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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

Nr. 19.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(18. Fortsetzung.)


Ulla und zwei Dirnen deckten in der Stube den Tisch, und Herr Waze saß auf seinem Spanbett, als der Knecht hereinstürzte. „Herr, Herr!“ rief dieser atemlos.

„Was schreist Du denn wie ein Jochgeier! Halt Dein Maul!“

„Einer kommt, einer von den Kuttenleuten,“ keuchte der Knecht, „und es muß der Oeberste von ihnen sein, denn er hat mich angeschaut mit Herrenaugen. Der bringt nichts Gutes!“

Herr Waze wurde blaß und rot. „Hol’ ihn der Teufel!“ stotterte er und sprang zornig auf. „Das hab’ ich jetzt von dem heillosen Unsinn, den Ihr getrieben heut’ am Morgen!“ Er hob die Faust, doch er schlug nicht. „Das Kreuz, das Kreuz – wo ist das Kreuz, das über Frau Frideruns Bett gehangen?“

„Ich weiß nicht,“ stammelte der Knecht.

„Keiner hat’s haben mögen,“ sagte die alte Magd mit scheuen Worten, „so hab’ ich’s in meine Kammer gehängt.“

„Her in die Stub’ damit!“ kreischte Herr Waze, „neben dem Ofen muß es hängen … da sieht er es gleich!“ Die Mägde eilten aus der Stube. „Und Du, hinaus in die Kammer! Die Buben sollen Ruh’ halten und keiner soll sich blicken lassen. eh’ ich nicht selber nach ihnen ruf’!“ Der Knecht rannte davon.

Mit beiden Händen griff sich Herr Waze an den Kopf, alles wirbelte in ihm. „Wär’ nur Rimiger schon daheim von der Salzaburg, so wüßt’ ich doch, wie ich dran bin!“ Da hörte er das Knarren der Fallbrücke, und im Zwinger schlugen die Hunde an; nur kurz, dann verstummten sie wieder. Herr Waze stand, wie befallen von abergläubischem Schreck. „Die Hund’ schweigen? Als käm’ einer, der zum Haus gehört, oder einer, den sie fürchten?“ so lallte er vor sich hin. „Fürchten? Fürchten? Wen soll ich denn fürchten, in meinem Haus, mitten unter meinen Knechten?“ Er wollte lachen, doch das Lachen gelang ihm nicht. Seine Augen starrten ins Leere, und er drückte die Hände über die Ohren, denn ihm war, als klänge von irgendwo eine gellende Weiberstimme: „Hab’ nur acht, Du, hab’ nur acht! Einer wird noch kommen über Dich … der soll vergelten was Du an mir gethan!“

Herr Waze schüttelte den Kopf und wehrte mit der Hand; aber das Bild, das aus vergangenen Zeiten vor ihm aufgestiegen, wollte nimmer weichen. Ihm war, als stünde er im Hof, lachend, im vollen Haar noch und schwarz gebartet … und vor ihm die Salmued, mit gefesselten Händen, Verzweiflung in den Augen und Schaum auf den verzerrten Lippen, welche schrien „Hab’ nur acht! Einer wird noch kommen über Dich … der soll vergelten was Du an mir gethan!“ „Wirf sie auf


Diensteifer.
Nach einem Gemälde von Karl Müller.

[310] Deinen Karren!“ rief Herr Waze dem fahrenden Händler zu. „Hundert Denar’ hast Du genommen; einen für jede Wegstund’, die Du legen sollst zwischen mich und die Narrendirn’! Fort mit ihr!“ Der Händler und die Knechte griffen zu; mit der Kraft der Verzweiflung wehrte sich die Gefesselte, und ihr gellendes Geschrei erfüllte den Hof: „Eigel, Eigel! Hilf, mein Bub’! Hilf mir doch! Hilf’! Hilf’!“ „Gebt ihr den Knebel!“ rief Herr Waze; da streiften seine Augen das offene Thor, und Röte und Blässe stiegen über sein Gesicht. Unter dem Thor stand Frau Friderun, mit ihren beiden Knaben, dem vierjährige Henning und dem dreijährigen Sindel. Früher, als Herr Waze erwartet hatte, war sie heimgekehrt aus dem Fischerhaus, in welchem sie mit der jungen Frau Mahtilt, dem Weib des Gelfrat, zu plaudern liebte. Ihr Antlitz wurde fahl und ihre Augen erweiterten sich, als sie das gefesselte Mädchen sah; ein paar wankende Schritte that sie, dann blieb sie stehen, ein steinernes Bild, die Gesichter der Knaben in ihren Schoß drückend, die starren Blicke auf ihren Mann gerichtet, der mit geballten Fäusten dastand, an der Lippe nagend und mit der Ferse trommelnd. Es klirrte vor ihren Füßen ... unter der wilden Kraft, mit welcher die Gefesselte sich wehrte und im Ringen alle Muskeln spannte, war der beinerne Reif zersprungen, den sie am nackten Arm getragen; wie eine Klammer haftete die eine Hälfte noch an den geschwellten Muskeln, die andere Hälfte war klirrend über die Steine gehüpft, bis vor die Füße des bleichen Weibes. Der kleine Henning hob das Bein von der Erde, doch seine Mutter riß es ihm aus der Hand. Und die Stimme der Salmued gellte: „Halt’ es fest oder nicht ... es soll nimmer lassen von Dir! Hör’ meinen Fluch ...“ Der Knebel erstickte ihre Stimme. Frau Friderun ging auf ihren Gatten zu, sie sprach kein Wort, sie hielt ihm nur das zersprungene Bein vor die Augen, dann barg sie das böse Erbe der Salmued an ihrer Brust, faßte die Hände der Knaben und schritt ins Haus. Mit funkelnden Blicken sah Herr Waze dem Weibe nach. „Macht ein Ende!“ schrie er den Knechten zu und stampfte mit dem Fuß. Als die Gefesselte auf den Karren gehoben wurde, schossen ihre Augen noch einen Blick, bei dessen stummer Sprache Herr Waze ein kaltes Grauen empfand. Er atmete auf, als der Händler mit der Peitsche auf seine Mähre losschlug und der Karren, den vier Knechte geleiteten, sich in Bewegung setzte. Knarrend hob sich die Fallbrücke und schloß das Thor ...

Das Bild der Vergangenheit zerrann vor Wazemanns Augen im Nebel. „Narretei, Narretei!“ lallte er und fuhr mit den Fäusten über die Augen. „Soll ein Weiberfluch mich schrecken?“ Und wieder sah er ein Bild: eine steile Felswand über dem See, und der Wand zu Füßen auf blutigem Geröll, lag Frau Friderun mit zerschmettertem Haupt, die Augen noch offen im Tod ...

Und als flösse ihm das eine Bild in das andere, so hörte er wieder das Knarren der Fallbrücke. Aber nein, er hörte ihr Aechzen wirklich und wahrhaftig. Es schloß sich die Brücke nicht hinter dem Karren, der die Salmued davonführte, sie hob sich hinter Eberwein, der den Hof betreten hatte. Herr Waze lauschte. Aus dem stillen Hof herauf klang eine hallende Stimme: „Führt mich zu Eurem Herrn!“

Da faßte er mit beiden Fäusten die eigene Brust, als müßte er seine taumelnden Sinne aufrütteln zu wachem Leben. Er ging zum Tisch, auf welchem schon die Metkrüge standen, und that einen langen Trunk. „So, jetzt komm nur!“ murmelte er, richtete sich lächelnd auf und schritt hinaus in die Halle. Noch eh’ er die Freitreppe erreichte, klangen Hammerschläge hinter ihm in der Stube. Der Knecht nagelte das Kreuz, welches Ulla gebracht hatte, neben dem Ofen an die weiß getünchte Wand.




22.

In Wazemanns Hof waren die Knechte und Mägde zusammengelaufen, aber sie lachten und schrien nicht wie am Morgen bei Bruder Wampos Ankunft; flüsternd standen sie, mit scheuen Augen aufblickend zu der hohen stolzen Gestalt des Mönches; durch ihre Gasse schritt Eberwein, von einem der Knechte geführt, zur Freitreppe. Noch hatte er die Stufen nicht erreicht, als Herr Waze in der Halle erschien. Wie in Ueberraschung und freudigem Staunen breitete er die Arme und rief: „Täuschen mich meine Augen oder seh’ ich recht? Ein Gottesmann!“ Er humpelte über die Treppe herab, als läge ihm das Alter schwer in den Knien. „Seid mir gegrüßt, frommer Vater, gegrüßt in meinem Haus! Es hat in der Nacht die Erd’ gebidmet, und Unheil hat mir geschwant, aber schau’: da kehret die Gottesfreud’ ein unter meinem Dach!“ Er machte Miene, seinem Gaste um den Hals zu fallen, doch aus Eberweins Augen traf ihn ein flammender Blick. Herr Waze stutzte. Wo hatte er nur diese Augen schon gesehen? Diesen Blick? Wo nur, wo? Schnell wie ein huschender Wolkenschatten flog diese Frage durch seine Sinne. Aber seine süßlichen Worte stockten nicht. „Es hat die Erd’ gebidmet, und der große Lärm hat große Freud’ verkündet! Kommt, frommer Vater, kommt! Zu guter Stunde seid Ihr eingekehrt, es steht die Tafel gedeckt, als hätt’ sie Euch erwartet .... kommt nur, kommt und streckt den geweihten Fuß unter meinen schlechten Tisch!“

Herr Waze wollte die Hand des Mönches fassen; doch Eberwein streckte den Stab zwischen ihn und sich, und seine Stimme klang wie Hammerschlag: „Ich komme nicht zum Mahl, nicht Drank und Speise such’ ich in Deinem Haus! Knecht Waze, ich komme, um mit Dir zu rechten als Dein Herr!“

Dunkle Röte schoß über Wazes Gesicht. „Du? Mein Herr?“ fuhr es ihm über die Lippen, dann verstummte er wieder, er hatte seine Maske verloren und suchte mühsam seine Fassung zu gewinnen. Da sah er die Knechte und Mägde stehen. „Was gafft Ihr?“ Das Gesinde stob auseinander wie ein Hühnerschwarm, in den der Fuchs gefahren. Der Hof war leer und still – nur im Zwinger winselten die Hunde und im Stangenkäfig trabten die gefangenen Raubtiere hinter dem Gitter auf und nieder. Herr Waze wandte sich mit gekränkter Miene zu Eberwein: „Frommer Vater, Ihr bietet mir üblen Gruß!“

„Den Gruß, den Du geworben von Deinem Herrn! Denn gewaltet hast Du in meinem Lande als ein schlechter Knecht.“

„Ein schlechter Knecht!“ Herr Waze nickte und lächelte. „Schlecht und niedrig, niedrig vor Euch! Ich hab’ es ja gleich aus Eurem Aug’ gelesen, daß Ihr es sein müßt, dem der Gadem in die Herrenhand gelegt ist. So müßt Ihr Eberwein heißen, denn Euer Nam’ ist hergegangen vor Euch wie Rauch vor dem Feuer. Und keinem Besseren, so hat es geheißen, keinem Besseren könnt’ das Ländlein übergeben sein, das Frau Adelheid .. selig mag sie ruhen im Himmel! ... zu frommer Stiftung an die Kirch’ gegeben. So grüß’ ich Euch, der Knecht den Herrn!“ Das war so bieder gesprochen und klang so ehrlich, daß Eberwein um sich blickte, als müßte er sich überzeugen, ob er auch wirklich in dem Hause sich befände, das er im Zorne gesucht. Doch als Herr Waze das Knie vor ihm beugte und nach dem Aermel der Kutte griff, um ihn zu küssen, trat Eberwein mit gefurchter Stirn zurück. „Ich höre Dich blöken wie ein Lamm und weiß doch: Du bist der Wolf! Rühre nicht an den Saum meines Kleides! Nach Deinem Gruße verlangt mich nicht. Du warst nicht eilig, ihn zu bieten. Eine Woche schon weil’ ich in meinem Land, Du hörtest die Botschaft, daß ich gekommen, aber Dein übles Gewissen hat mein Auge gemieden.“

„Frommer Vater, Herr – was denket Ihr von mir!“ Herr Waze schien von diesem Vorwurf tief getroffen in seinem schuldlosen Herzen. Wie ein Bächlein sprudelte ihm die Rede von den Lippen. Mit heller Freude hätte er die Botschaft begrüßt, welche Recka, sein „gutes Kind“, ihm gebracht; er hätte ein Mahl gerüstet und gewartet auf die willkommenen Gäste. Und als sie zu seinem Staunen nicht erschienen wären, hätte er Tag um Tag mit Söhnen und Knechten das Thal durchsucht. „Umsonst! Ich hab’ Euch nicht gefunden und hab’ schon gefürchtet, Ihr hättet wieder das Land verlassen. Das wär’ mir leid gewesen, denn ich sag’ Euch, frommer Vater, wir brauchen Euch im Thal wie das liebe Brot. Die Leut’ im Gadem sind dicke Heidenschädel ... es wird eine Weil’ wohl dauern, bis Euer frommes Wort offene Ohren findet und Euer Fuß auch überall ein offenes Thor.“

Eberwein streifte mit der Hand über die Stirne, und seine Augen blickten in das ferne Thal, diese letzten Worte hatte Herr Waze gut gewählt: sie weckten in Eberwein die Erinnerung dessen, was er beim Auszug am Morgen hatte erleben müssen. Und hatte die Glocke nicht Tag für Tag umsonst geklungen?

Mit scharfem Aug’ erspähte Herr Waze den verwandelten Ausdruck in Eberweins Zügen, und er benutzte diese Stimmung, um seinen Gast unter freundlichen Worten, welche Eberwein kaum hörte, über die Freitreppe emporzuführen. In der Halle erwachte Eberwein wie aus einem Traum; dunkle Röte floß über sein Gesicht, und seine Stimme bebte. „Ich will die Wahrheit nicht suchen [311] in Deinen Worten. Magst Du ehrlich reden oder nicht ... ich kam nicht, um Deine Gesinnung wider mich zu erkunden. Sei mir Feind – es soll mich nicht betrüben und ich will Dich nicht büßen darum, denn es ist die Art des Wolfes, daß er wider den Hirten steht. Mich hat anderes zu Dir geführt!“ Seine Stimme wurde fest und seine Augen brannten. „Seit ich mein Land betreten, hab’ ich keinen Schritt gethan, ohne Blut zu finden, das Du vergossen, ohne auf die Asche eines Lebens zu stoßen, das Du vernichtet, ohne Thränen fließen zu sehen, die Du erpreßt! Waze! Wie hast Du gewaltet in diesem Land!“

Ich, ich? Ja hör’ ich denn recht?“ Herr Waze schlug erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen. „Und Ihr, frommer Vater, Ihr glaubet von mir ...“ Er faßte Eberweins Arm. „Aber tretet doch in die Stub’, ich bitt’ Euch! Wie mögt Ihr so böse Wort’ wider mich rufen unter freiem Himmel, vor meinem lauschenden Gesind’!“

Eberwein löste den Arm. „Mag das Gesinde lauschen, es hört aus meinem Munde nichts Neues. Was Du gethan, ist ausgeschrieen zwischen allen Bergen!“

„Nein, nein, frommer Vater, man muß mich verlästert haben bei Euch! Und ich mag mir auch denken, wer es gethan: der Fischer! Glaubet ihm nicht, er ist mir feind und widersässig ...“

„Nein, Waze! Kein Wort der Klage kam über Sigenots Lippen. Wider Dich schreien die Steine!“

„Ja was denn, was? So redet doch, frommer Vater! Bei Eurem mächtigen Heiligen, der mich schützen und gnaden mög’ ... ich bin mir keiner Schuld bewußt. Sollt’ ich aber wider Wissen gefehlt haben, so redet ... ich will ja mein Unrecht einsehen und will es zum Guten wenden!“

„Zum Guten wenden? Kannst Du Tote wieder lebendig machen, vergossenes Blut zurückgießen in die leeren Pulse? Verzweiflung in Freude wandeln und Schmach in Ehre? Aber bei meinem Gott, der gerecht ist und Deine Thaten sah, Du wirst der Strafe nicht entgehen! Waze, Waze, mich faßt Erbarmen, wenn ich denke, wie Du stehen wirst vor dem ewigen Richter! Noch aber lebst Du, und ich komme, Dein Herr, und sage Dir: jeden Halm sollst Du mir wieder aufrichten, den Deine Faust nur gebeugt hat, noch nicht gebrochen! Gieb mir den armen Knaben heraus, den Du grausam gebüßt um geringe Schuld!“

Mit scheuen Augen hatte Herr Waze zu dem flammenden Antlitz des Mönches aufgeblickt; jetzt lief eine dünne Röte über seine zerstörten Züge, und staunend fragte er: „ Welchen Knaben?“ Er lachte. „Ihr meint doch nicht den Huze, frommer Vater, den Geißhirt?“

„Gieb mir den Knaben!“

„Ja wie soll ich ihn denn geben? Der Bub’ ist lang schon wieder über alle Berg’. Gegen mein Gebot ist er eingestiegen in meinen Bannberg, so hab’ ich ihn – es muß doch Ordnung sein – zur Straf’ eine Nacht ins Loch gesteckt und hab’ ihn am andern Morgen wieder laufen lassen. Er ist gesprungen wie ein Gemskitz. Und deshalb kommt Ihr, frommer Vater, und ...“

„Der Knabe ist nicht heimgekehrt.“

„Nicht heimgekehrt?“ Herr Waze machte verblüffte Augen. „So wird er wohl auf dem Berg bei seinen Geißen sein! Wo sonst? Nein, die Leut’, die Leut’ – wie die Leut’ nur reden! Aber ich kenn’ sie! Nur gleich über den Herrn schimpfen! Eine Schwalb’ laß ich fliegen ... und da heißt es am anderen Tag im ganzen Thal, ich hätt’ einen Geier streichen lassen ... und bis der Geier hinausfliegt zum Untersberg, ist schon ein Drach’ aus ihm geworden. So reden die Leut’! Kaum einen weiß ich, der das Wort wägt, sobald es ans Reden wider den Spisar geht, dem sie die Steuer erlegen müssen. Aber der Fischer, ja, der Fischer! Er ist mir feind und widersässig ... aber ich muß sagen von ihm: er hat eine redliche Zung’! Hätt er eine Klag’ gefunden wider mich, er hätt’ sie gethan!“ Herr Waze blickte zu Eberwein auf. „Und nach allem, was ich sag’ ... noch alleweil’ seh’ ich Unglauben in Eurem Aug’? So folgt mir in die Stub’ ... dort hängt das liebe Kreuz, vor dem ich bet’ all’ Morgen und Abend’, ich leg’ die Hand darauf ... und wollt Ihr noch alleweil’ nicht glauben ... wartet, ich ruf’ meine Knecht’.“ Er wollte zur Treppe eilen.

Da legte Eberwein die Hand auf seinen Arm. „Laß das, Waze! Du hast beim Kreuz geschworen ... ich glaube Dir! Und ich bin nicht lüstern nach dem Anblick Deiner Knechte, die das fromme Haus des Hiltischalk zur Schenke machten und nach dem Meßwein griffen!“

„Wildes Volk, frommer Vater! Aber wart’ nur, ich will sie lehren, Wasser zu saufen! Und jeden jag’ ich aus dem Haus, der mir den braven Hiltischalk ...“

„Verjage die schlechten und werbe Dir gute Knechte,“ fiel ihm Eberwein ins Wort, „das böse Beispiel Deiner Söhne wird sie doch verderben. Rufe mir Deinen Aeltesten, welcher Henning heißt!“

Es zuckte über Wazemanns Gesicht. „Der weilt noch im Gejaid!“ Jammernd hob er die Hände. „Hätt’ ich den Buben nur jetzt daheim, daß ich ihn herführen könnt’ vor Euch, mein frommer Vater, daß Ihr ihm ins Gewissen reden möchtet! Ach, dieser Bub’! Ist ein Mann schier an die vierzig Jahr’, und ich muß mich noch sorgen mit ihm wie mit einem zahnenden Kind. Jeder Tag bringt einen neuen Streich! Und nicht viel besser als er sind die andern. Freilich, wär’s ein Wunder! Vor fünfzehn Jahren, kaum, daß der Jüngste geboren war, haben sie ihre gute Mutter verloren und sind aufgewachsen wie die Wildling’ im Wald! Schauet hinüber, frommer Vater“ – Herr Waze deutete über den See und ließ die Stimme zittern – „dort auf der Rabenwand ist ihre Mutter Friderun über die Felsen gestürzt und noch heut’ weiß keiner, wie das Unglück hat geschehen können! Jetzt denket: sieben Buben – und keine Mutter!“

„Keine Mutter!“ Leise klangen die beiden Worte von Eberweins Lippen. Schwer atmend richtete er sich auf, schüttelte den Kopf und strich mit der Hand über die Augen, als müßte er sich gewaltsam der weichen Regung erwehren. „Schweres Los ist Deinen Söhnen gefallen, da sie die Mutter verloren, und es wär’ ihnen die üble Zucht und der wilde Mut wohl zu verzeihen, doch nicht das Laster und alles schreiende Unrecht. Henning, Dein ältester Sohn, soll stehen unter meinem Gericht! Blutschuld hat er auf sich geladen!“

Die Demut begann Herrn Waze schwer zu werden; er biß sich auf die Lippen, und seine Augen schossen einen Blitz. Um seine Wallung zu verbergen, neigte er das Gesicht, und als er wieder aufblickte, zeigte er eine betrübte Miene und kummervolle Augen. „Blutschuld! Ja, frommer Vater, schwere Blutschuld. Ich weiß schon, wen Ihr meint: die Dirn’ des Greinwalders! Ich selber bin erschrocken. Wohl hat sie lästerlich geredet wider meinen Buben und es war auch der Streich nicht so grob gemessen, als er ausgefallen ist, aber Blut ist Blut! Es soll geschehen nach Eurem Willen!“

„Nicht nach meinem Willen, nach dem Recht! Dein Sohn wird Buße leiden, und vor meinen Augen soll er bittend die Hand auf die Stirne legen, die er blutig schlug. Und dem Vater des Mädchens wirst Du Wehrgeld zahlen, nach dem Gesetz!“

Herr Waze zögerte mit der Antwort. „Ja, frommer Vater, ja, ja! Was Ihr wollt, und darüber noch! Der Bauer soll nur verlangen! Es wär’ nicht das erste Pflaster, das ich auf Wunden leg’, die der wilde Bub’ geschlagen!“

„So sage mir: was legtest Du auf die Wunden der Heilka, die den Weg zur Windach ging?“

Da verlor Herr Waze die Geduld, und er platzte heraus: „Frommer Vater, jetzt muß ich aber sagen: da hab’ ich ein hartes Reden mit Euch. Meine Söhn’ sind gewachsene Buben, ich kann sie nicht hindern, dumme Streiche zu machen. Und geht so ein heimliches Stückl schief aus ... natürlich so muß der Vater leiden, und ein Geschrei geht an ...“

„Waze!“ klang Eberweins Stimme in heller Empörung. „Das erste, was ich an Dir begreife: daß Du dem Laster Deiner Söhne zuliebe redest, Du, der Du ihnen das Beispiel gabst, wie man der Unschuld und Ehre die Gruben legt, Du, der Du dem Eigel die Salmued nahmst. Was ist geworden aus ihr? Steigt nicht der Schatten dieses Mädchens vor Dir auf? Sieht Dich ihr Auge nicht an mit drohendem Blick?“

Herr Waze stand mit klaffenden Lippen. Er hörte nicht, er starrte nur in Eberweins Augen. Dieser Blick des Mönches! Wo hatte er diesen Blick nur schon gesehen? Wo nur? Wo?

„Zitterst Du, weil einer kam, der Deiner Sünden Dich mahnt und Rechenschaft von Dir begehrt? Wahrlich, ich will meine Herde erlösen von dem reißenden Wolf! Du bist der Spisar in diesem Land gewesen!“

Herr Waze streckte die Fäuste aus, als wollte er dem Mönch an die Kehle springen; doch jählings wandelte sich der Ausdruck seiner fahlen Züge. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fuhr sich in die dünnen Haare und schrie: „Ja, ja, ja, ich hab’ gesündigt, hundertmal in jedem Tag! Einschichtig bin ich [312] gestanden in meiner Oed’, ohne Freund und frommen Rat, ohne Mahnung und geistlichen Zuspruch … da ist der Teufel stärker worden in mir als mein himmlisch’ Teil! Und jetzt, wo die Reu’ mich packt vor meinem nahen End’, jetzt wollt Ihr mich niederstoßen ins höllische Feuer!“ Er stürzte auf die Knie und umklammerte Eberweins Schoß. „Kann Euch meine heiße Reu’ nicht rühren – wer soll mich denn lösen, wenn Ihr mich verdammt? Wer soll mir denn helfen zum ewigen Heil, wenn Ihr mich verlaßt?“ Verstummend drückte er das Gesicht in die Kutte des Mönches und schluchzte.

Mit bleichem Antlitz stand Eberwein, erschreckt und erschüttert von diesem wilden Ausbruch. Thränen wogen ihm schwer; er selbst hatte ja in seinem Leben noch keine Zähre vergossen außer in tiefstem Weh oder in höchster Freude. Er hörte das Schluchzen des Greises, und das blinde Kinderherz in diesem dreißigjährigen Manne schmolz hin wie Wachs. Er glaubte an die Reue, die er schreien hörte zu seinen Füßen – und Reue war ihm heilig. Sein Zorn wich dem Erbarmen, und da war auch sein Mitleid schon geschäftig, alles Schwarze in milderes Grau zu wandeln. Einsam hatte dieser Mann gestanden, seinem wilden Blut überlassen, wie er gesagt: ohne Freund und frommen Rat, ohne Mahnung und Zuspruch. Er hatte schwere Schuld auf sich geladen; aber Wohl so manche seiner Sünden wäre verhütet worden, wenn ein treuer Mahner sich gefunden hätte zu guter Stunde. Durfte er von dem Sinkenden sich wenden, den Reuigen verstoßen, der aus seiner Tiefe die beiden Arme streckte nach der ewigen Güte?

Eberweins Augen wurden feucht, als er die Hand auf Wazes Scheitel legte. „Ihr sollt zu Gottes Liebe nicht umsonst gerufen haben. Doch stehet auf, Herr Waze – hier ist der Ort nicht, daß ich den Mittler mache zwischen Euch und dem Himmel. Morgen, in meinem stillen Kirchlein …“ Er verstummte.

Die Fallbrücke war niedergegangen und Recka sprengte auf ihrem Rappen in den Hof. Herr Waze hob das Gesicht; seine Zähren mußten rasch getrocknet sein, denn auf seinen Wangen zeigte sich keine feuchte Spur; doch demütig klang seine Stimme: „Da kommt meine gute Tochter! Ich bitt’ Euch, frommer Vater, redet vor dem Kind nicht übel wider den Vater!“

Eberwein errötete. „Es hätte solcher Mahnung nicht bedurft.“ Und während Herr Waze über die Freitreppe hinunter eilte, ruhten die Augen des Mönches auf Recka, welche aus dem Sattel glitt und den Gurt des Pferdes lockerte. „Eine wilde Taube unter Krähen!“ flüsterte er.

Herr Waze war zu seiner Tochter getreten, welche mit staunendem Aug’ den Gast in der Halle gewahrte. Mit eisernem Griff umklammerte er ihre Hand, und während ein Knecht, der gesprungen kam, das schweißbedeckte Roß nach den Ställen führte, raunte er mit zischenden Worten: „Wenn Du mich und Deine Brüder nicht verderben willst, so gieb dem Pfaffen ein freundlich Wort. Ich muß ihn im Guten halten, bis Rimiger kommt. Es wird gespielt um unser Haus, mehr noch, um mein Leben!“

Recka starrte ihn an. „Du bist mein Vater! Ich kann Deinen Tod nicht wollen.“

Lächelnd führte Herr Waze seine Tochter empor über die Freitreppe. Vor Eberwein blieb er stehen. „Seht, frommer Vater, das ist das beste Reis auf meinem Stamm, gesund und in der Blüt’. Seid gut mit ihr, und ich hoff’, sie soll Euch eine liebe Schwester werden.“

Ungestüm löste Recka ihre Hand aus der des Vaters, und seine Worte unterbrechend, sagte sie: „Wir haben scharf widereinander geredet, da sich beim Albenbach unsere Wege kreuzten. Nun find’ ich Euch wieder als Gast in meines Vaters Haus, und wir wollen Frieden halten. Hört nicht auf meines Vaters Lob … ich bin nicht, wie er sagt. Ich bin, wie ich bin, nicht gut, nicht schlecht. So biet’ ich Euch meine Hand. Wollt Ihr sie nehmen?“

Wazemanns Augen funkelten vor Zorn, und an seiner Stirne schwollen die Adern. Mit Verblüffung aber sah er wie Reckas Worte wirkten. „Ja, ich will!“ sagte Eberwein lächelnd und faßte die Hand des Mädchens. Der Gruß, welchen Recka ihm bot, hatte

Der Tanz.
Nach einem Gemälde von R. Rößler.

[313] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



rauhen Klang, doch dieser Klang war echt. Und ihm war, als fände er an dieser Hand eine Stütze, deren er bedurfte in diesem Haus. Hatte er doch im Gadem noch kein Wort gehört, welches übel redete von Wazemanns Tochter – nur der alte Kohlmann hatte gescholten wider ihren tollen Wagemut, der beim Weidwerk in den Bergen keine Höhe scheute und keine Tiefe. So faßte er die Hand des Mädchens wie ein Wanderer im pfadlosen Sumpf den grünen Zweig, der zu ihm niederwinkt.

Mit dem Ellbogen stieß Herr Waze an Reckas Arm und sagte lachend. „So führe doch Deinen Gast ins Haus!“

„Laßt Euch geleiten, Herr!“

Eberwein blickte erschrocken auf und zögerte. Da furchten sich Reckas Brauen. „Scheint Euch der Tisch, an dem ich sitze, zu schlecht für Eure Würde?“

Wortlos schüttelte Eberwein den Kopf und folgte. Als er auf die Schwelle trat und die weite Herrenstube mit der gedeckten Tafel sah, mußte er an das Stübchen in der Ramsau denken. Hatte er jenen frommen Tisch verlassen, um hier zu sitzen? Er war geflohen, wo er hätte weilen sollen, und sollte nun bleiben, wo er fliehen mußte! Wie eine Strafe erschien es ihm, was dieser Gedanke sagte. Schon zuckte seine Hand, als möchte sie sich lösen und nach dem Stabe greifen; da trafen ihn Reckas Augen, und er mußte bleiben …

Herr Waze holte die Söhne; schweigend hörte Eberwein ihre Namen und streifte mit irrendem Blick die trotzigen Gesichter. Rimiger und Henning fehlten – der letztere saß in der Kammer hinter der Thür und lauschte jedem Wort, das in der Stube gesprochen wurde. Mit verblüfften Augen sahen die Buben sich an, als Herr Waze vor das Kreuz trat, sich auf die Knie warf und zum Tischgebet die Hände faltete; eine Weile zögerten sie, dann folgte einer nach dem anderen dem Beispiel des Vaters; nur Recka furchte die Stirn und wandte sich ab; Eberwein stand und rührte weder Hand noch Lippe … er konnte nicht beten.

Lärmend trat Herr Waze mit den Söhnen zum gedeckten Tisch und wies seinem eigenen Stnhl gegenüber dem Gaste den Platz an zwischen Recka und Otloh. Ein Bärenschinken wurde aufgetragen. Herr Waze faßte ein langes Messer und stieß es in die braune Schwarte; dann hob er die Metbitsche und sagte mit heiserem Lachen: „So biet’ ich meinem edlen Gast die Minne und trink’ ihm zu als meinem Herrn! Auf Eure Gesundheit, frommer Vater!“ Er setzte die Kanne an die Lippen; sie hob und hob sich … es war ein Trunk, der nimmer enden wollte. Und es wäre wohl das letzte Tröpflein aus der Bitsche geronnen, hätte Eberwein nicht über den Tisch gegriffen und Wazes Arm mitsamt der Bitsche niedergezogen. „Meiner Gesundheit dienet Ihr auch mit minderem Trunk – und noch mehr der Eurigen.“

Herr Waze strich mit dem Aermel über den tropfenden Bart. „Nein, frommer Vater – meine sündige Seel’ mögt Ihr kampeln, so viel Ihr wollt – aber die langen Züg’, die müßt Ihr mir lassen. Bei mir muß alles tief sein, Reu’ und Durst, Lieb’ oder Haß. Mein Los ist so gefallen, weil meine Mutter mich geboren hat im Zeichen der Venus und des Wassermann: mein Herz ist allzeit heiß gewesen und meine Gurgel schreit nach Feuchtigkeit wie die Frösch’ um nasses Wetter.“ Herr Waze verstummte, und während die Söhne lachten, erweiterten sich seine Augen in starrem Lauschen. Heller Hufschlag klang im Hof und die Stimme Rimigers: „Wo ist der Vater?“

Die Buben sprangen auf, aber Herr Waze, dessen Züge sich mit fahler Blässe überzogen hatten, schrie ihnen zu: ^Bleibt sitzen!“ Seine Augen richteten sich auf Eberwein, funkelnd, mit stechendem Blick; es schien, als läge ein Wort auf seiner Zunge. Doch er sprach nicht, er lachte nur heiser vor sich hin, stieß mit der Faust den Sessel zurück, daß er umfiel, und eilte nach der Halle. Betroffen erhob sich Eberwein. Doch Recka faßte, wie vor Scham errötend, seine Hand. „Verzeihet meinem Vater seine Art … er hat durch Jahre keinen Gast in seinem Haus gesehen.“

Auf der Freitreppe kam Rimiger seinem Vater entgegen, und Herr Waze griff nach dem Arm des Sohnes, zitternd vor Erregung. „Was bringst Du?“

[314] „Zwielicht!“ sagte Rimiger und zuckte die Achsel. „Ob es Tag bedeutet oder Nacht – ich weiß nicht.“

„Red’, daß ich versteh’! Es muß auf eine Frag’ doch Antwort sein! Hast Du den Haunsperger nicht gesprochen?“

„Wohl, Vater! Er hat mich angehört und hat gelacht, aber geredet hat er nicht. Beim Frühmahl hab’ ich sitzen dürfen an der Tafel des Bischofs, und der große Herr ist freundlich zu mir gewesen und bei jeder Anred’ hat er mich seinen ‚guten Sohn‘ geheißen. Für unsere Sach’ aber hat er kein einzig Wort gehabt.“

„Kein einzig Wort?“ wiederholte Herr Waze mit zuckenden Lippen. „Aber ich weiß doch, wie er selbigsmal vor Wut sich verfärbt hat bei der Botschaft, daß Frau Adelheid den Gadem an das Kloster und nicht an seine Kirch’ gegeben hat! Sag’s noch einmal: kein einzig’ Wort?“

„Kein Wort! Aber wie ich schon im Sattel gesessen bin, ist der Haunsperger lachend auf mich zugetreten und hat mir ein Streiflein Pergament gereicht –“ Rimiger zog eine kleine Rolle aus dem Wams hervor – „und dabei hat er gesagt: unser Schalksnarr hat ein neues Lied gesungen, das bring’ Deinem Vater mit meinem Gruß.“

(Fortsetzung folgt.)




Ohne Führer.

Von Heinrich Noé.

Im Thale von Tiers, welches sich östlich von Bozen durch das rotbranne verwitterte Porphyrgestein gegen den „Rosengarten“ hineinzieht, steht die anmutige und bescheidene Herberge „Zur Rose“. Man befindet sich hier an einer der ergreifendsten Stellen des Landes Tirol. Schaut man zu den Fenstern hinaus, so erblickt man nicht nur in nächster Nähe die starren, bleichen Dolomite, sondern erkennt auch fern am westlichen Himmel den Langgrubenferner und die Weißkugel der Oetzthaler Gletscherwelt. Will man die Wirksamkeit dieses Eindrucks noch steigern, so mag man sich daran erinnern, daß vor vielen Jahrtausenden hier blaues Meer flutete, Schaumstreifen umgaben damals runde Riffe, aus der Tiefe empor ästelte sich das Gewirre der Korallen, Polypen strebten gegen die Oberfläche der Salzwellen. Da waren Inseln, wie die „Atolle“ der Südsee, in welche zum Teil von der Flut Sturmlücken eingebrochen waren. Auf Kalkschlamm und glasigen Bruchstücken der Madreporen hingen triefende Algen und hoben und senkten sich mit den Wellen.

Dieses Schaustück boten einmal die nämlichen Dolomite, welche jetzt im Abendglanz wie glühende Kohlen leuchten.

Von der Gesellschaft, welche an einem Sommerabend dort versammelt war, hatten nur wenige – und das waren vorzugsweise die älteren – eine wirkliche Fähigkeit, sich in den Geist zu versenken, der hier weht. Die einen schwiegen, indem sie die Wolkenkronen um den nahen „Rosengarten“ und das ferne Eis betrachteten, die andern aber sprachen von allerlei Muskelkunststücken, so daß man sich in die Vorhalle eines Cirkus hätte versetzt fühlen können. Der eine hatte die Fünffingerspitze bei Schneesturm „gemacht“, der andere allein eine Nebelnacht auf einem Zacken von dreitausend Metern zugebracht und wäre ohne Zweifel später erfroren oder verhungert, wenn sich der Nebel nicht am nächsten Tage verzogen hätte. Die Fünffingerspitze ist gewiß hoch, aber nicht so hoch wie die Höhe, von welcher jene „Fachmänner“ auf mich jämmerlichen Dutzendmenschen und Laien herabgeschaut hätten, wenn ihnen meine Gedanken geoffenbart worden wären. Da wurden Firnschneiden unter den rechten Arm genommen, während die Schuhe nur mit den Spitzen im pulverigen Schnee hafteten und als nächster Stützpunkt nur ein schwarzer Felsfleck von der Größe einer Flintenkugel winkte. Es war sehr interessant! Der nervöse Trieb nach dem Aufsehen Erregenden, der Amerikanismus maßloser Muskelmeierei trat hier als „leib-, geist- und herzstählender Alpinismus“ auf. Was den Geist anbelangt, so mußte dieser allerdings von eigentümlicher Beschaffenheit gewesen sein. Die beschauliche Seite trat nirgends hervor; jedenfalls hatte dieser Geist keine Gelegenheit gefunden, mit dem Geist in der Natur Zwiesprache zu pflegen. Man hörte nur von Runsen, Spalten, Kaminen und Felsröhren, von unendlichen Steinschlägen, von überhängenden Felsplatten, unter welchen man auf dem Bauch hindurchrutschen mußte etc. etc.

Alle diese Dinge waren für mich nichts Neues, und es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, solchem Treiben mit irgend welcher Bemerkung entgegenzutreten. Hier aber konnte ich eine gewisse Bewegung doch nicht überwinden. Mein Blick fiel zufällig auf eine mit dem Zeichen des Edelweißes geschmückte Tafel, welche die Inschrift „Studentenherberge“ trug. Dies bedeutet, daß junge Leute hier zu sehr billigen Preisen verpflegt werden, wodurch es solch jugendlichen Ferienreisenden ermöglicht ist, auch mit einem knapp bestellten Geldbeutel Alpenreisen zu unternehmen. Jeder Menschenfreund wird sich darüber freuen. Allein durch eine Gedankenverbindung, die sich in mir in dem Augenblick regte, wo das metallene Edelweiß blutrot in den letzten Strahlen der Abendsonne glänzte, wurde mir ein anderes Bild vorgeführt. Kaum einige Wochen waren vergangen, seit ich an dem nämlichen Tische, an welchem jetzt die alpinen Fexen sich unterhielten, einen hübschen jungen Mann von einnehmenden, offenen Zügen sitzen gesehen hatte. Es war offenbar ein Student gewesen. Er hatte sich nach dem Preise eines Führers auf einen der benachbarten „Zähne“ erkundigt, dessen Gefährlichkeit ihm nach den Berichten in den „Fachzeitungen“ im verlockendsten Lichte der Romantik erschien.

Ich strengte mich an, ihm von derlei abzureden, aber der Erfolg war gering. Eine enttäuschte Miene, welche seinen Verzicht auf jenes Unternehmen zu bedeuten schien, nahm ich erst dann wahr, als er die Höhe der Führertaxe erfahren hatte. Offenbar reiste er, gewiß zum Teil auch im Vertrauen auf die Studentenherbergen, mit den bescheidensten Mitteln. Die Bezahlung des Führers hätte mindestens so viel erfordert als eine fünftägige Wanderung auf anspruchsloseren Pfaden, die ihm aber mehr Genuß geboten haben würde. Ich hatte ihm noch gesagt, daß er, von der Gefahr abgesehen, gar keine Zeit und Gelegenheit für den Naturgenuß übrig behalten würde, weil es sich da nur um Tritte und Griffe handle. Indessen, die Legende vom „Kampf gegen die Naturgewalten“ hatte ihn in ihrer berückenden Abenteuerlichkeit festgehalten, denn ich erfuhr am nächsten Tage, daß er nicht auf einem der gewöhnlichen Wege nach den bequemen Pässen der Umgegend mit ihren wundervollen Bildern sondern in der Richtung gegen den von ihm bezeichneten mürben Obelisken fortgegangen sei.

In welchem Zusammenhang ein derartiges Unternehmen mit der Wohlfeilheit der Studentenherbergen stehen kann, gebe ich dem geneigten Leser zur Ueberlegung anheim.

Wenige Tage später las ich in den Zeitungen, daß ein junger Mann aus Tiers aufgebrochen sei und ohne Führer die fragliche Zinne merkwürdigerweise erreicht habe – er war von einem benachbarten bequemen Aussichtsberge mit Fernrohren beobachtet worden. Seither hatte man ihn nirgends mehr gesehen. Eltern und Geschwister desselben waren, wie die Zeitungen weitermeldeten, in die benachbarten Thäler gekommen und hatten Nachforschungen anstellen lassen – aber ohne Erfolg. So mußte man annehmen, daß der junge Mensch verunglückt sei und daß sein Leichnam, wenn nicht hier, so doch irgendwo sonst in dieser Bergwelt verborgen liege und vielleicht einmal durch einen Zufall, wahrscheinlich aber niemals wieder zum Vorschein kommen würde.

An jenem Abend in der „Rose“ blieben die Kletterdramen, die da von verschiedenen Koryphäen erzählt wurden, nicht ohne tadelnden und warnenden Chor im Hintergrund. Am bemerkenswertesten erschien mir die Auseinandersetzung eines Mannes, welcher auf die dem Körper ungewohnten Verhältnisse hinwies, unter denen sich der weitaus größere Teil aller schwierigeren Bergersteigungen vollziehen muß. Zuerst die Mühsal einer langen Thalwanderung, sodann die unruhige oder auch ganz schlaflose Nacht in einer Schutzhütte, die Unregelmäßigkeit im Aufnehmen von Nahrung und Getränke, die vor Sonnenaufgang abermals beginnende Anstrengung und Ueberreizung der Nerven – das alles könnte nicht besser zusammengesucht werden, wenn es sich darum handelte, einen Menschen mit möglichst wenig Genußfähigkeit auf der vielbesprochenen Spitze ankommen zu lassen. Ist die Kletterei gefährlich gewesen, so wird der Rest von Gennßfähigkeit, falls ein solcher vorhanden war, noch verschlungen durch die Sorge, wie [315] und ob der Abstieg gelingen werde, der immer schwieriger ist als das Heraufkommen. Das alles aber wird aufs erheblichste gesteigert, wenn die stützende Hand und die in jeder Hinsicht hilfreiche Anwesenheit des Führers mangelt. Der Einzelne kann an Stellen dem Verderben anheimfallen, wo er mit einem Genossen nur geringe Schwierigkeiten findet.

Diese Auseinandersetzung fand den Beifall eines Anwesenden, und er unterstützte sie durch Mitteilung einer Geschichte, die sich vor wenigen Tagen auf dem vielbetretenen Uebergange von der Brennerstraße ins Tuxer Thal abgespielt hatte.

Ein Student war gegen Abend von Hintertux fortgegangen, um die Brennerbahn zu erreichen. Das Tuxer Joch, ein begraster Wall, wird unter diejenigen Uebergange gerechnet, denen man in der Regel ein „Führer entbehrlich“ beisetzt. Der Student war auch ohne Schwierigkeit bereits auf der westlichen Abdachung des Joches angekommen, als er von einem Grasbande abrutschte und einige Schritte weit gegen einen Felsblock stürzte. In der Anstrengung, sich zu helfen, zog er sich weiter gar nichts als eine einfache Muskelzerrung am Fußknöchel zu. Bald fing dieselbe an zu schmerzen und er setzte sich wieder, um zu rasten. Er zog den Schuh aus, um die Art der Verletzung zu betrachten, konnte ihn aber nicht wieder anziehen, da der Fuß rasch anschwoll. Die beginnende Dämmerung und die Schmerzen in dem nur mit dem Strumpfe bekleideten Fuße machten den Gang unsicher. Bald mußte er sich abermals niederlassen. Jetzt rief er in die beginnende Nacht hinein, damit ihn vielleicht ein Ochsenhirt höre und Hilfe bringe, aber nur das Geräusch der Wildwasser gab ihm Antwort. Er versuchte nun, mit Aufbietung der letzten Kraft thalwärts zu kommen; indessen die Dunkelheit oder der Schmerz verwirrten ihm das Unterscheidungsvermögen, er geriet, anstatt in die Nähe der Ochsenhütte, weiter aufwärts an eine brüchige Stelle, über welche er in den Thalbach hinabrutschte. Dieser war nicht tief, aber die Wellen durchnäßten den ganzen Körper. Gleichwohl gelang es dem Unglücklichen, wieder über die Rutschfläche hinauszukommen, aber nur, um abermals in den Bach hinabzugleiten, wo er nun, zwischen zwei Blöcken eingekeilt, festsaß. Jetzt half das Schreien gar nichts mehr, denn das Tosen des Baches hätte auch eine noch viel stärkere Stimme völlig übertönt.

So verging die Nacht, es verging aber auch der größte Teil des nächsten Tages. Denn erst gegen Abend kam über das Joch ein Reisender mit einem Führer, der das jetzt sehr schwach gewordene Rufen vernahm. Die Ferienfreude des armen jungen Menschen war dahin und er darf sich noch beglückwünschen, wenn er nicht eine schwere und dauernde Schädigung seiner Gesundheit davongetragen hat. Mit einer kleinen Ausgabe für einen Führer wäre er diesem Abenteuer entronnen.

„Lassen wir die Bezeichnung ‚Führer‘ fallen,“ nahm nunmehr ein Mann das Wort, den ich während dieses Abends schon öfter mit Verwunderung betrachtet hatte. Ich kann sein Gesicht nicht besser schildern, als indem ich es – von seiner Magerkeit abgesehen – mit einer Mondkarte vergleiche. Da waren Risse und Rillen, zerschundene Stellen, allenthalben Furchen und Vertiefungen. „Wenn man sich an das Wort ‚führen‘ hält,“ bemerkte er, „so kann wirklich in vielen Fällen von einem solchen Mann ganz abgesehen werden. Handelt es sich bloß um das Finden des Wegs, so giebt es viele Berge, bei denen das jeder selbst vermag. Wiederum giebt es ganz außerordentliche Spitzen, auf welche es kein Führen giebt, weil noch niemand droben war. Setzen wir aber statt Führer ‚Begleiter‘, so kommen wir für solche Gänge wie den des eben erwähnten Studenten dem Sachverhalt näher. Gefunden hat er den Weg auch allein. Hätte er aber einen Begleiter zur Seite gehabt, so hätte das wenig bedeutende Vorkommnis einer Verstauchung eine ganz andere Wendung genommen. Pfade, welche in die Bergwelt führen, sollte man darum niemals allein beschreiten. Die Unglückschronik, welche uns die Fälle von einsamem Sterben und Verderben erzählt, ist so umfangreich, daß jene weit grausigeren und mehr besprochenen Katastrophen, in welchen Wanderer und Führer den Untergang finden, an Anzahl dagegen verschwinden. Diese letzteren finden ihren Wiederhall in allen Zeitungen. Die ungleich häufigeren Fälle aber, in denen ein einsamer Wanderer gleichsam ‚in der Stille‘ verunglückt, gehen zumeist unbeachtet vorüber. Erstlich fällt das Verschwinden eines solchen regelmäßig erst nach einiger Zeit auf. Dann heißt es, dieser oder jener wird ‚vermißt‘. Findet man ihn irgendwo, so ist oft schon so viel Zeit darüber hingegangen, daß man sich an die frühere Nachricht nicht mehr erinnert, und kommt er nicht zum Vorschein, so wird überhaupt nicht mehr davon gesprochen. Ungezählte Leichname liegen noch heute da und dort in den Wildnissen der Eiswelt. – Einsam herumgehen bleibt immer bedenklich. Diese Lehre finden Sie auch in meinem Gesicht eingegraben. Und ich kann es fast ein Wunder nennen, daß sie nicht von meinem Leichenstein erzählt wird. Hätte ich einen Menschen neben mir gehabt, so wäre mir diese lästige Auszeichnung erspart geblieben.“

Wie jedes Beispiel, das den Augen leibhaftig entgegentritt, mehr erregt als ein anderes, so geschah es auch hier. Alles wollte wissen, was da vorgegangen war. Wir erfuhren es alsbald.

„Der Hauptantrieb zu verwegenen Unternehmungen ist die Eitelkeit. Der eine will seine Kletterthaten in Fachzeitschriften gepriesen sehen, ein zweiter klettert, um andere durch seine Leistungen zu verblüffen, ein Dritter, weil irgend einer an seiner Fähigkeit zweifelt, dies oder jenes durchzuführen. So erging es mir, als es sich auf der Veranda des Bärenbads im Stubai eines Tages um die ‚Sonnenmauer‘ handelte. Als ich vorüberging, hörte ich sagen: ‚Da kommt ja einer der ärgsten Bergfexen. Von dem können wir erfahren, ob es möglich ist, auf die Sonnenmauer hinaufzukommen.‘ Ich entnahm aus dieser Aeußerung, daß sich das Gespräch vorher um jene unerstiegene Spitze, welche stets die Blicke der Gäste des Bärenbades anzieht, gehandelt hatte. Als ich die Veranda betrat, wurde das Gespräch noch immer fortgesetzt. Schließlich nahm ich daran teil, indem ich behauptete, daß ich es nicht gerade für unmöglich hielte, die Spitze zu erreichen. Meine Worte erregten allgemeinen Widerspruch. Nur ein einziger gab sie bedingt zu, indem er meinte, die Sache ließe sich möglicherweise durchführen, doch nur unter der Voraussetzung, daß vorher an den schlimmsten Stellen Haken, Ringe, Drahtseile, Leitern u. dgl. angebracht würden. Von diesem Augenblicke an war mein Entschluß gefaßt. Ich wollte zeigen, was ein verwegener Wille vermag. Schon am nächsten Tage mußte ich, das stand bei mir fest, die Unternehmung wagen, damit noch die nämlichen Gäste, die heute gegenwärtig gewesen, ihren Irrtum widerlegt sehen könnten. Niemand erfuhr etwas von meiner Absicht. Als ich am nächsten Morgen den Weg antrat, schienen mir die Stimmen der Berglerchen, die sich in den Wänden der Sonnenmauer herumtrieben, von glücklicher Vorbedeutung. Ich will die Gesellschaft nicht mit der Erzählung davon langweilen, wie ich da über die lotrechten Absätze und Wände hinaufkam. Ich kann nur sagen, daß vier bis fünf Stunden lang jeder Fehlgriff mit der Hand mich Hunderte von Metern hinabgestürzt hätte. Ich bin nicht kopfscheu, aber einmal wäre ich doch beinahe dem Schwindel zum Opfer gefallen, als eine vom Wind getriebene Wolke rasch unter mir hindurchjagte und es mir einen Augenblick lang schien, als ob die Wolke stillstände und der Berg sich in der entgegengesetzten Richtung bewegte. Als ich oben ankam, erblickte ich in der furchtbaren Tiefe einige bewegliche dunkle Punkte. Zugleich hörte ich verwehten Glockenschall. Die Feldarbeiter wurden zum Mittagessen gerufen. Dann baute ich auf den losen Trümmern einen Steinmann und trat den Rückweg an. Es war dies übrigens an jenem Tage nicht das letzte Mal, daß ich den Gipfel betrat. Ich mußte noch sechs- oder siebenmal auf ihn zurückkehren, um nach einer anderen Möglichkeit des Abstieges zu suchen, da ich in der einen und anderen von mir eingehaltenen Richtung nicht mehr weiterzukommen vermochte. Roch jetzt bricht mir bei der Erinnerung an jene Stunden fast der Angstschweiß aus. Oft genug mußte ich den Rücken fest an die Wand drücken und mit den Füßen an den glatten Felsennadeln, auf welche selbst ich nicht hinabblicken konnte oder durfte, nach einem Stützpunkt herumtasten. Die Schuhe hatte ich schon längst zurücklassen müssen. Einige Zeit lang hatte ich sie noch auf dem Rücken getragen, dann aber war ich genötigt, sie auch von dort zu entfernen und hinabzuwerfen. Schließlich gelangte ich vor einen hervortretenden, buckelig unterhöhlten Felswulst. In seinem Schutz mochte sich wohl zu anderer Jahreszeit unten eine mächtige Ansammlung von Schnee erhalten. Damals aber war diese schon soweit hinweggeschmolzen, daß ihr äußerster Rand nur noch in einiger Entfernung von dem Felsbuckel zu sehen war. Hätte ich nun einen Genossen gehabt, so hätte er mich oder ich ihn soweit zu halten oder zu stützen vermocht, daß er auf jenes Schneefeld hinabgekommen wäre und dann den Nachfolgenden hätte auffangen können. Unter den vorhandenen Umständen aber blieb mir nichts [316] übrig, als allein den Sprung auf das Schneefeld hinab zu wagen. Er gelang, aber seine Gewalt warf mich im Abprall über das Schneefeld hinaus mitten unter die scharfen Steintrümmer hinein. Das war also das!“

Und dabei deutete er auf sein von Narben durchfurchtes und entstelltes Gesicht.

„Die Thorheit, so etwas allein zu unternehmen, hat sich verhältnismäßig noch gelinde gerächt. Es waren zehn Wahrscheinlichkeiten gegen eine, daß ich nicht mehr lebendig herabkam.“

Ein Herr aus der Gesellschaft fragte den Erzähler, ob die Aussicht von der Spitze nach seiner Meinung im Verhältnis zu den überstandenen Gefahren genußreich gewesen sei. Der kühne Bergsteiger verneinte das und sagte, er müsse aufrichtig gestehen, daß von der benachbarten leicht zugänglichen Kuhalp aus sich ein anziehenderes und lehrreicheres Bild biete. als von jenem Zacken. „Uebrigens dürfte schwerlich jemals ein Besteiger dieses letzteren zu der Stimmung kommen, solche Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Er hat, wenn er einmal dort oben ist, an anderes zu denken. Meine Belohnung war lediglich die Verblüffung der Badegäste, als sie am nächsten Tage den Steinmann erblickten.“

Es wurde noch allerlei über ähnliche Unternehmungen gesprochen und so mancher Fall berichtet, in welchem das Leben eines Reisenden um jämmerlicher Kleinigkeiten willen verloren gegangen war. Eine Muskelzerrung, ein an sich ganz unbedeutendes Unwohlsein, ein Abirren vom Wege, irgend eine Witterungslaune können die schlimmsten Folgen nach sich ziehen, wenn nicht ein Genosse zur Seite geht.

An jenem Abend ahnten wir alle nicht, wie rasch sich dafür eine weitere ergreifende Bestätigung finden sollte.

Etwa acht Tage später befand ich mich mit zwei Genossen, die damals mit in der „Rose“ zu Tiers gewesen waren, auf einem bequemen, vielfach beschrittenen Uebergang zwischen jenen weißen Bergen, die man von der Schwelle der „Rose“ aus sieht. Wir rasteten eben vor einer behaglich eingerichteten Hütte, die dort den Wanderern als Obdach dient. Vor der Hütte brechen Quellen aus dem Moosboden und flechtenbehangene Bergtannen schneiden schöne Bilder aus dem nahen Ferner aus. Hoch oben erscheinen weiße Zelte, von Wolken umzogen. Manchmal donnerte es herab von Eislawinen, welche die Wärme des Mittags löste. Es war ein Alpenbild, wie man es schöner und gewaltiger nicht wünschen kann.

Mit einmal kam ein Hirt, welcher nach verlaufenen Hammeln gesucht hatte, und berichtete, unten beim Weißen Bach habe er eine gestürzte Kuh liegen gesehen. Sie liege gerade unter dem Palfen, auf dem das viele Edelweiß wachse.

Da wir, obwohl es noch früh am Nachmittag war, der schönen Aussicht und der bequemen Unterkunft halber in diesem Berghause zu übernachten beschlossen hatten, so lagen immerhin noch ein paar Stunden vor uns, die wir mit Herumschlendern auf diesem Almenboden zubringen konnten. Es lockte uns das Wort „Edelweiß“, und wir beschlossen, jenem Palfen einen Besuch abzustatten. Der Schafhirt diente uns als Begleiter und Führer. Nachdem wir lange Zeit auf einem ebenen mit Speik und Edelraute bedeckten Boden dahingegangen waren, senkte sich der Grund etwas und wir hörten alsbald das Rauschen eines Wasserfalles aus einer Tiefe herauf, deren Rand augenscheinlich ganz nahe sein mußte. In der That brach die geneigte Weidefläche jäh ab und wir blickten urplötzlich auf eine um etwa vier- oder fünfhundert Meter tiefere Thalstufe, zu welcher diese unsere Wiese in einer einzigen fast lotrechten Wand abstürzte. Als wir so weit gekommen waren, daß wir den untersten Teil des Wasserfalles schauen konnten, deutete der Hirt auf einen schwärzlichen Gegenstand, der, wie es schien, halb im Wasser lag, und sagte: „Dort liegt die Küh.“ Ich richtete mein Fernrohr auf die Stelle, trat aber nach wenigen Augenblicken erschrocken einen Schritt zurück. Das war kein Tier, sondern offenbar ein Mensch.

Uns verging der Gedanke an Edelweiß; wir umschritten auf immer noch bequemem Pfade den Absturz und gelangten bald an die Stelle. Bei unserer Annäherung flatterten einige Raben auf und verloren sich zwischen den Bergerlen. Und dann bot sich uns ein Bild von entsetzlicher Schauerlichkeit, niemals werde ich den Anblick des zur Hälfte im Wasser liegenden, grausam zerschundenen und entstellten Toten vergessen.

Ich sorgte zunächst dafür, daß er ganz aus dem Wasser herausgezogen wurde, ließ ihn mit einem kleinen Hügel von Steinen überdecken und schickte den Hirten ins Thal hinab, damit er die bei solchen Gelegenheiten notwendigen obrigkeitlichen Personen herbeihole. Es war offenbar, daß der Verunglückte entweder in der Dunkelheit oder bei schlechtem Wetter sich durch die Bequemlichkeit des Wiesenpfades hatte verführen lassen, ihn für den richtigen Thalweg zu halten, und dann unversehens an den Rand der Wand gelangt und über dieselbe unmittelbar oder auch in mehreren Abstürzen hinabgefallen war. Das letztere erschien als das Wahrscheinlichere. Es war keine Spur von einer Reisetasche oder sonstigen Habseligkeiten zu entdecken, kein Hut, kein Stock, nichts von dem, was auch die am bescheidensten ausgestatteten Wanderer an oder mit sich zu tragen pflegen. Das alles mußte ihm auf den staffelweisen Abstürzen entfallen sein.

Wir machten deshalb nicht mehr den gleichem Weg zurück, sondern schlugen den Hirtensteig ein, der sich in ziemlich steilen Windungen in der unmittelbaren Nähe jener Wand hinaufzieht. Unsere Vermutung erwies sich als richtig. Bald sahen wir die Fetzen eines Kleidungsstückes an einem Felsblock hängen. Weiter hinauf fand sich ein halb vermoderter Hut zwischen Steinen eingekeilt. Gerade unter dem Rand aber erblickten wir einen Gegenstand, der wie ein schwarz eingebundenes Buch aussah. Der unternehmendste von uns stieg hinüber und brachte eine lederne Brieftasche mit.

Wie groß war mein Entsetzen, als ich in Briefen sofort den nämlichen Namen fand, der mir mehrmals in Zeitungen vorgekommen war, den Namen des jungen Mannes, welcher damals nach seiner tollkühnen Besteigung von Tiers aus spurlos verschollen war. Er hatte also nicht die Verwegenheit jener Besteigung mit seinem Leben gebüßt, sondern diesen einfachen Gang, von welchem gesagt wird, daß ihn Kinder unternehmen können. Und abermals war es also eine „leichte Partie“ gewesen, welche das Unglück herbeigeführt hatte.[1] War noch ein Zweifel übrig, so schwand er beim Anblick der Tagebuchblätter, welche die Tasche enthielt. Es fanden sich Bleistiftnotizen darin vor, welche bis zur Ankunft im Berghause fortgesetzt waren. Aus ihnen ging hervor, daß der Verunglückte nach dem Verlassen jener Zinne eine ganz andere Richtung als die vermutete eingeschlagen und sich sofort in Eilmärschen nach diesem Teile des Gebirges gewendet hatte, wo wir ihn jetzt gefunden. Es konnte also der Tag festgestellt werden, an dem er oben in der Hütte vorgesprochen haben mußte. Dadurch wurde alles übrige aufgeklärt, denn die Leute auf dem Berghause erinnerten sich, daß an dem bezeichneten Tage – es war ein Feiertag gewesen – ein junger Mensch von dem von mir beschriebenen Aeußeren dagewesen sei. Es herrschte damals schlechtes und dunkles Wetter, „beim Joch war’s finster,“ bemerkte der Wirt des Berghauses. Man hatte den Wanderer, als er weiter wollte, zugeredet, hier über Nacht zu bleiben oder sich von einem der Männer, welche an diesem Tage feierten, begleiten zu lassen. Er hatte das abgelehnt – und war in den Tod gegangen.

Am nächsten Tag kamen die Diener des Gesetzes und wir fanden uns wieder an der Unglücksstätte ein. Alles geschah in der vorhergesehenen Ordnung. Die Ueberreste wurden auf ein von uns herbeigeschafftes Brett geschnallt und der Zug bewegte sich nach der Höhe. Außer uns waren aber noch andere Zuschauer da – zwei Adler, die unverwandt von einem unzugänglichen Zacken herabschauten. Als wir weiter oben ins Alpenrosengestrüpp gerieten, pflückten wir Zweige mit den brennroten Blüten und flochten die ganze Gestalt des Armen damit ein, damit das entsetzliche Schaustück den Augen der Müßigen entzogen bleibe.

So kehrte der junge Mensch zu dem Hause zurück, von welchem er vor Wochen ausgegangen war. Derjenige, an den der Vater seine Hoffnung, die Mutter und die Geschwister ihre Sorgen verschwendet hatten, zog nun als eine stille Last auf den Schultern armer Hirten durch die wolkentragenden Berge. Um seine zerfallende irdische Hülle schlangen sich die Blumen, die in der Farbe der Liebe glühen. Aber wir empfanden doch den Stachel, der in dem frühen Ende dieses jungen Mannes lag, und durch alles Mitgefühl ließ sich die Anklage nicht übertäuben: „Durch eigene Schuld!“



  1. Dr. W. Schultze, der in den „Mitteilungen des D. u. Ö. Alpenvereins“ die alpinen Unglücksfälle des Jahres 1893 einer Betrachtung unterzieht, kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die leichten Touren verhältnismäßig am meisten Opfer fordern, deshalb, weil sie von Anfängern und Ungeübten unterschätzt werden. Von den 30 Unglücksfällen in dem genannten Jahre fielen 18 (= 60%) auf führerlose Touristen, darunter 12 auf durchaus leichte Touren. Die Redaktion.     




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Das „Sechseläuten“ in Zürich.
Mit einer Zeichnung von J. Weber.

Das „Sechseläuten“ ist das Frühlingsfest der Züricher, eines der schönsten und glänzendsten Volksfeste der an Festen so reichen Schweiz.

Als das Zunftwesen noch in Blüte stand und in Zürich auch eine politische Bedeutung hatte, verkündete den Sommer hindurch abends um sechs Uhr die zweitgrößte Glocke des Großmünsters allen Werkstätten den Feierabend, und zwar wurde sie je am ersten Montag nach der Frühjahrstag- und Nachtgleiche zum erstenmal geläutet. Diesen Tag beging seit Jahrhunderten alles Volk in karnevalsähnlicher Lust, und so wird er heute noch, wenn auch unter veränderten Verhältnissen, gefeiert. Die „Zünfte“, gegenwärtig nur noch Privatvereinigungen ohne politische Bedeutung, versammeln sich um Mittag auf ihren Zunftstuben zu festlicher Mahlzeit. Viele, besonders die jungen Zünfter, erscheinen kostümiert, und nach dem Mahle bewegen sich Umzüge, die gemeinsam veranstaltet werden, durch die Stadt. Während früher meistens Begebenheiten aus der Züricher Geschichte dargestellt wurden, greift man in neuerer Zeit weiter aus und bringt, oft in geradezu großartiger Weise, weltgeschichtliche oder ethnographische Bilder zur Anschauung. Die besten künstlerischen und litterarischen Kräfte der Stadt arbeiten unter lebhafter Teilnahme aller Stände mit patriotischem Eifer an der Ausstattung dieser Umzüge mit und gelangen hierdurch zu einer Volkstümlichkeit, die ebenso wohlverdient wie festgegründet ist. Durch seine erfolgreiche Thätigkeit auf diesem Gebiete hat sich unter andern der künstlerisch und poetisch angelegte Metzgermeister Heinrich Cramer einen in weiteren Kreisen geachteten Namen gemacht.

Das „Sechseläuten“ des Jahres 1894 war das erste nach der Vereinigung der elf Außengemeinden mit der Stadt und wurde daher mit vermehrten Kräften und unter ganz besonderem Aufwand von Glanz und Pracht gefeiert. Der Festumzug brachte das „Reisen“ in den verschiedenen Zeiten zur Darstellung; dieser Grundgedanke bot natürlich reiche Gelegenheit, Kriegszüge, Raubzüge, Meerfahrten, Reisen zu Konzilien etc., Triumphzüge, Bergfahrten, kurz, alles nur Mögliche aus Vergangenheit und Gegenwart heranzuziehen und dem Ernst sowohl wie dem Humor seine Stelle anzuweisen. Wochen-, ja monatelang bereiteten sich die Teilnehmer auf die Darstellung vor; jede der verschiedenen Zünfte übernahm eine bestimmte Gruppe, und es entspann sich ein gegenseitiger Wetteifer in geschichtlich genauer Herstellung der Kostüme und in stofflich gediegener Ausstattung. Das Ganze unterstand der Leitung eines Ausschusses der Zünfte. Das Züricher „Sechseläuten“ steht unter dem erfreulichen Vorurteil, vom Wetter stets begünstigt zu sein. Diesmal jedenfalls behielt dieses Vorurteil glänzend recht, ein strahlender Frühlingshimmel wölbte sich am 9. April über Stadt und Landschaft und eine geradezu sommerliche Glut stellte die Ausdauer der zum Teil recht warm gekleideten Mitwirkenden auf eine harte Probe. Von Tagesbeginn ab flatterte von den altersgrauen Türmen des Großmünsters das blauweiße Stadtbanner, eine freundliche Einladung an die Bewohner, auch ihrerseits mit Flaggen- und Farbenschmuck der Häuser nicht zurückzubleiben. Tausend geschäftige Hände waren emsig am Werke, dieser Aufforderung nachzukommen; denn an diesem Tage ruht alle Arbeit, soweit sie nicht unmittelbar dem Feste dient.

Am Nachmittag um zwei Uhr setzte sich der Zug von der Umgebung der Tonhalle aus in Bewegung, um die verschiedenen Quartiere der Stadt zu durchziehen. An die hunderttausend Zuschauer von außen hatten sich den ungefähr hunderttausend städtischen Zuschauern beigesellt. Trotz dieses riesigen Zudranges und der Abwesenheit jeglicher militärischen Macht herrschte überall die größte Ordnung. Mit beinahe andächtigem Ernst und mit dem regsten Anteil sah das Volk die lange Reihe der geschichtlichen Gruppen vorüberziehen: Alexander den Großen mit seiner glänzenden kriegerischen Umgebung auf seinem Zug nach Indien, den römischen Kaiser Hadrian, der, seine Gemahlin zur Seite, auf prächtigem Staatswagen mit reisigem Gefolge durch die ägyptische Provinz dahinfährt; Attila mit seinen Hunnenscharen, der auf plumpem Gefährt sogar seinen Harem mit sich schleppt. Bilder aus der Völkerwanderung folgen, weiterhin Wikinger auf hochbordigem Drachenschiffe, Hansabrüder, und als Vertreter des im Punkte des [318] Reisens ganz besonders unternehmenden Zeitalters der Entdeckungen Kolumbus auf treu nachgeahmter Karavelle. Still und ernst zieht Huß zum Konzil von Konstanz, umgeben vom kaiserlichen Freigeleite, das ihn doch nicht vor dem Märtyrertode schützen sollte. Und plötzlich sind wir wieder in den Prairien Nordamerikas und verfolgen einen Indianerstamm, der mit Weib und Kind neue Jagdgründe aufsucht, oder in dem heißen Sande der Sahara, durch den das „Schiff der Wüste“ mit seinem Beduinenscheich der fernen Oase zustrebt. Dann aber findet auch die Gegenwart ihr Recht mit ihren Reisenden aller Art, den protzigen Engländern, den Handwerksgesellen „auf der Walz“, den „Commis Voyageurs“, den Orgeldrehern, Bärenführern, Savoyardenknaben, Bettelmönchen, Hochzeitsreise-Pärchen, den Säumern der Gebirgspfade, Alpenfexen und -fexinnen. An komisch zur Jungfrau gestaltetem Fels pustet ein in einem vollbesetzten Bahnwagen endigender Vogel Greif zur Spitze hinan, von der die Schweizer Fahne wirklich herabgrüßt, und dahinter werden die phantasievollen Luftreisen der Zukunft mit gutem Humor verspottet.

Hunderte von köstlichen Figuren ließen sich da herausgreifen; wir müssen uns beschränken und erwähnen nur die vorzügliche Vertretung des Pfarrers Sebastian Kneipp von Wörishofen, der auf seiner Romfahrt, ohne im mindesten karikiert zu sein, freundlich und würdig nach links und rechts grüßte, der Humor der Figur lag in dem Rüstzeug, mit dem der würdige Herr der Krankheit und dem Tode zu Leibe geht, der blechernen Gießkanne, die er in der einen Hand trug. Kostümierte Musikkorps waren in die Gruppen eingereiht und zum Gesangsfest ziehende Männer- und gemischte Chöre ließen ihre Gesänge erschallen. Ueber tausend „Zunftgenossen“ hatten sich in den Dienst der gemeinsamen Sache gestellt und die glücklicherweise wohl situierten Zunftkassen sollen an die zweimalhunderttausend Franken geopfert haben, um alles recht schön und gediegen zu machen.

Gegen 6 Uhr kehrte der Zug auf den herrlich gelegenen Platz bei der Brücke am See-Ende zurück, wo nach alter Uebung von den Knaben der Stadt auf einem haushohen Scheiterhaufen der „Bögg“, eine den Winter vorstellende Fratze, verbrannt wurde. Als die kostümierten Gruppen sich auflösten, und Hunnen, Römer, Indianer, Ritter und Handwerksgesellen, Engländer und Zigeuner sich unter das Volk mischten, als die Flamme emporlohte, den Winter ergriff, so daß das Feuerwerk, mit dem er gefüllt war, ihn knallend und zischend auseinander riß, und als in den Jubel des Volkes hinein Schlag sechs die Glocke des Münsters ertönte, da hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht. Blickte man dann hinaus auf den blauen See, wo die Gondeln sich wiegten, und hinauf ins Gebirge, dessen schneeige Gipfel im Schimmer der scheidenden Sonne erglänzten, so mußte Teilnehmer und Zuschauer die Empfindung ergreifen: „Welch ein herrliches Frühlingsfest, der Frühling feiert selber mit!“ J. H.     




Die Perle.

Roman von Marie Bernhard.
(18. Fortsetzung.)


Doktor Morschewsky warf auf den alten Kapitän einen Seitenblick, als wollte er ihm seine Ungeduld verweisen, und fuhr dann fort: „Ich habe schon lange mit Ihnen sprechen wollen, liebe Isolde, es trieb mich, Ihnen meinen Rat, meine unmaßgebliche Meinung zu übermitteln.“

„Ja, und was meinen Sie denn nun eigentlich?“ warf Leupold dazwischen.

„Ich meine als Arzt wie als alter Freund des Herrn Barons, daß dessen Leben gefährdet ist, wenn er noch länger in einer Lage bleibt, die für eine Natur, einen Charakter wie den seinigen geradezu Gift ist: fern von der Heimat, ohne Thätigkeit, seinen quälenden Grübeleien überlassen, die Seele krank von einem Heimweh, das schon Menschen getötet hat, die stärker waren als er!“

„Aber Doktor, Doktor, das scheint mir denn doch bedeutend übertrieben!“

„Menschen getötet hat, die stärker waren als er!“ wiederholte der Arzt unbeirrt. „Ich habe in meiner eigenen Praxis Belege dafür gehabt. Die Sache mit dem gebrochenen Herzen ist nicht immer eine sentimentale Redensart – ich sage Ihnen, es giebt Leute, die an gebrochenem Herzen sterben, und es giebt auch Leute, die an Heimweh zu Grunde gehen, zuerst langsam, langsam ... dann mit einem Mal ist’s zu Ende, und der Arzt, um dem Ding einen Namen zu geben, setzt sich hin und schreibt irgend etwas Lateinisches in den Totenschein. Ich habe nun, wie gesagt, schon lange mit Fräulein Isolde reden wollen – allein natürlich! Aber ich habe sie immer nur mit ihrem Vater zusammen gesehen. Eine gute Tochter sind Sie, mein teures Kind, eine sehr gute Tochter! Nun, da habe ich denn auf meine eigene Verantwortung einen Schritt gethan – schrecken Sie nicht so zusammen, liebste Isolde, Ihr Vater weiß noch nichts davon, und es steht bei Ihnen, bei Ihnen ganz allein, ob Sie den Plan gutheißen und ihm mitteilen wollen oder nicht. Ich weiß, wie der Baron an der ‚Perle‘ hängt, ich sehe es, er kann ohne die ‚Perle‘ nicht leben. So müssen wir also versuchen, sie ihm wieder zu verschaffen, er muß wieder in seiner alten Heimat leben dürfen.“

Ilse lehnte sich in den Sessel zurück; ihre Augen waren unnatürlich groß, aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen.

„Ich habe mich rechts und links bei meinen zahlreichen Kranken nach dem jetzigen Besitzer der ‚Perle‘, diesem Herrn von Montrose, erkundigt,“ fuhr der Arzt fort. „Er soll nicht leicht zugänglich sein. Alle aber kamen doch darin überein, er sei ein Ehrenmann im vollen Sinne des Wortes. Ich hörte, er sei auch mit Doßberg als Administrator gut zurechtgekommen, das Verhältnis sei das beste gewesen, während der Nachfolger des Barons sich nicht behaupten könne. Da habe ich mir denn erlaubt, eigenmächtig in die Verhältnisse einzugreifen, liebste Isolde: ich habe an Herrn von Montrose geschrieben und ihn gebeteu, Ihren Vater wieder nach ‚Perle‘ zurückzunehmen. Hier ist die Antwort auf meinen Brief – sie traf während Ihrer Abwesenheit bei mir ein.“

Doktor Morschewsky griff in seine Brusttasche und reichte Ilse einen Brief, dessen Umschlag das Wappen der Montroses, die weiße Rose im roten Felde, trug. Ilse zuckte zurück, als habe sie glühendes Eisen berührt. Kapitän Leupold nahm dem Arzt den Brief aus der Hand und hielt ihn ihr geöffnet hin, damit sie mit ihm zugleich hineinsehen konnte. Es war ein kurzgefaßtes Schreiben in einer festen charaktervollen Handschrift:

 „Hochgeehrter Herr Doktor!
Indem ich Ihnen für Ihr Schreiben und das mir bewiesene Vertrauen verbindlichst danke, teile ich Ihnen mit, daß es mir jederzeit eine Ehre und eine Freude sein wird, Baron Doßberg bei mir wieder aufzunehmen, daß ich aber ihm selbst sowie seinem Fräulein Tochter die Entscheidung in dieser Angelegenheit anheimstellen muß, da es mir leider verwehrt ist, irgend welchen weiteren Schritt zu thun. Sowie Baron Doßberg sich bereit erklärt, nach ‚Perle‘ zurückzukehren, trete ich am andern Tage meine schon seit längerer Zeit geplante Reise ins Ausland an. – Wollen Sie die Güte haben, dem Baron sowie Baroneß Ilse diesen meinen Entschluß zu übermitteln?

 Mit bestem Dank Ihr sehr ergebener

 Montrose.“

Ilses Augen irrten über die Zeilen hin, sie fing mechanisch immer von neuem zu lesen an. Der alte Leupold atmete kurz und gepreßt, ihm war außerordentlich unbehaglich bei der ganzen Sache. Wenn doch nur um Gotteswillen die Prinzeß Ilse keinen dummen Streich begehen möchte! Sie sah so merkwürdig verzweifelt aus, und aus Verzweiflung hat schon so manche ihr Schicksal besiegelt und dann lebenslang daran zu tragen gehabt.

„Doktor, Sie sind also davon durchdrungen, daß das da“ – Kapitän Leupold schlug nachdrücklich mit der flachen Hand auf den Brief – „meinem Schwager Doßberg das Leben wiedergiebt?“

Der Arzt hob die Schultern. „Ich sagte es ja: wir Menschen sind alle dem Irrtum unterworfen; aber soweit ich den vorliegenden Fall übersehen kann, ist Baron Doßberg auf dem besten Wege, am Heimweh zu Grunde zu gehen, und ich halte seine schleunige Rückkehr nach ‚Perle‘ für das einzige Mittel, dem vorzubeugen.“

Ilse stand von ihrem Sitz auf, sie wollte sprechen. Dem alten Leupold schnürte sich bei ihrem Anblick angstvoll das Herz zusammen. „Du sagst nichts!“ rief er gebieterisch und drückte sie in ihren Sessel zurück. „Du darfst nicht, ich erlaub’ es Dir nicht! Du sagst kein einziges Wort!“

Sie sagte auch kein Wort. Lautlos sank sie neben dem Sessel zu Boden.




18.

Soeben war der Berliner Zug in St. eingetroffen, zwölf Uhr fünf Minuten mittags. Ein zweiter Zug, der schon auf dem Nebengeleise bereit stand, sollte binnen kurzem in entgegengesetzter Richtung abgehen. Diejenigen aus dem Berliner Zug, die nicht in fliegender Eile ans Büffett stürmten, standen einen Augenblick still oder wandten im Weiterschreiten den Kopf zurück, um lächelnd eine Gruppe von Offizieren zu betrachten, die auf dem Bahnsteig [319] standen, offenbar zur Reise gerüstet und in der heitersten Stimmung. Die Burschen mit den Handkoffern und Mänteln standen ein wenig beiseite. Ein dienstfertiger Kellner trug ein Brett mit kleinen gefüllten Cognacgläsern heran, den „Steigbügeltrunk“, der mit fabelhafter Geschwindigkeit erledigt wurde.

„Mock, verschlucken Sie sich nicht, Sie sind schon rot genug!“ –„Möchte wissen, wen das was angeht, mein Gesicht!“ – „Na, na!“ – „Seheu Sie, Zeno, das hat er jetzt übelgenommen! Fängt gut an!“ – „Noch schöner! Wer heut’ ’was übelnimmt, der –“

„Einsteigen, meine Herren! Es läutet ab!“

Unter gewaltigem Lärm wurde ein Coupé in Beschlag genommen.

„Bis wie weit, meine Herren?“ fragte der Schaffner.

„Keine Idee, wie das Nest von Station heißt! Wer hat denn eigentlich die Fahrkarten genommen?“

„Zeno natürlich, wer sonst!“ – „Zeno, wie heißt doch gleich das Ding, wohin wir fahren, drei Stationen vor ‚Perle‘?“ – „Altwerder! Zwei, vier, sechs Fahrkarten! Hier, Sie Biedermann!“

Der Zug setzte sich in Bewegung. Der kleine Zeno saß da, weit vornübergebeugt, den Säbel zwischen die Knie geklemmt, die Cigarette im Munde, heftig dampfend. Sein mageres brünettes Gesicht sah beinahe finster aus, seine um die Knie verschränkten Hände trieben ein unruhiges Spiel.

„Nun seht den Kleinen an!“ – „Reden Sie auch ’n Ton, Zeno?“ – „Wo fehlt’s denn?“ – „Sitzt da wie ’ne männliche Kassandra!“ – „Er macht sich Sorgen ums ausgelegte Geld!“

Zeno zuckte bloß die Achseln. Oesterlitz, der sich im Lauf der Zeit mit ihm befreundet hatte und neben ihm saß, neigte sich zu ihm herab und sagte leise: „Was ist denn los?“

„Ach, nichts!“ brummte der Gefragte zurück. „Kann bloß nicht in einem fort so mithalten und Blech reden. So kindisch zu sein, alle zusammen!“

„Na, lassen Sie! Fahren ja doch zur Hochzeit!“

„Ist’s eben! Hochzeit! Als ob das so eine wär’, wie sie alle Tage sind! Ich – wenn man so weiß, wie alles gekommen ist ...“

„Sie hat’s eben ihrem Alten zulieb gethan, natürlich! Ob das aber wirklich wahr ist, daß sie sich Montrose selbst angetragen hat – ich war ja nicht hier, weiß nichts Näheres.“

„Angetragen – das ist ein bißchen viel gesagt. Denn als sie mit ihrem Vater so Knall und Fall von ‚Perle‘ wegging und hierher nach St. zog, da hatte Montrose schon ’mal um sie geworben. Aber sie – damals nahm sie ihn noch nicht; schließlich konnte sie auch nicht wissen, daß dem alten Doßberg die Trennung von ‚Perle‘ gleich ans Leben gehen würde.“

„Hören Sie ’mal, Zeno, glauben Sie denn das in allem Ernst?“

„Ja, das thu’ ich! Ich hab’ denselben Arzt wie die Doßbergs, seit Jahren schon, Morschewsky, respektabler Mensch, der sagt’s, und der spaßt mit solchen Geschichten nicht. Und da hat denn die schöne Ilse –“

„Keine Geheimnisse hier!“ rief ein Kamerad die beiden Freunde zur Ordnung.

„Wenn ich Geheimnisse haben will, dann hab’ ich sie!“ gab Zeno mit einem scharfen Blick zurück.

„Na na! Nur nicht ungemütlich!“ rief der dicke Mock dazwischen. „Laßt doch die zwei zusammen tuscheln, wenn’s ihnen Spaß macht! Wollen uns unterdessen schon die Zeit vertreiben. Hat keiner von den Kameraden zufällig ’n paar Würfelchen bei sich? Hier meine Reisetasche dient als Tisch.“

Widerspruch und Gelächter wurde laut, die beiden in ihrer Ecke konnten ihr Gespräch unbehelligt fortsetzen.

„Also die schöne Ilse?“ fragte Oesterlitz.

„Ja, sie hat mit Montrose eine lange Unterredung gehabt, des Vaters wegen. Was sich die beiden dabei gesagt haben, weiß natürlich keiner, obgleich ich was drum gegeben hätte, dabei zu sein. Das Ende vom Lied war die Verlobung, die wie ’ne Bombe in die ganze Stadt fiel. besonders ins Regiment.“

„Was wohl Georges Montrose für Augen dazu gemacht hat?“

„Hat niemand gesehen! Er war ja verreist – Sie wissen, er wollte dieser unangenehmen Geschichte mit der kleinen ungarischen Sängerin aus dem Weg gehen. Hatte es stark getrieben in dem letzten halben Jahr. War wie verrückt in die schöne Ilse verliebt. Na, sie hat ihn kaum angesehen und der eigene Alte kam ihm ins Gehege. Da ist er denn fuchsteufelswild geworden, und die kleine Ungarin hat helfen müssen – trösten!“

„Ja, erlauben Sie: mit Spielhölle und allem, das ist denn doch ein etwas ausgiebiger Trost!“

„Gewiß! Das fand der Kommandeur auch und hat Montrose zu seinem Urlaub noch eine Ermahnung mit in Kauf gegeben, die nicht von gestern gewesen sein wird. Sie kennen ja den Oherst! Der fackelt nicht lange, da heißt es einfach: ‚Kommen mir noch einmal solche Geschichten zu Ohren, mein Lieber, dann dankt mein Regiment für die Ehre und Sie können sich ’mal die überseeischen Gegenden besehen, wenn Sie wollen.‘ Das hat der Alte gesagt, darauf können Sie sich verlassen! Und zu dem allen spielt das Schicksal dem Montrose jetzt noch den Geniestreich und giebt ihm die schöne Ilse Doßberg zur Stiefmutter!“

„Meinen Sie, daß er bei der Hochzeit anwesend sein wird?“

„Muß, ob er will oder nicht! Clémence ebenso, die sich gleich nach ihres Vaters Verlobung darauf besann, daß Paris doch eigentlich eine reizende Stadt sei, und Knall und Fall dorthin abreiste. Aber der alte Montrose hat seine Sprößlinge fest am Zügel, denn er hat das Geld, sie brauchen es – alao hat er sie buchstäblich in der Tasche. Sie kommen, kommen beide zur Hochzeit, ich weiß es bestimmt. Glauben Sie denn, das Regiment wäre mit sechs Einladungen zu diesem Fest bedacht worden, wenn unser lieber Georges nicht dabei wäre?“

„Ja, natürlich, ist schon richtig! Aber wird der ’ne Wut haben!“

„Und ob! Zumal .... man munkelt da dies und jenes: daß Montrose ein Testament gemacht, seine Kinder mit Geld abgefunden und, falls Erben aus dieser seiner zweiten Ehe hervorgehen, ihnen die ‚Perle‘ verschrieben haben soll. Wenn das den jungen Montroses zu Ohren kommt – ich steh’ für nichts!“

„Sie machen sich nichts aus dem Kameraden Montrose, Zeno?“

„Nein, thu’ ich nicht! Sehen Sie, Oesterlitz, flottes Wesen und Schneid’, so ’was lass’ ich allemal gelten, und wenn einer damit ein bißchen über die Schnur haut, da drückt man schon ein Auge zu. Aber der Georges Montrose – so ein reiner Genußmensch und weiter gar nichts, und dann diese Leidenschaft für den Mammon ... setzt Ehre und Selbstachtung und alles aufs Spiel, bloß ums Geld – pfui Teufel!“

„Na, recht haben Sie schon! Was ist übrigens aus dem schönen Botho geworden, seit er sich nach M. versetzen ließ? Hat er ’mal an irgend einen hier geschrieben?“

„Wird sich hüten! Was soll er schreiben? Daß er dort fortfährt, Schulden zu machen, ebenso wie hier? Oder daß er sich um eine reiche getaufte Jüdin bewirbt, wie mir der schwarze Hasko neulich aus M. berichtete?“

„Hören Sie, Zeno, noch eins! Hat man denn in St. viel von dem sonderbaren Brautpaar, ich meine Montrose und die schöne Isolde, gesehen? Ich bin eben erst aus dem Urlaub zurück ...“

„Sehr wenig hat man von ihnen gesehen. Der alte Doßberg siedelte sofort nach der Verlobung nach ‚Perle‘ über, nahm seine früheren Pflichten wieder auf und soll von morgens bis abends fieberhaft thätig sein. Die schöne Ilse zog zu dem verrückten Kerl, dem alten Leupold, in seine Kajütenwohnung, und dort hat sie ihr Bräutigam – kurios, sich den alten Montrose als Bräutigam vorzustellen – des öfteren aufgesucht, aber beobachtet hat sie dabei keiner. Sehen Sie ’mal, ich glaube, der Mock hat zwölf Augen geworfen!“

Mock sorgte selbst dafür, daß dies Ereignis bekannt wurde; er vollführte einen gewaltigen Lärm und säckelte seelenvergnügt seinen Gewinn ein.

Rasselnd, keuchend sauste der Zug in die goldene Herbstlandschaft hinein. Ein prangender Oktobertag war’s, der in den Sommer zurücktäuschte.

Zwei Equipagen und ein Wagen für die Gepäckstücke erwarteten die Offiziere in Altwerder – von dort hatte man noch eine knappe Stunde bis „Perle“ zu fahren. Die Herren standen mit Kennermiene bei den Pferdeu und waren alsbald mit den Kutschern im sachgemäßen Gespräch. Montroses Marstall fing an, berühmt zu werden, er konnte sich mit Ehren sehen lassen. Zeno that wenig mit, er hatte die edlen Pferde mit raschem Blick gemustert – nun mahnte er zur Abfahrt; um drei Uhr sollte die Trauung stattfinden, und man hatte sich noch umzukleiden. – –

In der Wolframskapelle läuteten die Glocken; sie hatten manchem Doßberg den ersten Willkommgruß, den Segenswunsch für den Ehebund, den letzten Abschied aus Welt und Leben verkündet. Ihre ehernen Stimmen schwebten feierlich durch die klare Luft, und langsam wand sich der Zug, der die Wagen verlassen [320] hatte, den Hügel hinan, auf dem die alte Kapelle stand. Es war kein großer Zug – eine stille kleine Hochzeit sollte es sein, hatte die Braut gewünscht, die noch um ihre Mutter trauerte, und man hatte das erklärlich gefunden. Niemand von den Gästen hatte sie bisher zu sehen bekommen; sie war unmittelbar aus ihrem Ankleidezimmer durch eine Seitenpforte in den harrenden Wagen gestiegen – jetzt kam sie am Arm ihres Gatten heran.

Diejenigen, die sich die schöne Ilse von Doßberg als Opferlamm vorgestellt hatten, und das war weitaus die Mehrzahl der Hochzeitsgesellschaft, fanden sich schwer enttäuscht. Nichts von einer sanft ergebenen Duldermiene, nichts von einem entsagenden tragischen Blick! Es war ein neuer Ausdruck in dies reizende Gesicht gekommen, der es eigenartig verwandelte, ein Zug von Schwärmerei um Augen und Lippen. In den warmen dunkeln Augen lag ein feuchter verklärter Glanz, der liebliche Mund zeigte ein gerührtes Lächeln. So trat die schöne Gestalt in den weißen langschleppenden Brokatgewändern, den Myrtenkranz mit dem duftigen Schleier über dem Goldhaar, in den dämmerigen kühlen Raum der Wolframskapelle.

Die Töne der kleinen alten Orgel verhallten in langsamem Ausklingen. Das Sonnengold, das durch die bunten Malereien der Fenster hereinsah, verzitterte in mattroten und violetten Lichtern auf dem teppichbelegten Fußboden. Steife vergoldete Engel mit langen Flügeln sahen wie verwundert von der Höhe der Decke auf die beiden herab, die jetzt an den Stufen des Altars nebeneinander standen. Dem grauhaarigen Geistlichen bebte die Stimme, als er den Eingangsgruß sprach. Er kannte Ilse von Doßberg seit ihrer frühesten Jugend, er hatte ihr den ersten Unterricht erteilt, hatte sie eingesegnet und ihr Geschick mit herzlicher Teilnahme verfolgt. In banger Frage streifte sein Blick die Braut und dann Herrn von Montrose. Er konnte gegen den Bräutigam nichts sagen, es gab im Gegenteil recht viel, was für ihn sprach. Alle Verbesserungen, die der arme Baron Doßberg geplant und aus Mangel an Mitteln hatte fallen lassen müssen, hatte der neue Besitzer der „Perle“ ins Leben gerufen. Das alte Schulhaus war umgebaut, eine Darlehenskasse errichtet worden, die Schulkinder hatten einen schönen Spielplatz, sowie eine hübsche Bibliothek bekommen, demnächst sollte ein Krankenhaus in Angriff genommen werden – ohne allen Zweifel ein wohlwollender, ein gütiger Herr, mit offener Hand und hellem Verstand ... aber doch, aber doch! Die junge schöne Ilse – konnte sie denn zu ihm stimmen? Das fragte sich innerlich auch, ebenso wie der alte Pfarrer, der Landrat Melchior, der unausgesetzt seine Blicke zwischen dem Paar hin und her gehen ließ und, ohne sich dessen bewußt zu sein, einmal ums andere den Kopf schüttelte bei dem Gedanken, was das wohl für eine Ehe abgeben werde .... und der alte Leupold fragte sich’s zu allermeist. Seine hellen Augen verschwanden fast unter den breiten gesträubten Brauen, die Stirn lag in grimmigen Falten, und grimmig war dem Kapitän zu Sinn, als er auf seinen Schwager Doßberg blickte und dann auf das Paar, wie wenn er sagen wollte: „Da sieh, was Du angerichtet hast! Dein Werk ist diese Ehe, Du bist schuld daran!“

Schuldbewußt sah er drein, der arme Baron! Schneeweiß geworden, das Haupt tief gebeugt, als wollte er nichts sehen und hören von allem, was um ihn vorging, mit seiner nervösen zitternden Hand unaufhörlich den Hut glättend, den er in der Linken hielt .... man erkannte ihn kaum wieder.

Bleich bis in die Lippen, den Kopf im Nacken, ein mühsam erzwungenes Lächeln um den Mund, stand Clémence von Montrose in starrem raschelnden Damast neben Mock. Dem gutherzigen und leichtlebigen Offizier war gar nicht wohl an der Seite dieser Dame, er musterte sie immer von neuem, halb besorgt, halb mißbilligend, und äußerte später gegen Zeno, ihm sei ganz bange gewesen in der Kirche: diese Clémence habe ausgesehen, als sei sie randvoll mit Wut geladen, und das kleinste Fünkchen könnte eine bedenkliche Explosion herbeiführen. Und, guter Gott, wie sah der Kamerad Montrose aus! Er mußte seinen langen Urlaub benutzt haben, um verteufelt rasch zu genießen; jedenfalls gewährte er den Anblick eines Menschen, der mit voller Rücksichtslosigkeit auf sich eingestürmt hat und mit seiner Gesundheit nahezu fertig ist. Sein Gesicht, das nie besonders wohlwollend im Ausdruck gewesen war, trug einen so ausgesprochen hämischen Zug und in seinen Augen lag so viel kalte Bosheit, daß Oesterlitz den kleinen Zeno heimlich am Arm faßte und ihm zuraunte: „Wissen Sie, der Montrose sieht heillos ungemütlich aus! Schlecht mit ihm Kirschen essen! Ich mein’, der macht’s nicht mehr lange!“ Zeno nickte, sagte aber kein Wort; ihm war elegisch zu Mut, sehr elegisch. Der kleine braune Lieutenant, der so rasch mit der Zunge war, besaß bedeutend mehr Gemüt, als er zu zeigen für gut fand. Für Ilse von Doßberg hatte er immer eine Art platonischer Schwärmerei empfunden; es war ihm nie beigekommen, um das schöne Mädchen zu werben, er hatte ihr nicht einmal den Hof gemacht, aber er konnte sich nicht helfen, sie stimmte ihn allemal poetisch, und wenn er sich in den verschwiegenen Tiefen seines Busens ein Ideal bewahrt hatte, so trug es ohne Zweifel Ilses Züge. Und nun sah er sie hier am Altar stehen, an eines alten Mannes Seite, als Stiefmutter dieser beiden unliebenswürdigen Montroses, ein Opfer ihrer Kindesliebe! Es war schön. es war edel von ihr, das stand ja fest, aber dem kleinen Zeno schnitt es tief ins Herz.

Der alte Pfarrer sprach einfach und herzlich. Von der Heimat redete er, die jeder suchen und finden müsse, von der droben, dann von der anderen hienieden auf Erden, welch köstliches Ding es für so ein armes Menschenkind sei, sich sagen zu können: hier bist Du daheim! Und er legte es der jungen Braut ans Herz, es mit Dankbarkeit zu empfinden, daß der Gatte ihr und den Ihrigen die alte Heimat wiedergegeben, und flehte, es möchte allen zum Segen gereichen. Und zuletzt strömte des alten Mannes Herz über in Liebe zu der, die er als schönes glückliches Kind gekannt, und er sagte ihrem Gatten, heute habe er einen Schatz gehoben, edler und reicher als alle Güter dieser Welt: ein reines Frauenherz; er möge diese Gabe hoch halten vor allen andern und seinem jungen Weibe die schönste und sicherste Heimat gewähren, die es je finden könne: die Heimat an seinem Herzen! Dann kam die Trauung, die Stimme der alten Orgel ertönte von neuem, feierlich und ernst, und die Feier war vorüber.

Als die neue Frau von Montrose zu ihrem Vater herantrat, da zitterte der arme Baron von Kopf bis zu Fuß. Aber Ilse legte ihre weichen Arme um seinen gebeugten Nacken und küßte ihn und sah ihm lächelnd in die Augen, und es war kein müdes hoffnungsarmes Lächeln, es lag etwas Stolzes, Freudiges darin. Sie hatte dem alten Mann das Leben, die Heimat erhalten, sie fühlte sich beseelt von dem besten redlichsten Willen, glücklich zu machen .... mußte sie dann nicht auch glücklich sein? - - -

Ein luxuriöses Mahl im Bankettsaal des Schlosses, Trinksprüche in Prosa und Versen .... dann, während die Hochzeitsgesellschaft noch beisammen blieb, ein hastiger Aufbruch des neuen Ehepaares. Sie wollten sofort ihre geplante Reise nach dem Süden antreten, die sie monatelang der alten Heimat fernhalten sollte.

Liebreizend, ein wenig blaß und befangen, erschien die junge Frau in ihren dunkeln Reisekleidern. Armin, der schlank und hoch aufgeschossene junge Mensch in der flotten Marineuniform, hatte dem Sekt tüchtig zugesprochen und nahm nun einen so feurigen Abschied von Ilse, daß er sie gar nicht wieder aus den Armen lassen wollte; seine ganze begeisterte Liebe für die Schwester kam zum Durchbruch. Die Offiziere küßten nacheinander Ilses Hand, Zeno mit sehr ernstem Gesicht. Georges von Montrose streifte kaum mit dem Rand der Lippen die dargereichte Rechte seiner neuen Stiefmutter. Sie sah ihn wie bittend, wie überredend aus ihren schönen Augen an – ein schneidendes Lächeln ging über seine Züge, seine flackernden Augen irrten unruhig über die anmutige Gestalt, dann trat er zurück, und Clémence berührte mit eisig kalten Lippen für eine Sekunde Ilses goldenes Stirnhaar. Der neue Gatte stand mit wachsamem Blick daneben, jetzt reichte er Ilse den Arm, um sie die Freitreppe hinunterzuführen – noch ein letztes Lebewohl für den Vater, und der Wagen entführte die Neuvermählten.




19.

„Nein, nein, Mama. Du kannst mir’s glauben, eben hab’ ich’s im Fremdenbuch gefunden. Chevalier E. de Montrose nebst Gemahlin von Rom.“

Die alte Dame im braunen Seidenkleid hob Augen und Hände gen Himmel. „Aber das ist ja ein Skandal, das ist – ich finde einfach den Ausdruck nicht, um zu sagen, was das ist! Für mich ist es geradezu widerwärtig, das zu sehen – auch ist es eine Blamage für mich, denn hab’ ich nicht gestern abend zu diesem süßen Geschöpf gesagt: ‚Gnädiges Fräulein, Ihr Herr Papa erwartet Sie draußen‘!“

[321] es damit aufnehmen wollen, hatte gehofft, eine Liebe wie die seinige werde es lernen, alles zu überwinden. Aber er hatte nicht die stille gewaltige Macht bedacht, die ein Toter besitzt, eine Macht, die stärker ist als die jedes Lebenden.

Als jetzt Montrose das eine Wort „Dich!“ aussprach und seiner jungen Gemahlin dazu in die Augen sah, mit seinem tiefen zwingenden Blick, da errötete das liebliche Gesicht wie schuldbewußt – sie gedachte ihrer Träume, in denen Albrecht Kamphausen und nicht ihr Gemahl herrschte.

Ein neckisches Lüftchen weich und kosend, kam gezogen und hob die goldflimmernden Löckchen um Stirn und Nacken der jungen Frau. Drüben lag das Meer, es dehnte sich ruhevoll, in so tiefer satter Bläue, wie die Ostsee, an der Ilse heimisch war, sie niemals gezeigt, aber das war doch die heimische See gewesen, und hier, so schön und berückend es war, blieb doch immer die Fremde! Obgleich die Veranlassung so traurig war, die sie heimrief – Ilse wollte fast dankbar dafür sein. Ihr Gatte hatte beabsichtigt, mit ihr langsam die Riviera entlang zu reisen und dann in bequemen Etappen nordmärts zu fahren – nun sollte sie heute abend schon der Schnellzug nach der Heimat führen! Ilses Herzschlag ging rascher bei diesem Gedanken; sie sehnte sich nach dem Vater, nach dem alten wunderlichen Onkel Erich und seinen „Kajüten“, in denen sie jedes Stück an ihr kurzes Glück erinnerte, sehnte sich auch nach der „Perle“, die ihr teuer geworden war wie ein lebendes Wesen. Hatte sie doch um der „Perle“ willen das schwerste Opfer ihres Lebens gebracht, und wir liebeu immer, wenn auch oft mit bitteren Schmerzen, was unserem Herz ein Opfer gekostet.

Durch die Gebüsche und Bäume leuchtete es hell; dort zog sich eine Promenade hin, die um diese Stunde – es war vier Uhr nachmittags – sehr belebt war. Zuweilen klang das Stimmengewirr, dazwischen ein Ausruf oder ein helles Kinderlachen zu den beiden herauf, die jetzt stumm, jedes in seine eigenen Gedanken vertieft, nebeneinander auf der Terrasse saßen.

Plötzlich scholl von der Straße her ein Hundebellen, in tiefen und dröhnenden Brustlauten. Das Tier war nicht zu sehen, die Bäume und Büsche entzogen es dem Blick, aber es war offenbar ganz in der Nähe der Terrasse. Herr von Montrose sah erstaunt auf, als Ilse eine rasche Bewegung machte. Alles Blut schien ihr zum Herzen geströmt zu sein, ihr Gesicht war weiß geworden wie ihr Kleid. Ihr Gatte betrachtete sie voll Besorgnis, und sein Erstaunen wuchs, als sie sich weit im Schaukelstuhl vorneigte, dessen Lehnen mit beiden Händen umklammerte, wie um sich daran festzuhalten, und mit lauter Stimme: „Korsar! Korsar!“ rief. Da kam es in mächtigem Satz über die Brüstung, welche die Anlagen und die Terrasse von der Promenade trennte – ein riesiger schwarzweißer Leonberger mit langem Behang und buschigem Schweif. Hinter ihm her ertönte Kindergeschrei – hatte er in seinem ungestümen Lauf ein Kind umgerissen? Vormärts schoß er in langen Sprüngen, ein paar junge Gebüsche knickend, und nun die Stufen, die zu der Terrasse emporführten in wildem Anlauf nehmend, warf er sich in wuchtigem Anprall gegen Ilse.

Wie sich dann der Leonberger ihr zu Füßen schmiegte und leise winselnde Laute ausstieß, die beinahe menschlich klangen, wie sie sich zu ihm niederbeugte und mit ihrer zitternden Rechten den klugen Kopf des schönen Tieres streichelte, da war sie so fassungslos, daß sie auf Montroses wiederholte besorgte und dringende Fragen immer und immer nur die eine Autmort fand: „Korsar! Korsar!“ Und der Hund gebärdete sich wie sinnlos vor Freude – jetzt platt am Boden liegend, wie um seine demütige Untermerfung zu zeigen, nun wieder emporspringend, mit lautem Gebell die junge Frau umkreisend, und nun plötzlich aufhorchend, fest auf den Füßen stehend, den Kopf seitmärts gewendet, unruhig den Schweif bewegend, als wollte er sagen: „Hast Du denn nicht gehört?“ Ja, sie hatte gehört – eine laute gebietende Männerstimme, die aus ziemlicher Nähe wiederholt rief: „Korsar! Hierher, Korsar! Zu mir!“

Aher Korsar gehorchte nicht. Zweimal gab er Antwort mit seinem dröhnenden tiefen Bellen, zum Zeichen, wo er zu finden sei, im übrigen blieb er, wo er war. Jetzt bog ein hochgewachsener Mann in dunkler Kleidung um eine Gruppe von Pinien und näherte sich langsam der Terrasse. Ilse stand plötzlich auf, wie von unsichtbaren Händen in die Höhe gezogen, und ging dem Näherkommenden ein paar Schritte entgegen. Er kam unbefangen auf sie zu, den Hut in der Hand, bereit, die fremde Dame für Korsars ungehöriges Betragen um Verzeihung zu bitten – als er die Gestalt im meißen Kleide und das Gesicht näher ins Auge faßte, blieb er wie in den Erdboden gewurzelt stehen.

Auch Montrose war aufgestanden, mit einem jäh erwachten Schreck starrte er dem Fremden ins Gesicht. Es waren edelgeschnittene Züge, aber auffallend bleich. Die Augen lagen tief und hohl, die Wangen waren eingefallen, um den Mund zogen sich schmerzlich bittere Falten; die Haltung der hochgewachsenen Gestalt hatte etwas Müdes, Kraftloses. Korsar wandte den klugen Kopf von einem zum andern, ging dann die drei Stufen der Terrasse herab und rieb sich gegen seines Herrn Knie, als wollte er vermitteln.

Sein Herr ermannte sich endlich und sprach. Es kostete ihn eine gewaltsame Anstrengung, und die Stimme hatte keinen Klang, aber er sprach. „Verzeihen Sie, bitte, verzeihen Sie mir! Ich konnte nicht ahnen, wen ich hier finden würde – ich wollte Ihnen nie wieder begegnen, da ich wußte, wußte –“ Er brach ab, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Atem fing an, hörbar zu gehen.

„Albrecht!“ sagte Ilse ganz leise, wie aus einem Traum heraus. Er schien das nicht zu hören oder nicht hören zu wollen; er sah immer nur Herrn von Montrose an. „Ich – ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig,“ wandte er sich an diesen. „Wollen Sie sie anhören oder soll ich gehen und Ihnen später schreiben?“

Montrose suchte nach einer Antmort. Endlich wandte er sich zu Ilse. „Dies ist Kapitän Kamphausen?“ fragte er, Ilse nickte stumm. „Und willst Du ihn hören? Du hast zu entscheiden!“

Sie sah mit einem wirren Blick um sich, als wähnte sie, zu träumen. Konnte denn, konnte dies Wirklichkeit sein? Aber sie fühlte ja Korsars weiche heiße Zunge an ihrer Hand, und dort stand Albrecht – Albrecht, den sie so inbrünstig geliebt und betrauert ....

Voller Angst hob sie ihre Hände empor und drückte sie gegen die Schläfen. Wild wirbelten ihr die Gedanken durcheinander, – wunderbare Rettungen Schiffbrüchiger, von denen sie gehört und gelesen, fuhren ihr durch den Sinn. Also zu denen gehörte Albrechts Schicksal nun auch! Und nun war alles, alles zu spät, alles vorbei! Sie mar eines andern Gattin, es gab keine Hilfe für sie und Albrecht Kamphausen!

Montrose umfaßte sie und geleitete sie zu ihrem Schaukelstuhl zurück, ganz mechanisch setzte sie sich nieder. Dann fragte ihr Gatte sie von neuem: „Willst Du ihn hören? Du hast zu entscheiden!“

Ihr klang das letzte Wort wie Hohn. Sie und entscheiden! Sie hatte ja schon entschieden, hatte selbst mit fester Hand die Würfel ihres Lebens geworfen; was war jetzt noch zu thun? Aber sie hatte die Frage verstanden und mußte sie beantworten, sie nickte also und suchte in Albrechts Auge zu lesen, aber er schaute beharrlich von ihr fort. Montrose schob ihm einen Stuhl hin und er ließ sich darauf nieder wie ein völlig erschöpfter Mann. Korsar hatte noch eine Weile fragend zu Ilse aufgesehen, jetzt aber streckte er sich zu seines Herrn Füßen und ließ den Kopf hängen, als verdiente er Schelte, als wüßte er, was er angestiftet.

Eine bange Pause. Zuletzt fing Kamphausen an, zu sprechen. Sein umdüsterter Blick hatte lange auf Montrose gehaftet, als wollte er sich dessen Bild einprägen für alle Zeiten, jetzt sah er von ihm fort und zum Meer hinüber, wie wenn er dem seine Erlebnisse berichten müßte. Seine Stimme hatte gegen früher einen ganz veränderten Klang, es lag etwas Eintöniges, absichtlich Kaltes und Nüchternes darin, er sprach so, als ob er die Geschichte eines fremden Mannes nacherzählte.

„Ich kann mich kurz fassen, es ist nicht viel zu sagen. Ich muß nur von neuem betonen, daß es keinen Augenblick in meiner Absicht lag, hier wie ein Romanheld, wie ein Gespenst aus dem Grabe aufzutauchen. Ich habe jede Begegnung vermeiden wollen. Ich hörte, Sie seien in Rom, und dorthin habe ich geschrieben, um Ihnen zu sagen, daß ich lebe, daß ich absichtlich nie Ihren Weg kreuzen würde, daß aber der Zufall Ihnen Kenntnis von meinem Dasein geben könnte und daß ich dem zuvorzukommen wünschte. Das steht in meinem Brief an Sie, es sind nur wenige Zeilen – man wird sie ohne Zweifel Ihnen aus Rom nachsenden.“

Albrecht hatte während des letzten Satzes vom Meer weggeblickt und Montrose angesehen, zum Zeichen, daß er jenen kurzen Brief an ihn gerichtet. Montrose verneigte sich und Kamphausen wandte seine Augen wieder der See zu. „Was mit mir geschehen ist, nach dem Schiffbruch, davon kann ich selbst kein Wort sagen, ich muß es andern nacherzählen, jenen, die mich fanden und aufnahmen.“

(Schluß folgt.)


[322] „Und sie, Mama, was hat sie gesagt?“

„Sie neigte den Kopf gegen mich, mit einer Anmut, wie Du sie leider nie besessen hast, Kamilla, und sagte: ‚Besten Dank, Frau Direktor!‘ Sie also wußte, wer ich war, und ich nannte ihren Mann ihren Herrn Vater – es ist ja, um in die Erde zu versinken! Wie soll ich ihr denn an der Tafel unter die Augen treten?“

„Ach Gott, Mama, glaub’ mir, das ist ihr sicher schon sehr oft begegnet – an solche Irrtümer wird sie gewöhnt sein!“

„Meinst Du, Kamilla? Es wäre mir ein Trost. Aber Du sagst so etwas nur hin, damit ich mich beruhige. Mein Trost ist nur, daß sie mir verzeihen wird. Mit solchem Gesicht muß sich ein edles Herz verbinden – diese Züge können nicht lügen! Aber diesen alten Herrn zu heiraten!“

„Findest Du nicht, Mama, daß der alte Herr recht klug und vornehm aussieht? Er scheint auch seine Frau über alles zu lieben.“

„Nun, das fehlte noch, daß er sie nicht liebte! Wenn sie das ungeheuere Opfer gebracht hat, ihn zu nehmen ...“

„Dort kommen sie, Mama!“

„Wo denn, wo? Meine Lorgnette, Kamilla – ich möchte nur wissen, wo sie immer ist, wenn man sie braucht – nie ist sie da! Endlich! Sie machen Halt auf der Terrasse, er schiebt ihr den Schaukelstuhl hin, nimmt ihr den Sonnenschirm und den Hut ab – gut, daß man sie von hier aus so bequem beobachten kann! Nun sieh’ das Haar, sieh’ dieses Kleid aus weißem Wollstoff mit diesen himmlischen Spitzen! Wie schick, wie schick! Ich könnte Dir das auch kaufen, Kamilla, aber ob es Dir gut stehen würde?“

„Nein, Mama, ich glaube es nicht!“

„Du glaubst es nicht? Nun, ehrlich gesagt, ich auch nicht. Sieh’, wie er sich über sie beugt, der alte Herr! Kann er ihr die Hand geküßt haben, was meinst Du?“

„Warum sollte er nicht?“

„Da er ihr Mann ist, willst Du sagen! Leider, leider! Ich empfinde diese Thatsache wie eine Beleidigung!“

Dies Gespräch fand statt im Hotel d’Italie zu Mentone. Frau Bankdirektor Lössen aus Stettin war mit ihrer Tochter Kamilla, die ein wenig schwach auf der Brust war und den Winter in Capri zugebracht hatte, vor zwei Tagen nach Mentone gekommen, um hier noch eine Woche zu verweilen. Die etwas oberflächlich gebildete und ungemein sensationslüsterne Dame hatte sofort bei ihrer Ankunft ein Paar bemerkt, das ihr wert schien, Gegenstand unausgesetzter und eingehender Beobachtung zu werden – einen älteren vornehmen Herrn und ein reizendes goldblondes Mädchen, natürlich seine Tochter! Und nun sollte es seine Frau sein! War es zu denken?

Kamilla, ein schmächtiges blasses Mädchen mit einem angenehmen Gesicht, mußte ins Haus hinein, den Krimstecher zu holen. Die Lorgnette trug nicht weit genug, durch den Krimstecher aber sah man alles ganz genau. Frau Direktor Lössen stellte mit dem neuen Glase zunächst fest, daß der „alte Herr“, wie sie ihn beharrlich nannte, seinen niedrigen Sessel nahe neben den Schaukelstuhl schob, einen verschlossenen Brief aus der Tasche zog und hastig erbrach – er mußte ihm wohl unterwegs eingehändigt worden sein. Er legte seinen Arm um die Stuhllehne der jungen Frau und ließ sie mit hineinsehen. Sie lasen nicht lange, es mußte ein kurzes Schreibeu sein – sie sprach eifrig in ihn hinein, er wiegte unschlüssig den Kopf hin und her, schließlich neigte er sich über ihre Hand und küßte sie, als sei er mit ihrem Vorschlag einverstanden.

Leider konnte Frau Lössen nicht lesen, was in dem Brief stand, so ausgezeichnet auch der Krimstecher war. Es war ein Schreiben vom alten Leupold, das die beiden auf der Terrasse lasen. „Liebe Prinzeß Ilse!“ schrieb er, „ich habe Dir zu melden, daß Dein Herr Stiefsohn, Georges von Montrose, gestern einen bösen Blutsturz gehabt hat. Morschewsky giebt keinen Heller mehr für sein Leben. Wer lebt wie’n Verrückter, kann sich nicht wundern, wenn er den Blutsturz kriegt. Dies braucht Dein Mann nicht zu lesen – das heißt, ich überlass’ es Deinem Gutdünken. Was meinst Du, wenn Du nach Hause kämest? Hätte Dir allerlei zu melden, was brieflich nicht gut angeht – das ‚Achterdeck‘ ist ein geeigneterer Platz dafür. Hast Dich ja lang’ genug in der Welt herumgetrieben, ist schon Anfang März! Bäume und Büsche bei uns kahl wie Besen, aber die Luft warm, verspricht ein gutes Frühjahr. Der Alte ist gesund, wirtschaftet wie’n Berserker auf ‚Perle‘ herum. Ob Dein sogenannter Herr Sohn sich freuen wird, Dich und seinen Vater zu sehen, lass’ ich dahingestellt – aber ich denk’ mir so, Du wirst’s für’n Stück Pflicht halten, zu kommen. Grüß’ Deinen Mann! Auf Wiedersehen! Dein alter Erich Leupold.“

„Und Du willst wirklich heute noch ...“

„Heut’ mit dem Nachtzug, ja! Vielleicht finden wir ihn noch lebend; am liebsten reiste ich in dieser Stunde!“

„Rege Dich nicht auf, Liebling, ich bitte Dich!“

„Wie sollte ich nicht! Ich hätte kein Herz, wenn ich es nicht thäte. Ein Sterbender! Onkel Leupold übertreibt nicht, und Morschewsky ebensowenig, ich weiß das. Sieh nicht so gelassen aus, Eugen, um Gotteswillen! Kann es wirklich einen Vater geben, dem es gleichgültig ist, wenn man ihm meldet, daß sein Kind stirbt?“

Montrose that einen tiefen Atemzug. „Du weißt nicht, was alles geschehen mußte, bis es soweit kam, wie es gekommen ist. Ich habe meinen Sohn geliebt, ich schwöre es Dir, aber er hat sich mir mit Absicht entfremdet, und dann ist er Wege gegangen, Wege, die – – genug! Ich habe mir das Wort gegeben, Dir das nicht zu sagen, und ich werde es halten.“

„Aber Du wirst ihm verzeihen, was er an Dir und sich selbst gesündigt hat, nicht wahr, Eugen, das wirst Du?“

„Wenn Georges meine Verzeihung verlangt, soll er sie haben – aber ich fürchte, er wird nicht daran denken.“

Die junge Frau seufzte beklommen.

„Liebling, ist es denn möglich, daß Du, gerade Du mich für gefühllos hältst?“

Sie sah rasch zu ihm auf. „Nein, Eugen! Das wäre eine schreiende Ungerechtigkeit von mir – Ungerechtigkeit und Undankbarkeit. Aber ich fürchte – soll ich sagen, was ich fürchte?“

„Alles sollst Du mir sagen!“

„Also, ich fürchte, daß Du auf der ganzen großen weiten Welt niemand weiter lieb hast als mich!“

„Ganz recht! Niemand weiter als Dich!“

„Ist das gut, Eugen, ist das richtig?“

„Gut! Richtig! Kind, was ist in eines Menschen Gefühl gut oder richtig? Wer will seinem eigenen Herzen etwas verbieten? Wer hat Macht darüber? Soll ich mich und Dich belügen und Dir Gefühle heucheln, die ich nicht empfinde?“

„Und Du thust doch so unendlich viel Gutes!“

„So viel ich kann, gewiß! Ich habe Mitleid mit den Menschen, ich helfe ihnen nach besten Kräften –“

„Aber Du liebst niemand!“

„Dich!“ Er neigte sich über sie und sah sie unverwandt an mit seinen rätselhaften Augen. Die junge Frau errötete unter diesem Blick wie so oft, wenn ihr Gatte sie anschaute. Nun war sie monatelang schon sein, und er gab sich ihr mit der ganzen Inbrunst eines Mannes, der sein höchstes Ziel erreicht, der sein Ein und Alles in dem geliebten Wesen gefunden hat. Nichts, was er nicht mit ihr teilte, ihr zugänglich zu machen suchte! Und wie zart faßte er sein Kleinod an! Wie mühte er sich, nicht mit unvorsichtiger Hand den Schmetterlingsstaub von dieser Seele zu streifen, nicht mit all den Erfahrungen seines langen Lebens, die sein Herz kalt und bitter gemacht hatten, dies junge Wesen zu betrüben!

War Ilse glücklich dabei? Und hatte sie Albrecht Kamphausen vergessen? Das eine nicht und das andere nicht. Sie mühte sich, glücklich zu sein, mühte sich tapfer und redlich. Es kam kein Tag, da sie nicht die besten Vorsätze faßte, und sie führte sie auch aus. Sie war ihrem Gatten so dankbar, sie achtete, bewunderte ihn – aber das seltsame Gefühl inneren Fremdseins, das sie als seine Braut schon durchschauert hatte, dies Gefühl, von dem sie bestimmt gehofft hatte, es werde sich wandeln, sobald sie erst sein Weib sei .... es wollte nicht weichen. Sie konnte mit ihm nicht von Albrecht Kamphausen, von der kurzen glückseligen Zeit ihres Liebestraumes sprechen, so oft sie es auch versuchte. Er wußte, daß Albrecht tot war, sie hatte es ihm selbst gesagt, damals, in jener merkwürdigen Unterredung, als sie ihn bat, ihren Vater wieder nach „Perle“ zu nehmen. Diese Unterredung hatte damit geendet, daß sie Montroses Braut wurde, und seitdem war Albrechts Name zwischen ihnen nicht mehr genannt worden. Aber sie sah Albrecht, sah ihn hundertmal des Nachts in ihren Träumen und tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie wenigstens unbeschränkten Kultus mit seinem Andenken treiben dürfe – mit dem Andenken eines Toten! Sie hatte es ihrem Gatten ja offen gestanden daß sie ihn nicht lieben könne, wie sie Albrecht Kamphazsen geliebt. Er hatte

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Dienstbotenmarkt im Elsaß.
Nach einem Gemälde von Marchal.

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Blätter und Blüten.


Adolf Friedrich Graf von Schack. Wollte man versuchen, vom Standpunkte des Humanisten aus ein ideales Leben auszusinnen, es könnte sich nicht viel von dem unterscheiden, das dem Grafen Adolf Friedrich von Schack in glücklicher Wirklichkeit zu teil ward. Ausgestattet mit den beneidenswertesten geistigen Fähigkeiten, mit klarem Verstande, vielseitiger Empfänglichkeit, ungewöhnlicher Gestaltungskraft, mit tiefem Empfindungsvermögen für das Schöne in Kunst und Dichtung, im heimischen wie im fremden Gewande, verfügte dieser Mann zugleich über materielle Güter in solcher Fülle, daß er alle in ihm liegenden Keime zu voller Reife gedeihen lassen, seinem auf alles Hohe und Edle gerichteten Geiste ohne Unterlaß die reichste Nahrung zuführen und sich eine Universalbildung aneignen konnte, die unmittelbar an Goethe erinnert. Dazu lebte in ihm eine warme hochherzige Menschenliebe, ein Drang, zu helfen und zu fördern, wo irgend es not that, eine heiße vaterländische Begeisterung und ein unerschütterlicher Freiheitssinn. Als fruchtbarer und gedankenreicher Dichter, als feinsinniger, die Form glänzend beherrschender Uebersetzer hat er die deutsche Litteratur mit wertvollen Gaben bereichert, als Forscher durch sicheres reifes Urteil vielfach neues Licht verbreitet, und was er für die bildende Kunst war, davon legt allein schon seine berühmte Gemäldesammlung in München, die er letztwillig dem deutschen Kaiser vermacht hat, die aber der Isarstadt verbleiben wird, Zeugnis ab. Wie oft hat er verkannten Künstlern, wie Genelli und Schwind, zu dem ihnen gebührenden Recht auf Anerkennung verholfen, wie vielen, die später zu hohem Ruhme gelangten – einem Anselm Feuerbach, Arnold Böcklin, Franz Lenbach – hat er auf ihren ersten Gängen die stützende Hand gereicht!

Adolf Friedrich Graf von Schack.
Nach dem Gemälde von Franz Lenbach.

Adolf Friedrich von Schack – den Grafentitel hat ihm 1876 Kaiser Wilhelm I. verliehen – war von Hause aus Mecklenburger, am 2. August 1815 hat er zu Schwerin das Licht der Welt erblickt. Neigung und Schicksal haben sein Leben früh zu einem Wanderleben gestaltet; seiner amtlichen Laufbahn als mecklenburgischer Legationsrat hat er 1852 nach dem Tode seines Vaters selbst ein Ziel gesetzt. Den ganzen europäischen Süden, aber auch Aegypten und Syrien hat er als aufmerksamer Beobachter durchstreift und namentlich im Orient und in Spanien ist seine Phantasie heimisch geworden. Nach München führte ihn 1854 die Einladung des Königs Max, der eben damals jenen berühmten Kreis bedeutender deutscher Männer in seiner Hauptstadt und um seine Person versammelte, jenen Kreis, dem Namen wie Geibel, Heyse, Riehl, Sybel, Bodenstedt einen dauernden Glanz verleihen. Zuletzt hatte sich bei Schack eine gewisse regelmäßige Reihenfolge des jährlichen Wohnens herausgebildet: der Sommer gehörte Deutschland, der Winter dem geliebten Rom, der ewigen Stadt – und dort ist er nun auch am 14. April zur ewigeu Ruhe eingegangen, eine Herzlähmung hat seinem gesegneten Dasein ein Ende gemacht.

Wohl war auch sein Glück nicht ganz vollkommen! Ihm hat keine liebende Gattin zur Seite gestanden, unvermählt ist er gestorben, nachdem eine heiße Jugendliebe ihre Erfüllung nicht gefunden. Und in den letzten Jahren trat zu manchen anderen körperlichen Beschwerden eine fortschreitende Abnahme seiner Sehkraft, so daß er schließlich in fast völliger Blindheit dahinlebte. Aber sein lebhafter Geist ließ sich nicht beengen durch die Nacht, die ihn umgab. Unermüdlich blieb er an der Arbeit, mit eiserner Thatkraft alle Schwierigkeiten überwindend, die sich dem auf fremde Hände und fremde Augen Angewiesenen entgegenstellten. So hat er ausgeharrt bis zuletzt, bis die Lider über den getrübten Sternen sich zum letzten und ewigen Schlafe niedersenkten.

Waldmeisterduft. Ueber die „Wirkung“ des Maitrankes sind die Ansichten der Zecher geteilt. Die einen loben sich den Duft des Waldmeisters, die anderen sind ihm nicht hold und meinen, daß er Kopfschmerzen verursache. Die „Erfahrungen“, die man beim Becherklange sammelt, sind bekanntlich nicht „rein“; es ist schwer, nach einer Maitranksitzung zu sagen, wie viel von den nachträglichen Kopfschmerzen auf den Wein und wie viel auf den Waldmeisterduft zu schieben ist. Darum einige Worte über die reine Wirkung des Waldmeisterduftes! Er gehört zu denjenigen, welche von den Menschen gefangen worden sind und sich sogar künstlich herstellen lassen. „Kumarin“ heißt der Stoff, der diesen Duft giebt; er bildet kleine farblose Krystalle, von denen 1 Kilo im Großhandel etwa 160 Mark kostet. Er kommt nicht nur im Waldmeister, sondern noch in einer Anzahl anderer Pflanzen vor, unter anderem auch im Steinklee (Melilotus officinalis). Mit der letzteren Pflanze hat man wiederholt trübe Erfahrungen gemacht, da Pferde und Schafe, die davon gefressen hatten, unter Lähmungserscheinungen zu Grunde gingen. Auch mit dem reinen Kumarin wurden an Warm- und Kaltblütern Versuche angestellt, und da zeigte es sich, daß es die Thätigkeit des Gehirns herabsetzt, das Zentralnervensystem lähmt. So dürfte der häufig auftretende Kopfschmerz, der nach reichlichem Maitrankgenuß sehr lange anzuhalten pflegt, wohl auf den Waldmeisterduft zurückzuführen sein. Aus diesem Grunde erklärt sich auch die Abneigung bewährter Kenner gegen Maitrankessenzen, die mit Kumarin bereitet sind. Diese enthalten stets größere Mengen des Duftstoffes und die Folgen bleiben dann nicht aus. Für die Zugabe des Waldmeisters zum Maitrank gelte also der Grundsatz: „Mit Liebe – aber wenig.“ *     

Diensteifer. (Zu dem Bilde S. 309.) Die erste Gewehrinstruktion ist vorüber. Zum erstenmal haben sich vor den Augen des staunenden Rekruten die Geheimnisse von Lauf, Schaft und Schloß aufgethan und in seinem Kopfe schwirrt’s von Abzugsbügel, Kammerleitschiene, Schlößchen, Schlagbolzen und Verschlußkopf. Aber interessant war’s doch; und hat unser junger Vaterlandsverteidiger auch manches bei dem schnarrenden Vortrag des Unteroffiziers nicht kapiert – wozu hat man seinen „Dienstunterricht für Infanterie“ im Kasten, wo alles, was der Soldat wissen soll, fein säuberlich gedruckt steht! Also heraus damit und noch einmal von vorne angefangen! Und so sitzt der Wackere und studiert, daß ihm der Kopf „raucht“, und wenn’s hinter der vor Anstrengung gefurchten Stirne auch noch nicht ganz hell geworden, so ist doch hier und da ein kleines Lichtlein aufgegangen, als Frucht solch lobenswerten Diensteifers.

Verlobung vor der Geburt. Im Mittelalter war es bekanntlich vielfach Sitte, Prinzen und Prinzessinnen schon als Kinder im zartesten Alter zu verloben und zu verheiraten. Daß man aber auch über noch nicht geborene fürstliche Kinder in gleicher Weise verfügte, dürfte denn doch nur ausnahmsweise vorgekommen sein. Ein solcher Fall ereignete sich im Jahre 1368, als dem Kaiser Karl IV. der Prinz Siegmund geboren wurde, der bei der Taufe mit Katharina, der Tochter des Burggrafen Friedrich von Nürnberg, verlobt wurde. Bei dieser Gelegenheit ward nämlich gleichzeitig bestimmt, daß eine Tochter Karls IV., die ihm innerhalb fünf Jahren seine Gemahlin schenken sollte, sich mit dem Sohne des Burggrafen, der innerhalb derselben Zeit das Licht der Welt erblicken würde, einstmals vermählen sollte. Ein jüngeres Brautpaar als dieses dürfte kaum jemals vorgekommen sein. Aber „gekriegt“ haben sie sich doch, denn 1373 ward dem Kaiser Karl IV. eine Tochter, Margaretha, geboren, die nachmals die Gemahlin Johannes III., Burggrafen von Nürnberg, wurde. Nicht zusammengekommen ist aber das 1368 verlobte Paar Siegmund und Katharina; ersterer, nachmals römischer Kaiser, heiratete zuerst Maria von Ungarn, in zweiter Ehe Barbara Gräfin von Cilli, während Katharina ins Kloster ging und 1409 als Aebtissin zu St. Clara in Hof starb.

Dienstbotenmarkt im Elsaß. (Zu dem Bilde S. 321.) Wer das Elsaß in seiner Eigenart, seiner innersten Natur kennenlernen will, der muß in die Berge ziehen, dort wo ein paar Meilen hinter Straßburg um den sagengekrönten Odilienberg das alte Gebiet des Tannenforstes sich öffnet und über Höhen und Thäler, an keltischen Mauerresten und mittelalterlichen Burgen sich hinzieht in seiner Märchenpracht. Bis auf gar nicht ferne Jahre hatten sich in den an diese Berge und Burgruinen sich anlehnenden Ortschaften die alten Trachten und Gebräuche der Vorzeit erhalten; leider verschwinden die einen wie die andern unter der alles einebenden Macht der Neuzeit. Von den in dem Bilde von Marchal veranschaulichten bäuerlichen Trachten des alten Elsaß ist heutzutage wenig mehr übrig; die Männer haben die Jacke mit der Blouse oder dem Jackett, die kurzen Beinkleider und weißen Strümpfe mit der langen Hose und den aufgekrempten braunen Hut mit der Mütze oder dem runden Stadthut vertauscht; noch bleiben aber, wenngleich verschwindend, die Frauenanzüge, das Mützchen mit den Schmetterlingsschleifen, das buntglitzernde Vorsteckmieder und der farbige Rock, grün für die protestantischen, rot für die katholischen Mädchen.

Ein Dienstbotenmarkt, wie der in dem Bilde wiedergegebene, dürfte kaum mehr mit anzusehen sein – leider! denn ein bunteres, lieblicheres Bild findet man schwerlich! Von den umliegenden Dörfern und Flecken haben sich dienstsuchende Mädchen in ihrer Sonntagstracht versammelt; die Bauern, alte, aber auch junge, treten heran, halten Musterung und besprechen die Bedingungen. Jenes Mädchen beim altertümlichen Brunnen aber, das die Zärtlichkeiten des jungen Burschen nur leicht abwehrt, mag wohl verraten, daß auf diesem Markte nicht immer nur Dienstmägde, sondern hier und da auch Lebensgefährtinnen gesucht und gefunden wurden.



Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (18. Fortsetzung). S. 309. – Diensteifer. Bild. S. 309. – Der Tanz. Bild. S. 312 und 313. – Ohne Führer. Von Heinrich Noé. S. 314. – Das „Sechseläuten“ in Zürich. Mit Abbildung. S. 317. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (18. Fortsetzung). S. 318. – Dienstbotenmarkt im Elsaß. Bild. S. 321. – Blätter und Blüten: Adolf Friedrich Graf von Schack. Mit Bildnis. S. 324. – Waldmeisterduft. S. 324. – Diensteifer. S. 324. (Zu dem Bilde S. 309.) – Verlobung vor der Geburt. S. 324. – Dienstbotenmarkt im Elsaß. S. 324. (Zu dem Bilde S. 321.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.