Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[181]


 Lenz.

Ins Schlafgemach der Sonne tritt
Ihr liebstes Kind,
Der Morgenwind,
Und ruft: „Wacht auf, Frau Sonne!
Besuch ist da,
Der Lenz ist nah
Mit Glanz und Lust und Wonne!“

„So gieb mir her mein bestes Kleid
Mit Blümlein blau
Und Silbertau –
Es liegt dort in der Truhe!
Auch putze flink
Mir blank und blink
Die goldnen Morgenschuhe.

Dann zieh’ den Wolkenvorhang fort
Und wisch’ mir schnell
Die Fenster hell;
Doch führ’ inzwischen immer
Den Junker Lenz
Zur Audienz
Ins gute Vorderzimmer!“

Die Sonne spricht’s. Der Morgenwind
Hüpft hin und her
Und eilt sich sehr
Und schmückt die Sonne prächtig.
Ins Spiegelein
Wirft sie hinein
Noch einen Blick bedächtig …

„Ei schönen guten Tag, Herr Lenz,
Ihr kommt fürwahr
Sehr bald dies Jahr
Zur Frühjahrspromenade.“
„O gnädige Frau,
Wald, Flur und Au
Harrt längst schon Eurer Gnade!

Die Veilchen und die Primeln stehn
Geraume Zeit
Empfangsbereit;
Das graue Weidenkätzchen
Schwingt leis und lind
Im Morgenwind
Und macht verliebte Mätzchen.

Die Vögel haben auch im Wald,
Wie sich’s gebührt,
Schon einstudiert
Zum Frohwillkomm ihr Liedel.
Storch dirigiert,
Heimchen souffliert
Und Grille streicht die Fiedel.“

Frau Sonne, als sie dieses hört,
Lacht hell und warm
Und nimmt den Arm
Des Frühlings an mit Neigen.
Sie folgt ihm stumm,
Läßt sich ringsum
Die Frühlingswunder zeigen ...

Heut’ früh beim ersten Hahnenschrei
Strich ich daher
Von ungefähr
Auf stillen Waldeswegen.
Da kamen grad’
Auf ihrem Pfad
Die beiden mir entgegen.

Die Knospen sprangen duftend auf,
Die Vöglein all
Mit Jubelschall,
Ihr Liedlein klingen ließen.
Rings war erwacht
Glanz, Duft und Pracht
Und Singen und Klingen und Sprießen.

 Richard Zoozmann.

[182]

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(11. Fortsetzung.)


Als in der Schwüle des Nachmittags der Schlaf über Mutter Mahtilts Lider gesunken war, hatte sich Edelrot der Botschaft erinnert, die ihr Henning von seiner Schwester Recka gebracht hatte. Wohl klang in ihrem Ohr die Mahnung, welche Sigenot schon mehr als einmal zu ihr gesprochen. „Thu’ keinen Schritt in Wazemanns Haus!“ Wohl erwachte in ihr, wenn sie der Begegnung mit Henning sich erinnerte, ein dunkles Gefühl der Angst und eine heimlich warnende Stimme. Aber wie hätte sie das Wort der Herrentochter mißachten dürfen und Recka erzürnen, die immer gut und freundlich zu ihr gewesen? Und hatte sie denn der Tochter Wazes nicht noch mehr zu danken als gute Worte und herzliche Blicke? War es nicht Reckas Hand gewesen, die in jener bösen Sturmnacht der Sinkenden die Rettung brachte, als das Wasser schon den letzten Hilfeschrei auf ihren Lippen erstickte? Und jetzt, da Recka nach ihr rief, sollte sie nicht folgen - und wär' es auch nur ein Ruf zu Kurzweil und heiterem Spiel?

„Ich muß zu ihr! Ich muß!“ Edelrot hauchte einen Kuß auf das Haar der schlummernden Mutter und schlüpfte lautlos aus der Halle. Der sonnige Wald umfing sie, und leichten Fußes betrat sie den Steg, der die rauschende Ache überspannte. Hellen Auges blickte sie auf das zitternde Spiel der goldenen Lichter, mit welchen die leuchtenden Strahlen, durch alle Lücken des Gezweiges niedergleitend, den Pfad überwoben; sie sah nur das Licht und nicht die Schatten ihres Weges; ihre kindlich reine Seele hatte keinen Blick für den Abgrund, welcher vor ihren Füßen gähnte.

Bald erreichte sie den breiten Reitweg, der in weitem Bogen über den Berghang zu Wazemanns Haus emporführte. Saftig wucherte das Gras am Saum des Pfades, und überall schimmerten aus dem grünen Rasen die bunten Sterne und Glocken der Waldblumen. Ein Liedlein summend, unter gemächlichem Bergwärtsschreiten, pflückte Edelrot eine Blüte um die andere und wand sie mit dünnem Halm für Recka zum Strauß. Schon war sie auf steiler werdendem Hang bis zur Wende des Pfades emporgestiegen, da klang aus dem Thal herauf der Hall einer rufenden Stimme. Edelrot blieb stehen und lauschte. Wohl meinte sie, die Stimme Wichos zu erkennen, aber die gellenden Rufe des Knechtes verschwammen mit dem Echo, das sie weckten, und klangen durch die Ferne gedämpft wie helles Jauchzen. „Was hat er denn,“ lächelte Rötli, „daß er gar so lustig thut und jauchzt wie ein Hüterbub’?“

Lauschend stand sie, immer wieder klang die hallende, mit dem Echo sich vermischende Stimme, und da schickte sie zur Antwort einen klingenden Jauchzer hinunter ins Thal. Die Rufe des Knechtes verstummten, und leise singend, Blüte um Blüte brechend, wanderte Rötli weiter. Bald tauchte zwischen den Bäumen die graue Burgmauer auf. Die Fallbrücke war niedergelassen, und ein Knecht saß unter dem offenen Thor. Als er das Mädchen kommen sah, eilte er in den Hof zurück; hier stand, von einem Stallburschen am Zügel gehalten, der gesattelte Falbe, und Herr Waze, welchem Henning den Bügel hielt, wollte sich just in den Sattel schwingen.

Henning sah das Zeichen, welches der Knecht ihm machte; er biß sich auf die Lippe, stampfte mit dem Fuß und fragte hastig: „Vater, bist Du heut’ schon in der Falkenkammer gewesen?“

„Nein. Warum?“

„Der Weißfalk, den Du im Frühjahr dem Haunsperger abgehandelt hast, will mir seit gestern nimmer gefallen.“

„Was soll ihm denn fehlen?“ fragte Herr Waze erschrocken, denn er hatte den kostbaren Beizvogel mit schwerem Gold bezahlt; drei Jahre hatten die Bauern zwiefach steuern müssen, bis der rote Haufen beisammen war. „Meinst Du, daß er gichtig wird?“

Henning zuckte die Schultern. „Schau’ ihn halt selber einmal an!“ Herr Waze löste den Fuß aus dem Bügel, und während er im Unterbau des Hauses verschwand, zischelte Henning dem Knechte zu: „Führ’ sie ins Haus und bleib’ bei ihr, bis der Alte draußen ist!“ Er folgte dem Vater.

Als der Knecht das Thor erreichte, kam Edelrot ihm schon entgegen. „Deine Herrin hat mich gerufen,“ sagte sie, den Knecht mit freundlichem Lächeln grüßend.

„Wohl wohl, ich weiß, komm nur herein, ich führ’ Dich!“

Schon setzte sie den Fuß auf die Brücke, da hörte sie hinter sich mit heller Stimme ihren Namen rufen; sie blickte sich um und machte erstaunte Augen, als sie Recka auf ihrem Rappen den Reitweg einhersprengen sah.

„Mach’ weiter, Dirn’, komm herein!“ brummte der Knecht und faßte ihren Arm. Aber sie riß sich los. „Recka! Recka!“ rief sie und eilte der Wazemannstochter entgegen; als diese mit festem Zügelruck das Pferd verhielt, reichte ihr Edelrot die Blumen. „Da bin ich – und schau’, das hab’ ich Dir gebracht!“

Die Blumen schienen bei Recka nicht sonderlichen Wert zu finden; mit lässiger Hand steckte sie das Sträußlein hinter den Gürtel; unwilligen Blickes ruhten ihre Augen auf Edelrot, und mit rauher Stimme fragte sie: „Was suchst Du im Haus meiner Brüder?“

„Aber wie fragst mich denn?“ stotterte Rötli. „Ich komm’ doch, weil Du mich gerufen hast.“

„Ich? Dich gerufen?“

„Freilich! So besinn’ Dich doch! Hast mir ja Botschaft geschickt!“

Reckas Brauen furchten sich. „Botschaft? Durch wen?“

„Durch Deinen Bruder Henning.“

Eine dunkle Röte floß über Reckas Gesicht, und hastig glitt sie aus dem Sattel. „Ja, Rötli, ich besinne mich!“ sagte sie mit bebender Stimme. „Und ich danke Dir, daß Du gekommen bist. Gieb mir Deine Hand, ich will Dich führen!“

„Recka!“ stammelte das Mädchen. „Was ist Dir denn? Deine Hand ist heiß und zittert.“

„Der Zügel hat sie wild gemacht! Frag’ nicht weiter! Wär’ ich minder scharf geritten. es wäre Dir leid gewesen.“ Und das Mädchen an der einen Hand, an der anderen den Rappen führend, überschritt sie die Fallbrücke.

Scheu und verlegen drückte sich der Knecht an die Mauer. Da sah er auf dem Reitweg einen Menschen dem Thor entgegen rennen. mit so wilder Hast, als wäre der Tod hinter ihm. Mit einem leisen Fluch packte der Knecht die Hebel der Kettenwinde und zog die Brücke auf. Kaum war das Thor geschlossen, da erreichte Wicho den gähnenden Graben, keuchend vor Erschöpfung, mit fahlem Gesicht und ausgequollenen Augen. Einen röchelnden Laut noch stieß er aus und streckte die Arme, dann brachen ihm die Knie, und nach Atem ringend, wälzte er sich auf der Erde.

Als hinter Recka und Edelrot das Thor sich schloß, trat Herr Waze mit Henning gerade aus der Falkenkammer. Beim Anblick der Schwester blitzten Hennings Augen zornig auf, und ein starres Lächeln verzerrte seine Lippen.

„Ich weiß nicht, was Du an dem Vogel findest,“ brummte Herr Waze, welcher dem Burgthor den Rücken kehrte, „er hat einen frischen Blick und kröpft, als hätt’ er ein Jahr lang gehungert.“ Er hörte den Hufschlag des Rappen, drehte das Gesicht und riß die Augen auf. „Du. Recka? Was führt Dich denn heut’ schon heim? Und was soll die Dirn’ an Deiner Hand?“

Recka warf dem Knecht die Zügel des Pferdes zu, und ohne den Vater zu grüßen, schritt sie an ihm vorüber und blieb vor ihrem Bruder stehen, welcher, die Augen einkneifend und den Schnurrbart zwirbelnd, langsam zurücktrat.

„Henning!“ Reckas Stimme klang hart, und drohend funkelten ihre schönen Augen. „Ich danke Dir, daß Du meine Botschaft so treulich ausgerichtet! Sieh her, das Kind ist gekommen ... ich halt’ es an meiner Hand, ich führ’ es in meine Kammer! Und Dir sag’ ich, was eingeht unter Dach, ist heilig!“ Tief atmend schlang sie den Arm um Edelrots Schulter und flüsterte: „Komm, Rötli, komm zu mir!“ Mit scheuen Augen blickte Edelrot zu Recka empor und wieder im Hof umher, auf Herrn Waze und auf Henning; sie wußte kaum, daß Recka sie zur Treppe führte und hinauf zur Halle; alles, was mit ihr geschah, war ihr wie ein beängstigender unbegreiflicher Traum.

Mit verblüfftem Gesicht sah Herr Waze den beiden Mädchen nach; dann wandte er langsam die Augen auf Henning. „He, Du! Mir scheint jetzt weiß ich, weshalb ich hätt’ reiten sollen!“ Henning zuckte die Achseln und wollte gehen. „Bleib’, sag’ ich!“ schrie Herr Waze, und seine Stirn wurde dunkelrot vor Aerger. „Du bist mir ein Feiner, das muß ich sagen! Du bist ja einer, vor dem mir selber schon bald grausen könnt’!“

[183] „Ich bin halt, wie Du mich gezogen hast!“

„So redest Du mit mir?“ Herr Waze trat mit geballter Faust vor seinen Buben hin, welcher lächelnd stand und keinen Schritt zurückwich. „Ich sag’ Dir’s noch einmal: mir graust vor Dir. Am Morgen den Bruder und am Abend die Schwester ... Das ist ein lützel viel für einen Tag!“

„Ich will halt nicht zu kurz kommen!“ erwiderte Henning mit rohem Lachen. „Gelt, das hat Dir getaugt, daß ich Dir den andern vom Hals geschafft hab’. Der Bruder ist für Dich gewesen ... jetzt laß mir die Schwester!“

„Außerhalb der Mauer thu’, was Du willst!“ murrte Herr Waze. „Aber das Haus sollst Du mir rein halten! Was eingeht unter Dach, ist heilig.“

„Hast recht! Die Fischerdirn’ soll mir so heilig sein, wie Dir in Deiner jungen Zeit die Salmued gewesen ist. Ich mein’ doch, die wär’ bei Dir auch eingegangen unter Dach ... wie das Täubl in den Marderkobel!“ Henning lachte. „Und ich bin doch ein Lediger noch. Du aber hast Weib und Kind gehabt! Gegen Dich bin ja ich ein Heiliger!“

Herr Waze war bleich geworden bis an die Lippen. „Du, Du,“ keuchte er und faßte den Sohn mit beiden Fäusten an der Brust. „Wer hat Dir das gesagt? Wer? Wer?“

„Wahrscheinlich eine, die’s weiß!“ brummte Henning, schüttelte den Vater von sich ab und trat in die Falkenkammer.

Wie ein angeschossener Eber stürmte Herr Waze über die Freitreppe hinauf und in die Stube. Eine der Thüren riß er auf und brüllte: „Ulla! Ulla!“ Die greise Magd erschien, blaß und zitternd; sie wagte kaum, näherzutreten. „Her zu mir. Du Sudelhex’, Du alte!“ schrie Herr Waze und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der Hall an den Wänden dröhnte. „Gelt, Zähn’ hast Du keine mehr im Maul, aber beißen möchtest noch allweil? Beißen?“

Die Magd rührte die bleichen Lippen, aber sie brachte kein Wort hervor. Herr Waze schüttelte ihren Arm. „Red’, sag’ ich – wie kommt es, daß Henning von der Salmued weiß?“

Es währte lang. bis Ulla die Sprache fand. „Wann es war, weiß ich nimmer,“ stotterte sie, „da bin ich mit dem Zeugknecht hinter der Mauer gesessen, und wir haben so geredet von den alten Zeiten ... und ... und von Frau Friderun, wie schön und gut sie gewesen ist, und von der Schwermut, die sie getragen hat durch lange Jahr’ ...“

„Und von der Ursach’, gelt, von der Ursach’?“ schrie Herr Waze in schäumendem Zorn.

„Wie man halt redet, Herre!“ stöhnte die Magd. „Und da ist Euer Junker Henning dazugekommen – er muß ein paar Wörtlein aufgefangen haben, denn er hat mich gepackt und hat geschrieen: ‚Da hör’ ich eine feine Mär’, heraus damit, die muß ich wissen!‘“

„Und da hast Du ihm alles gesagt! Dem Buben! Von seinem Vater!“

„Er hat mich ja gezwungen, daß ich red’, hat mich geschlagen und am Haar gerissen.“

„Du Schandmaul, Du!“ schrie Herr Waze und schlug der greisen Magd die Faust ins Gesicht. „Ein andermal schweig’ Und hinaus mit Dir, hinaus!“ Ulla humpelte zur Thür; sie schien noch froh zu sein, daß sie so glimpflich davongekommen war.

Herr Waze ging eine Weile mit grimmigen Schritten in der Stube auf und nieder; dann warf er sich beim Fenster in einen Stuhl. „Alles, alles kommt über nach, das Alte und das Neue! Feind’ im Haus und Feind’ da draußen!“ Er stützte mit der Faust das Kinn und starrte finsteren Blickes in die Ferne.

Inzwischen saßen die beiden Mädchen in Reckas Kammer. Das war ein kleiner traulicher Raum, welcher durch die unverwahrten Fenster eines Erkers das goldene Licht der sinkenden Sonne empfing. Nur ein hoher Schrein, ein von zwei hölzernen Säulchen getragener Zinnspiegel und einzelne, hier und dort umherliegende Gewandstücke verrieten, daß dieser Raum die Wohnstätte eines Weibes war. Sonst aber sah es wohl aus wie in einer Junkerstube; Reckas Jagdgeräte, Bogen, Köcher, Wildfänger und kurze Speere, Falknertaschen, Federspiele und Falkenhauben. Zaumzeug und Vogelnetze lagen in allen Ecken und hingen an den Holzmauern, welche bis zur Decke von Geweihen starrten. Und dem Lager eines Mannes glich das niedere plumpgezimmerte Bett, über welches eine schwarze Bärenhaut gebreitet war; statt feiner Leinwand mit bunten Säumen und Stickereien diente zur Stütze des Hauptes eine mit Rehfell überzogene Rolle, zum Schutz wider die Kälte eine Lodenkotze und eine in grobes Hanftuch genähte Hirschdecke mit grauem Winterhaar. Im Erker, von welchem aus der Blick über das weite Waldthal hinausschweifte, saßen Recka und Edelrot an schmalem Tischlein einander gegenüber. Neugierig hatte Rötli das hölzerne, mit Eisen beschlagene Kästlein geöffnet, welches vor ihr auf dem Tische stand. Ein leiser Ruf des Staunens glitt von ihren Lippen, als sie es gefüllt sah mit Ringen, silbernen Kettlein und Spangen, mit funkelnden Gürtelschließen und goldschimmernden Mantelhaken. Es war Geschmeide von roher Arbeit und geringem Wert – aber die Sonne machte das matte Gold und Silber leuchten und weckte farbigen Glanz in den ungeschliffenen Steinen, so daß Rötli den Schatz einer Königin vor sich ausgebreitet wähnte. Freundlich lächelnd, wie eine Mutter auf ihr spielendes Kind, blickte Recka auf das Mädchen, das sich vor Schauen nicht zu fassen wußte und all ihr Staunen in sprudelndem Geplauder ergoß.

„Schau’ nur, schau’, wie das gleißt und glitzert! Alles Gold und Silber, und ein blitziger Farbstein um den andern! Du! Das muß ja soviel wert sein wie der ganze Gadem mit Wald und Häusern mit Vieh’ und Leut’! Nein, nein, was das für schöne Sachen sind! Warum tragst denn nie ’was von Deinem Geschmeid’? Warum thust Dich denn gar nie schmücken damit?“

„Schmücken? Für wen? Für die Sauen und Hirschen in meinem Wald?“ lachte Recka. „Wenn ich ihnen den Fänger zwischen die Rippen stoß’, meinst Du, das Verenden möcht’ ihnen besser schmecken, wenn sie einen Ring blitzen sehen an meiner Hand oder eine Kett’ schimmern an meinem Hals?“

„Aber geh!“ schmollte Rötli. „Es giebt doch auch noch Leut’, die Dich gern anschauen. Und wenn Du diemal was umlegen möchtest von Deinem Geschmuck, schau’, das müßt’ Dich ja noch schöner machen!“

„Noch schöner?“ klang die lachende Antwort. „Ich, und schön? Wer sagt Dir, daß ich schön bin?“

Mit großen Augen blickte Rötli auf. „Muß mir das einer erst noch sagen? Ich darf Dich doch nur anschauen!“ Sie legte die Hand auf Reckas sonnverbrannten Arm und hing an ihr mit glänzendem Blick. „So schön wie Du ist keine mehr! Du bist die Allerschönst’ im Gadem! Glaub’s nur ... mein Bruder Sigenot hat’s auch gesagt.“

Reckas Züge wurden finster, und mit rauher Stimme sagte sie: „Red’ mir von Deinem Bruder nicht!“

„Ja warum denn?“ stammelte Rötli. „Laß Dir doch sagen ... schau’, das ist so gar lang nicht her ... da bist Du vorbeigeritten bei unserem Hag, und ich und Sigenot, wir haben Dir nachgeschaut. ‚Gelt,‘ hab’ ich gesagt, ‚gelt, wie sie droben sitzt auf ihrem Roß, recht wie ein Herrenkind so stolz und schön!‘ Da hat er vor sich hingenickt und hat gesagt, mit einer so linden Stimm’, wie er nur zur Mutter redet: ‚Stolz wie eine Eich’ da droben auf der Wand, über die kein Fuß hinaufsteigt, und schön wie die rote Sonn’ in der Höh’, zu der keine Hand hinauflangt.‘ So hat er gesagt und ... aber was hast denn?“ Recka war aufgesprungen, mit zornigem Lachen. „Was hast denn?“ fragte Edelrot noch einmal und streckte die Hand aus, als möchte sie die Ungestüme besänftigen. „Ich hab’ ja doch kein Wörtl gesagt, das Dich erzürnen könnt’.“

„Schweig’! Ich will nicht hören von ihm!“ Und mit der Faust stieß Recka nach dem Kästlein, daß die Ringe, Spangen und Ketten durcheinander klirrten.

„Ja was hat Dir mein Bruder denn gethan?“ stotterte Rötli erschrocken. „Denk’ nur selber, Recka ... ich mein’ doch, es war keine ungute Hand, die er in der Sturmnacht auf dem Weitsee nach Dir gestreckt hat, zuerst nach Dir!“

„Mahne mich nicht an jene Nacht!“ stieß Recka mit bleichen Lippen hervor und verließ den Erker; doch schon nach wenigen Schritten kehrte sie zurück, blieb vor Edelrot stehen und sagte mit bebender Stimme: „Daß Du nicht meinen sollst, ich wär’ zu stolz gewesen, um Deinem Bruder den Dank zu bieten, den er um mich verdiente in jener Nacht, so sag’ ich Dir: diese Hand hab’ ich ihm geboten mit freundlichem Dankwort! Und er? Wie von einer Bauernmagd hat er sich gewendet von mir!“

„Das hätt’ mein Bruder gethan?“

„Ja, ja! Dein Bruder! So hat er an mir gethan! Der Knecht an seines Herrn Tochter!“

Edelrot erblaßte; doch ruhig klang ihre Stimme, als sie

[184]

Copyright 1893 by Franz Hanfstaengl in München.
Ankunft der Aebtissin Irmingard auf Frauenchiemsee im Jahre 894.
Nach einem Gemälde von K. Raupp.

[185] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [186] sagte: „Dein Zorn redet harte Wort’. Ich bin Dir gut von Herzen, aber meinen Bruder laß ich nicht schmähen. Mein Bruder ist nie und nimmer ein Knecht, er sitzt auf einem Freigut als ein freier Mann und hat keinen Herrn über sich. Das weißt Du selber so gut wie ich. Was redest Du so böse Wort’ und thust mir weh’?“

Zornig wollte Recka erwidern; aber sie sah eine schimmernde Zähre über Rötlis Wange rollen, und da blieben ihre Lippen stumm. Sie wandte sich ab, ihre Blicke fielen auf einen Wildfänger an der Wand, und als möchte sie prüfen, ob das Eisen nicht roste, zog sie die Klinge halb aus der Scheide und stieß sie wieder zurück. Im Erker war der letzte Sonnenschein erloschen, und die dunklen Schatten des Abends schlichen in die Stube. Rötli hatte sich erhoben, und während sie unbewußt mit der Hand in dem Geschmeide kramte, sprach sie leise, mit zitterndem Stimmlein vor sich hin: „Wenn mein Bruder so an Dir gethan hat, wie Du sagst ... so thu’ ich Dich bitten, Recka, sei ihm nicht harb darum! Er weiß wohl selber nicht, daß er Dir ein Wort zu Leid geredet; er ist nimmer, wie er gewesen. Es muß ’was über ihn gekommen sein, das hat ihn gewandelt wie der Winter den grünen Baum. Sein Aug’ hat nimmer Sonn’ und sein Gesicht hat nimmer Farb’. Ich thu’ mich sorgen um ihn, und die Mutter schaut ihn an mit Angst. Und denk’ nur Recka ... wie er vor zwei Tagen den Jahrbaum hätt’ kerben sollen, da hat er nicht das Messer genommen, sondern die Axt, hat hineingehauen in den Baum bis tief ins Mark und hat gesagt: ‚Wenn’s der Baum verwindet, verwind’ ich's auch.‘ Es muß ihm ’was ins Herz gegangen sein wie ein Beilhieb ... und ich sinn’ und sinn’, wer ihm ’was gethan haben könnt’, und komm’ nicht drauf. Er hat doch keinen Feind im Gadem, er ist doch so gut und treu – einen Besseren giebt’s ja nimmer!“ Während Thräne um Thräne über ihre Wangen fiel, sah sie mit verlorenem Blick auf das absonderliche Geschmeide nieder, das ihr in die Hand geraten. Es war die Hälfte eines entzweigesprungenen Beinreifs, plump geschnitten und gelb vor Alter, mit halbverwischten Runenzeichen auf der Innenfläche.

Recka hatte, so lange Rötli gesprochen, mit abgewendetem Gesicht dagestanden, Blässe auf den Wangen, die Augen weit offen wie in starrem Lauschen. Nun, als es stille war in der Kammer, atmete sie tief und drückte den nackten Arm über die Augen. Und langsam, als zöge sie eine Gewalt, der sie widerstrebte, ging sie auf Edelrot zu und streckte die Hände aus. Da öffnete sich eine Thür und die alte Ulla stand auf der Schwelle. Man sah durch die offene Thüre hinaus in einen mit Jagdnetzen und Federlappen angefüllten Raum, von welchem eine schmale Treppe in den Unterstock des Hauses führte.

„Ulla, Du? Was willst Du?“ fragte Recka; als sie auf die Magd zuging, gewahrte sie, daß Ullas Augen rot waren vom Weinen. „Warum hast Du geweint?“

„Das Leben wird mir sauer in Deines Vaters Haus!“ brummte die Alte. „Der eine schlagt mich, daß ich red’, der ander’ schlagt mich, daß ich schweig’. Da ist schwer Auskommen Reckli, schwer!“

Reckas Brauen furchten sich. „Klag’ mir, wer Dich gekränkt hat, und ich will Dir Sühn’ schaffen!“

Ulla schüttelte den weißen Kopf. „Laß gut sein! Du machst es nicht besser.'^.

Freundlich strich Recka mit der Hand über den weißen Scheitel der Magd. „Warum bist Du gekommen?“

Ulla warf einen scheuen Blick auf Edelrot und sagte flüsternd: „Draußen vor dem Thor steht Wicho, der Fischerknecht ... Felsbrocken wirft er wider das Thor und thut wie ein Unsinniger und schreit nach seines Herrn Schwester.“

„Geh’ hinunter, Ulla!“ erwiderte Recka leise. „Sag’ ihm: seines Herrn Schwester weilet bei mir und steht in meinem Schutz!“

Ulla nickte und wollte gehen. Da gewahrte sie das seltsame Geschmeide in Rötlis Hand, stürzte auf das Mädchen zu und entriß ihm das beinerne Reifstück. „Dirn, wie kommt das unselig’ Bein in Deine Hand?“ Edelrot blickte erschrocken auf und wußte keine Antwort. Recka war nähergetreten und fragte betroffen: „Ulla, was ist Dir? Weshalb erschreckt Dich dieser wertlose Tand?“ Sie nahm das Bein aus Ullas Händen.

„Laß Deine Hand davon!“ stammelte die Greisin. „Der halbe Reif ist ein gesprungen Glück! Unheil haftet an dem Bein! Wirf’s hinunter, Recka, wirf’s hinunter, wo der See am tiefsten ist!“

Recka schüttelte den Kopf. „Es kommt von meiner Mutter Friderun.“

„So verwahr’ es hinter Holz und Eisen. Wenn es Deinem Vater vor die Augen kommt, ist Unwetter im Haus!“

Auf Reckas Lippen schien eine Frage zu liegen, aber sie blickte auf Rötli und schob die Magd zu. Thüre. „Geh’ zum Thor,“ flüsterte sie ihr zu, „und thü’, wie ich Dir gesagt hab’.“

Zögernd verließ Ulla die Stube; ihr letzter scheuer Blick war noch auf das gelbe Bein in Reckas Hand gerichtet. Langsam kehrte Recka zum Erker zurück, ihre ernsten Augen hafteten an dem seltsamen Geschmeid’, das sie zwischen den Fingern drehte, als sollt’ es ihr Antwort geben auf die Frage, welche sie vor Rötlis Ohr vermieden hatte.

„Recka! Leg’ das Unding aus der Hand!“ mahnte Edelrot ängstlich. „Siehst nicht die Hel-Zeichen in dem Bein? Leg’ es weg, es ist ein Fluchzahn aus eines wütigen Wolfs Gebiß!“

„Ein Wolfzahn? Nein, Rötli, es ist die Hälfte eines Armrings, wie ihn vor Zeiten die Frauen im Gadem trugen. Aber Weh und Unheil mag wohl haften an diesem Bein. Da ich noch ein Kind war, sah ich es oft in meiner Mutter Hand ... und dann waren ihre Züge bleich und kummervoll, ihre schönen Augen naß von Zähren.“ Reckas Stimme schwankte, ein Zittern befiel ihren Leib, aus gestreckter Hand ließ sie den zersprungenen Reif auf das Geschmeide fallen, und wie ein Schrei aus tiefer Qual klang es von ihren zuckenden Lippen: „O meine Mutter Friderun! Wo bist Du, Mutter? Wo hast Du mich gelassen?“ Die Hände vor das Antlitz schlagend, sank sie nieder auf die Erkerstufe und brach in dumpfes Schluchzen aus.

Erschrocken, unter Thränen stammelnd, warf sich Edelrot vor Recka auf die Knie, zog ihr die Hände nieder und suchte sie zu trösten mit zärtlichen Worten. Da versiegten Reckas Zähren und mit einem Laut, wie er aus der Brust des Dürstenden quillt, der sich nach labendem Wasser sehnt, schlang sie die Arme um Edelrot und überströmte ihr die Augen und den holden Mund mit heißen Küssen, als könnte das brennende Verlangen nach Liebe, einmal erwacht in ihrem Herzen, sich nimmer stillen. Lippe an Lippe, mit verschlungenen Armen, saßen die beiden, während draußen der Abend dämmerte mit grauem Zwielicht.

Da klang im Unterbau des Hauses ein klagender Vogelschrei. Dicht unter Reckas Stube lag die Falkenkammer, ein niederes Mauergelaß mit vergitterten Fenstern. An der kahlen Wand, mit einem Drahtgeflecht verwahrt, brannte eine Talglampe mit rußender Flamme. Rings an der Mauer hin zog sich ein hölzernes Gestell, auf dessen oberster Stange, in speerlangen Zwischenräumen voneinander, fünf Sperber und vier Wanderfalken saßen, an den „Händen“ mit der aus Hirschleder geschnittenen Kurzfessel gebunden. Herrn Wazes Weißfalk saß getrennt von den übrigen Beizvögeln. Von der Decke hingen an Schnüren zwei große Reifen nieder, in jedem saß ein Habicht mit verhaubtem Kopf und gefesselten Schwingen. Ein Bub’, der auf einem Schemel hockte, erhielt die Reifen stetig in schwingender Bewegung. Neben ihm stand Henning und ließ sich berichten, wie weit die Zähmung der beiden, vor kurzer Zeit erst eingefangenen Vögel vorgeschritten wäre. Dann ging er an der Stange entlang und blieb vor einem Blaufalk stehen. Das war von allen Falken der schönste, ein stolzer Vogel von seidenem Gefieder und scharfem Blick; „Edilo“ war es, der Liebling Reckas.

Henning wollte den Vogel greifen; der Falk aber sträubte das Gefieder und schlug mit der scharfen Hand. Ueber Hennings Lippen glitt ein hämisches Lächeln. „Bist Du auch wider mich wie dieselbig’, der Du gehörst?“ Seine Augen hoben sich zur Decke – dort oben lag Reckas Kammer. „Wart’ nur, Du! Heut’ hast Du mir eine Freud’ verdorben ... das zahl’ ich Dir heim!“ Er griff in den hölzernen Napf, der das Trinkwasser des Falken enthielt, und schrie den Wärter zornig an: „Du Schuft! Die Vögel haben laues Wasser!“

Der Bub’ sprang erschrocken auf. „Nein, Herr!. Grad’ erst, vor einer Weil’, hab’ ich frisches Wasser aufgegossen.“

„Das lügst Du! Hinaus zum Brunnen und frisches Wasser her! Oder ich mach’ Dir Füß’!“

Der Bub’ antwortete nicht mehr, sondern nahm die Kanne auf und verließ die Kammer. Rasch trat Henning zum Tisch und faßte eine der langen dünnen Nadeln, welche, wenn ein Falk auf der Beizjagd oder in der Kammer eine Schwungfeder gebrochen [187] hatte, in den geknickten Kiel eingeschoben wurden, um der verletzten Feder wieder Halt zu geben. Langsam ging er auf Reckas Liebling zu. drückte flink, ehe der Falk sich wehren konnte, dem Vogel die eine Hand auf den Rücken und stieß ihm mit der anderen die Nadel in das Eingeweide. „Da hast Du Deinen Teil!“ lachte er und ließ den Falken ledig. Dieser schüttelte das Gefieder, zog den Kopf zwischen die Schultern und rückte unruhig auf der Stange hin und her. Henning warf die Nadel auf den Tisch, und da er den Buben kommen hörte, trat er zu den Reifen und schaukelte die Habichte.

Als der Bub’ das frische Wasser in die Holznäpfe goß und zu Edilo kam, rückte der Vogel scheu auf die Seite; doch die Bewegung schien ihn zu schmerzen, er zog den Rücken auf und stieß einen klagenden Schrei aus. Der Schrei klang hinauf in Reckas Kammer, in welche durch die Fenster nur noch ein trüber Schein des entschlummernden Tages schimmerte.

„Hörst Du ihn?“ flüsterte Recka, die Arme von Rötlis Nacken lösend. „Das ist mein Edilo, mein Liebgesell. Er sehnet sich nach mir und klaget, daß ich ihn seit Tagen nicht geschwungen auf meiner Hand, daß er sitzen muß zwischen übler Mauer, derweil ihn hinaus verlangt in Luft und Sonne, zu hohem Flug.“ Ihre Stimme bebte, und wieder umschlangen ihre Arme das Mädchen. „Ach, Rötli! Wie meinem Edilo, so ist auch einem anderen edlen Falk zu Mut. Er möcht’ hinaus in lichte Freiheit und den Flug hochauf nehmen ins Gewölk, der warmen Sonne zu ... und er muß doch sitzen zwischen üblen Mauern, in einer Rabenkammer, darin die unholde Brut um Aas sich rauft!“ Mit einem Laut des Ekels sprang sie auf, schüttelte das Haar in den Nacken und streckte die Arme. „Hinaus! Hinaus!“

„Recka?“ stammelte Edelrot und erhob sich.

Die Wazemannstochter atmete tief und strich mit der Hand über die Augen. „Schau’, wie dunkel es worden ist! Komm, Rötli, ich führ’ Dich heim!“ Sie nahm von dem Geschmeide, welches in der Dämmerung nur matt noch funkelte, einen Goldring und faßte Rötlis Hand. So traten sie hinaus in die Herrenstube, in welcher auf dem Lichtreif schon die Kerzen brannten. Herr Waze saß noch immer am Fenster, die alte Ulla deckte den Tisch und Henning trat aus der Halle herein in die Stube.

„Rötli,“ sagte Recka mit lauter Stimme und streifte dem überraschten Mädchen den Ring an den Goldfinger der linken Hand, „wir haben Kuß und Lieb’ getauscht, und ich will Dich halten und umschließen mit meiner Treu’ wie mein Reif Deinen Finger!“

Die Thränen traten in Edelrots Augen. Sie wollte sprechen, doch Recka schloß ihr mit der Hand die Lippen und sagte lächelnd: „Red’ nicht! Komm, ich führ’ Dich heim – es ist spät geworden!“

An Henning vorüber führte Recka das Mädchen in die Halle hinaus. Auf der Freitreppe kam Eilbert ihnen entgegen; er war mit seinem Bruder Hartwig, der im Hof mit den Knechten schrie, von erfolgloser Jagd zurückgekehrt. Als Eilbert das Mädchen an seiner Schwester Seite erkannte, flammten seine Augen; doch eh’ er noch Sprache fand, war Recka mit Edelrot an ihm vorübergeschritten. Da hörte er aus der Stube die Stimme seines Vaters und Hennings zornige Gegenrede. Jedes Wort. welches da drinnen gesprochen wurde, konnte er verstehen. Nach einer Weile trat Henning auf die Schwelle. „Und ob sie eingegangen ist unter Dach, ob meine Schwester Lieb’ und Treu’ getauscht hat mit ihr oder nicht,“ rief er in die Stube zurück, „die Dirn’ ist mein! Das sollst mir Du nicht wehren, Du nicht! Und die Schwester auch nicht!“

„Aber ich!“ klang Eilberts Stimme hinter ihm.

Henning wandte sich um, maß mit funkelnden Augen die von der Dämmerung umflossene Gestalt seines Bruders und stieg lachend die Treppe hinunter. Als er den Hof erreichte, murmelte er: „Es ist Zeit, daß ich greif’ nach meinem Gut.“ Er rief den Knecht, der ihm zu Mittag als Späher gedient hatte, und trat mit ihm in den finsteren Schatten der Mauer. „Ich mein’, ich kann mich verlassen auf Dich.“ Der Knecht nickte.

„Leg’ scharfe Wehr um und halt’ Dich fertig, wenn meine Schwester wieder heimkehrt!“

„Wohin geht der Nachtweg?“

„Zu einem Nest, aus dem ich mir einen schmucken Vogel heben will.“

Der Knecht verstand. „Dä mein’ ich aber schier, daß wir zwei zu wenig sind. Der Fischer hat Fäust’ wie Hämmer.“

„Der Fischer?“ lachte Henning, „der Fischer? Um den sorg’ Dich nicht! Der hat heut’ nacht ein stilles Geschäft im Weitsee draußen. Schlag’ nur Du den Wicho nieder ... den Vogel hol’ ich mir schon selber aus dem Nest.“

Während die beiden leise miteinander sprachen, ging am Thor die Fallbrücke nieder und Recka trat mit Edelrot hinaus in die sinkende Nacht. Sie hatten die Brücke noch nicht verlassen, da kam ihnen Wicho schon entgegengestürzt und streckte die Arme aus.

„Wicho, Du?“ lachte Edelrot. „Ja wer hat Dich denn geschickt?“

Recka schob den Stammelnden mit dem Arm beiseite und sagte: „Hörst Du nicht, wie sie lacht? War Dir Wazes Tochter nicht Schutz genug für Deine Herrin?“

Schweigend trat Wicho zurück und folgte den beiden Mädchen, welche Arm in Arm, unter halblautem Geplauder auf dem dunklen Reitweg thalwärts wanderten. Als sie die rauschende Ache erreichten, drückte Recka einen Kuß auf Rötlis Mund.

„Ich bitt’ Dich, nimm den Wicho mit auf den Heimweg,“ sagte Edelrot, „es ist dunkle Nacht geworden.“

„Ich finde meinen Weg und bedarf des Knechtes nicht. Geh’ heim, meine liebe Gesellin, und eines merk’ Dir: betritt nie wieder meines Vaters Haus, es wäre denn, daß ich selbst Dich hole und führe an meiner Hand!“ Zärtlich streifte Recka mit beiden Händen über Rötlis Scheitel, küßte sie auf die Stirn und schritt, zwischen den finsteren Bäumen verschwindend, dem Seeufer und dem steilen Felsenpfad der Falkenwand entgegen.

Edelrot blickte ihr nach. „Wicho,“ fragte sie den Knecht, „ich hab’ es doch heut’ so lieb und gut bei ihr gehabt, weshalb denn warnet sie mich jetzt?“

„Sie wird wohl wissen, warum,“ murrte Wicho und faßte die Hand des Mädchens. „Komm, laß uns heimgehen!“

Sie überschritten die Brücke und gingen den Hag entlang; als sie die Hofreut betraten, gab Wicho die Hand des Mädchens frei und sperrte das Thor. Leichten Fußes eilte Rötli über den Hügel hinauf; auf halbem Weg aber hielt sie inne, sie hörte aus der Halle, deren offene Thür im roten Schein des Herdfeuers leuchtete, jene Worte Sigenots: „Derweil ich gebetet hab’ und gekniet vor ihm – wo war denn seine Treu’, wo war denn seine Hilf’?“ Dann hörte sie ihn schreien: „Mein Eisen! Mein Eisen!“ – und schwarz erschien seine Gestalt in der roten Thür.

„Sigenot?“ stammelte sie.

Beim Klang ihrer Stimme stand er einen Augenblick wie erstarrt; dann stürzte er auf die Schwester zu, faßte ihre Hände und zog sie in den hellen Schein der Thüre. „Deine Augen haben reines Licht!“ Er atmete auf, als fiele ein Stein von seiner Brust. „Rötli! Rötli!“ Und seine Arme umschlangen sie. Mit großen Augen blickte sie zu ihm auf, in der bangen Ahnung einer Gefahr, scheu erschreckend wie ein lachendes Kind, welches jählings über einen Abgrund niederblickt in tiefes finsteres Wasser. Nun gab Sigenot die Schwester frei. „Geh’ zur Mutter, Rötli, sie sorgt sich um Dich!“

Schweigend betrat Edelrot die Halle und Sigenot hörte den schluchzenden Freudenlaut, mit welchem Mutter Mahtilt ihr Kind empfing. Wicho war über den Hügel emporgestiegen. „Weißt Du, wo sie gewesen ist? In Wazemanns Haus! Und bei aller Treu’, die ich Dir in die Hand geschworen, hätt’ ich Deiner Schwester nimmer geholfen, wenn nicht ...“

„Wenn nicht einer geholfen hätt’,“ fiel Sigenot mit bebender Stimme ein, „einer, dessen Arm noch stärker ist als tausend Männer in Wehr und Eisen!“

„Einer?“ fragte Wicho und schüttelte den Kopf. „Nein, Herr, es war eine Weiberhand, die so stark gewesen. Besser als ich hat Wazemanns Tochter Deine Schwester gehütet und hat sie heimgeleitet durch die Nacht bis herunter zum Achensteg.“

Mit jähem Griff hatte Sigenot den Arm des Knechtes gefaßt und starrte ihm in das von der Thürhelle erleuchtete Gesicht; dann wandte er sich schweigend ab und ließ sich niedersinken auf die Hausbank. In der Halle klang Rötlis Stimme. Sie erzählte der Mutter von jener Botschaft, die ihr Henning gebracht, und von allem, was sie erlebt in Wazemanns Haus. Sigenot saß und lauschte mit verhaltenem Atem. Seine Blicke waren hinausgerichtet in die Nacht und hingen an der finsteren Höhe der Falkenwand. Da blitzte über den steilen Felsen, im schwarzen Mauerstreif, ein Lichtschein auf. Ueber dem Felsensteig hatte sich das Pförtlein geöffnet, und ein Knecht hielt die lodernde Kienfackel über das Gewänd hinaus, um Reckas Weg zu erhellen.

(Fortsetzung folgt.)


[188]

Die Eierspiele der Osterzeit.

Von Alexander Tille.0 Mit Zeichnungen von O. Herrfurth.

Die armen Ostereier! Wie schön wäre ihr Los, wenn sie Frieden hätten, sobald sie von den kleinen Händen gefunden, von kleinen Augen rundum beguckt und von kleinen Lippen ein paarmal „versuchsweise“ berührt worden sind! Es ist ja wahr, ihre Schalen haben durch das Sieden in Salzwasser sicher an Festigkeit gewonnen – aber etwa nur deswegen, damit man ihnen nun desto ärger mitspielen könne? Am schwersten ist ihr Los ohne Widerrede in denjenigen Gegenden, in denen das Eierschlagen üblich ist. Und dies sind leider sehr viele. Wenn man in der Schweiz mit den Eiern „dupft“, in Böhmen „tupft“, in Schwaben „bickt“, in Blamingen „tippt“ oder „tikkt“ und anderwärts „spickt“, „kippt“, „klippt“, so bedeutet dies allerorts dieselbe Fertigkeit, dieselbe schwer zu erlernende Kunst, die schon so manchen reich und schon so manchen arm an – Ostereiern gemacht hat.

Zur Kinderleidenschaft ist das Eierschlagen in Thüringen geworden, wo auf den Dörfern jeder Knabe den andern, sobald er ihn erblickt, anruft: „Komm schlagen! Willst Du? Nicht? Meins ist gar nicht sehr hart, Ich will Dir eins borgen“ – u. s. f., bis sich der andere endlich erweichen läßt. Ihren Gipfel erreicht die Eierschlagesucht jedoch in den deutschen Ostseeprovinzen.

Eierschlagen.

Kaum ist Mittag vorüber, so ziehen hier am Ostermontag Knaben, Burschen, ja sogar ältere Männer und selbst Weißbärte durch die Straßen, sie mustern sich wechselseitig mit prüfenden Blicken und suchen vor allem in das Dunkel der strotzenden Taschen der anderen vorzudringen. Ein siegesgewisser Eierschläger klappert laut mit dem Inhalt seiner Tasche. Ein anderer will zeigen, daß er ihm durchaus nichts nachgebe, und beginnt ebenfalls mit seinen Schätzen zu klappern. Jetzt bleiben beide etwas zurück. Sie gehen langsamer und bleiben endlich stehen. Um sie her sammelt sich sofort eine Menge Schaulustiger. Verwundert sehen sie sich um, und jeder versichert einen guten Freund, der gerade dabei steht, sie hätten nicht die mindeste Lust, bereits so früh mit dem Schlagen zu beginnen. Indessen holt der eine doch ein dunkelrot gefärbtes Ei hervor und „pickert“ bald mit dem einen, bald mit dem anderen Ende desselben an die Vorderzähne, um aus dem Tone, den es giebt, die Stärke seiner Wölbung zu erlauschen. Es genügt ihm nicht; er steckt es wieder ein; mit einem anderen folgt dieselbe Probe: endlich hat er eins gefunden. Freudig flüstert er seinem Nachbar zu, das werde ihm keiner einschlagen – nicht mit einem stählernen! Alles reckt die Köpfe. Sein Gegner wirft ihm ob seiner Prahlerei einen verächtlichen Blick zu. Aber auch er kann sich nicht mehr halten. Ein Griff in die Tasche, und mit raschem Rucke hält er, ohne erst lange zu wählen, dem anderen ein Ei hin, das er fast ganz mit der schützenden Hand verdeckt, so daß kaum ein Endchen hervorragt. Und jener? Der denkt nicht daran, zuzuschlagen, sondern froh, den Gegner gereizt zu haben, fragt er scheinbar ganz kühl, was er eigentlich von ihm wolle. Nicht als ob das sein Ernst wäre, aber er hält es für vorteilhafter, selbst sein Ei hinzuhalten und den anderen schlagen zu lassen; denn, meint er, das ruhig gehaltene Ei sei immer das widerstandsfähigere. Ueber derartige grundlegende Fragen sind die Meinungen sehr geteilt, aber sein Gegner steht zufällig auf demselben Standpunkt, und so möchte keiner dem anderen den Vorteil überlassen. So stehen sie, und der zweite hält immer noch sein Ei hin, starr den Blick darauf geheftet. Da endlich entschließt sich der erste zum Schlage. Er schlägt – sein eigenes Ei bricht ein. Natürlich hat er das voraus gewußt; denn der Schlagende ist ja immer im Nachteil.

Das „Waleien“.

In Thüringen wäre das eingeschlagene Ei unwiderruflich verloren. In den Ostseeprovinzen ist es nicht so. Hat doch ein Ei zwei Spitzen, und ehe nicht auch die andere eingeschlagen ist, bekommt der Gegner das Ei nicht. Der Sieger möchte gern auch diesen Schlag vollbringen. Aber dem anderen scheint dessen Ei verdächtig. Er bittet es sich zur Probe aus, „pickert“ einen Augenblick damit und giebt es freudestrahlend zurück, denn er glaubt, einen Fehler daran entdeckt zu haben. Betroffen zögert nun der andere einen Augenblick. Aber schon hält ihm der Gegner sein Ei hin. Er schlägt und gewinnt auch diesmal. Der andere möchte das verlorene Ei wiedergewinnen und besteht auf der Fortsetzung des Kampfes. Jeder Verlust regt ihn mehr auf. Die Umstehenden verfehlen nicht, zu hetzen, zu sticheln und auf Ungehörigkeiten des Gegners aufmerksam zu machen. Eine wahre Eierschlagwut entwickelt sich. Die Zuschauer beteiligen sich gleichfalls am Schlagen, eine Menge kleiner Gruppen bildet sich, ganze Straßen und Plätze sind von Eierschlagenden gesperrt. „Halt! Halt!“ „Schlag zu! Schlag zu!“ tönt es alle Augenblicke aus dem Gedränge. Hier und da entstehen [189] Streitigkeiten, die andere zu schlichten versuchen.

Das Eierklauben.

Da es keineswegs nur auf den Bau der Eier, sondern ebensogut auch auf die Stärke und Richtung des Schlagens ankommt, so werden bald einzelne, die es zu einer besonderen Geschicklichkeit gebracht haben, zu kleinen Eierkönigen. Man fragt sie um Rat, man leiht Eier bei ihnen, macht ihnen Vorwürfe, wenn diese eingeschlagen werden, und weigert sich, schlechte Ware zurückzuzahlen. Und es soll nicht selten vorkommen, daß man zuletzt auf den Rücken statt auf ein Ei schlägt.

*               *
*

„Ein jeglich Land hat seine Sitt’,
Die seinem Landvolk folget mit,“

sagte schon vor 600 Jahren Hugo von Trimberg, und als gelehrter Schulmeister von Bamberg mußte er es wissen. So weitverbreitet nun der Brauch ist, daß am Osterfest Eier in den Vordergrund treten, so verschieden sind die Spiele, die man mit ihnen anstellt. Neben dem Eierschlagen, das sich wohl der weitesten Beliebtheit erfreut, steht im Osten des deutschen Kulturgebiets das Eierrollen, oder, wie es in der Lausitz heißt, das „Waleien“.

In der Niederlausitz bildet es eine Volksbelustigung in größerem Maßstab. Es ist allerdings schon sehr im Schwinden, und nur hier und da wird es noch gespielt. Ein sanft abfallender Platz ist die unerläßliche Vorbedingung für das Spiel, das im Freien vor sich geht. Bereits am Ostersonnabend wird hier mittels Schnur und Hacke ein gleichschenkliges Dreieck abgemessen und eingezeichnet. Seine Spitze liegt auf der Höhe, seine Grundlinie an der tieferen Seite. Der Boden, den die Seiten des Dreiecks einschließen, wird sorgsam geglättet, und man wacht eifersüchtig darüber, daß keinerlei Verschiebung vorkommt. Am ersten Ostertag wird alles sorgfältig noch einmal nachgeprüft, Mütter und Schwestern haben zugleich daheim eifrig zu thun, denn es gilt, für jeden Burschen eine genügende Menge haltbarer und deutlich gezeichneter Eier hartzusieden. Auch Bräute verwenden große Sorgfalt darauf, denn ihre Gaben sind glückbringend. Ganz regelmäßig gebaute, rundliche oder längliche oder sich stark verjüngende Eier werden ausgesucht, damit der Spieler für jeden vorkommenden Fall ein besonders geeignetes Stück zur Hand habe. Mittags beginnt das Spiel.

Der angesehenste Bursche, dem die Herstellung des Dreiecks anvertraut war, setzt seinen Fuß an dessen Spitze, und oberhalb desselben setzt jeder von denen, die sich beteiligen wollen, ein gezeichnetes Ei hin. Es gilt zunächst, die Reihenfolge zu bestimmen, in der gespielt wird. Derjenige beginnt, dessen Ei nach dem Abrollen auf der Grundlinie am weitesten nach links liegt. Die Burschen kennen die Kunstgriffe und wählen sämtlich sich stark verjüngende Eier, deren Spitzen nach links weisen. Und doch läuft manches der äußersten rechten Ecke zu. Der erste Aerger!

Erst jetzt, nachdem sich die Zieleier selbst verteilt haben, beginnt das eigentliche „Waleien“ in der „Welt“ oder „Walei“, wie das Dreieck benannt wird. Der Besitzer des unten am weitesten links liegenden Eies beginnt ein weiteres hinunterlaufen zu lassen. Trifft er eines der Zieleier, so gehört das getroffene ihm und er darf weiter rollen, fehlt er, so ist auch hier das gerollte Ei verloren. Während sich auf beiden Seiten die Zuschauer dicht herandrängen und es an Scherz und Spott nicht fehlen lassen, verfolgt der, welcher eben an der Reihe ist, sein Ei bis zu seiner Ankunft unten mit Körperbewegungen, gleich als ob er dadurch auf den Verlauf seiner Bahn Einfluß ausüben könnte. Geschicklichkeit, Stärke des Stoßes und kluge Wahl vermögen viel zum sicheren Treffen beizutragen, aber doch nicht alles; denn die kleinsten Unebenheiten vermögen ein wohlgezieltes Ei aus seiner Bahn zu bringen, und nicht einmal der Liebeszauber erweist sich in allen Fällen als wirksam.

Auf das Spiel folgt ein gemeinsamer Trunk im Wirtshaus, da sonnen sich dann die Sieger in ihrem Ruhme und die Besiegten haben Gelegenheit, ihren Aerger hinunterzuspülen.

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Wo noch im Volke der Trieb zu Wettbewerb in körperlicher Leistungsfähigkeit vorhanden ist, da giebt es auch in der Osterzeit ein Spiel, bei dem sich Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit zeigen können. Es ist das „Eierlaufen“ oder „Eierlesen“. In Süd- und Westdeutschland ist es heimisch und auch in Tirol wird es vielfach geübt.

In Zams am Inn nennt man es „Eierklauben“, und hier steht es in so engem Zusammenhang mit der Osterfeier des gesamten Landvolkes der Umgegend, daß es sich wohl lohnt, einmal einen Blick darauf zu werfen.

Im Sonntagsstaat, jeder mit einem großen Korbe bewaffnet, gehen die zwei schnellfüßigsten Burschen der Gemeinde vom Gründonnerstag an von Gehöft zu Gehöft und bitten alle Bäuerinnen um Eier, denn zur Ausführung des Spieles sind nach alter Ueberlieferung nicht weniger als einhundertfünfundsiebzig Stück nötig, und es gelingt ihnen immer, dieselben zusammenzubringen.

Am Nachmittag des ersten Ostertages zieht das Volk scharenweise hinaus nach dem Pfade, der den Schauplatz des Wettlaufes bildet.

Im Angesicht der Menge, die sich selbst belustigt, werden die 175 Eier vom Korbe aus in Abständen von fünf Fuß längs des Pfades niedergelegt, und zwar so, daß auf zehn allemal ein gefärbtes kommt. Dann treten die beiden auserkorenen Wettläufer an dem Korbende an und laufen, während alles mit gespannter Aufmerksamkeit zuschaut, einigemal längs der Eierkette hin. Plötzlich stürzt sich der eine in die Volksmenge, die bei seinem Einbrechen Platz macht, und ist nach einer halben Minute verschwunden. Indessen giebt es für den anderen reichliche Arbeit. Er muß sämtliche Eier einzeln auflesen und in den auf seinem Platze verbleibenden Korb tragen und bei jedem einzelnen den Weg um sämtliche Eier beschreiben. Die Strecke wird aber nicht etwa bei Wegnahme jedes Eies kleiner, da der Läufer bei dem ersten, dem Korbe zunächst liegenden Ei beginnen und so fort immer das jeweils dem Korbe nächstliegende Ei aufnehmen muß.

Unterdessen muß der andere über die Zamser Brücke nach Lötz, Perjen, über die Pürschler Brücke nach Landeck und von da wieder zurück nach Zams zum Eierkorbe laufen, ein Weg, der eine gute Stunde beträgt.

Wer zuerst seine Aufgabe vollendet, ist Sieger.

An das „Eierklauben“ schließt sich dann noch eine kleine Stegreifaufführung, bei welcher alle Ereignisse in der Gemeinde, alle schlechten Witze, Thorheiten und heimlichen Liebschaften zur Sprache kommen, und das Ganze endet mit einem höchst feierlichen Festessen, welches in der Dorfschenke aus den Eiern des Spieles und aus anderweit gelieferten Eßwaren, als da sind Speck, Wurst, Kuchen, hergerichtet wird und bei welchem der Sieger die Hauptrolle spielt.


Die Perle.

Roman von Marie Bernhard.

 (11. Fortsetzung.)

Ilses Fuß blieb am Boden haften, und sie sah Herrn von Montrose an wie eine geisterhafte Erscheinung. Und doch lag nichts Furchterregendes in dessen Aussehen, durchaus nichts. Sein feines schmales Gesicht war blaß, sein melancholischer Blick hatte nichts Aufgeregtes, sondern traf das junge Mädchen mit einer Art stiller Bewunderung, wie wenn er sagen wollte: ich muß Dich schön finden, obschon ich weiß, daß Du nicht für mich bist! „Guten Abend, Baroneß!“ sagte seine angenehme, ein wenig bedeckte Stimme. „Ein seltsames Zusammentreffen!“

Ilse neigte nur wie zur Bestätigung seiner Worte den Kopf.

„Ich war auf ‚Perle‘,“. setzte er seine Erklärung fort, „habe im Schloß nachgesehen und bin dann lange mit Ihrem Herrn Vater umhergefahren. Er hat mir vieles gezeigt, vieles erklärt – es ist eigentlich beschämend für mich, so alt geworden zu sein, ohne auch nur die oberflächlichsten Kenntnisse über den Landbau erworben zu haben. Aber der Baron ist ein guter Lehrmeister, hier zumal, wo er jeden Fußbreit Erde kennt. Er wünschte, noch in Belten zu bleiben, und ich fuhr allein hierher, ich wollte so gern ein paar Atemzüge Meeresluft mitnehmen in die dumpfe Stadt!“

„Kommt mein Vater auch hierher?“ fragte Ilse unsicher.

„Nein! Er hatte noch zu thun und wollte sich dann ein Pferd geben lassen und geradeswegs von Belten heimreiten.“

Sie antwortete nichts darauf, ihr Blick irrte von ihm fort und wandte sich der Sonne zu, die rasch sank. Bis zur Hälfte schon war die strahlende Kugel ins Meer untergetaucht, sie zeigte ein unheimliches düsteres Rot, das in den Wellen verzitterte und dem tiefhängenden Gewölk einen fahlen Feuerschein gab.

„Sie waren in der Stadt, Baroneß?“ begann Montrose von neuem.

[190] „Ja, ich hatte dort zu thun. Mein Vater machte Schwierigkeiten wegen der Pferde –“

„Ich bitte Sie, Baroneß, kein Wort davon – Sie bringen mich in Verlegenheit! Ihr Vater weiß, und Sie müssen es auch wissen, daß Sie schalten und walten können auf ‚Perle‘ wie in frühereu Zeiten!“

Sie hätte ein paar Worte der Anerkennung hierauf erwidern müssen, aber sie that es nicht. Sie wollte sich ihm verleiden, ganz verleiden, damit er in Zukauft absichtlich ihre Nähe meide wie sie die seinige. Mochte er sie für hochmütig und abstoßend halten – mochte er!

„Wie geht es Ihrer Frau Mutter?“ kam von neuem seine gedämpfte Stimme an sie heran – sie empfand die Stimme wie etwas Körperliches.

„Papa wird es Ihnen gesagt haben – es geht nicht gut, sie ist still und teilnahmlos. Aber am ersten schönen Tag bringen wir sie fort und ziehen selbst hinüber ins Verwalterhaus.“ Sie setzte das letztere hastig hinzu, als ob seine Frage nur diese Deutung haben könnte.

„Es eilt mir nicht damit, ins Schloß zu kommen,“ sagte er ohne jede Empfindlichkeit.

„Aber die Ihrigen werden es wünschen. Ich sprach Ihren Sohn in der Stadt – er schien Gewicht darauf zu legen, bald nach ‚Perle‘ herauszukommen.“

„So? Schien er? Schon möglich! Er hat indessen abzuwarten, bis ich den Tag zur Uebersiedlung bestimme! Bis vor kurzem hatte er nicht die geringste Neigung für den Landaufenthalt.“

„Er hat mir nicht gesagt, daß ich Sie hier finden würde.“

„Er hat es gar nicht gewußt. Unsere Wege trennen sich oft.“ Es klang so einfach, doch war der doppelte Sinn nicht mißzuverstehen. „Wollen wir zum Belvedere hinauf, Baroneß? Man sieht von dort oben noch besser, und die Sonne wird gleich hinunter sein.“

Sie hätte gern Nein gesagt. aber wie konnte sie das, ohne geradezu ungezogen zu sein? Nur als er ihr die Hand bot, um ihr beim Ersteigen der unbequemen Steinstufen behilflich zu sein, zuckte sie zusammen und wich zurück.

Herr von Montrose blieb stehen und sah sie an. „Sie schrecken vor mir zurück, Baroneß, als wenn ich Ihnen ein Leid anthun wollte!“ sagte er. „Sie müssen ein starkes Vorurteil gegen mich haben. Freilich, ich mag Ihnen schon zum voraus verleidet gewesen sein, weil ich es bin, der Ihren Varer, Sie alle gewissermaßen aus Ihrer Heimat vertreibt. Oder“ – er zögerte einen Augenblick – „ist es etwas anderes, was Ihr Gefühl gegen mich wachruft? Denn eine Antipathie ist da – das werden Sie nicht leugnen wollen!“

„Das – das ist nicht das richtige Wort,“ begann Ilse stockend; dann verstummte sie hilflos. Was sollte sie zu diesem Mann sprechen, wie ihm erklären, was ihr selbst bis zur Stunde noch unerklärlich geblieben war? Konnte sie ihm sagen: „Ich fühle mich durch Dich angezogen und abgestoßen zu gleicher Zeit – Dein Bild, die Erinnerung an Dich haben mich fort und fort begleitet, obschon ich alles dazu that, beides zu verbannen; Deine Gegenwart macht mich innerlich unfrei und willenlos, mir ist, als gehörte ich nicht mehr mir selbst an, wenn Du da bist, als hättest Du über mich zu bestimmen und ich müßte Dir gehorchen“ – konnte sie dem fremden Mann, mit dem sie heute zum zweitenmal in ihrem Leben ins Gespräch gekommen war, das sagen? Schattenhaft, blitzgleich flogen diese Gedanken an ihr vorüber, auch die Erwägung, wie es wäre, wenn sie ihm von ihrem Verlöbnis mit Albrecht Kamphausen Mitteilung machte. Ob ihr dann nicht leichter ums Herz würde, ruhiger? Vielleicht! Aber ihm, dem Fremden, zuerst ein Geheimuis anvertraueu, das ihre eigenen Eltern noch nicht wußten, noch nicht wissen durften? Wie würde er ein solches Geständnis aufnehmen? Was sollte er überhaupt damit? Von Antipathie hatte er gesprochen, sie hatte ihm erwidert, das sei nicht das richtige Wort und das war es auch nicht – aber fand sie das richtige Wort? Kannte sie es?

„Also nicht Antipathie! Was ist es sonst?“ hörte sie ihn fragen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und sah ihm voll ins Gesicht. „Ich weiß es nicht! Ich muß Ihnen launenhaft erscheinen und undankbar – aber ich kann nicht anders sein!“ Und während sie das sagte, fühlte sie wieder dies grenzenlose Mitleid mit ihm, da er sie ansah mit seinen traurigen entsagenden Augen, die es aufgegeben hatten, das Glück zu suchen.

Es ließ sich schwer etwas entgegnen auf das, was sie gesagt hatte. Herr von Montrose entgegnete auch nichts, sie schwiegen beide und hatten es vergessen, daß sie den kleinen Tempel ersteigen wollten. „Sehen Sie,“ sagte dann Herr von Montrose plötzlich, „die Sonne ist hinunter!“

Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, leuchtete es auf wie eine zuckende Flamme; die rote Glut in den Wolken erblaßte rasch – ein blasses Gelb färbte den westlichen Horizont.

„Ich muß gehen,“ sagte Ilse und wandte sich um. „Es ist die höchste Zeit!“

„Darf ich Ihnen meinen Wagen anbieten, Baroneß? Sie kommen vor Dunkelwerden nicht mehr nach Hause!“

„Um keinen Preis! Ich danke! Ich finde den Weg auch im Finstern – ich gehe rasch.“

„Sie können es von keinem Mann verlangen, daß er eine Dame zu dieser Zeit ohne Schutz durch den Wald gehen läßt! Da fängt es auch wieder zu regnen an. Sie gestatten.“ Er nahm ihr den leichten grauen Mantel ab, den sie über dem rechten Arm trug, und legte ihn sorgsam um ihre Schultern, darauf zog er eine kleine Pfeife hervor und setzte sie an die Lippen. „Das Zeichen für meinen Kutscher, er muß hier in der Nähe sein; wir müssen bis zum Ausgang der Lichtung gehen.“

Ilse mußte sich fügen. Es half ihr nichts, daß sie ihren Einfall verwünschte, das Meer sehen zu wollen, es half ihr auch nichts, daß sie die Hand in ihre Tasche schob und sie auf dem Brief ruhen ließ, wie wenn er ein Zauber wäre, der sie schützen würde – der Aufruhr in ihr legte sich nicht. Und auch die Natur schien entfesselt. Sturm und Regen entluden sich mit voller Gewalt, Windstöße gingen über den Wald hin, daß die Bäume ächzten. Ilse fühlte sich von der Hand ihres Begleiters ergriffen und vorwärts gezogen. Wie damals auf der dunklen Wendeltreppe, so spürte sie auch heute, wie von dieser Hand, in der die ihrige lag, etwas ausging gleich einem starken elektrischen Strom, dem sie völlig unterthan war. Jetzt versuchte sie nicht mehr, sich frei zu machen, sich zu sträuben; sie ging willenlos mit.

Am Ende der Lichtung wartete Herrn von Montroses Wagen. Der englische Kutscher hatte vorsorglich das Verdeck aufgeschlagen er war mit einem Satz vom Bock herunter, als er seinen Herrn kommen sah, und half ihm und der jungen Dame gewandt beim Einsteigen. Ilse lehnte mit halbgeschlossenen Augen in der Wagenecke und atmete durstig den herben Duft des nassen Laub- und Nadelholzes. Ihr Begleiter deckte eine weiche bunte Decke über ihre Knie, sie fühlte seinen Blick, ohne ihn anzusehen.

„Nach ‚Perle‘, so rasch die Pferde können!“ rief Herr von Montrose, und mit schwindelnder Eile ging es vorwärts. Das Rauschen des Regens, das Sausen des Windes in den Bäumen und der harte Hufschlag der Pferde auf dem festen Wege machten jedes Gespräch zur Unmöglichkeit. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, fuhren die Zwei durch den stürmenden herbstlichen Wald.




12.

Nun lag die „Perle“ tief eingebettet im Schnee. Der Winter hatte die Menschen seinen Ernst fühlen lassen. Zu Anfang Dezember schon hatte der Frost eingesetzt, ein steifer Nordost wehte fort und fort, machte den Boden steinhart, hing ganze Tropfsteingebilde aus Eiszapfen überall an und trieb den Leuten die hellen Thränen in die Augen. Eine bleiche Wintersonne sah vom Himmel herab; die Luft „schnitt“ förmlich, so kalt war sie. Die Wälder standen im Rauhreif, silberfunkelnd. blitzend, und das Meer fror ein großes Stück weit zu, kaum konnte man vom Ufer her mit unbewaffnetem Auge den feinen dunklen Streifen erkennen, der das offene Wasser anzeigte. Seit langen Jahren hatte sich dies Ereignis an der Küste nicht vollzogen; von nah und fern strömten die Menschen herbei, das seltene Schauspiel zu genießen.

Endlich war dann der Schnee gekommen, der langersehnte Schnee; er deckte weiche Polster auf Wiesen und Hecken und wickelte den Wald dicht ein in undurchdringliche Flockenwirbel. Als der wilde Tanz vorüber war, da hielt jedes Zweiglein und jedes Aestchen seine Schneelast fest, und der Eichenforst war wie ein riesiger Eispalast anzusehen.

Jetzt stand das Weihnachtsfest vor der Thür.

Längst waren die neuen Besitzer von „Perle“ eingezogen in das neu ausgestattete Schloß. Zu Clémence von Montroses Aerger [191] prangte aber immer noch das Wappenschild der Doßbergs, die Perle in der offenen Muschelschale, über dem Portal anstatt der Rose, die das Abzeichen der jetzigen Eigentümer bildete. Sie hatte ihren Vater darauf aufmerksam gemacht und ihn gefragt, ob es möglich sei, daß er eine so wichtige Sache übersehen habe. Die Antwort hatte gelautet, das sei durchaus nicht der Fall, es solle aber fürs erste alles beim alten gelassen werden. Mit diesem Bescheid mußte sie sich begnügen, und das Wappen blieb, wo es war.

Längst auch war die Familie Doßberg in das Verwalterhaus übergesiedelt. Es war ein hübscher Bau; aus dem Schloß hatte man alles mit herübergenommen, was die Zimmer irgend geschmackvoll und wohnlich gestalten konnte, und so war ein Ganzes hergestellt worden, das entschieden einen anheimelnden Eindruck machte, aber das Behagen trotzdem nicht auf die Bewohner übertrug. Die Baronin hatte sich in der ersten Zeit nach dem Umzug anscheinend ein wenig erholt. Ihre Lebensgeister flackerten wieder auf, sie hatte besseren Appetit, gewann mehr Kräfte und zeigte neues Interesse am Wohl und Wehe ihrer Umgebung. Ilse war fast immer um ihre Mutter, nur selten gestattete sie, daß die getreue Lina sie ablöse. Aus dem Lawn Tennis-Spiel im Herbst und dem regen Verkehr von Haus zu Haus, den Lieutenant Georges von Montrose so lebhaft gewünscht hatte, war fast nichts geworden. Nur der alte Herr von Montrose hatte das junge Mädchen öfters erblickt. Er kam ziemlich häufig nach dem Verwalterhause herüber, seiner vielen eingehenden Besprechungen mit Doßberg wegen; es war zartfühlend von ihm, seinen Administrator in dessen Haus aufzusuchen, anstatt ihn zu sich nach dem Schloß zu entbieten, wo jeder Schritt den Baron an eine schönere Vergangenheit mahnte.

Es hatte sich eine Art von Freundschaft zwischen den beiden Männern gebildet, freilich eine seltsame Freundschaft. Nie streiften die langen Unterredungen, welche sie miteinander führten, das Gebiet persönlicher Erlebnisse, persönlichen Empfindens; streng sachlich wurde nur das abgehandelt, was zum Wohl und Gedeihen des Gutes erforderlich war, allein es konnte nicht vermieden werden, daß hier und da eine Ansicht über allgemein wichtige Dinge, über die Behandlung der Landbevölkerung, über Politik und volkswirtschaftliche Fragen im Gespräch auftauchte; dabei mußte notwendig einer des anderen Sinnesart, ein Stück seiner Lebensauffassung kennenlernen, und es ergab sich manches Gemeinsame. Dazu kam noch, daß Herr von Montrose das tiefste Mitgefühl für den Baron hatte und auf jede Weise bemüht war, dessen Stellung angenehm zu gestalten; und Doßberg hätte undankbar sein müssen, wenn er nicht den feinen Takt, das fast ängstliche Bemühen Montroses, nie den Herrn zu zeigen, wohlthätig empfunden hätte.

Indessen verlor der Baron dennoch keinen Augenblick das Gefühl seiner Abhängigkeit. Er konnte keine Ausfahrt, keinen Ritt durch die Felder unternehmen, ohne zu denken: vor einem halben Jahr noch war dies alles dein Besitz; er konnte das Aufblühen und Gedeihen des Gutes nicht sehen, ohne sich zu sagen: all das würdest du für dein Eigentum gethan und es dir erhalten haben, wenn du nur über die Mittel verfügt hättest! Jetzt hebst du mit fremdem Gelde das Gut deiner Väter für einen Fremden wieder empor! Oft, wenn er heimkehrte von seinen langen Ritten und Philipp ihm das Pferd abgenommen hatte, lenkte er in Gedanken seine Schritte auf dem altgewohnten Weg dem Schlosse zu, bis es ihm angesichts des Portals einen Ruck gab. „Geh’ hin, wohin du gehörst! Du hast hier nichts mehr zu suchen, bist nichts mehr als der bezahlte Verwalter!“ Dann kam er mit trüben Augen, gesenkten Hauptes bei den Seinen an; er vermied es dann, seine kranke Frau aufzusuchen – die bekam immer nur sein freundliches Gesicht, sein Lächeln, das freilich kein richtiges Lächeln war, zu sehen. Aber seine Ilse, seine schöne kluge Tochter, die war seine Vertraute geworden und obgleich er auch vor ihr nicht klagte, so brauchte er doch hier keine Maske zu tragen, durfte sich nicht den Zwang des Redens auferlegen. Stumm strich er ihr mit der Hand über das Haar, stumm und aufmerksam trug sie ihm sein Frühstück auf, bediente ihn und sorgte dafür, daß er wirklich aß und trank, und wenn sie es für erlaubt hielt, dann plauderte sie auch mit ihm, erzählte von ihrer Lektüre, von den häuslichen Einrichtungen, von Mama, der es doch wieder ein wenig besser gehe, und war froh, wenn er auf das Gespräch einging. Sobald aber der Baron einmal unerwartet Herrn von Montrose um die Frühstückszeit mitbrachte, war Ilses Unbefangenheit dahin. Sie mußte selbstverständlich den Gast begrüßen und für das Behagen der Herren sorgen, aber sie kürzte beides soviel als thunlich. Mit scheuen, bang umherirrenden Augen saß sie den beiden Herren gegenüber, stockend und unfrei kamen die Worte über ihre Lippen, so daß ihr Vater sie einmal gefragt hatte, ob sie etwas gegen Herrn von Montrose habe – dazu liege doch bei dessen rücksichtsvollem Benehmen durchaus keine Veranlassung vor.

Von Albrecht Kamphausen hatte Ilse seither noch einen Brief erhalten, aus Schanghai datiert, voll von Liebe und Sehnsucht, von so großer ungestümer Sehnsucht, daß sie beim Lesen in heiße Thränen ausgebrochen war. Ach, warum mußte er so fern sein, warum war er nicht da, sie zu schützen! Sie hatte ihm keine jener dunklen Andeutungen mehr geschrieben, die ihm damals so befremdlich erschienen waren, hatte sich gezwungen, mutig und vertrauensvoll zu ihm zu sprechen, wie er es liebte, aber bitter und schmerzlich empfand sie es, auch hier sich verstellen zu müssen, ihm gegenüber, mit dem sie eins sein sollte für das ganze Leben.

Das Weihnachtsfest sollte mancherlei bringen. Im Schloß wurden Vorbereitungen zu einem großen Fest getroffen, das am ersten Feiertag stattfinden sollte. Die Montroses hatten in der ganzen Umgegend Besuche gemacht, und nun war die gesamte Nachbarschaft schon wochenlang zuvor feierlich eingeladen; es sollte gleichsam ein Einführungsfest sein, das die neu Angesiedelten den übrigen Grundbesitzern näherbringen würde. Clémence hatte diesen Gedanken gehabt und seine Ausführung nicht ohne einige Mühe bei ihrem Vater durchgesetzt; sie hatte sich dann völlige Freiheit für ihre Anordnungen erbeten und traf nun großartige Vorbereitungen. Täglich fiel ihr etwas Neues ein, das verschrieben und angeschafft werden konnte, ihre Feder war in beständiger Bewegung. Man sollte staunen, was die Montroses für Feste auszurichten verstanden! Besaß man einmal ein altes feudales Rittergut, dann mußte man es auch zu Ehren bringen; jetzt sollte die „Perle“ erst ihren wahren Glanz bekommen! Es war selbstverständlich, daß Georges und Botho zum Fest herüberkamen; sie hatten einen ausgiebigen Urlaub bewilligt erhalten, und Clémence war glücklich, den Bräutigam, der sich nicht oft im Schlosse sehen ließ und ganz merkwürdig kurze Briefe schrieb, endlich einmal auf längere Zeit bei sich zu haben. Herr von Montrose kümmerte sich um alle diese Dinge nicht, sonst würde er dafür gesorgt haben, daß die Vorkehrungen weniger prahlerisch und prunkend ausgefallen wären. Er sah nur sorgsam die Liste der Einzuladenden durch und war sehr befremdet, Baron Doßberg und seine Tochter nicht vermerkt zu finden; er fügte den Namen sofort mit seinem Taschenbleistift bei. Auf Clémences verlegene Ausrede, die würden ja doch der Kranken wegen nicht kommen, entgegnete er mit gelassener Bestimmtheit, er selbst werde alles dazu thun, den Baron zum Erscheinen auf dem Feste zu bewegen, schon um der Nachbarschaft den Beweis zu liefern, welcher Art sein Verhältnis zu dem früheren Eigentümer der „Perle“ sei. Daran knüpfte sich die für Clémence nicht neue Mahnung, den Bewohnern des Verwalterhauses stets die größte Rücksicht angedeihen zu lassen, eine Mahnung, die sie äußerlich mit Ruhe entgegennahm, gegen die sie aber im stillen um so schärfer Widerspruch einlegte. Was Papa wohl einfiel, mit dieser Gesellschaft so besondere Umstände zu machen, als ob es Prinzen von Geblüt wären! Dieser alte Doßberg trug den Kopf immer so stolz im Nacken, als hätte er seine „Perle“ bloß aus Gnade einstweilen hergeliehen und der „Baroneß“ mit ihrer koketten Schönheit hätte so ein kleiner Denkzettel vollends nichts geschadet. Aber in dem Punkt verstand Papa keinen Spaß, das wußte Clémence und sie hatte allen Grund, ihn günstig zu stimmen. Denn wenn Papa nicht wollte, bekam sie Botho nicht, und um Botho zu bekommen, mußte man erst seine Schulden bezahlen, deren er, wie der zartfühlende Georges einmal der Schwester verraten hatte, „schauderhaft viel“ besaß. Clémence mußte sich also fügen, um so mehr, als sie bei Georges mit Klagen über den „Bettelbaron“ und seine Tochter schon gar nicht ankam. Georges war noch immer bis über beide Ohren vernarrt in das „süße Geschöpf“, zumal der stillschweigende Widerstand Ilses auf den verwöhnten Frauenliebling immer neuen Reiz ausübte. Und Botho? Botho hörte als galanter Bräutigam geduldig zu, wenn Clémence ihrem Groll über „Papas Schwäche“ Luft machte, aber als sie ihn einmal geradezu fragte, ob er denn auch diese Ilse von Doßberg so überwältigend schön finde, da hatte der Lieutenant von Jagemann nur mit großem Ernst und [192] großer Ueberzeugung das eine Wort: „Entzückend!“ ausgesprochen, und Clémence hatte das Thema ein für allemal aufgegeben. –

Heute, am Morgen des vierundzwanzigsten Dezember, war Baron Doßberg im Schlitten nach St. gefahren, um seinen Sohn heimzuholen. Während der Herbstferien war Armin in der Stadt geblieben, da sein Schulzeugnis stark zu wünschen übrig ließ; auch hegte er einen ganz unbezähmbaren Grimm gegen Herrn von Montrose und dessen Familie, so daß zu befürchten stand, der heißblütige Junge möchte sich bei etwaigen Begegnungen zu unartigem Betragen hinreißen lassen. Jetzt hatten die wilden Wogen seiner Empörung sich ein wenig gemildert, seine letzten Briefe lauteten merkwürdig verständig, er sprach von „heilsamen Entschlüssen“, die er gefaßt, von „definitiver Entscheidung“, welche die nächste Zeit bringen müsse, vom „Wohl und Weh seiner Zukunft“, das er den Seinigen demnächst warm ans Herz legen wolle, und so ließ man ihn denn zum Feste nach Hause kommen, zumal auch die kranke Baronin den Wunsch geäußert hatte, den einzigen Sohn wiederzusehen. (Fortsetzung folgt.)


Die Rolle des Staubes in der Natur.

Von Dr. P. Lenard.

Wenn ein Strahl Sonnenlicht durch eine Spalte im Fensterladen in ein verdunkeltes Zimmer fällt, so kann er in seiner ganzen Länge gesehen werden. Was sein Licht nach allen Seiten zerstreut und so auch ins Auge gelangen läßt, ist der Staub der Zimmerluft. Es ist nicht der Sonnenstrahl, den wir sehen, es ist der von ihm beleuchtete Staub. Bei näherer Betrachtung können deutlich einzelne Körperchen beobachtet werden, wie sie den Strahl durchziehen.

Bei ruhiger Zimmerluft macht sich der Staub noch viel besser bemerkbar, indem er sich dann auf alle Gegenstände absetzt. Er fällt außerordentlich langsam zu Boden, obgleich er aus Stoffen besteht, die in größeren Klumpen rasch herabfallen, wie man sehen kann, wenn man abgesetzten Staub zusammenfegt und festballt. Beim Zusammenballen lassen wir eine sehr große Menge freier Oberfläche, welche die Teilchen früher der Luft darboten, verschwinden. Diese große Oberfläche war es, die der Luft genügende Angriffspunkte gab, den Staub im Fallen so sehr aufzuhalten. Je feiner der Staub, um so größer ist seine Oberfläche im Verhältnis zur Masse, um so mehr wird sein Fallen durch die Luft verlangsamt.

Es könnte den Anschein haben, als ob es eine undankbare Aufgabe wäre, von der Rolle dieses Staubes in der Natur zu sprechen. Denn welche wesentliche Wirkungen könnten diesem geringgeschätzten Stoffe zukommen? Indessen es wird sich zeigen, daß wir kein Recht haben, ihn gering zu schätzen.

Der Staub hat den größten Anteil an fast allen Erscheinungen in der Erdatmosphäre. Zunächst ist er es, der den heiteren Himmel blau erscheinen läßt. Wenn wir nach dem blauen Himmelsgewölbe blicken, so sehen wir den von der Sonne erleuchteten Staub in der Atmosphäre. Es ist nichts anderes vor uns, was Licht ins Auge gelangen lassen könnte. Durch alle Gase, welches auch ihre chemische Zusammensetzung sei, geht das Licht unsichtbar, in geraden Linien hindurch. Der Staub fängt es auf, reflektiert es nach allen Seiten und läßt so die ganze Atmosphäre hell erscheinen, in derselben Weise, wie er den Sonnenstrahl im verdunkelten Zimmer sichtbar macht.

Ohne Staub gäbe es kein blaues Firmament. Der Himmel würde so schwarz oder noch schwärzer sein, als wir ihn in den schönsten mondlosen Nächten erschauen. Unvermittelt würde auf diesem schwarzen Hintergrunde die glühende Sonnenscheibe stehen, und derselbe schroffe Gegensatz würde auch auf der beleuchteten Erdoberfläche herrschen: blendendes Licht, wo die Sonnenstrahlen hintreffen, und tiefschwarze Schatten, wo sie fehlen. Nur das Licht des Mondes und der Sterne, die auch bei Tage sichtbar blieben, würde diese Gegensätze etwas mildern können. Die Beleuchtung der Erdoberfläche wäre der ähnlich, die wir durchs Fernrohr an den Mondlandschaften erblicken; denn der Mond besitzt keine Lufthülle, welche Staub schwebend erhalten könnte. Es ist der Staub, dem wir auf der Erde die gleichmäßige, gemilderte Tagesbeleuchtung verdanken, für die unsere Augen nun einmal eingerichtet sind, es ist der Staub, der so viel zur Verschönerung unserer landschaftlichen Scenerien beiträgt.

Aus dem Gesagten geht indessen zunächst nur hervor, daß der Staub das Himmelsgewölbe hell erscheinen läßt; warum aber erscheint es gerade blau? Warum reflektiert der Staub von den verschiedenfarbigen Bestandteilen des weißen Sonnenlichtes am meisten die blauen, weniger die grünen, gelben und roten?

Dies hängt zusammen mit der Größe der Staubpartikelchen. Nur die feinsten Stäubchen sinken so langsam herab, daß sie sich, durch die Luftströmungen überallhin verbreitet, in allen Schichten der Atmosphäre beständig vorfinden, und nur diesen allgemein verbreiteten, feinsten Staubteilchen dürfen wir besondere Bedeutung zuschreiben. Die gröberen sinken ja bald zu Boden. Und nun erinnere man sich an den feinen Mechanismus des Lichtes, an die äußerst kurzen Aetherwellen, die dessen Wesen ausmachen. Diese Wellen, obgleich alle von fast mehr als mikroskopischer Kleinheit, sind doch nicht alle gleich lang. Die kürzesten sind die, welche das blaue Licht geben, alle anderen Farben entsprechen längeren Aetherwellen. Der feine atmosphärische Staub nun enthält viele Partikelchen, die noch groß genug sind, die kurzen blauen Aetherwellen zu reflektieren, weniger Teilchen werden sich finden, die auch Grün und Gelb reflektieren, und noch weniger werden groß genug sein, um die langen roten Aetherwellen zu beeinflussen. Das rote Licht wird daher ziemlich ungehindert hindurchziehen, das blaue wird vorzugsweise zerstreut werden und so ins Auge gelangen. Deshalb erscheint feinster Staub – und damit das Himmelsgewölbe – blau.

Einen ähnlichen Vorgang in größerem Maßstabe kann man an einer Wasseroberfläche beobachten, welche von Wellen verschiedener Länge durchzogen wird und auf welcher Holzstücke schwimmen. Die Holzstücke verhalten sich gegen die Wasserwellen wie die Staubteilchen gegen die Aetherwellen. Die großen, langen Wellen ziehen an den Holzstücken ungestört vorbei, schaukeln sie nur auf und ab; die feinen Kräuselungen der Wasserfläche dagegen werden zurückgeworfen, als wären die Holzstücke feste Wände.

Der feinste Staub sieht also blau aus. Man kann das an dem Rauche sehen, der vom glimmenden Ende einer Cigarre aufsteigt. Er erscheint an einem klaren Tage, wenn also überhaupt viel blaues Licht vorhanden ist, im schönsten Himmelblau. Derjenige Teil des Rauches aber, welcher die Cigarre durchzieht und am anderen Ende zum Vorschein kommt, ist zu gröberen Teilchen zusammengeballt, die groß genug sind, um auch die längsten Aetherwellen, um alle Bestandteile des weißen Lichtes zu reflektieren, er erscheint darum weißlich. Denselben Unterschied finden wir zwischen dem Staub auf dem Lande und in der Stadt. In großen Städten giebt es viel groben Staub, daher ist der Himmel dort oft so weißlich, während aufs Land hinaus nur der feinste, blaue Staub getragen wird. Auch in verschiedenen Höhen über dem Erdboden muß der Staub verschieden verteilt sein. Der gröbste Staub wird sich unten finden, wo er erzeugt wird, hoch oben auf Bergen haben wir den meisten Staub unter uns, die dünne Luft kann nur die allerfeinsten Partikelchen schwebend erhalten. Daher ist der Himmel auf hohen Bergen so rein und tief blau, ja fast schwarz, wie er es ohne Staub sein würde. Nur wenn wir nach den tieferen Schichten, nach dem Horizont hin blicken, geht die Färbung in ein weißliches Blau über.

Warum ist nun aber der Himmel in Italien und in den Tropen so viel tiefer blau als bei uns? Ist dort der Staub etwa feiner? In der That, er ist es wirklich. Nicht daß dort feinerer Staub erzeugt würde, sondern die Sache hat einen anderen Grund. In unseren Breiten können Staubteilchen nicht lange in der Luft schweben, ohne mit Wasser beladen und dadurch gröber gemacht zu werden. In den warmen Gegenden aber behält das Wasser in der Luft Dampfgestalt und verflüssigt sich nicht an dem Staube. Erst wenn es mit den Luftströmungen in höhere Schichten hinaufgeführt und so abgekühlt wird, verdichtet es sich zu Wolken.

Damit sind wir bei der wichtigsten Rolle des Staubes in unserer Atmosphäre angelangt, bei dem Anteil, welchen er an

[193]

[Winters Abschied.]

[194] der Bildung der Niederschläge dadurch hat, daß sich an ihm der Wasserdampf verflüssigt.

Man kann geradezu behaupten, daß alles Wasser, welches die Sonnenstrahlen an der Oberfläche des Meeres und des Festlandes verdampfen, sich am Staube wieder verdichtet; daß kein Regentropfen herabfällt, dessen erster Keim nicht ein Staubteilchen gewesen wäre.

Wenn nun von „Wasserdampf“ die Rede ist, so muß bemerkt werden, daß damit stets Wasser in Gasgestalt gemeint ist, so durchsichtig und unsichtbar wie alle anderen Gase, nicht der wolkige Dampf, wie man ihn aus dem Kessel einer Lokomotive ausströmen sieht. Dieser ist, wie die Wolken und Nebel, flüssiges Wasser, in unzählige feine Tröpfchen verteilt. Beständen die Wände eines Dampfkessels aus Glas, so würden wir durch den Dampfraum drinnen klar hindurchsehen können, hier haben wir Wasser in Gasform. Strömt der Dampf aber irgendwo aus, in die viel kältere Luft, so verdichtet er sich zu flüssigen Tröpfchen. Genau derselbe Vorgang ist es, wenn der Wasserdampf, den die Sonnenwärme in den unteren warmen Schichten der Atmosphäre angesammelt hat, hinaufsteigt, sich abkühlt und dabei die Wolken bildet.

Man sagt gewöhnlich, die oberen Luftschichten seien kälter als die unteren, weil sie die Sonnenstrahlen vollständig hindurchlassen, also von ihnen nicht erwärmt werden können, daß dagegen die Strahlen die Erdoberfläche erwärmen und diese erst die Luft. Dies ist gewiß so, aber es erklärt nicht, warum nicht auch die oberen Luftschichten im Laufe der langen Zeiten endlich ebenfalls erwärmt worden sind. Daß diese Schichten sich etwa gegen den Weltraum hin stark abkühlen sollten, dafür ist keine Ursache vorhanden, denn ein Körper, der, wie die Luft, wenig Wärmestrahlen verschluckt, sendet nach einem festen Gesetze auch wenig aus. Wäre die Atmosphäre in vollkommener Ruhe, so müßte sie sich in der That vom Erdboden aus vollkommen durchwärmen. Sie ist aber in fortwährender Bewegung und darin liegt die Ursache der ungleichmäßigen Wärmeverteilung. Wenn eine Luftmenge von der Erdoberfläche in die Höhe steigt, so muß sie sich dabei bedeutend ausdehnen, denn der Druck, unter dem sie steht, ist oben viel geringer als unten. So oft aber ein Gas sich ausdehnt, wird es kälter, es entzieht sich ihm die Wärmemenge, welche der Arbeit entspricht, die es während der Ausdehnung im Zurückschieben der Umgebung leistet. Aufsteigende Luft kühlt sich daher ab, herabsinkende wird umgekehrt wärmer. So erklärt es sich, daß bei den fortwährenden Bewegungen in der Atmosphäre das Temperaturgleichgewicht, welches in der gleichmäßigen Durchwärmung aller Schichten bestünde, nie zustande kommen kann.

Wenn nun absteigende Luftmassen eine genügende Menge von Wasserdampf enthalten, so wird dieser sich in gewisser Höhe zu Tröpfchen, zu Wolken verflüssigen. Wir sagen, die Abkühlung ist die Ursache der Verflüssigung. Es kann nun aber die Behauptung aufgestellt und durch Versuche bewiesen werden, daß Abkühlung allein nicht dazu genügt, daß vielmehr Verflüssigung nur stattfindet an der Oberfläche irgend eines festen oder flüssigen Körpers, nicht an der freien, reinen Luft, wohl aber an der Oberfläche der in ihr verteilten Staubpartikelchen. Jedes Tröpfchen eines Dampfstrahles, einer Wolke, ist ein mit Wasser überzogenes Staubteilchen.

Der beweisende Versuch ist leicht anzustellen. Wir füllen eine große Flasche mit staubfreier Luft, was so geschehen kann, daß wir gewöhnliche Luft durch Watte pressen und dann in die Flasche leiten, so lange, bis alle ursprünglich in ihr enthaltene Luft durch filtrierte ersetzt ist. Die Watte hat alle Staubteilchen zuruckgehalten. Lassen wir nun in die staubfreie Luft der Flasche einen Dampfstrahl aus einem Kessel eintreten. Er bleibt vollkommen unsichtbar. Keine Spur von dem gewohnten wolkigen Aussehen ist wahrnehmbar. Das einzige, was wir bemerken, ist, daß die Innenwände der Flasche zu triefen beginnen: der Dampf verdichtet sich an diesen allein, da er keine andere feste Oberfläche vorfindet. Blasen wir aber nunmehr etwas gewöhnliche, staubhaltige Luft in die Flasche, dann erscheint diese sofort mit dickem wirbelnden Nebel erfüllt. Soviel Staubpartikelchen wir eingelassen haben, aus soviel Tröpfchen besteht dieser Nebel. Lassen wir nur wenig Stäubchen ein, so stürzt aller Dampf auf diese wenigen und beladet sie in kürzester Zeit so sehr mit Wasser, daß sie als schwere Tröpfchen zu Boden sinken. Es regnet dann in unserer Flasche. Sie wird bald wieder klar und der Dampfstrahl unsichtbar wie zuvor.

Ohne Staub also keine Verflüssigung des Dampfes in der Luft. Ohne Staub kein Nebel, keine Wolken, kein Regen, kein Schnee, keine Gewitter. Die einzige Verdichtungsfläche wäre die Oberfläche der Erde selbst. Diese, die Bäume und Sträucher, die Wände der Häuser würden zu triefen beginnen, wenn Abkühlung in der Luft eintritt. Im Winter würde sich alles mit einer dicken Eiskruste überziehen. In dieser Weise müßte all das Wasser zum Vorschein kommen, das wir gewohnt sind, in Regengüssen oder als Schnee herabfallen zu sehen. Beim Hinaustreten ins Freie würden wir sofort fühlen, daß sich unsere Kleider durchnässen; Regenschirme wären nutzlos. Die mit Wasserdampf übersättigte Luft würde auch eindringen ins Innere der Häuser und ihr Wasser an den Oberflächen aller Gegenstände absetzen. Kurz, es ist kaum zu übersehen, wie ganz anders alles sein würde, wenn nicht der Staub seine unermeßlich große Oberfläche allenthalben der Luft darböte. Ihm verdanken wir es, daß die Verdichtung des Wassers von der Erdoberfläche abgewendet wird nach den höheren, kälteren Luftschichten.

Seit man aufmerksam geworden ist auf den großen Anteil des Staubes an den meteorologischen Erscheinungen, hat manbegonnen, die Staubpartikelchen in der Luft zu zählen.

Schon Pasteur hat dahingehende Versuche angestellt. Er filtrierte eine abgemessene Luftmenge statt durch gewöhnliche Watte durch Schießbaumwolle. Alle Staubpartikelchen, die in der durchgepreßten Luft enthalten waren, saßen jetzt in der Schießbaumwolle. Die letztere läßt sich in einem Gemisch von Aether und Alkohol klar auflösen und die Lösung zu einer Schicht von klarem und durchsichtigem Kollodium eintrocknen, worin die Partikelchen unter dem Mikroskope beobachtet und auch gezählt werden können. Diese Versuche wurden indessen hauptsächlich in der Absicht angestellt, nach Hefekeimen in der Luft zu fahnden.

Ein besseres Verfahren zur Zählung des Staubes gründet sich auf unseren Versuch mit der staubfreien Flasche; es ist, wie dieser Versuch, von Aitken in Edinburg ersonnen. Lassen wir in die staubfrei gemachte Flasche eine abgemessene Menge der zu prüfenden Luft eintreten, etwa den hundertsten Teil des Inhaltes der Flasche selbst. Es wird durch diese Verdünnung die Zählung erleichtert werden. Die Luft in der Flasche ist durch einige Tropfen Wasser vorher mit Feuchtigkeit gesättigt worden, zugleich hat man sie durch Hineinpressen von etwas staubfreier Luft komprimiert. Wird nun plötzlich ein Hahn geöffnet, so dehnt sich die Luft aus, kühlt sich dabei ab, und der Wasserdampf schlägt sich an all den eingelassenen Staubteilchen nieder, beschwert sie und läßt sie bald zu Boden sinken. Der Boden der Flasche aber ist aus einer blanken Silber- oder Glasplatte gebildet, auf welcher ein Netz von Quadratmillimetern eingeritzt ist. Auf dieses Netz senken sich soviele Wassertröpfchen nieder, als Staubteilchen in der Flasche waren, und können hier mit der Lupe gezählt werden.

Die Anzahl der Staubpartikelchen in einem Kubikcentimeter Luft betrug beispielsweise in London, selbst am Rande der Stadt und wenn der Wind von außen her blies, fast eine Viertelmillion. Ungefähr ebensoviel fanden sich in der Pariser Luft; auf der Spitze des Eiffelturmes waren etwa halb soviel zu finden. Bedeutend reiner ist die Luft in den Alpen. Auf dem Gipfel des Rigi ergaben sich etwa 200 Stäubchen im Kubikcentimeter, nach Regenfällen etwas weniger. In der verhältnismäßig reinen Luft der Berggipfel verdichtet sich der Hauch aus dem Munde, auch bei kaltem Wetter, nicht zu sichtbaren Wolken. Steigen wir aber herab und nähern uns einem Dorfe, wo Schornsteine rauchen, so erscheinen die gewohnten Hauchwolken wieder. Ein Dampfstrahl bleibt indessen überall sichtbar; vollkommen staubfreie Luft ist nirgends gefunden worden.

Man bezeichnet oft den Staub als etwas der Erde Eigentümliches. Er findet sich aber auch im Weltenraume. Unser Sonnensystem hat seine Staubatmosphäre, wenn sie auch außerordentlich dünn gesäet ist. Außer den großen Klumpen von Materie, den Meteorsteinen, fällt unaufhörlich meteorischer Staub aus dem Weltraume auf die Erde herab. Man ist darauf zuerst aufmerksam geworden, als im Jahre 1869 bei Upsala ein Meteorit niederfiel und zugleich ein schwarzer Staubregen. Der Staub wurde gesammelt und zeigte ganz dieselbe Zusammensetzung wie der Meteorit: Kohle und Eisen. Seitdem hat man noch mehreremal solche besonders dichte kosmische Staubfälle von ganz gleicher Zusammensetzung beobachtet, auch ohne daß Meteoriten erschienen [195] wären. Die neueren Fortschritte der Photographie des Sternenhimmels haben Bilder äußerst lichtschwacher, im Weltraum schwebender Wolken geliefert. Diese Wolken nehmen nicht, wie alles Irdische, teil an der Drehung um eine Achse, sondern sie bleiben während einer Nacht fast stille zwischen den Sternen stehen. Befinden sie sich in größerer Nähe der Erde, so können sie mit freiem Auge gesehen werden als leuchtende Nachtwolken, lange nach Sonnenuntergang, bis sie der Erdschatten trifft und ihnen die Sonnenbeleuchtung entzieht.

Das Vorhandensein von Staub im planetarischen Raume kann auch nicht verwundern. Steht doch inmitten desselben die Sonne, deren Oberfläche einem ungeheueren Vulkane vergleichbar ist. Es kann nur gefragt werden, wieso sich die Staubwolken der Sonneneruptionen hinausverbreiten können in den Weltraum, entgegen der Anziehung der Sonne. Hierauf erhalten wir eine Antwort von der elektromagnetischen Theorie des Lichtes, eine Antwort, auf die wir Vertrauen haben dürfen, denn diese Theorie hat sich bei allen Prüfungen durch die Erfahrung bewährt. Sie lehrt, daß die Aetherschwingungen des Lichtes elektrischer Natur sind, und als eine Folge davon, daß das Licht auf jeden Körper, den es trifft, einen Druck ausübt. Der beleuchtete Körper wird von der Lichtquelle abgestoßen. Wir erfahren auch die Größe dieses Druckes. Er ist so klein, daß er die Schale der empfindlichsten Wage nicht zum Sinken bringt, wenn voller Sonnenschein von oben auf sie fällt. Aber er wird um so größer, je größer die vom Licht getroffene Oberfläche ist. Denken wir uns nun einen Körper irgendwo im planetarischen Raume sich selbst überlassen. Er ist der allgemeinen Massenanziehung unterworfen und wird nach der Sonne hingezogen. Die Kraft, mit welcher ihn das Licht der Sonne hinwegtreibt, ist klein gegen die Anziehung. Teilen wir nun aber diesen Körper in Gedanken in kleinere und kleinere Stücke. Er bietet dann den Sonnenstrahlen eine größere und größere Oberfläche dar, und im selben Maße wächst die Kraft, mit welcher alle Teile zusammengenommen von der Sonne fortgetrieben werden. Die Anziehung dagegen ist unverändert geblieben, denn sie hängt von der Masse des Körpers ab, an der nichts geändert wurde. Man sieht, daß die Zerkleinerung nur weit genug getrieben zu werden braucht, um schließlich die Abstoßung zum Ueberwiegen zu bringen über die Anziehung. Die Rechnung zeigt, daß dies schon der Fall ist, wenn der Körper in eine Staubwolke von gar nicht allzu großer Feinheit verwandelt ist. Diese Staubwolke wird nicht mehr gegen die Sonne hin fallen, sie wird vom Lichte der Sonne hinweggetrieben werden. Es erinnert dies an die Kometenschweife, die ja hauptsächlich aus Staub bestehen, der aus dem Kerne ausströmt, und die stets von der Sonne wegweisen.

So hat also auch der unbedeutende und alltägliche Staub seinen wesentlichen Anteil an den Vorgängen in der Natur, und es liegt in ihm ebensoviel Wunderbares und Geheimnisvolles verborgen wie in allen anderen Dingen.


Onkel Karls Verlobung.

Humoreske von Hans Arnold.0 Illustriert von Fritz Bergen.

Der Onkel Oberst hatte zu Ehren des neuverlobten Paares seinen altbewährten Punsch gebraut, der duftend und dampfend auf dem Tische stand und nach Versicherung des Spenders mindestens ebenso notwendig zu einem Verlobungsfest gehörte wie Braut und Bräutigam.

Die Familie – die beiderzeitigen Brauteltern und Geschwister nebst einem kleinen Freundeskreise – saß um den runden Tisch, und die Unterhaltung, ganz begreiflicherweise, drehte sich um Brautpaare – um solche, die es einmal gewesen waren, die es augenblicklich waren, die es noch einmal werden wollten.

Da an der gegenwärtigen Tafelrunde alle diese drei Klassen vertreten waren, so fand das Thema lebhaften Anklang, und schließlich kam es darauf hinaus, daß man sich allgemein von diesem wichtigsten Ereignis im Leben unterhielt, wie es gewesen war oder wie man es sich ausmalte.

„Wenn ich mich ’mal verlobe,“ sagte Gertrud, ein niedlicher naseweiser Backfisch, zu der neuesten Braut, „da soll es viel poetischer hergehen als bei Dir, Lisa! Der Vollmond muß scheinen und auf die Knie muß ‚er‘ auch fallen – darunter thue ich’s nicht!“

„Na,“ meinte der Vater, „dann bestelle Dir dies alles nur rechtzeitig und sieh auch im Kalender nach, ob es mit dem Vollmond stimmt!“

„Jawohl!“ rief der Bräutigam, „und wenn das nicht der Fall ist, dann sage: ‚Bitte, bemühen Sie sich in acht Tagen noch einmal her!‘“

„Aber sei auch sicher, daß er es thut!“ warf der Onkel Oberst ein, „man hat Beispiele von Exempeln, daß sich jemand anders besonnen hat – acht Tage sind eine lange Zeit, um zur Vernunft zu kommen!“

„Als ob es mit Vernunft nicht auch möglich wäre, sich zu verloben!“ rief Lisa empört.

Ihr Schwiegervater zuckte die Achseln.

„Erleichternd ist es jedenfalls, wenn die Vernunft nicht dabei ist,“ sagte er, „ich für meine Person habe mir zur Erklärung erst einen kleinen Spitz antrinken müssen, daß weiß ich noch ganz genau.“

„Und ich habe es zu Deinem Glück nicht gemerkt,“ ergänzte seine Frau, „sonst hätte ich wohl gedankt!“

„Um so nüchterner waren wir,“ nahm die Frau Amtmann das Wort. „Mein Mann sagte nur. ‚Na, Fräulein Hannchen, wir wissen wohl beide ganz genau, wie wir miteinander dran sind – soll ich anbauen oder nicht?‘“

„Und sie flüsterte errötend. ‚Anbauen‘, und ich bestellte die Maurer,“ sagte der Amtmann, „das war unsere Poesie, Trudchen, und es ist auch ganz gut ausgeschlagen! Machen Sie’s ’mal ebenso!“

Gertrud erhob die Augen zum Himmel. „Ich danke!“ sagte sie nachdrücklich.

„Nun haben aber beinahe alle gebeichtet!“ rief der neugebackene Bräutigam, „nur meine verehrten Schwiegereltern noch nicht! Und deren Verlobungsgeschichte interessiert uns doch am allermeisten – nach unserer eigenen, versteht sich!“

Die Eltern sahen erst sich und dann den Onkel Oberst an, dann lächelten sie alle drei etwas verlegen und sehr vergnügt – aber keiner sprach.

„Na!“ sagte der Onkel Oberst und strich sich mit einem pfiffigen Schmunzeln den langen grauen Schnurrbart, „mir scheint, unser lieber Wirt und seine Frau wollen ihre Verlobungsgeschichte nicht zum besten geben – da will ich für sie einspringen und einmal die meinige erzählen, falls niemand etwas dagegen hat!“

„Die Deinige, Onkel Karl?“ rief Gertrud lebhaft, „Deine Verlobungsgeschichte? Aber wo hast Du denn Deine Braut hingethan?“

„Das wirst Du gleich hören!“ sagte der Onkel. „Bring ’mal erst eine neue Pfeife und einen Aschenbecher – und dann schenk’ mir noch einmal ein! So! Nun bitte ich mir aber aus, daß mich keiner unterbricht – das muß ich vorher zugesichert bekommen, sonst fange ich nicht an! Sowie ich ‚Schluß‘ gesagt habe, könnt Ihr alle Euch verwundern und schreien, soviel Ihr Lust habt, aber solange ich erzähle, antworte ich auf keine Frage – ‚oho!‘ und ‚o weh!‘ und ‚aber nein!‘ mit eingeschlossen. Punktum!

Also – meine Verlobungsgeschichte! Dazu gehört vor allem, daß ich eine allgemeine Bemerkung vorausschicke. Ebenso wie es Leute giebt, die in den Augen ihrer Mitmenschen nie für ‚voll‘ gelten und bis in ihr Greisenalter der ‚kleine Töffel‘ bleiben, ebenso giebt es auch Menschenexemplare, die nie zu den ‚jungen Leuten‘ gerechnet werden, die gewissermaßen die Onkelrolle schon im Steckkissen eingebunden tragen und, nicht immer zu ihrem Vergnügen, von aller Welt frischweg ‚geonkelt‘ werden. Zu denen gehöre ich. Daß mich, einen alten Junggesellen, der die Fünfzig schon ein ganzes Weilchen hinter sich hat, jetzt jedermann Onkel Oberst nennt, dagegen läßt sich ja gar nichts einwenden. Ich habe dafür auch eine ganze Menge von Rechten und Pflichten, die mir [196] behagen – ich kann einem leichtsinnigen Schlingel von Neffen die Leviten lesen und brauche ihm doch nicht die Schulden zu bezahlen, ich kann mir von einer niedlichen Nichte Herzenserlebnisse anvertrauen lassen und brauche sie dann doch nicht auszustatten – kurz, die Sache läßt sich hören!

In den zwanziger Jahren aber, wo man doch auch für sich selber Ansprüche macht, und keine kleinen, wo man ein ganz schmucker stattlicher Kerl ist, der sich im Ballsaal so gut zu drehen weiß wie ein anderer und besser als mancher andere – da ist es doch eine fatale Sache, wenn man da schon der Allerweltsonkel sein soll, und wenn da die jungen Damen schon mit einem so sehr schweichelhaften und ungefährlichen Vertrauen kommen: ‚Onkel, tanzen Sie doch den Kotillon mit mir – ich bin nicht engagiert‘ oder ‚Onkel, nicht wahr, Sie treten dem und jenem den Walzer ab, Ihnen ist es ja gleich!‘ – Na, die Zeit, in der man sich über dergleichen ärgert, ging auch hin, ich war so unversehens mitten in die Dreißig hineingeraten und fing schon an, mir in meiner Rolle ganz gut zu gefallen, um so mehr, da ich das Heiraten eigentlich von jeher verschworen hatte. Ich war als junger Dachs von neunzehn Jahren zu G .... in mein Regiment eingetreten und da geblieben – vom Sekonde- zum Premierlieutenant und jetzt schon zum Rittmeister aufgerückt – da kann man sich wohl denken, daß ich in der Stadt und den Familien der Gesellschaft bekannt war ‚wie ein bunter Hund‘, wie man zu sagen pflegt.

Namentlich in einem Hause ging ich aus und ein, als gehörte ich dazu; es war eine feine, behagliche Familie, meine Kameraden fanden sich dort auch gern und häufig ein. Der Hausherr war – na, sagen wir Präsident!

Die älteste Tochter dieses Hauses hatte ich schon, als sie noch Schulmädel war, an ihren dicken blonden Zöpfen gezogen, wenn sie ihre Weisheit im Ranzen nach Hause schleppte – und war ich damals für sie der ‚Onkel Karl‘ gewesen, so blieb ich’s nicht minder, als sie inzwischen vom Schulkind zum Backfischchen und vom Backfischchen zu einem allerliebsten Mädchen herangewachsen war. Ein bildhübsches Ding war es geworden und ein munteres dazu – ich hatte meine väterliche Freude daran, als es nun in die Gesellschaft eingeführt wurde und ich zusah, wie so manche meiner Kameraden sich die Flügel an diesen funkelnden dunkelblauen Augen verbrannten, wie aber das Persönchen so sicher, so unangefochten und triumphierend mit seiner hochgehaltenen kleinen Stumpfnase da hindurchschritt und gar nicht that, als merke sie das Unheil, das sie anrichtete.

Unter den Verehrern, die dies niedliche Mädel umschwärmten, war auch ein guter Freund von mir – wollen ihn Franz nennen! Ein netter Bursche, mit einem Schnurrbart wie ein ungarischer Reitersmann, und ein guter Kerl. Er hatte nur den einen Fehler – er konnte nie zu einem Entschluß kommen.

Na, daß einer beim Pferdekauf sich zwanzigmal besinnt und wieder besinnt und sich den Gaul immer noch ein letztes Mal ansieht und vorreiten läßt, das ist ja ganz gut und verständig. Denn so ein Pferdekauf ist doch immer eine wichtige Sache. Aber daß einer ein Jahr und darüber herumgehen läßt, ohne zu wissen, ob er ein Mädchen lieb genug hat, um sie zur Frau zu begehren – das ist mir doch unbegreiflich. Seht Ihr, wie gut es ist, daß ich mir das Unterbrechen von vornherein verbeten habe? Sonst wären jetzt schon alle Frauen und Mädchen mit Zetergeschrei über mich hergefallen – ob denn ein Pferdekauf wichtiger sei als eine Herzenssache – und ich hätte mich wenigstens zehn Minuten lang entschuldigen müssen: so hätte ich’s ja nicht gemeint, und dergleichen mehr, ehe ich mit meiner Geschichte weiter gekommen wäre.

Also kurz und gut – mein Franz war in dem Fall. Als wir beide nun wieder einmal so abends, in unsere Reitermäntel gehüllt bis an die Nasenspitzen, vom Ball nach Hause gingen, da seufzte er so erbärmlich, daß es einem Stein leid thun konnte. Ich hätte ja nun fragen können. ‚Was ist Dir denn?‘ hütete mich aber wohl, denn erstens wußte ich’s ganz genau und zweitens hab’ ich aus Grundsatz nie einen Verliebten um seinen Herzenskummer befragt. Die Sorte ist zum Sterben langweilig, wenn sie auf ihr Thema kommt, und hört nie wieder auf. Ich habe ’mal das Vergnügen gehabt, mit einem, der sich in diesem Fall befand, bis morgens um halb Fünf in den Straßen auf und ab zu gehen und mir von seiner Angebeteten vorschwärmen zu lassen – immer, wenn ich abschwenken und nach Hause gehen wollte, packte er mich am Rockknopf und drehte mich wieder um: ‚Ach, wenn Du sie so kenntest wie ich!‘ – Wie gesagt, bis um halb Fünf des Morgens, und um Sieben hatte ich Instruktion! Nein, darauf fiel ich nicht zum zweitenmal ’rein! Ich sagte also nichts – aber, o Schreck, er fing von selber an!

‚Karl!‘ seufzte er, ‚kannst Du Dir vorstellen, wie einem Menschen zu Mute ist, der nicht weiß, was er will?‘

‚Nein!‘ sagte ich – weiter nichts. Ich dachte, bin ich kurz, ist er’s am Ende auch.

Aber Gott bewähre! Er redete mindestens zwanzig Minuten lang auf mich ein, die – na, nennen wir sie Lisa! – wäre ja so reizend und er könnte kein lieberes und netteres Mädchen finden; aber ob sie auch wirklich so ganz zusammenstimmten und zusammenpaßten und ob sie nicht etwa bei näherer Bekanntschaft herausfänden, daß es nicht so wäre, und wenn man sich dann nun einmal gebunden hätte – und was weiß ich!

Zum Glücke hatte ich ihn, wie er so lebhaft wurde, schlau und unmerklich in meine Straße gebracht, und nun standen wir an meiner Hausthür. Ich steckte rasch den Schlüssel ins Schloß: ‚Franz,‘ sagte ich, ‚wenn Du jetzt in der Nacht um drei Uhr noch nicht weißt, was Du willst, so ist anzunehmen, daß Du es um vier Uhr auch noch nicht weißt – da werde ich inzwischen schlafen gehen!‘

Und weg war ich!

Aber die Geschichte ging mir doch im Kopf herum, um so mehr, als ich zu bemerken geglaubt hatte, daß Franz meiner kleinen Lisel nicht so ganz gleichgültig – zum mindesten derjenige aus ihrer Verehrerschar sei, der ihr am wenigsten gleichgültig wäre. Und noch etwas kam dazu. Seit einiger Zeit verkehrte ein sehr wohlhabender Gutsbesitzer mit unverkennbaren Absichten im Hause von Lisas Eltern. Ein greulich langweiliger Kerl, langsam und gemächlich in Gang und Sprache, dick und fett wie sein bestgenährter Preisochse – mich brachte er zur Verzweiflung. Wenn er in die Thür trat und mit seinem näselnden Organ anfing: ‚Einen schönen guten Morgen, meine Herrschaften, allerseits wohl?‘ so brauchte er zu dem Satze ungefähr soviel Zeit wie ein anderer, um ein Märchen aus ‚Tausend und eine Nacht‘ von Anfang bis zu Ende zu erzählen.

So urteilte ich und so urteilten die jungen Männer und jungen Mädchen seiner Bekanntschaft. Aber die Eltern der heiratsfähigen Töchter urteilten anders und thaten recht daran. Sie sahen in dem Langweiler den guten, anständigen Mann in glänzender Lage, und er hätte wohl überall anklopfen können, bei den Eltern und bei den meisten Töchtern, ohne einen Korb gewärtigen zu müssen. Bei den meisten Töchtern, – aber nicht bei allen – davon sollt’ ich mich überzeugen.

Es war kurz nach Weihnachten, ein klarer bissig kalter Wintertag – Schlittenbahn, wie sie nicht schöner sein kann – da fuhr ich mit meinem feinen Schlitten vor das Haus des Präsidenten und bat mir die Kinder, Fräulein Lisa eingeschlossen, zu einer Spazierfahrt aus. Das war wieder einmal ein Augenblick, wo mir meine Onkelrolle sehr zu statten kam, denn mir wurde unbedenklich zugestanden, was jedem anderen verweigert worden wäre.

[197] Dauerte gar nicht lange, so traf meine Gesellschaft ein. Die beiden Jungen saßen hinten auf, und mein Fräulein Lisa kam zu mir auf den Vordersitz – ich kutschierte selber.

‚Donnerwetter!‘ dacht’ ich, als sie in ihrem Husarenjäckchen und ihrer jungenhaften Pelzmütze so neben mir saß und die Winterluft das allerliebste Gesichtchen unter dem Schleier anmalte wie ein Aepfelchen, ‚Donnerwetter – es ist doch ein niedliches Ding! Ich sollte ’mal an Franzens Stelle sein – ich wüßte wohl, was ich thäte!‘ So dachte ich, und sie mochte auch wohl allerlei denken, denn sie sprach gar nicht. Wir sausten schon aus der Stadt hinaus, über flaches freies schneeflimmerndes Feld, da fiel mir erst ihre ungewohnte Schweigsamkeit auf.

‚Nun, Lisa,‘ sagte ich – wieder ein Vorrecht meiner Onkelschaft! – ‚Sie sind ja heute sehr nächdenklich!‘

‚Hab’ auch alle Ursache!‘ erwiderte sie kurz – und was sah ich? Eine Thräne rollte ihr die Wangen herunter!

‚Potz Blitz!‘ rufe ich, ‚was ist denn das? Wer hat Ihnen etwas zuleide gethan?‘

Sie sah sich ängstlich nach den beiden Buben um, die hinter uns saßen. ‚Pst!‘ machte sie und legte den Finger auf den Mund.

Mir kam ein Gedanke. ‚Jungen!‘ rief ich die beiden an, ‚der Schnee backt heute famos – wie wär’s, Ihr machtet Euch hier einen Schneemann, und wir fahren immer rund’ um das Feld und holen Euch in einer halben Stunde wieder ab!‘

Die beiden Buben, denen es nicht ums Stillsitzen zu thun sein mochte und die es wohl schon innerlich danach verlangt hatte, sich in den Schneehaufen da drüben tüchtig abzubalgen, waren es wohl zufrieden. Sie stiegen ab, und ich ließ meine Pferde Schritt gehen.

‚So,‘ sagte ich, ‚nun losgeschossen, Liselchen! Wozu hat man Kummer und wozu hat man einen alten Onkel, wenn man den einen nicht auf den andern abladen will!‘

Sie lächelte mich dankbar an. aber gar nicht so fidel wie sonst. ‚Sie sind so gut, Onkel Karl,‘ sagte sie.

‚So, und wer ist denn nicht so gut?‘ fragte ich weiter.

‚Ach!‘ seufzte sie, ‚die Eltern! Sie wollen durchaus, ich soll den Schröder‘ – so hieß der dicke Gutsbesitzer – ‚heiraten, und ich mag ihn nicht!‘

‚Dann thun Sie’s lieber nicht!‘ riet ich, ganz verständig, wie mir schien.

‚Ja, das ist schlimm!‘ fuhr sie fort. ‚Er hat gestern abend geschrieben und sich Bescheid erbeten, und der Papa sagt, wenn ich keine andere Neigung hätte, dann gebe es gar keinen triftigen Grund, ihn abzuweisen – das sei das Einzige, was er gelten lasse!‘

‚Und Sie haben keine andere Neigung?‘ fragte ich und bückte mich, um ihr ins Gesicht zu sehen.

Sie wurde feuerrot. ‚Nein!‘ sagte sie hart, ‚nein – ich habe keine!‘

‚Armer Franz!‘ dachte ich bei mir.

‚Denn ich werde doch keinen gern haben,‘ fuhr sie fort, ‚von dem ich nicht genau weiß, ob er mich gern hat – – ja, der es am Ende selber nicht weiß!‘ ‚‘ Das ‚armer Franz!‘ kam mir nach der letzten Bemerkung etwas voreilig vor – aber das war eine dumme Geschichte – er wußte es ja wirklich nicht! Und ihm so die Pistole auf die Brust setzen, das ging doch auch nicht an. Dazu war mir das liebe Mädchen doch zu schade, denn zuzutrauen war’s dem unentschlossenen Peter, daß er auch dann noch mit allerlei eingebildeten Bedenken und Bedenklichkeiten kommen werde – und dann?

‚Sie kamen mir heute wie vom Himmel gesandt, Onkel Karl!‘ sagte meine kleine Freundin und trocknete sich die Augen, ‚denn gegen Abend will Papa schreiben, und ich hatte zu Hause keine Viertelstunde Ruhe, – immerfort redeten sie auf mich ein.‘

‚Da wundert es mich, daß Sie überhaupt mitfahren durften!‘

‚Ja – ich sagte, ich führe so schrecklich gern Schlitten, und wenn sie mich nicht mit ließen; dann sagte ich ganz gewiß Nein!‘ antwortete sie mit einem so niedlichen Eigensinn in Miene und Ton, daß ich wirklich beinahe dachte: ‚Wenn Franz nicht wäre –‘

‚Und wie soll es nun werden?‘ fuhr sie nach einem kurzen Stillschweigen fort; ‚komm’ ich jetzt nach Hause, so muß ich mich entscheiden, und ich kann nicht sagen, daß ich eine andere Neigung habe – ich kann nicht!‘ Sie brach in lautes Schluchzen aus. ‚Ich habe auch keine!‘ stieß sie trotzig zwischen den Zähnen hervor, ‚ich kann niemand leiden – niemand!‘

Ich zog ihr sanft die Hände vom Gesicht. ‚Auch mich nicht?‘

Sie lachte mich durch ihre Thränen an. ‚Ach – Sie!‘ ‚Sie sind mein alter guter Onkel Karl, Sie meine ich gar nicht mit, wenn ich an – so etwas denke!‘

Recht schmeichelhaft, was?

Na, mir kam aber ein Gedanke, und ich war großmütig genug, ihn auszuführen. ‚Hören Sie mich einmal an, Liselchen,‘ sagte ich, als sie sich etwas beruhigt hatte, ‚ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Zeit gewonnen, alles gewonnen – mir scheint, es kommt im Augenblick hauptsächlich darauf an, den Schröder wegzugraulen!‘ Sie nickte eifrig.

‚Deshalb schlag’ ich vor –‘ Hier schnappte ich ab. Donnerwetter, es sagte sich doch nicht so leicht, wie ich gedacht hatte!

‚Nun?‘ meinte sie und sah mich erwartungsvoll an.

‚Daß – aber Sie dürfen nicht Zeter schreien – können Sie sich’s gar nicht denken?‘

‚Nein!‘ sagte sie mit dem ehrlichsten Erstaunen von der Welt.

‚Na – daß Sie sich mit mir verloben!‘ stieß ich hervor, und dann sah ich rasch zu der anderen Seite des Schlittens hinaus – ich mochte nicht sehem was sie für ein Gesicht machte.

‚Unsinn!‘ rief sie rasch.

‚Natürlich Unsinn!‘ erwiderte ich, ‚aber der Zweck heiligt die Mittel! Wir verloben uns heute abend, diese Nachricht wirkt auf den braven Schröder wie Petersilie auf die Katzen – er schwebt ab, und morgen früh haben Sie sich’s anders überlegt, haben Ihr Herz nicht gekannt, oder – das ist das Wahrscheinlichste – Ihre Eltern finden, daß ich eine zu schlechte Partie für Sie sei … ich habe meine Schuldigkeit gethan und kann gehen! Nun, wie ist’s? Wollen Sie, Lisa? Es wird Zeit, daß wir uns entscheiden – die Jungen sind schon mit ihrem Schneemann fertig!‘

Sie atmete ein paarmal tief auf und sah mich dann plötzlich ganz treuherzig an. ‚Ja, ich will!‘ sagte sie. ‚Aber, Onkel Karl, Sie dürfen mir dann nicht böse sein, daß ich Sie nicht mag!‘

‚I bewahre!‘ sagte ich, ‚das ist ja alles Verabredung – keine Spur von böse!‘

‚Und –‘ Sie stockte.

‚Na?‘ ermunterte ich.

‚Sie dürfen mir natürlich keinen Kuß geben!‘ brachte sie mühsam hervor.

‚Darüber können wir ja noch reden,‘ sagte ich, denn das sah ich eigentlich gar nicht ein. Aber schließlich – na, ich gestand auch das zu. Wir fuhren als neuverlobtes Brautpaar übers Feld, bewunderten den Schneemann, luden uns die Buben wieder in den Schlitten und sausten, beiderseits etwas still und bedrückt, der Stadt entgegen.

Je näher wir der Straße kamen, wo ich meine Ladung abliefern sollte, um so langsamer fuhr ich – es war doch eine verdammte Lage! Bei Vater und Mutter um die Hand der Tochter anhalten, ist schon unter gewöhnlichen Verhältnissen eine Verlegenheit, wie ich mir habe sagen lassen, und nun erst mit dem Bewußtsein dieser Komödie auf der Seele!

‚Liselchen,‘ begann ich nach einer Weile – halblaut, wegen der [198] Buben – ‚haben Sie eine Ahnung, was man so sagt – ich meine, was ich in diesem besonderen Falle sagen werde?‘

‚Nein,‘ erwiderte sie, ebenfalls halblaut und bedrückt.

Ich seufzte. ‚Ich auch nicht!‘ sagte ich.

‚Ach lassen wir’s am Ende ganz!‘ fängt sie an. Da, wie wir eben um die Ecke biegen, kommt uns Franz entgegen. Er sieht uns so im halben Dämmerlicht im Schlitten nebeneinander sitzen, stutzt, greift an die Mütze mit einem finsteren Gesicht und geht weitere ohne, wie es bei der sehr langsamen Gangart unseres Gefährtes ganz gut möglich und angebracht gewesen wäre – ohne stehen zu bleiben und uns ‚Guten Abend!‘ zu sagen.

Ich griff in die Zügel, und wir waren vorbei.

‚Also lassen wir’s mit unserem Plane?‘ fragte ich Lisa im Weiterfahren, offen gesagt, ganz erleichtert, erschrak aber, als ich ihr finsteres Gesichtchen sah.

‚Nein!‘ sagte sie und stampfte mit dem kleinen Fuße zornig und fest auf, ‚nein, es bleibt dabei, und wenn ich Sie heiraten soll – mir ist jetzt schon alles ganz egal!‘

Wieder recht schmeichelhaft!

Aber sie war jetzt in der richtigen Stimmung – erregt, gekränkt, wütend über den Philister von Franz, ganz geneigt, ihm zu zeigen, daß ein anderer davontrage, was er verschmähe, und als wir die Klingel zogen, wendete sie ihr von Winterluft und Aufregung glühendes Gesicht entschlossen nach mir herum: ‚Sagen Sie gar nichts, Onkel Karl, gar nichts! Ich werde alles sagen, ich ganz allein!‘ Und sie stürzt vor mir her in die Stube und der Mutter um den Hals. ‚Liebe Mama, ich habe es nicht gewußt – ich habe doch eine andere Neigung – ich habe mich mit Onkel Karl verlobt – und nun schreibt es Herrn Schröder!‘

Tableau!

Mutter und Vater standen da, als wenn der Blitz vor ihnen eingeschlagen hätte – das war das Letzte, was sie sich von der Schlittenfahrt versprochen hatten! Aber was war zu machen? Die Tochter hatte den verlangten Gegenstand der ‚andern Neigung‘ pünktlich zur Stelle geliefert – was derselbige Gegenstand in dem Augenblick für ein schafsdämliches Gesicht gemacht haben mag, das kann ich nicht sagen, sintemal ich keinen Spiegel mir gegenüber hatte.

Ich bekam nicht, wie ich im stillen noch immer hoffte, einen Korb, im Gegenteil – die Mama Präsidentin streckte mir mit Rührungsthränen die Hand hin. ‚Sie sind ja ein lieber braver Mensch, Onkel Karl – wenn Lisel denn will – machen Sie das Kind nur recht glücklich!‘

Alle Wetter – so hatte ich mir die Sache nicht gedacht! Ich fühlte, wie mir ein Würgen, halb Angst, halb Gemütsbewegung, im Halse saß – ich küßte der Schwiegermama, zu der ich auf so überraschende Weise gelangt war, stumm die Hand, der Papa kam auch dazu – beide machten gute Miene zum bösen Spiel!

‚Aber daß Ihr nie ’was habt merken lassen,‘ meinte der Präsident kopfschüttelnd.

‚Ja eben!‘ sagte ich.

Lisa sagte gar nichts... Sie stand am Fenster und sah trotzig in den Abend hinaus, auf die aufflammenden Laternen.

‚Hört, Kinder,‘ begann der Papa nach einer Weile, ‚Ihr seid ein sonderbares Brautpaar, nehmt mir’s nicht übel! Eins steht hier, das andere dort – so gebt Euch wenigstens einen Kuß, damit man die Sache glauben lernt!‘

Ich, eingedenk unserer Abmachung, begab mich denn etwas zögernd ans Fenster zu meiner Auserwählten – aber da war diese auch schon an der andern Seite des Zimmers. ‚Nein, nein, das haben Sie mir versprochen, Onkel Karl!‘ rief sie überlaut, und die Eltern sahen wie die Mutter vom Zappelphilipp ‚stumm auf dem ganzen Tisch herum‘ – das war ihnen doch sehr sonderbar, was jeder begreifen wird!

Der Abend verging äußerst peinlich. Die Eltern bemühten sich vergeblich, dieses absonderliche neugebackene Brautpaar zur Fröhlichkeit zu bringen – ich wenigstens kam nicht damit zustande.

Offen gesagt: so niedlich und allerliebst meine kleine Freundin war – die Sache schien mir doch bedenklicher, als ich mir vorgestellt hatte. Erstens war ich überhaupt der geborene und geschworene Junggesell, und die gerührte Schwiegermutter, die das Rauchen nicht vertrug, stand mir schon in den zwei ersten Stunden als bedenklicher Umstand vor der Seele. Und dann – auf Lisas Gesicht stand denn doch zu deutlich zu lesen ‚Aus Aerger‘, und das hat für einen Bräutigam, selbst wenn er bloß ein Scheinbräutigam ist, seine zwei, wo nicht gar drei Seiten.

Als ich mich nun spät abends von den Schwiegereltern verabschiedete – man hatte in Anbetracht unserer stillen und ernsten Stimmung von jeder festlichen Begehung des Ereignisses abgesehen, sogar von der Bowle, die mir nicht unerwünscht gewesen wäre als einzige greifbare Annehmlichkeit meiner neugeknüpften Bande – nachdem ich also meinen Kratzfuß gemacht hatte, begleitete mich mein finsterblickendes Bräutchen auf einen Wink der Mutter noch in den Flur hinaus. Da standen wir und sahen uns eine ganze Weile stumm an.

‚Na, Lisa,‘ fing ich endlich an, ‚soll ich morgen die Ringe bestellen?‘

‚Meinen Sie ’s denn im Ernst?‘ fragte sie rasch und ängstlich.

‚Ja – ich sehe nicht recht, wie wir herauskommen werden,‘ sagte ich verlegen und niedergeschlagen.

Sie stand und biß sich mit ihren kleinen weißen Zähnchen auf die Unterlippe – sehr niedlich, das war nicht zu leugnen aber – aber! Dann warf sie den Kopf zurück. ‚Nun, wenn es nicht anders geht, zanke ich mich morgen fürchterlich mit Ihnen,‘ sagte sie entschlossen. ‚Aber eines müssen Sie mir noch versprechen, nur eines ...‘

Ich stellte mich in Positur – ich dachte, nun käme doch mindestens als Belohnung für meine Dienste ein verheißungsvolles ‚daß wir trotz alledem gute Freunde bleiben‘, oder ‚daß Sie mich trotzdem lieb behalten‘, und ich war schon ganz gerührt. Ja, prosit Mahlzeit ... ‚daß Sie es Ihrem Freunde Franz erzählen, bald – heute noch, jetzt gleich! Das will ich wenigstens davon haben. Schwören Sie, daß Sie’s ihm sagen – heute abend noch!‘

Ich schwur – und ging.

Das war der Schluß meines Verlobungstages, und als ich auf der Straße stand, sagte ich zu mir: ‚Du hast heute eine recht dankbare Rolle gehabt, alter Freund! Ein andermal wirst Du wohl nicht so rasch bereit sein, den Sebaldus Notanker zu spielen!‘

Ein andermal! Ja, vorläufig saß ich mit dem einen Male hübsch drin! Und alle Bedenken, die ich vorher hätte haben müssen und haben sollen und nicht gehabt hatte, kamen jetzt – es war in jedem Falle eine tolle Geschichte! Mußte ich heiraten – ein so junges unfertiges. wenn auch noch so niedliches Kind, halb so alt wie ich selber – so war meine Ruhe, meine Bequemlichkeit, mein Hund, meine gemütlichen vier Pfähle, meine Pfeife ... alles übern Haufen geworfen! Und ging die Sache nach drei Tagen wieder auseinander – wie peinlich für beide Teile ... für uns beide, die wir in der kleinen Stadt, in der untereinander so genau bekannten Gesellschaft nicht zwei Schritte thun konnten, ohne uns in den Weg zu laufen; und vorteilhaft ist es doch für ein junges Mädchen nie, wenn sie einmal drei Tage lang verlobt gewesen ist, besonders, da man doch nicht öffentlich anschlagen lassen kann, daß die ganze Sache keinem der Beteiligten Ernst war.

In diesen Gedanken, Selbstbeschuldigungen und Ueberlegungen fiel mir Franz und mein Schwur ein. Das mußte zu allererst besorgt werden.

Ich ging denn in das ‚Bräu‘, in dem wir uns gewöhnlich alle trafen – er war nicht da. Also zu ihm nach Hause!

Es war zwar schon elf Uhr vorbei, indessen Schwur bleibt [199] Schwur. Die finstere Treppe hinauf und oben an seine Thür geklopft!

‚Der Herr Lieutenant will eben schlafen gehen,‘ sagte der Bursche auf meine Frage, ob sein Herr daheim sei.

‚Na, dann schläft er wenigstens noch nicht,‘ sagte ich und trat ein. Da saß das Wurm in einem Räubercivil schönster Sorte am Tisch und hatte eine Menge Bücher vor sich aufgestapelt, was sonst nie sein Fall war.

‚Guten Abend!‘ sage ich und setze mich. ‚Da Du mich so freundlich zum Platznehmen aufforderst!‘ füge ich hinzu.

Dann schweigen wir eine ganze Weile – auf die Art konnte es ein recht unterhaltender Abend werden!

Ich zünde mir eine Cigarre an.

Dann zeige ich auf seine Bücher. ‚Was machst Du denn mit dem Haufen Gelehrsamkeit?‘

‚Ich will mich zur Kriegsakademie vorbereiten,‘ sagt er – und hatte noch nie davon gesprochen oder daran gedacht!

‚Heute abend noch?‘ frage ich.

‚Ja!‘ schnaubt er mich an.

‚Und wovon hast Du diesen plötzlichen Ehrgeiz bekommen?‘ fang’ ich wieder an.

‚Weil ich hier nicht länger bleiben mag,‘ sagt er, ‚und Du wirst wohl wissen, warum!‘

‚Kann sein!‘ sag’ ich, und mir wird so recht wohl und leicht ums Herz – auf diesem Haupte seh’ ich neue Freiheit grünen, ‚aber da Du mir eine Neuigkeit erzählt hast, will ich Dir doch auch eine erzählen – ich habe mich verlobt!‘

Er schickt mir einen wilden Blick zu.

‚Gratuliere!‘ wirft er mir so hin.

‚Danke!‘ sag’ ich.

‚Aber willst Du gar nicht wissen, mit wem?‘

Er nimmt sich ein Buch vor die Nase und liest. ‚Nein!‘ sagt er.

‚Ich will Dir’s aber erzählen,‘ fahr’ ich fort, so recht liebenswürdig. ‚Mit Fräulein Lisa! Was sagst Tu nun?‘

Da steht er auf, ist ganz kreideweiß und sagt nur: ‚Gute Nacht!‘

‚Was?‘ sag’ ich.

‚Gute Nacht!‘ wiederholt er nochmals.

Ich stemme die Hände auf meinen Säbelgriff. ‚Was heißt denn das?‘

‚Du sollst nach Hanse gehen, heißt das!‘ antwortet er, und ich merke, daß er kaum noch sprechen kann; die Thränen kommen ihm in die Augen, und er beißt sich auf den Schnurrbart und stampft mit dem Fuße.

Da fängt der arme Kerl an mich zu jammern. ‚Aber Franz,‘ sage ich, ‚wie kann Dich das so alterieren? Du hättest sie ja lange haben können, wenn Du sie gewollt hättest!‘

‚Woher willst Du das wissen?‘ fragt er und rollt die Augen.

‚Das habe ich ihr angemerkt, schon lange, aber noch nie so deutlich wie heute abend.‘

‚Wo Du Dich mit ihr verlobt hast!‘ entgegnet er schneidend.

‚Ja, wo ich mich mit ihr verlobt habe! Hast Du noch nie davon gehört, daß sich ein Mädchen aus Aerger verlobt? Bist Du so alt geworden und weißt noch nicht, daß ein Mädchen – ein richtiges stolzes Mädchen – alles lieber thut als sich sagen: da sitz’ ich nun und warte, ob der brave Herr – Franz meinethalben – die Gnade haben wird, mir zu sagen, daß er mich lieb hat – denn das hast Du sie doch!‘

‚Das weiß Gott!‘ ruft er aus tiefstem Herzen; und das behagt mir an ihm, nun weiß er doch, was er will.

‚Na,‘ sage ich und gefalle mir so recht in meiner väterlichen Weisheit, ‚da will ich Dir einen Vorschlag machen: ich trete zurück‘ – das klang furchtbar großmütig – ‚und Du kannst morgen früh hingehen –‘

‚Morgen früh?‘ schreit er und fährt schon in den Waffenrock, ‚heute abend, jetzt gleich!‘

‚Hör’ ’mal, lieber Sohn!‘ nehm’ ich jetzt wieder das Wort, ‚das thu’ Du doch lieber nicht! Unangenehmer könntest Du Dich, glaub’ ich, beim Präsidenten nicht leicht machen, als wenn Du ihn um Mitternacht aus dem Schlafe trommeltest, um ihm zu sagen, Du hättest anderthalb Jahre gebraucht, um zu wissen, ob Du seine Tochter heiraten möchtest – und nun könntest Du nicht einmal bis zum nächsten Vormittag warten, um ihm das mitzuteilen!‘

‚Vielleicht hast Du recht!‘ antwortete er. ‚Aber Du, alter Freund, Du opferst Dich für mich – kann ich das annehmen?‘

Ich langte meinen Mantel vom Stuhle und hing ihn um. ‚Du kannst’s!‘ sagte ich und that, als sei ich von Rührung überwältigt, denn ich war inzwischen nichtswürdig müde geworden. ‚Ich bin zum Onkel geboren und will’s bleiben. Die Bräutigams- und Ehemannsrolle überlasse ich anderen – in diesem Falle Dir!‘ Damit ging ich meiner Wege und legte mich sehr zufrieden schlafen. Die Sache war kurz, aber heftig aufgetreten und demgemäß verlaufen.

Und das Ende der ganzen Geschichte? Ich bin so glücklich, dasselbe meinen geduldigen Zuhörern hier persönlich vorstellen zu können – denn Franz und Liselchen sind keine anderen als unsere verehrten Brauteltern von heute abend, die es vielleicht nie geworden wären, wenn ich nicht den schlauen Einfall gehabt hätte, zwei Stunden lang den Bräutigam zu spielen.

Und nun – Schluß! Und wer noch ’was zu bemerken oder zu fragen hat, den bitte ich, jetzt damit loszuschießen. Keiner? Na, dann trinken wir noch eins auf alle glücklichen Brautpaare und Ehepaare und auf alle, die es werden wollen – und dann noch eins auf die alten Junggesellen … die sind auch nicht zu verachten!“



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Blätter und Blüten.

Winters Abschied. (Zu dem Bilde S. 193.) Winters Abschied, Frühlings Erwachen – das ist die Zeit, wo die Dichter, in Busch und Schilf versteckt, wehende Nixenschleier schauen und neugierig der philosophischen Zwiesprache lauschen, die da und dort ein sinniges Kollegium von Störchen hält, während auf der letzten Eisscholle der Winter davonsegelt, wo die Maler, wie unser Bild unwiderleglich beweist, das alles den Dichtern getreulich nachmachen. Ja, das ist die Zeit, wo am Ende auch ein gewöhnlicher Sterblicher, der weder malen noch dichten kann, von höherem Drang erfaßt, wenn er am sonnigen Rain die erste Blume sprossen sieht, mit dem Dichter ruft:

„Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag!“



Die Ankunft der Aebtissin Irmingard auf Frauenchiemsee im Jahre 894. (Zu dem Bilde S. 184 u. 185.) Sollte man es denken, daß die Frau, die hier hochaufgerichtet in dem schwanken Kahne steht, eine Verbannte ist? Und doch ist dem so. Die Irmingard, die hier hinüberfährt nach dem Kloster Frauenchiemsee, war eine Tochter König Ludwigs des Deutschen und eine Enkelin Karls des Großen. Hildegard hatte sie geheißen, ehe sie im Jahre 894 wegen des Verdachtes, Mitwisserin zu sein bei einer Verschwörung gegen König Arnulf, von diesem nach dem fernen bayerischen Kloster verwiesen wurde. Es war eine Verbannung, aber eine Verbannung mit königlichen Ehren. Als gebietende Aebtissin zog sie ein, geleitet von reisigem Kriegsvolk, von Geistlichen, Mönchen und Nonnen, empfangen mit feierlichem Pompe, und die Aebtissinnen von Frauenchiemsee schrieben von ihr das Recht her, eine Krone zu tragen. Sechs Jahre lang bekleidete sie ihre Würde; dann starb sie, und es ward ihr erspart, die Zerstörung zu erleben, welche bald darauf die wilden Hunnenscharen über Frauenchiemsee brachten. Mehr als siebenhundert Jahre nach ihrem Tode (1631) wurde der Marmorsarkophag mit den irdischen Ueberresten Irmingards ausgegraben und in der den zwölf Aposteln geweihten Kapelle der Kirche von Frauenchiemsee beigesetzt, wo ihm noch heute hohe Verehrung zu teil wird; denn die Kirche hat später die verbannte Königstochter heilig gesprochen.

Das Bild vön Karl Raupp zeigt uns die Ueberfahrt des Zuges nach dem Kloster, das schön und stattlich emporragt über den von Frühlingsstürmen erregten Chiemsee. Irmingards Schiff, ein mächtiger Einbaum, ist mit Decken und Tüchern geschmückt; neben der neuen Aebtissin sitzt die seitherige Oberin des Klosters, in dem geharnischten Kriegsmann dürfen wir den Vertreter König Arnulfs und Befehlshaber der gewaffneten Begleitmannschaft erblicken. Der Geistliche, der diesem gegenüber sitzt, ist der Beichtvater des Klosters; seine Hand zeigt hinüber nach dem Eiland, nach dem festlichen Gepränge am Ufer, wo der Bischof von Herrenchiemsee mit seinen Chorherren die Nahende erwartet, und Irmingard hat sich gespannt von ihrem kunstreich geschnitzten Armstuhl erhoben, hinüberzuschauen nach dem kleinen Reiche, das sie künftig beherrschen soll. Ein Sonnenstrahl bricht durch das dunkle Gewölk und gießt blinkende Lichter über Dächer und Mauern des Klosters, als wollte er der Verbannten Einzug mit einem freundlichen Scheine verklären.

Verbrennen des Haus- und Straßenkehrichts. Die Fortschaffung des Mülls oder der Abfälle der Hauswirtschaft und des Straßenkehrichts bildet eine der wichtigsten Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege. Die Mittel, die bis in die neueste Zeit zur Beseitigung dieser faulenden, den Grund und Boden verpestenden Massen angewendet werden, sind im allgemeinen kostspielig und mangelhaft. Nur eins hat sich vorteilhaft gezeigt: es ist die Verbrennung, die sich in englischen Städten eingebürgert hat. In eigens eingerichteten Oefen wird der Schmutz und Abfall verbrannt, also gründlich vernichtet, soweit er dem Menschen schädlich werden kann. Aus der Asche des Mülls aber zieht man verschiedenartigen Nutzen; sie ist ein ausgezeichnetes, höchst gesundes Material zum Füllen der Fehlböden bei Neubauten, man formt aus ihr ausgezeichnete Steine, die zum Pflastern der Straßen und Bauen von Häusern verwendet werden, und die Hitze, welche das im Feuer aufgehende Müll liefert, wird als Kraftquelle zur Erzeugung von Dampf benutzt.

In einigen Städten erzeugen die Verbrennungsanstalten riesige Kraftmengen, welche, in Elektricität umgewandelt, zur Straßenbeleuchtung dienen. Diese Art der Müllbeseitignng hat also ihre Feuerprobe bestanden. Im Jahre 1876 wurde in England das Müll nur in einigen wenigen Städten in 14 Oefen verbrannt. Im Herbst des Jahres 1893 waren aber in 55 englischen Städten mit zusammen rund 7 Millionen Einwohnern 570 solcher Oefen in Thätigkeit. Das Verfahren wird in nächster Zukunft auch auf dem europäischen Festlande zur Anwendung kommen; neuerdings hat Berlin 6 Oefen bauen lassen, welche wöchentlich etwa 200 Tonnen Müll verbrennen können. *      

Für die vernachlässigten Kanarienvögel. Im Laufe der Zeit ist der Kanarienvogel zu einem Kultur- oder Stubenvogel im vollsten Sinne des Wortes geworden. Unter der sorgsamen Pflege der Menschen hat der unscheinbare Wildling eine Ausbildung nach verschiedenen Richtungen hin erfahren. Die Engländer erzielen mehr oder weniger rot gefärbte Vögel, indem sie dieselben mit Cayennepfeffer füttern. Im Westen von Europa züchteten die Liebhaber Vögel, die sich durch eine besondere, teils schöne, teils mehr sonderbare Gestalt auszeichneten und die wir heute unter dem Namen „Holländer Kanarien“ zusammenfassen. Deutsche Gebirgsbewohner, zuerst die Tiroler und dann die Bergleute im Harz, wandten dagegen ihre Aufmerksamkeit der Ausbildung des Gesanges zu, und namentlich den Harzern ist es gelungen, ausgezeichnete Edelsänger großzuziehen. Von diesen drei Richtungen der veredelten Kanarienzucht hat die letzte sicher den größten Anklang gefunden und es steht ihr noch eine größere Zukunft bevor, da durch die Vogelschutzgesetze verschiedener Länder der Fang einheimischer gefiederter Sänger erschwert wird. Außerdem bildet der Kanarienvogel in der gewöhnlichen Landrasse den Lieblingsvogel weitester Kreise, die auf die höheren Künste der Kanarienzucht nicht eingehen mögen und sich mit einem munteren fröhlichen Singvogel als Hausgenossen begnügen.

Lange Zeit ließ aber die Pflege des Kanarienvogels sehr viel zu wünschen übrig. Die Erfahrungen der älteren Züchter blieben nur der nächsten Umgebung bekannt, denn niemand dachte daran, dieselben niederzuschreiben und dadurch weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Der Altmeister Lenz war der erste, der in seiner in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts erschienenen Naturgeschichte der Vögel eine eingehendere Schilderung der Zucht der Harzer Kanarien gegeben hat. Das Eis war gebrochen; es regten sich viele Federn für den Kanarienvogel; eine Fachlitteratur entstand, aus welcher als Musterwerke die Bücher „Der Kanarienvogel“ von Dr. Karl Ruß und „Der Kanarienvogel“ von W. Böcker hervorzuheben sind; es bildeten sich auch Vereine, welche die Wohlfahrt der gelben Hausgenossen sich zum Gegenstand ihrer Sorge nahmen; kurz, die Pflege und Zucht des Fremdlings in Deutschland gestaltete sich immer vollkommener.

Trotzdem ist heute noch das Los zahlloser Vöglein ein bemitleidenswertes. Viele Besitzer, welche der berufsmäßigen Zucht fern stehen, kennen nicht die Bedürfnisse der Tierchen, verpflegen sie falsch und bereiten so ihren Lieblingen aus Unwissenheit ein vorzeitiges und oft qualvolles Ende. Dagegen giebt es nur ein Mittel: wiederholte Selbstbelehrung durch Lektüre zweckmäßig geschriebener Bücher. Wir möchten nun die Besitzer von Kanarienvögeln darauf aufmerksam machen, daß diese Belehrung sehr leicht und für sehr wenig Geld zu erlangen ist. In der bekannten Universalbibliothek von Philipp Reclam ist ein Bändchen „Anleitung zur Pflege, Behandlung und Zucht des Kanarienvogels in allen seinen Rassen“ von Friedrich Arnold erschienen. Der Unerfahrene kann aus demselben das Wissenswürdigste entnehmtn und auch sonst vielfache Anregung sich holen; denn das Büchlein ist nicht nur belehrend, sondern auch unterhaltend geschrieben, so daß es den Leser durchaus nicht ermüdet. Wir glauben, daß diese billige und doch gediegene Anleitung vieles zur Verbesserung des Loses vernachlässigter Kanarienvögel beitragen wird. C. F.     


KLEINER BRIEFKASTEN.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Alter Abonnent in Riga. Sie thun uns unrecht! Die Orthographie, welche Sie seit Beginn dieses Jahrgangs in der „Gartenlaube“ durchgeführt finden, ist die seit einer Reihe von Jahren in den meisten deutschen Staaten und seit neuestem auch in der deutschen Schweiz zu Recht bestehende. Hat uns die Rücksicht auf die alten Leser längere Zeit zurückgehalten, uns dieser, wie Sie sagen, „neumodischen“ Orthographie vollständig anzuschließen, so trat dem mit der zunehmenden Gültigkeitsdauer der neuen amtlichen Regeln neben rein praktischen Gründen die Rücksicht auf das heranwachsende Geschlecht gleichwertig und schließlich überwiegend gegenüber. Es bleibt uns also nur die Hoffnung übrig, daß auch Sie sich in einiger Zeit „umgewöhnt“ haben werden, wie wir selbst uns dieser Aufgabe unterziehen mußten.


Inhalt: Lenz. Gedicht von Richard Zoozmann. Mit Bild. S. 181. – Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (11. Fortsetzung). S. 182. – Ankunft der Aebtlissin Irmingard auf Frauenchiemsee im Jahre 894. Bild. S. 184 und 185. – Die Eierspiele der Osterzeit. Von Alexander Tille. S. 188. Mit Abbildungen S. 188 und 189. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (11. Fortsetzung). S. 189. – Die Rolle des Staubes in der Natur. Von Dr. P. Lenard. S 192. – Winters Abschied. Bild. S. 193. – Onkel Karls Verlobung. Humoreske von Hans Arnold. S. 195. Mit Abbildungen S. 195, 196, 197, 198 und 199. – Blätter und Blüten: Winters Abschied. S 200. (Zu dem Bilde S. 193.) – Ankunft der Aebtissin Irmingard auf Frauenchiemsee im Jahre 894. S. 200. (Zu dem Bilde S. 184 und 185.) – Verbrennen des Haus- und Straßenkehrichts. S. 200. – Für die vernachlässigten Kanarienvögel. S. 200. – Kleiner Briefkasten. S. 200.


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgnags der Gartenlaube; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

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Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.     


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.