnte. – Ich darf auch nichts haben, flüsterte eine innere Stimme in Hans Sepps Brust, für mich soll’s auch keine Freude mehr geben auf Erden. Und mit einem tiefen Seufzer und Thränen an den Wimpern, ließ er sein Geldstück in eine Felsspalte gleiten; es war eine That für ihn, und er glaubte allen Ernstes, halbwegs wenigstens den lieben Gott versöhnt zu haben.
Allein trotzdem überkam ihn auf der ganzen Wanderschaft nie wieder auch nur ein einziges Mal jene plötzliche Fröhlichkeit, wie sie ihn daheim so oft erfaßt hatte, daß er wie ein Verrückter schreien und jauchzen mußte, als warte auf ihn irgend ein großes unermeßliches Glück. O ja, er hatte es schön gehabt, wenn schon er mit allen in Fehde gelebt; jetzt hatte er sein Recht verscherzt und durfte nie wieder Gericht halten über die andern, denn von allen Menschen hatte er das Schlimmste gethan.
(Schluß folgt.)
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Ein Schwindelfest.
Lügen haben kurze Beine“, sagt das Sprichwort. Wenn das auf irgend etwas zutrifft, so ist es unser heutiges öffentliches Nachrichtenwesen. Es kommt ja auch heute noch vor, daß aus Absicht oder Unverstand eine falsche Kunde in die Welt hinausgesandt wird – aber ihre Herrlichkeit ist meist nur von kurzer Dauer. Mit derselben Blitzesschnelle, mit der sie selbst nach allen Richtungen hin saust, folgt ihr die Gegenmeldung, und oft geschieht’s dem erstaunten Zeitungsleser, daß er Behauptung und Widerlegung zugleich in einer Nummer aufgetischt erhält.
In Kriegszeiten, wo der Verkehr den mannigfaltigsten Störungen unterliegt, ist es schon eher möglich, daß Fälschungen ein längeres Leben fristen; das haben die Franzosen im Jahre 1870 zur Genüge erprobt. In früheren Tagen aber gar, wo die Hilfsmittel zur raschen Beförderung von Nachrichten äußerst kümmerlich waren, konnten die fettesten Zeitungsenten tage- und wochenlang ungestört umherflattern, bis endlich auch sie das wohlverdiente Schicksal aller Enten ereilte – das Dementi.
Ein tolles Stücklein dieser Art hat in Frankreich während des sogenannten pfälzischen Erbschafts- oder Orleans’schen Krieges gespielt, während jenes Krieges, den Ludwig XIV. gegen die gewaltige Koalition fast des ganzen übrigen Europa führte und dessen unselige Spuren noch heute so manche Trümmerstätte im pfälzischen und badischen Lande bezeichnet, allen voran die Ruine des Heidelberger Schlosses.
Der Anfang Juli 1690 hatte für Ludwigs Waffen manchen Erfolg gebracht. Der Marschall von Luxembourg hatte bei Fleurus über die Deutschen und Holländer gesiegt, der Admiral Tourville die englisch-holländische Flotte in der Nähe der Insel Wight geschlagen. Paris und Frankreich taumelten von einem Siegesfest ins andere. Da war es denn sehr unangenehm, daß unmittelbar darauf Ludwigs Schützling, der entthronte König Jakob II. von England, als Besiegter von Irland nach Frankreich zurückkam. Sein Gegner, König Wilhelm III. aus dem Hause Oranien hatte ihm am Boynefluß eine schwere Niederlage beigebracht, allerdings selbst dabei seinen Feldherrn, den Marschall von Schomberg, eingebüßt.
Sei es nun, daß man die Hiobspost aus Irland überhaupt nicht unter die Leute kommen lassen oder daß man den schlechten Eindruck verwischen wollte, den sie gemacht hatte, kurz, es wurde ein Gaukelspiel in Scene gesetzt, wie seinesgleichen in der Weltgeschichte vergeblich zu suchen sein dürfte. Wie weit Ludwig XIV. selbst dabei beteiligt ist, ob er zu den Betrogenen oder zu den Betrügern gehört, geht aus den Quellen nicht genau hervor; wahrscheinlicher ist unter allen Umständen das letztere.
Noch waren die Pariser erschöpft vom vielen Festefeiern, als am Morgen des 28. Juli um 3 Uhr in der Frühe schon wieder Freudenschüsse aus den schweren Geschützen der Bastille über die Stadt hindonnerten. Königliche Beamte rannten von Haus zu Haus, schlugen mit ihren Stäben gegen Pforten und Fensterladen und schrieen: „Stehet auf, stehet auf und zündet Freudenfeuer an, denn der Prinz von Oranien und der Marschall von Schomberg sind tot!“ Labadie, der Kammerdiener des Königs Jakob, hatte die Botschaft in eiligem Ritt von St. Germain en Laye nach der Hauptstadt gebracht, und Ludwig XIV. hatte, wie gesagt als Mitbetrogener oder Mitbetrüger, die feierliche Begehung dieses frohen Ereignisses befohlen. Die Pariser sprangen auch gehorsamst aus den Betten, kleideten sich an, eilten hinaus auf Straßen und Plätze, um pflichtschuldigst als gute Patrioten und getreue Unterthanen den öffentlichen Jubel mitzumachen. Den ganzen Tag über legten Umzüge mit lärmender Musik, lodernde Freudenfeuer, große Ansammlungen angenehm erregter Volksmassen Zeugnis ab für die pünktliche Befolgung des königlichen Befehls. Da und dort wurde im Freien an wohlbesetzten Tafeln gespeist, die Kaufmannschaft von Paris ließ vor dem Rathaus mächtige Weinfässer auffahren und ihren Inhalt an das jauchzende Volk verteilen, auch die Geistlichkeit, insbesondere der Franziskanerorden, beteiligte sich auffällig am Festlärm, indem sie vor ihren Klöstern und Kirchen Feuerwerk abbrannte und ebenfalls Wein in Strömen spendete. Zur Würze des Jubels diente grausame Verhöhnung des angeblich toten „Prinzen von Oranien“ oder „Wilhelm von Oranien“, wie man den englischen König geringschätzig betitelte. Vorübergehende wurden gezwungen, die Gesundheit König Jakobs II. auszubringen und Wilhelm von Oranien zu verwünschen. Große Bildnisse des Oraniers wurden umhergeschleppt, vom Pöbel mit Steinen und Schmutz beworfen; auf einem dieser Plakate war Wilhelm III. dargestellt, wie er vom Teufel mit den Worten empfangen wird: „Auf Dich habe ich seit zwei Jahren gewartet!“ Denen, die sich nach Aufhebung des Edikts von Nantes gezwungenerweise zur katholischen Staatskirche bekehrt hatten, heftete man das Bild des protestantischen Herrschers an Thüren und Fenster und zwang sie, unter Androhung der Ausplünderung, das Bild auszulösen. Und selbstverständlich gab es in diesen Tagen keine Polizei, die Ausschreitungen verhindert hätte.
Wie in Paris, so draußen im Lande. Die Kuriere Ludwigs hatten überall hin den Freudenbefehl getragen, und wo er eintraf, wurde auch zur Ausführung geschritten. Nach Lyon gelangte er am 30. Juli, einem Sonntag, worauf alsbald große Freudenfeuer angezündet wurden. Drei Tage hindurch mußten auf Anordnung der gestrengen Obrigkeit die Läden geschlossen bleiben, „zur Erhöhung der Feststimmung“. In Sedan ließ am selben Tage die ehrsame Stadtverwaltung fünf große Freudenfeuer auf öffentliche Unkosten unterhalten. Den Beginn der Festlichkeiten zeigten dreißig Kanonenschüsse und drei Gewehrsalven der Besatzung vor der Wohnung des Gouverneurs und die Bürgerkompagnien antworteten gleichfalls mit drei Salven und zogen dann in feierlichem Parademarsch am Dauphinsbrunnen vorüber, der an diesem Tage Wein spendete. König Wilhelms Bildnis, mit der den Holländer kennzeichnenden Tabakspfeife im Mund, wurde an verschiedenen Stellen unter Hohn und Spott verbrannt, ja vor dem Kloster der Kapuziner sah man sogar Wilhelms Gemahlin Maria in lebensgroßem Spottbild aufgehängt, obwohl sie die Tochter des von Frankreich beschützten Jakob II. war. Und damit nicht genug! Am andern Morgen ward mit dem Bilde des Königs ein Spottleichenbegängnis veranstaltet, das auf dem städtischen Richtplatz endigte und bei dem der wüsteste Unfug getrieben wurde.
Zu Orange in der Provence feierte man das improvisierte Nationalfest erst am 4., 5. und 6. August. Am Abend des letztgenannten Tages fand sogar in der dortigen Domkirche ein feierliches Tedeum statt unter Teilnahme der ersten Würdenträger und großem Zudrang der Bevölkerung.
Besonders toll ging es in der England benachbarten Provinz, in der Normandie zu – vierzehn Tage dauerte dort die Ausgelassenheit bei der Bevölkerung und den Behörden. Auf den Straßen rief man den Vorübergehenden zu: „Wilhelm von Oranien ist tot!“ Wer nicht sofort einstimmte, wurde mißhandelt, wer widersprach, mußte für sein Leben fürchten. In Dieppe wurde Wilhelms Bild an den Galgen genagelt und auch sonst aufs schnödeste verhöhnt und beschimpft. Eben dort in Dieppe hing auch in einem Wirtshause seit alter Zeit das Bildnis irgend eines oranischen Prinzen. Niemand hatte seither daran Aergernis genommen; jetzt aber erschien die gesamte Richterschaft von Dieppe in feierlichem Aufzuge, begleitet von Trommlern und Bewaffneten, in dem Wirtshause und gebot strengstens die sofortige Abnahme des hochverräterischen Bildes. Büttel und Häscher mußten sich seiner bemächtigen, und nun bewegte sich der ganze Zug in größtem Ernste unter Trommelwirbel nach dem Gefängnis der Stadt, wo das Gemälde feierlich als Arrestant zur Haft gebracht wurde.
Wie weit bei all diesen Tollheiten ehrlicher Glaube an das frohe Ereignis oder aber liebedienerischer Eifer gegen den „Roi Soleil“, gegen den „Sonnenkönig“, den Sporn bildete, läßt sich im einzelnen schwer unterscheiden. In Paris hatte übrigens einer der ersten damaligen Kupferstecher eine künstlerisch wohlgelungene Darstellung „des in Irland stattgehabten Leichenbegängnisses des Prinzen von Oranien“ angefertigt und viele Abzüge zu hohen Preisen verkauft.
Wann der hinkende Bote der Aufklärung hinterdrein kam, ist leider aus dem Bericht des alten „Theatrum Europaeum“, dem wir eine Darstellung dieses „Schwindelfestes“ verdanken, nicht ersichtlich. Zu spät kam er jedenfalls, um die 50 Millionen Franken Bargeld zu retten, welche der Zauber gekostet hatte. Wilhelm III. aber hat den Jubel über seinen angeblichen Tod noch um ein Dutzend Jahre überlebt. K. S.
Unterleibstyphus.
Welch machtvollen Einfluß die zielbewußte öffentliche und private Gesundheitspflege auf Eindämmung und Vernichtung von Volkskrankheiten übt, welch unendlichen Segen aber auch das Eindringen der Erkenntnisse der Gesundheitslehre in die breitesten Schichten der Bevölkerung stiftet – das folgt in schlagender Weise aus der Geschichte der Verbreitung des Unterleibstyphus während der letzten Jahrzehnte. Wenn in München, das noch vor zwanzig Jahren vom Typhus so durchseucht war, daß viele Fremde das Weichbild der Stadt ängstlich zu meiden suchten, wenn in Wien, wo um dieselbe Zeit die Sterbeziffer dieser verderblichen Krankheit sich noch erschreckend hoch erwies – wenn dort gegenwärtig, nachdem eine gründliche Reinigung des Bodens und gehörige Versorgung mit reinem Trinkwasser zu stande gekommen ist, der Typhus zu den höchst vereinzelt vorkommenden Erkrankungen gehört, so giebt diese Gesundung, welche noch in vielen anderen Städten Deutschlands, Englands und Nordamerikas ganz auffällig nachzuweisen ist, ein unwiderlegliches Zeugnis ebenso für den Fortschritt der Wissenschaft und die Wirksamkeit hygieinischer Maßregeln wie für die Einsicht und Opferwilligkeit jener Gemeinden. Doch nicht allenthalben ist diese zu finden und nicht überflüssig erscheint Mahnung und Belehrung, um die Trägen aufzurütteln und den Lässigen ihre Pflicht vorzuzeichnen.
Denn es genügt nicht, wie in jener finsteren Zeit der Vergangenheit, wenn die Seuche wütet, die „Gottesgeißel“ mit Demut zu erdulden, zu beten und Buße zu thun; sondern die Losung lautet, bei drohender Gefahr selbst Hand anzulegen, den Grund zu erforschen und rastlos zu arbeiten, es gilt: „allen Gewalten zum Trutz sich erhalten“. Der Einzelne und die Gesamtheit müssen in edlem Streben wetteifern, die Ergebnisse der Wissenschaft zu verwerten, das Entstehen der Krankheit zu verhüten oder ihrer
[852][854] Ausbreitung entgegen zu wirken. Die Forschungen der Gegenwart haben nun dargethau, daß an dem Entstehen des Unterleibstyphus vorzugsweise gewisse kleinste Lebewesen ursächlich beteiligt sind, welche das typhöse Gift fortpflanzen. Diese Typhusbacillen, nur bei schärfster Vergrößerung unter dem Mikroskope wahrnehmbare, sehr bewegliche Spaltpilze in Stäbchenform, sind regelmäßige Begleiter der in Rede stehenden Krankheit und es wird angenommen, daß sie teils aus den Entleerungen von Typhuskranken stammen, teils aus gewissen faulenden Stoffen, welche den Erdboden durchsetzen, daß sie auf mannigfaltigen Wegen, besonders durch Nahrungsmittel, Luft und Wasser in den menschlichen Körper gelangen und diesem das Gift mitteilen. Sorgfältig gesammelte Erfahrungen in vielen Typhusseuchen haben dargethan, daß das in den Entleerungen der Kranken befindliche Gift sich durch lange Zeit, mehrere Monate und selbst Jahre lang, in verheerender Weise wirksam erhält, besonders dann, wenn nicht durch ausgiebige Spülung mit Wasser oder reichlichen Zutritt frischer, wechselnder Luft auf Verdüunung und Entfernung des Giftstoffes hingezielt wird, dieser vielmehr durch Wärme, Feuchtigkeit, in Zersetzung begriffene Stoffe einen günstigen Nährboden bekommt. Krankenwärter, die ihre Hände nicht sorgfältig reinigen, Wäscherinnen, welche sich mit der Wäsche der Kranken beschmutzt haben, Trinkwasser, das aus einem auf diese Weise verunreinigten Brunnen stammt, Milch, die mit solchem Wasser gemischt wurde, übertragen und verbreiten hauptsächlich das typhöse Gift, sind die Ursache der Entwicklung einer Epidemie. Dieses Krankheitsgift entwickelt sich aber auch selbständig in faulenden Substanzen, besonders wenn Wärme und eine nicht zu große Menge von Flüssigkeit die Brutstätten dafür günstig gestalten, die Fäulnis und Gährung im Boden fördern, und die Verbreitung geschieht am häufigsten durch das Trink- oder Nutzwasser. Senkgruben in der Nachbarschaft der Wohnräume, Schlammablagerung in den Abzugskanälen, Behälter mit faulenden Pflanzenstoffen, in der Nähe befindliche Friedhöfe sind oft als Entwicklungsstätten des Typhusgiftes unwiderleglich nachgewiesen worden. Weniger sicher ist die Annahme von dem besonderen Einflusse des Standes des Grundwassers auf Beförderung und Verbreitung des Krankheitskeimes, obgleich gewichtige Forscher einen solchen Zusammenhang betonen und meinen, daß ein tiefer Grundwasserstand die Verbreitung des Typhus am meisten begünstige, ein hoher Grundwasserstaud der Ausbreitung der Krankheit hinderlich sei. Ergebnis der Beobachtung ist es ferner, daß die Zahl der Typhuserkrankungen im Herbste am größten, im Frühjahre am geringsten ist, daß ein besonders heißer und trockener Sommer die Krankheit mehr fördert, als wenn die Sommermonate kühl und reich an Regen sind.
Wie bei jeder Krankheit ist auch beim Typhus die persönliche Empfänglichkeit des Einzelnen für das Krankheitsgift von Ausschlag gebender Wichtigkeit. Nicht jedermann ist gleich empfänglich, den Giftkeim in sich aufzunehmen und zur Entwicklung zu bringen. Eigentümlicherweise ist gerade das beste Lebensalter dieser Erkrankung am meisten unterworfen und sind sonst gesunde kräftige Individuen für dieselbe empfänglicher als zarte schwächliche Personen. Hingegen ist es sicher, daß mäßig lebende, die körperliche Reinlichkeit sehr sorgsam pflegende Menschen seltener ergriffen werden als solche, welche an ihre Verdauungsorgane große Zumutungen stellen, sich dem Trunke ergeben, in schlecht gehaltenen Wohnungen leben und sich minder rein halten. Viel vermag der Einzelne darum durch geeignete Lebensweise und zweckentsprechende Verhütungsmaßregeln zu thun, um sich zur Zeit einer Typhusepidemie vor Erkrankung zu schützen. Da Wasser, Milch und andere Nahrungsmittel sowie die Luft hauptsächlich die Verbreiter des Giftes sind, so muß der Mitteilung des letzteren auf den bezeichneten Wegen vorgebeugt werden. Verdächtiges Wasser darf in dem Zustande, wie es aus dem Brunnen oder der Leitung zum Gebrauche gelangt, weder getrunken, noch zum Waschen, zum Mundausspülen etc. benutzt, sondern es muß vor der Benutzung gründlich gekocht und dann abgekühlt werden. Durch die Siedehitze werden die im Wasser enhaltenen Schädlinge am sichersten vernichtet, während alle Zusätze von Wein, Fruchtsaft es zwar wohlschmeckend, aber nicht frei von den Giftkeimen machen. Ein gutes wohlschmeckendes Ersatzmittel für solch abgekochtes Wasser sind die natürlichen, an Kohlensäure reichen, keimfreien Sauerbrunnen, an denen ja in Deutschland und Oesterreich-Ungarn kein Mangel herrscht, die aber allerdings noch immer ein viel zu kostspieliges Getränk bilden. In gleicher Weise wie das Wasser muß die Milch vor dem Genusse abgekocht werden, während andere Nahrungsmittel, wie Brot, Obst, vor jeder Verunreinigung sorgfältig zu schützen sind. Ebenso ist für Reinhaltung der Luft durch gehörigen Wechsel derselben in den Wohnräumen, durch Vermeiden der Ueberfüllung der Schlafstätten, durch Entfernung aller Ablagerungen von Abfällen, Dünger und Schmutz aus der Umgebung der Häuser zu sorgen. Was der Einzelne nicht zu leisten vermag und was die Aufgabe eines gut geleiteten Gemeinwesens bildet, das sind die Vorbeugungsmaßregeln, welche in Beschaffung eines guten, von Fäulnisstoffen freien Trinkwassers, am besten von Hochquellwasser, in geregelter und schneller Abführung der Auswurfstoffe, in Reinhaltung der Straßen, in geeigneter Vorsorge für Armenpflege und Krankenbehandlung, in entsprechender Anlage der Kirchhöfe bestehen.
In letzterer Beziehung scheint bei der in jüngster Zeit so lebhaft erörterten Frage, ob es zweckentsprechender und für die Gesundheit der Bevölkerung angemessener sei, die Leichen zu verbrennen statt zu begraben, der Hinweis von Wichtigkeit, daß in vielen Städten gerade die Friedhöfe den Anlaß zu stetig sich erneuernden Typhusepidemien geben. Es geschieht dies besonders dann, wenn der Friedhof hoch gelegen und auf einem für Wasser durchlässigen Boden errichtet ist, während unterhalb desselben an vertiefter Stelle die Wohnhäuser erbaut wurden. Da bringt das Wasser, welches auf der Begräbnisstätte faulende, in Zersetzung befindliche Stoffe aufgenommen hat, in den Untergrund der Häuser und verbreitet von hier durch die Brunnen oder mittels der Luft die schädlichen Keime, welche das Typhusgift dem Menschen zuführen. –
Ist ein Typhusfall vorgekommen, so müssen alle Bemühungen dahin gerichtet sein, daß derselbe vereinzelt bleibe, daß es von ihm aus nicht zu Massenerkrankungen komme. Der Erkenntnis entsprechend, daß die Entleerungen eines solchen Kranken das typhöse Gift fortpflanzen, muß man dieses möglichst gründlich zu vernichten trachten. Das geschieht am zweckmäßigsten, wenn man den Ausleerungen gleich frisch bereitete starke Kalkmilch in derselben Menge zusetzt und alles eine halbe Stunse stehen läßt; Kalkmilch wird aus gelöschtem Kalk durch Aufgießen von Wasser und Umrühren rasch hergestellt, ist übrigens auch schon zubereitet sehr billig in jeder Apotheke und jedem Droguengeschäfte zu haben. Ferner muß man in den Aborten selbst für reichliche Wasserspülung und Zusatz von fünfprozentiger Karbollösung oder zweiprozentiger Lysollösung sorgen, die beschmutzte Wäsche des Kranken, getrennt von der anderen Wäsche, in ebensolche desinfizierende Lösungen legen und dann sorgfältig mit kochendem Wasser brühen, endlich muß man mit peinlicher Genauigkeit darauf achten, daß jede mit dem Kranken in Berührung kommende Person sich grüudlich reinigt, namentlich die Hände wiederholt mit Seife wäscht und daß in dem Krankenzimmer weder eine Speise gekocht, noch von Gesunden genossen wird. Wo die Verhältnisse es nicht gestatten, diese Vorbeugungsmaßregeln im Hause durchzuführen, oder wo die Gefahr der Uebertragung auf viele andere Personen vorliegt, wie in Gasthäusern, Schulgebäuden, Erziehungsanstalten, Kasernen, dort ist es geboten, den Kranken zu entfernen und in ein für ansteckende Krankheiten besonders zugerichtetes Spital zu bringen. Die verlassene Wohnung ist dann einer eingehenden Reinigung zu unterziehen, der Fußboden soll gehörig mit Seife abgewaschen, die Zimmerwände mit Brot abgerieben. das gebrauchte Bettzeug (Matratzen, Federbetten, Wäsche) mit Dampf behandelt werden. So geliugt es, die Umgebung des Kranken zu schützen.
Der Unterleibstyphus selbst ist eine der schlimmsten, das Leben bedrohenden Fieberkrankheiten, schleichend im Beginne, heimtückisch im Verlaufe, unberechenbar in den Folgen. Bevor das Gift, das in den Körper eingedrungen ist, sich durch den Sturm der fieberhaften Erscheinungen kundgiebt, verlaufen gewöhnlich zehn bis vierzehn Tage des Unbehagens, welches zumeist nicht als Vorläufer einer ernsten Erkrankung angesehen wird, ein Umstand, der manches Ungünstige mit sich briugt. Die Empfindung von Mattigkeit, Unlust zur Arbeit, Kopfweh, Appetitlosigkeit sind Erscheinungen, welche auch für den Arzt kein sicheres Zeichen geben, und erst das Thermometer bringt die Entscheidung. Die Erhöhung der Körperwärme hat nämlich beim Beginne des Typhus einen kennzeichnenden Verlauf, sie zeigt in der ersten Krankheitswoche von Tag zu Tag eine Steigerung, wobei des Morgens ein Abfall und des Abends eine Erhöhung der Temperatur stattfindet. Nun werden auch [855] die Störungen des Allgemeinbefindens, die Benommenheit des Kopfes, Schwindelgefühl, Schwäche, Durst so heftig, daß der Kranke das Bett aufsuchen muß, das er wohl zumeist durch Wochen hütet, in dem er, von Fieberhitze ergriffen, ruhig und teilnahmslos, still und betäubt liegt, oder von Wahnvorstellungen umgaukelt, sich wild herumwirft, mit Armen und Beinen gegen die Verfolger sich wehrt oder ihnen durch einen Sprung zu entrinnen sucht. Die Kräfte des Kranken, der von tief eingreifenden Darmleiden gequält wird, dessen Herz zu erlahmen droht und dessen Lungen häufig angegriffen sind, verfallen sehr rasch und erliegen auch nicht selten den gewaltigen Veränderungen, welche der gesamte Stoffwechsel durch das eindringende und sich verbreitende Krankheitsgift erfahren hat. Im günstigen Falle treten gewöhnlich zu Ende der dritten Woche die heiß ersehnten Zeichen der Besserung auf: die Körperwärme zeigt sichtlichen Rückgang, namentlich in den Morgenstunden, der Schlaf ist natürlich, ruhig, das Bewußtsein wird klarer, der Puls ist kräftiger, der Schmerz und die Spannung im Unterleibe lassen nach, das Atmen wird freier, das Gesicht erhält einen belebteren, teilnehmenden Ausdruck, und der Kranke kommt erst jetzt zum Bewußtsein, daß er schwach und elend ist. Der Arzt wird sich dann beruhigter aussprechen, wenn die Quecksilbersäule des die Körpertemperatur sorglich kontrollierenden Thermometers, welche dauernd hoch, zuweilen über 41° C. hinaufgeschnellt war, durch mehrere Tage des Abends nicht über die Norm (37° bis 37,4° C.) gestiegen ist; aber selbst dann wird er noch der Gefahren und Rückfälle gedenken, welche den Typhuskranken auch in der Rekonvalescenz bedrohen.
Im ganzen Verlaufe der Krankheit ist sorgliche Wartung und achtsame Pflege, peinliche Durchführung der geeigneten hygieinischen Maßnahmen nicht nur von großer Wichtigkeit, sondern geradezu von entscheidendem Erfolge. Das Krankenzimmer muß fleißig gelüftet werden, die Fenster müssen offen sein oder zum mindesten muß die Thüre zum Nachbarzimmer geöffnet werden, in welch letzterem offene Fenster die rasche Erneuerung der Luft vermitteln; die Temperatur des Zimmers muß gleichmäßig auf geringer Höhe gehalten werden, sie darf nicht über 15 bis 16° C. sein, denn Kühle ist dem fieberheißen Kranken eine Wohlthat. Die Beleuchtung soll nicht grell sein, zu starkes Licht soll durch dunkle Vorhänge gedämpft, heftiger Lärm, Geräusch der Straße nach Möglichkeit abgehalten werden. „Mitleid wallt auf weichen Sohlen“, sagt der Dichter. Die Pflegerin muß sich dies vor Augen halten, mit Ruhe und Sicherheit alles ausführen, was dem Kranken förderlich ist oder zur Erleichterung dient, sie muß ihm den Wunsch von den Lippen lesen und seinem Verlangen zuvorkommen. Wie viel Segen bringt eine leichte Hand, welche das Bett unermüdet herrichtet, die Unterlage erneuert, das Lager bequem gestaltet, dem Kranken den Schweiß vom Antlitz trocknet, ihm Kühlung zufächelt, seine trockenen Lippen mit frischem Wasser netzt, ihm Erfrischungen reicht, den heißen Körper mit feuchten Tüchern kühlt und all die tausend kleinen, aber doch so bedeutenden Liebesdienste erweist, deren der hilflos Daliegende dringend bedarf. Und erst die Ernährung des Kranken! Sie kann nur in der vom Arzte mit Berücksichtigung aller Umstände verordneten Weise geschehen, aber die zarte Fürsorge der Pflegenden hat einen großen Spielraum. Getränk kann und soll recht häufig gereicht werden, auch wenn es der Kranke nicht verlangt, reines kaltes Wasser oder Eiswasser jede halbe Stunde ein paar Löffel voll, oder Wasser mit Fruchtsäften (Himbeer-, Citronensaft), Reiswasser, Milch, kräftige Fleischbrühe, Gerstenschleim-, Haferschleimsuppe u. s. w., je nach dem Zustande der Verdauung und der Neigung des Kranken. Zuweilen, namentlich wenn sich Zeichen von Schwäche der Herzthätigkeit, wie sehr schwacher Puls, Kaltwerden der Füße und Hände, große Mattigkeit, Ohnmacht, kundgeben, ist wiederholtes Reichen von kräftigem Wein, Ungarwein, Portwein, Champagner, Cognac, starkem schwarzen Kaffee, Thee und anderen Reizmitteln notwendig und wirkt manchmal geradezu lebenrettend. Sowohl um in solchen Augenblicken plötzlich eintretender Herzschwäche rasch und thatkräftig einwirken zu können, wie auch um den Kranken, welcher in Geistesverwirrung sich zu schädigen vermag (mancher Typhuskranke ist schon im Fieberwahne zum Fenster hinausgesprungen), gehörig zu bewachen, ist es unerläßlich, daß Tag und Nacht eine Warteperson den Typhösen behüte. Diese sorgsame Wartung ist eine wesentliche Ergänzung und Unterstützung der ärztlichen Thätigkeit am Krankenbette. Sie ist auch nötig, um, wo dies angezeigt erscheint, das Fieber durch abgekühlte Bäder, durch kalte Waschungen und Einpackungen herabzusetzen, ein Verfahren, welches geeignet ist, manche schwere Erscheinung im Verlaufe der Krankheit zu mindern, das aber immerhin so eingreifend wirkt, daß die Anwendung desselben nur auf ausdrückliche Verordnung und nach genauer Bestimmung des Arztes erfolgen darf. Fürsorgliche Wartung ist endlich auch dann notwendig, wenn das Fieber geschwunden ist und der Kranke sich in Rekonvalescenz befindet, denn dieser ist dabei sehr leicht geneigt, durch Diätfehler verhängnisvolle Rückfälle zu erleiden. Hier heißt es, dem Andrängen des zu neuem Leben Erwachten und zu kräftigen Lebensäußerungen Hinstrebenden mit liebevollem Ernst entgegenzutreten, ihn nicht zu viel zu frühe aufstehen, nicht zu zeitig feste Speisen genießen, nicht zu viel sich geistig beschäftigen zu lassen. Je mehr es gelingt, schädliche Einflüsse fernzuhalten, Wohnung, Pflege und Ernährung nach den Gesetzen der Gesundheitslehre zu gestalten, um so günstiger verläuft im allgemeinen der Typhus und um so geringer ist auch die Gefahr für die Umgebung des Kranken.
Die Fürstin Johanna von Bismarck, deren Bildnis auf Seite 856 wir unseren Lesern aus Anlaß ihres am 27. November in Varzin erfolgten Todes vorführen, ist während ihres reichgesegneten Lebens wenig an die Oeffentlichkeit getreten. Während der gewaltige Staatsmann, dessen Liebe ihr höchstes Glück war, mit nach außen gerichteter Thatkraft die Welt umgestaltete, hat sich ihr stilles friedliches Wirken immer innerhalb der Grenzen ihrer Häuslichkeit, ihres Familienlebens entfaltet. Unter Verhältnissen, die wie wenig andere dazu angethan waren, den Sinn von dem Pflichtengebiet einer schlichten Hausfrau abzulenken, an der Seite eines Mannes, dessen Laufbahn zu den höchsten Gipfeln des Ruhms und zu einer Machtstellung emporführte, wie sie kaum noch ein zweiter Staatsmann besessen, hat sie bis ins Alter nur die eine Lebensaufgabe verfolgt, diesem Mann und den Kindern, die sie ihm schenkte, ein Heim zu bereiten und in Stand zu erhalten, das wohl groß und stattlich genug war, um Gäste darin gastlich aufzunehmen und standesgemäß zu bewirten, vor allem aber dazu angethan blieb, den Geist gemütlichen Behagens und vertraulichen Familienlebens darin festzuhalten und zu pflegen. Als das Muster einer deutschen Hausfrau wird sie daher im Gedächtnis der Nachwelt fortleben. Johanna von Bismarck war als einzige Tochter des pommerschen Rittergutsbesitzers Heinrich von Puttkamer auf Viartlum am 11. April 1824 geboren. Ihre Vermählung mit Otto von Bismarck, der kurz zuvor das väterliche Gut in Schönhausen übernommen hatte, fand am 28. Juli 1847 statt. Wie sehr Fürst Bismarck selbst stets anzuerkennen gewußt hat, was er in seiner Frau besaß, beweisen viele Aussprüche, die er früher und neuerdings gethan. „Gott hat mir ein gesegnetes glückliches Familienleben geschenkt, und ich würde wohl nicht ein so hohes Alter erreicht haben ohne meine Frau“ lautet ein solcher.
Ein schweres Brandunglück, welches in der stürmischen Nacht des 13. November einen großen Teil des thüringischen Kirchdorfs Dachwig zerstört hat, giebt uns heute Veranlassung, an die Mildthätigkeit und Barmherzigkeit unserer Leser einen Aufruf zu richten. Nicht weniger als 27 Gehöfte mit 36 Gebäuden, fast dem gesamten Haus- und Wirtschaftsgerät, der Ernte und dem Viehbestand, sind von dem Feuer vernichtet worden und 19 Familien sehen obdachlos der Unbill des Winters entgegen. Es fehlt an Nahrung, Kleidung und obendrein an Arbeitsgelegenheit. Wer zur Linderung dieser Not beitragen möchte, thut am besten, seine Gaben direkt an den Pfarrer G. Kraemer in Dachwig, Landkreis Erfurt, zu senden.
Für Schule und Haus, für die Belehrung der Jungen wie der Erwachsenen in gleicher Weise wertvoll sind zwei Werke, die wir an dieser Stelle zu Festgeschenken angelegentlich empfehlen möchten. Das eine ist, der „Deutsche Kaiser-Saal“ (Stuttgart, Union), eine Geschichte der deutschen Kaiser in Biographien von Karl dem Großen an bis herab auf unsere Zeit, bis auf Wilhelm I. Der Verfasser, Bruno Gebhardt, hat es verstanden, den vortrefflichen Gedanken, der zur Entstehung des Werkes führte, auch in vortrefflicher Weise zur That werden zu lassen, eine Reihe guter Bilder unterstützt seine anschauliche Darstellung, und so beweist das Buch aufs neue, daß, wie die Geschichte überhaupt vor allem wirkt durch die Persönlichkeiten, die sie tragen, so die deutsche Geschichte für uns erst recht lebendig wird in den Gestalten der deutschen Kaiser. – Einem ganz anderen Gebiete, dem der Naturwissenschaften, gehört das zweite Werk an, die „Naturgeschichte der drei Reiche“ von Franz Matthes (Stuttgart, Weise). In populärer Form, an der Hand vorzüglicher farbiger Tafeln wird hier der große Stoff der Zoologie, Botanik und Mineralogie in gedrängter Uebersicht behandelt, so daß das Wichtige in den Vordergrund tritt, Nebensächliches nur gestreift ist und überall das unmittelbare praktische Interesse sein Recht findet. In der That ein Werk, das mit Recht auf seinem Titelblatt den Vermerk trägt: „Für Schule und Haus!“
Am Eisenhammer. (Zu dem Bilde S. 845.) Unser Künstler führt uns in ein Hammerwerk, wo der Hammermeister und sein „Hüttenknecht“ [856] in der Ausübung ihres Gewerbes begriffen sind. Des Burschen Lodenhut mit der keck sich erhebenden Hahnenfeder deutet an, daß wir uns in einer steyrischen Hütte befinden. Mit bedächtiger Miene schiebt der Meister die glühende Stange auf den Ambos, während sein Gehilfe mit der rechten Hand die Schütze des Wasserrades zieht und mit der linken die Hammerstütze wegnimmt. Im nächsten Augenblick geht’s los und mit raschen, wuchtigen Schlägen fällt der Hammer nieder, um die glühende Stange zu strecken: denn daß jetzt gestreckt wird, zeigt uns die scharfe Form des Hammereinsatzes. Zum Glätten der Stange dient der andere, jetzt in Ruhe befindliche Hammer mit breiter Bahn, wie er links vom Hüttenmeister zu sehen ist.
Die Betriebsvorrichtung ist ungemein einfach. Der drohend gehobene Hammerkopf ist an einem etwa vier Meter langen Stiele – dem „Helme“ – von glattem Eschenholz befestigt und durch eingetriebene Eisenkeile gehalten. Den Helm umfaßt auf zwei Drittel seiner Länge ein Zapfenbaud, um dessen beide Zapfen er schwingt. Das kürzere Ende des Helmes reicht bis zur Welle des Wasserrades, welche an ihrem Umfang mit vier „Daumen“ („Kämmen“) versehen ist, die bei ihrem Umlauf das Helmende erfassen, niederdrücken und somit den Hammer heben. Damit die Arbeit flink von statten gehe und der Hammer rasch niederfalle, ist meistens ein Prellbock über dem Helme angeordnet, denn der Hammermeister weiß sehr wohl, daß man das Eisen schmieden muß, solange es warm ist. Erkaltet der Stab, so schiebt der Bursche rasch die Stütze unter den Hammer, wodurch dieser abgefangen wird und in seiner höchsten Stellung zur Ruhe kommt. Die Stange wandert in den Ofen zurück, um für die „neue Hitze“ wieder angewärmt zu werden.
Nicht ohne Wehmut wird der Hüttenmann das Bild betrachten, führt es doch ein Gewerbe vor Augen, welches lange Zeit hindurch in hoher Blüte stand und nunmehr unrettbar dem Untergang geweiht ist! Bei den einfachen Verhältnissen früherer Zeit genügte zum Betrieb des Eisenhüttengewerbes das Vorhandensein von Eisenerz als Rohstoff, von Holzkohlen als Schmelzmaterial und von Wasser als Betriebskraft. Deshalb lagen die Hütten- und Hammerwerke fernab vom Getrieb der Welt, im dunkeln Thale, am muntern Bache, umgeben von waldigen erzführenden Bergeshöhen. – Aber es war eine, wenngleich lohnende, doch mühsame Arbeit, die Gewinnung des Eisens nach alter Weise. Ein Meister mit zwei Hüttenknechten konnte, wenn’s gut ging, täglich 2000 Pfund Eisen fertig stellen. Was ist das, mit der heutigen Leistung verglichen! Ein mittlerer Hochofen unserer Zeit liefert rund 60000 Kilo täglich, und in der Bessemerbirne werden innerhalb 25 Minuten 6000 Kilo Roheisen zu Stabeisen oder Stahl umgewandelt. Auch das Strecken des Eisens und des Stahles wird jetzt mittels Walzen bewirkt, die glatte Stäbe von jedem gewünschten Querschnitt liefern, vom dünnen Nageleisen bis zum schweren Bauträger.
Dem „Hammer“ unseres Bildes ist vor 50 Jahren insbesondere in dem von Nasmyth erfundenen Dampfhammer ein übermächtiger Nebenbuhler erwachsen. Der Dampfhammer findet Verwendung von der geringen, für Kleinschmiede erforderlichen Größe bis zu dem mächtigen Riesen, unter dem Krupp die schweren Küstenkanonen und die mächtigen Schiffsachsen ausschmiedet.
Nur an wenigen Orten, in den Alpenländern, den Pyrenäen, in der Mark haben sich die Eisenhämmer unseres Bildes erhalten, aber täglich wird ihr Kampf mit der neueren Technik schwieriger, und stetig vermindert sich ihre Anzahl. In absehbarer Zeit wird der letzte Schlag eines solchen Eisenhammers erdröhnen.
Unglückliche und glückliche Werbung. (Zu den Bildern S. 852 und S. 853.) Nicht jedem gelingt der große Wurf; nur „wer das Glück hat, führt die Braut heim“. Das muß sehr zu seiner Ueberraschung der jugendliche Freier auf unsrem Bilde S. 852 erfahren. So siegessicher hat der Herr Baron das Schloß seines Gutsnachbars betreten und nun, nach kaum einer Viertelstunde, ist der schöne Traum jäh dahin. Die resolute Dame, deren Hand er sich erbitten wollte, hat ihn gar nicht recht zum Wort kommen lassen, sie hat aber zur Erwiderung eine sehr deutliche Blumensprache geredet: der Strauß, den er ihr mit einigen verlegenen Ausdrücken über den Zweck seines Kommens überreichte, flog im nächsten Augenblick auf das spiegelnde Parkett. Was bleibt da dem Vater der schönen anderes übrig, als die derbe Zurückweisung der Tochter in eine höfliche Ablehnung des „überaus schmeichelhaften“ Antrags zu übersetzen, ein höchst schwieriges diplomatisches Kunststück, das seine Frau und sein Sohn mit atemloser Neugierde beobachten! Von Grund aus verschieden hat sich die Werbung eines andern Freiers gestaltet, den uns der Künstler S. 853 ebenfalls als einen eleganten Vertreter der Rokokozeit vorführt. Dieser Glückliche hat die Haupt- und Staatsaktion der Werbung nach allen Regeln der Klugheit vorbereitet. Nicht nur daß er sich schon lange vergewissert hat, wie völlig ihm das Herz der Dunkellockigen unter den beiden Schwestern zugethan sei, er hat als ein Mann, der die Welt kennt, auch die künftige Schwiegermama zu bezaubern gewußt. Und so verläuft denn die Werbung wie ein Sieg ohne Kampf. Es ist so: wer das Glück und – die Schwiegermama für sich hat, der führt die Braut heim!
Kleiner Briefkasten.
R. G. in Chemnitz. Wenn Sie den Inhalt der ersten Beilagen-Seite jeder Nummer der „Gartenlaube“ sich erhalten wollen, brauchen Sie nur die dritte und vierte Seite der betr. Blätter abtrennen und die beiden ersten Seiten mit einbinden zu lassen. Der Band wird dadurch nicht wesentlich stärker werden.
Str. in Jpsheim. Daß ein Grand mit drei Faussen verloren wird, ist nichts Seltenes: Ihre Angaben reichen nicht aus, um daraus eine interessante Skataufgabe zu gestalten.
Marie v. L. in Danzig. Sie sind im Irrtum. Geben Sie uns gefälligst Ihre vollständige Adresse an!
Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (14. Fortsetzung). S. 841. – Friedrich Mitterwurzer. Bild. S. 841. – Am Eisenhammer. Bild. S. 845 – Ein moderner Charakterspieler. Friedrich Mitterwurzer. Von Gerhard Ramberg. S. 847. (Mit Bild S. 841.) – Der Böse. Von Hermine Villinger. S. 848. Mit Abbildungen S. 84S und 850. – Ein Schwindelfest. S. 851. – Unterleibstyphus. Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch. S. 851. – Unglückliche Werbung. Bild. S. 852. – Glückliche Werbung. Bild. S. 853. – Blätter und Blüten: Die Fürstin Johanna von Bismarck. S. 855. (Mit Bildnis S. 856.) – Ein schweres Brandunglück. S. 855. – Für Schule und Haus. S. 855. – Am Eisenhammer. S. 855. (Zu dem Bilde S. 845.) – Unglückliche und glückliche Werbung. S. 856. (Zu den Bildern S. 852 und 853 ) – Kleiner Briefkasten. S. 856.
In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
E. Werners gesammelte Romane und Novellen.
Vierter Band: Frühlingsboten. – Die Blume des Glückes. Mit Illustrationen von E. Wagner.
Die Band-Ausgabe von E. Werners Romanen erscheint vollständig in 10 reich illustrierten Bänden zum Preise von je 3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.
Inhalt der Bände: 1. Glück auf! 2. Am Altar. Hermann. 3. Gesprengte Fesseln. Verdächtig. 4. Frühlingsboten. Die Blume des Glückes. 5. Gebannt und erlöst. 6. Ein Held der Feder. Heimatklang. 7. Um hohen Preis. 8. Vineta. 9. Sankt Michael. 10. Die Alpenfee.
Auch in 75 Lieferungen zum Preise von 40 Pfennig zu beziehen. (Alle 14 Tage eine Lieferung.)
Bestellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die
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