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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[37]

Halbheft 2.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Weltflüchtig.
Roman von Rudolf Elcho.

(1. Fortsetzung.)

Ein Schrei des Entsetzens ertönte ringsum, es erfolgte ein wilder Tumult, von allen Seiten streckten sich Hände aus, um den Konsul aufzuheben. Frau Rosita und ihre Töchter waren erst vom Schrecken gelähmt, dann liefen sie zu der Stelle hin, wo der Gefallene lag, allein ein Menschenknäuel versperrte ihnen den Zugang. In dem wirren Durcheinander wollte jeder helfen und hinderte seinen Nächsten an der freien Bewegung. Endlich gelang es dem Sanitätsrath Horst, der als Arzt und Freund des Hauses von den meisten Besuchern gekannt war, seinen Anordnungen Geltung zu verschaffen. Der Bewußtlose wurde in eines der Nebenzimmer getragen und hier auf einen Diwan niedergelegt. Kaum war dies geschehen, so schloß Horst die Thür vor den nachdrängenden Gästen ab und gestattete nur den Angehörigen, im Zimmer zu bleiben. Als Hausarzt der Familie wußte er, daß sein Freund an asthmatischen Beschwerden leide, und er glaubte zunächst, es handle sich um einen Erstickungsanfall. Ohne Rücksicht auf Frau Rositas Dekorationskünste riß er einen orientalischen Teppich herunter, welcher das Fenster des Raumes verhängte, und ließ die Nachtluft hereinströmen. Nun stellte er mit allem Eifer Wiederbelebungsversuche an, allein zu seiner Ueberraschung erwiesen sie sich als fruchtlos. Jetzt erst forschte er nach dem Herzschlag des Ohnmächtigen und erkannte mit Schrecken, daß nichts mehr zu hören war. Er mußte Gewißheit haben, und unter dem Vorwand, daß er den Kranken entkleiden müsse, bat er die Frauen, das Zimmer zu verlassen.

Bettina wurde von Mathilde und der Stiefmutter in ein halbdunkles Stübchen nebenan geführt, dessen Thür sich auf


Die Verfolgung.
Nach einer Zeichnung von P. Bauer.

[38] den Flur öffnete. Während sie dort voll Angst auf die weiteren Mittheilungen des Arztes warteten, drangen vom Vorplatz her die Stimmen abziehender Gäste herein.

„Fatale Störung, das!“ hörte Bettina eine schnarrende Stimme draußen sagen. „Geschichte war famos im Zuge. Hast Du ’ne Ahnung, Knobelwitz, was der Alte anzeigen wollte?“

„Wie ich eben höre, die Verlobung seiner Tochter Bettina mit dem Grafen Trachberg – –“

„Donnerwetter! Die Kleine ist wohl ’n Goldfisch?“

„Jedenfalls. Billig verkauft sich der schöne Guido nicht.“

Säbelrasseln und Zuschlagen der Hausthür verkündete den Abzug der Sprechenden, deren Worte wie aus einem dumpfen Traum zu Bettina gedrungen waren.

Frau Rosita und Mathilde hatten den Vorgängen im Nebenzimmer gelauscht, jetzt mit einem Male öffnete sich die Thür. Bettina flog mit einem freudigen Aufschrei der Schwelle zu, sie hatte mit Sicherheit erwartet, der Vater werde ihr entgegentreten; statt dessen kamen Herr von Voßleben und Graf Trachberg mit ernsten, unglückverheißenden Mienen aus dem Raume. „Mathilde,“ sagte der Diplomat zu seiner jungen Frau, „der Zustand Deines Vaters giebt zu schweren Bedenken Anlaß.“

„Er ist tot!“ schrie Bettina auf, und ehe sie jemand aufhalten konnte, war sie über die Schwelle geeilt. Sie wollte sich über den Toten werfen, allein der Arzt fing sie in seinen Armen auf.

„Weinen Sie Ihren Schmerz aus, liebes Kind, aber nicht hier; den Toten dürfen Sie erst sehen, wenn Sie gefaßter sind.“

Mit diesen Worten drängte sie der theilnehmende Freund hinaus, und da Lisa eben in die Stube trat, gab er ihr einen Wink, über die Verzweifelnde zu wachen. Darauf schloß er das Zimmer ab, in welchem der Konsul lag, und trat in den Festsaal, um dem Rest der Versammlung anzukündigen: „Mein Freund, der Konsul Wesdonk, ist soeben infolge einer Lungenlähmung verschieden.“

Die Nachricht trug kalte Schauer durch die lichten Räume und scheuchte den Rest der Gäste fort. So leise schlichen sich diese aus der Villa, als könnte ihr Schritt den ewigen Schlaf des Dahingeschiedenen stören.

Die Töchter ließen in heißen Thränen ihrem Schmerze freien Lauf. Frau Rosita aber zeigte sich gefaßt und konnte Bettina noch einige Worte des Trostes sagen. Sie bat Lisa, die Weinende in ihr Schlafzimmer zu bringen, und bewog auch Mathilde und Voßleben, sich zurückzuziehen.

Als dies geschehen war, ließ sie sich vom Sanitätsrath die Thür aufschließen und sagte mit frommem schmerzlichen Augenaufschlag: „Ich werde bis zum Morgen am Lager des geliebten Toten beten.“

Sie stellte zwei silberne Leuchter neben das starre Antlitz und ließ sich, Gebete murmelnd, auf die Kniee nieder. Als das Rollen des letzten Wagens sie belehrte, daß auch der Arzt das Haus verlassen habe, streifte sie leicht die Stirn des Gatten mit ihren Lippen und sagte leise, ganz leise: „Mir scheint, theures Herz, Dich hat der liebe Gott zur rechten Zeit abberufen. Hab’ Dank für Deine Güte und ruhe sanft!“

Darauf erhob sie sich und lüftete vorsichtig die Thürvorhänge, um zu sehen, wer noch im Festsaale sei. Als sie den Diener und das Hausmädchen bemerkte, welche schläfrig die Tafel abräumten, huschte sie gleich einem Schatten über das Parkett und gab dann leise aber nachdrücklich ihre Anordnungen. Sie blieb, bis die werthvollen Tafelgeschirre in den Schränken verwahrt, die übriggebliebenen Vorräthe in der Speisekammer abgeschlossen waren, und dann erst entfernte sie sich schwebenden Schrittes in der Richtung nach dem Treppenhause.

*      *      *

Bettina war unterdessen vom Grafen Trachberg und von Lisa bis an ihr Schlafgemach begleitet worden, wo sich der Graf mit wohlgesetzten, aber förmlich klingenden Worten verabschiedete; Lisa hatte die Freundin umarmt und herzlich geküßt … Als Bettina im Schlafzimmer ein Licht entzündete, fiel ihr Auge auf den breiten Wandspiegel. Ein Laut des Schreckens kam von ihren Lippen beim Anblick des Spiegelbildes. Sie befand sich noch immer in dem Pagenkostüm, das sie zum Festspiel angelegt hatte. Zum ersten Male drängte sich ihr die Bemerkung auf, wie sehr die Erscheinungswelt von unserer Seelenstimmung abhängig ist. Als sie die Verkleidung anlegte, war sie entzückt gewesen von dem Reiz der Farben und der Anmuth der Formen, mit Selbstgefälligkeit hatte sie ihr Bild betrachtet und ihm lächelnd zugewinkt. Nun waren nur drei Stunden seit jenem Augenblick des Glücks vergangen, und es ergriff sie beim Anblick der leuchtenden Farben ein Gefühl so tiefen Abscheus, so herber Selbstverachtung, daß sie in den Ruf ausbrach: „Herunter mit der Narrenjacke!“ Mit zitternden Händen riß sie sich den kostbaren Anzug vom Leibe und schleuderte jedes Stück weit von sich.

Halb entkleidet setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes und ließ die Ereignisse des Abends noch einmal an sich vorüberziehen. Was drängte sich nicht alles in den engen Zeitraum weniger Stunden hinein – welche furchtbaren Wandlungen hatten sich vollzogen! Vor ein paar Stunden lebte sie noch des wonnigen Glaubens, daß die Welt ganz besonders zum Vergnügen ihrer werthen Person erschaffen sei, nur durch das Uebermaß geselliger Veranstaltungen war sie bisher ermüdet worden; sie hatte sich dem Wahn hingegeben, in der vollkommensten aller Welten zu leben. Und welche Erhebung, welch’ berauschende Gefühle und rosige Hoffnungen hatte ihr der Abend gebracht! Sie hatte geglaubt, von einem gütigen Geschick auf festgefügte Stufen des Glücks gestellt zu sein, und nun mit einem Schlage war alles zertrümmert!

Ihr war es plötzlich, als sehe sie noch einmal den Vater mit brechenden Augen wanken und nach einem Halt tasten, sie hörte noch einmal den dumpfen Fall. Hatte der sterbende Vater nicht all ihr schimmerndes Glück mit sich hinabgerissen? Und was sollten seine dunklen Andeutungen vorhin? Ihr war zu Muthe, als schwanke das Haus, welches sie bisher für unerschütterlich gehalten. Die Unterredung auf dem Balkon trat lebhaft vor ihre Seele. Sie hatte mit heimlicher Ungeduld auf die letzten Worte des Vaters gehört und gleichwohl einen tiefen Eindruck von ihnen empfangen. Seine Stimme hatte so weich geklungen, sein Auge so sehnsüchtig nach den dunklen Himmelstiefen geblickt! Sie suchte in der Erinnerung nach jedem Wort, das der theure Heimgegangene gesprochen, und da ihr fieberndes Gehirn die Sätze nicht gleich wiederfinden konnte, so kam das brennende Verlangen über sie, noch einmal in dieser Nacht an dieselbe Stelle zu treten, wo sie mit dem Vater in feierlicher Stimmung zum Sternenhimmel aufgeblickt hatte.

Rasch entschlossen zog sie ein Morgenkleid an und lief über die mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf zum Arbeitszimmer des Vaters. Als sie die Thür öffnete, tönte ihr ein Ruf der Ueberraschung entgegen. Auch sie prallte auf der Schwelle zurück bei dem unerwarteten Anblick, der sich ihr bot. Frau Rosita, welche bei dem Toten hatte wachen wollen, befand sich vor dem Schreibtisch. Des Vaters Geldschrank war geöffnet, und die trauernde Witwe hatte Geld, Papiere und das Kontobuch des laufenden Jahres vor sich ausgebreitet. Beim Anblick der eintretenden Stieftochter hielt sie in jähem Schreck die Hände über die Banknoten, dann glitt ein fahles Lächeln über ihre Züge und sie fragte mit unsicherer Stimme: „Was suchst Du hier, Bettina?“

Diese erholte sich nicht so leicht von ihrer Betroffenheit wie ihre Mutter. Sie schwieg eine Weile, ihre Blicke hingen an einigen Rollen Goldes, die im Schein der Lampe funkelten; dann entgegnete sie in gepreßtem Tone: „Ich suchte – suchte – das Andenken meines Vaters – wollte auf den Balkon, wo er zum letzten Male mit mir gesprochen hat. Dort enthüllte er mir seine Weltverachtung, und mir will scheinen, sie war gar wohl berechtigt. Was aber suchst Du hier? Ich dachte, Du seiest bei dem Toten, und finde Dich schon – bei der Erbschaft.“

Bettina hatte bei den letzten Worten die Stiefmutter so fest und drohend angesehen, daß diese die Augen niederschlug. Aber Rositas Verwirrung dauerte nicht lange, ihre listige Natur fand rasch einen Ausweg. „Thörichtes Kind,“ sagte sie sanft und einschmeichelnd, „wer sollte über Eure Interessen wachen, wenn ich es nicht thue? Dein armer Vater befand sich in geschäftlicher Bedrängniß. Nach den Andeutungen, welche er mir noch vor einigen Stunden machte, mußte ich beinahe befürchten, daß er dicht vor dem Ruin stehe. Als ich nun drunten vor der Leiche betete, kam mir der Gedanke: ist dein Gatte auch in Ehren gestorben, können wir [39] seinen Verbindlichkeiten gerecht werden? Ich mußte wissen, wie es um die Vermögenslage bestellt sei, bevor fremde Hände hier eingriffen und aus unserer Unkenntniß Nutzen schöpften. Nun Bettina, ich kann Dir, nach einem flüchtigen Einblick in die Bücher, die tröstliche Versicherung geben: Dein Vater hat wenigstens so viel hinterlassen, daß wir alle vor Mangel geschützt sind.“

„Das ist ein erbärmlicher Trost für das, was ich verlor.“

Bettina verließ das Zimmer und nahm ein Gefühl der Verachtung gegen die Frau mit, welche über der Frage nach dem Erbe so rasch den Toten vergaß.

Die Witwe aber blickte der Entschwindenden lange nach, dann stampfte sie plötzlich mit dem Fuße auf und sagte: „Pah – was liegt daran! Mag sie gering von mir denken, wenn sie nur äußerlich Frieden hält! Vor der Gesellschaft werde ich die Stelle der zärtlichen Mutter bis zu Deiner oder – meiner Verheirathung weiter spielen.“




4.

Frau Rosita fand als trauernde Witwe bei ihren Freunden mehr als bloßes Mitgefühl, sie erregte Bewunderung durch den ergreifenden Ausdruck, den sie ihrem Schmerze gab. Sie ließ keine lauten Klagen hören, aber ihre Stimme, ihr ganzes Wesen hatte etwas Gedämpftes, als schreite sie gebückt unter der Last ihres Unglücks. Ihre dunklen Augen schwammen in stillen Thränen, und wenn man die Herzensgüte des Hingeschiedenen pries, zitterte ihr Körper vor verhaltener Erregung. Und trotz des tiefen Kummers, der sich in der unbeschreiblichen Traurigkeit ihres Wesens zu erkennen gab, besaß diese seltene Frau Kraft genug, die Zügel des Haushalts zu führen, eine Fülle von Geschäften zu erledigen und eine ebenso würdige als großartige Trauerfeier zu veranstalten. Die Todesanzeigen waren nach ihrer Angabe abgefaßt und gedruckt worden, und das erste Exemplar derselben sandte sie an die Fabbris als Antwort auf deren erneuten Hilferuf. –

Wo drei Tage vorher das farbenglänzende Festspiel in Scene gegangen war, hatte man den Katafalk errichtet, und hundert flammende Kerzen warfen ihren Schein auf das stille, von Frühlingsblumen halb verdeckte Antlitz des Toten. Der Saal und die anstoßenden Räume waren mit teilnehmenden Freunden gefüllt. Auf den zur Bahre hinaufführenden Stufen standen die Angehörigen des Verblichenen. Frau Rosita hatte am Fußende des Sarges, ihr gegenüber Mathilde mit Herrn von Voßleben Aufstellung genommen. Graf Trachberg stand zwischen der Witwe und Bettina, die ihr verweintes Gesicht hinter den Lorbeerbüschen verbarg. Durch einen Choral, welchen Mitglieder des Domchors hinter dem Gehege der Palmen und Orangen sangen, wurde die Feier eingeleitet, dann hielt der Geistliche eine ergreifende Rede, und nach derselben spielten jene jungen Künstler, welche den Tanz der Pagen beim Festspiel begleitet hatten, das Adagio aus Schuberts C-dur Quintett. Die Oeffentlichkeit dieser Totenfeier hatte Bettinas Widerspruch erregt, ihr erschien die ganze Veranstaltung wie eine Entweihung, wie eine schale Komödie. Wer sein Leid und Herzweh öffentlich ausstellt, sagte sie sich, dem fällt der Abschied von dem Toten nicht allzuschwer. Vor dem Zauber der Musik aber schwand allmählich ihr Groll, ihre Bitterkeit. Eine feierliche Stimmung kam über sie, und als jetzt Viola, zweite Geige und Violoncell zusammenklangen und die Töne der ersten Geige unter der Meisterhand Franz Rotts recitativartig darüber hinschwebten glaubte sie eine süße Engelsstimme zu vernehmen, die bald klagend bald tröstend zu ihr spreche und mit der Verheißung ende: Es giebt ein Wiedersehen!

Die hehren Klänge hatten Bettina aufgerichtet und erhoben; ja, es blieb ein feierlicher Nachhall in ihrer Seele, der sie nicht bemerken ließ, daß der Sarg geschlossen wurde. Auf Frau Rosita aber mußte die Musik in ganz anderer Weise gewirkt haben, denn als der letzte Ton verhallte und gleichzeitig der Sarg sich schloß, taumelte sie und sank ohnmächtig in die Arme des herzuspringenden Grafen Trachberg.

Es entstand eine Bewegung in der Trauerversammlung, einige Damen kamen der vom Schmerz Ueberwältigten mit ihren Riechfläschchen zu Hilfe. Auch Bettina bemühte sich um die Ohnmächtige, deren Schwächezustand jedoch rasch vorüberging. Mit sanftem Lächeln blickte sie zu dem Grafen auf, entwand sich dann mit einem leisen Dankeswort seinen Armen und schritt, auf Bettina gestützt, in merkwürdig gefaßter Haltung die Stufen herab, um dem Sarg bis zum Ausgang des Saales zu folgen. Gefaßt verabschiedete sie sich auch von den Theilnehmern der Feier; sie sagte jedem mit bewegter Stimme ein Dankeswort und reichte mit besonderer Herzlichkeit den Musikern ihre Hand. Die Ausländer küßten dieselbe, Franz Rott aber begnügte sich damit, einen Händedruck auszutauschen. Auf seinen kühngeschnittenen männlichen Zügen lag dabei etwas wie ein geheimer Widerwille. Unwillkürlich reichte er auch Bettina die Hand, und es schien ihr, als habe er ein Wort des Mitgefühls auf den Lippen, allein er schwieg und schied mit einer kurzen Verbeugung. –

Die Tage nach der Bestattung des Konsuls brachten für die Bewohner der Villa die Ruhe nach dem Sturme. Frau Rosita konnte schon am zweiten Morgen einer lebhaften Befriedigung Ausdruck geben, als sie beim Frühstück nach ausführlichen Berichten über die Leichenfeier in den Zeitungen suchte und nebenbei das folgende Telegramm aus Hamburg fand: „Soeben hat das alte berühmte Handelshaus Fabbri und Söhne seine Zahlungen eingestellt.“

„Da haben wir’s, da haben wir’s!“ rief sie mit strahlendem Gesicht. „Ich hab’s kommen sehen! Würde Dein armer Vater noch leben, Bettina, heute müßte er mir für meinen guten Rath Dank wissen.“

Bettina schaute die Mutter fragend an, diese aber besann sich, daß es besser sei, ihre Stieftochter nicht über den letzten ärgerlichen Streit ihrer Ehe aufzuklären, und gab nur die Andeutung, daß sich der Konsul auf ihren Rath noch rechtzeitig von den Fabbris zurückgezogen habe, deren Bankrott die Zeitungen eben verkündeten.

Bettinas Schwager hatte, unter dem Hinweis auf den plötzlich erfolgten Tod seines Schwiegervaters, die Erlaubniß erhalten, seine Abreise um vierzehn Tage zu verschieben. In dieser Zeit war es möglich, die Erbschaftsangelegenheiten für seine junge Frau zum Abschluß zu bringen. Der Konsul hatte die testamentarische Verfügung getroffen, daß sein Nachlaß seiner Frau und seinen Töchtern zu gleichen Theilen zufallen solle. Zu Testamentsvollstreckern waren Sanitätsrath Horst und ein Rechtsanwalt ernannt. Diese glaubten, Frau Rosita, deren persönliches Vermögen sich, wie aus den Büchern ersichtlich war, auf rund 450000 Mark belief, werde zu Gunsten der Töchter auf ihr Drittel verzichten, allein in diesem Punkte hielt die Witwe es für eine strenge Pflicht der Pietät, den letzten Willen des Verstorbene genau auszuführen. Ja es zeigte sich bei der Vertheilung des beweglichen Mobiliars, daß die tiefbetrübte Frau stets solche Stücke als „Erinnerungszeichen an ihr zerstörtes Glück“ wählte, die einen besonders hohen Werth besaßen. Nachdem die Firma aufgelöst und die Villa verkauft war, ergab sich ein Barvermögen von rund 180000 Mark. Jede von den Erbinnen erhielt somit 60000 Mark und einen Theil des Hausraths.

Frau Rosita hatte den Löwenantheil an sich gerafft und dadurch die Voßlebens tief verstimmt. Bettina war zufrieden, daß die Stiefmutter ihr wenigstens den neuen Bechsteinschen Flügel ließ, an dem sie viel Freude hatte. Das ihr zugefallene Vermögen war nach ihrer Schätzung sehr groß, und sie begriff nicht, warum der Schwager, Mathilde und Frau Rosita so enttäuschte Gesichter machten, als die Testamentsvollstrecker ihnen das Ergebniß der Erbschaftstheilung verkündeten. Sie besaß nicht die geringste Vorstellung von der Kostspieligkeit eines standesgemäßen Unterhaltes, von dem ihre Verwandten so oft sprachen, und verachtete den Reichthum, weil sie nur geringe persönliche Bedürfnisse hatte. Um so tiefer ward sie verwundet, wenn ihre Stiefmutter einem heuchlerischen Bedauern über die schlimme Lage Ausdruck gab, in welcher ihr Gatte seine an vornehme Lebensführung gewöhnten Kinder zurückgelassen habe. Bettina war zu schüchtern, um ihrer Entrüstung Worte zu leihen, aber sie war ihrer entschlosseneren Schwester dafür dankbar, daß diese den verdeckten Tadel Rositas mit der barschen Bemerkung abschnitt: „Nun, für die Zukunft seiner Witwe hat mein Vater wenigstens in auskömmlicher Weise gesorgt.“

In Bettinas argloses Gemüth warfen solch versteckte Feindseligkeiten trübe Schatten. Sie erkannte immer deutlicher, daß die frühere Zärtlichkeit der Stiefmutter nur durch die Rücksicht auf den Vater eingegeben war, und sie mußte fürchten, daß diese Frau sehr bald die Maske ganz fallen lassen werde. Auch

[40]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

Erwartung.

Nach einem Gemälde von A. Seifert.

[41] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [42] von Mathilde, deren stark ausgeprägte Selbstsucht niemals ein wärmeres Gefühl zwischen den beiden Schwestern hatte aufkommen lassen, fühlte sich Bettina durch deren Begehrlichkeit bei der Erbschaftstheilung noch stärker abgestoßen. Diese Unsicherheit und Hilflosigkeit ihrer Lage drückte ihre Seele mehr und mehr nieder, und sie sehnte sich mit aller Macht nach einem innigen Verkehr mit Guido. Der aber war gerade durch den Besuch eines fremden Monarchen, dem zu Ehren Paraden und Felddienstübungen angestellt wurden, dienstlich so sehr in Anspruch genommen, daß er die Villa nur selten und dann bloß auf kurze Augenblicke besuchte. Bei den flüchtigen Begegnungen mit Bettina war er sehr freundlich und zuvorkommend, allein seine Artigkeit verhüllte den Blicken des Mädchens nicht ganz, daß das Feuer seiner Liebe bereits im Erlöschen begriffen sei, und immer beklemmender fielen ihr jene Worte aufs Herz, die sie in dem entsetzlichen Augenblick nach ihres Vaters Tod von den abziehenden Gästen gehört hatte und deren Verständniß ihr erst jetzt aufzudämmern begann.

Durch seinen Vetter hatte der Graf Einblicke in die Vermögenslage der Hinterbliebenen des Konsuls erhalten. Es bedurfte kaum der Kunstgriffe, die er anwandte, um den Gatten Mathildens zum Sprechen zu bringen, denn Voßleben fühlte ein lebhaftes Bedürfniß, sich über die Habgier seiner Schwiegermutter zu beklagen. Trachberg stimmte in die Zornesausbrüche seines Vetters mit ein und bezeichnete das Benehmen der Dame als unverantwortlich. Heimlich aber stiegen allerhand Berechnungen in ihm auf. Die Tochter ist jung, sagte er sich, allein ihre Mitgift beträgt nur 60000 Mark; die Mutter ist noch nicht alt und ihre Mitgift beträgt eine halbe Million. Mit dieser Summe könnte ich meine Güter von Schulden entlasten und ihre Erträgnisse flüssig machen – mit Bettinas Erbe kann ich nur den schlimmsten meiner Blutsauger auf einige Jahre von mir fern halten. Immer häufiger nahmen seine Gedanken diese Richtung, und Graf Trachberg war nicht der Mann, lange zu zögern, wenn es seinen klar erkannten Vortheil galt.

Als er eines Morgens beim Anbruch der Dämmerung seinen Klub verließ, wo er im Spiel gerade die Geldsumme verloren hatte, die er zu gewinnen wünschte, um Deckung für eine Wechselschuld schaffen zu können, da sagte er mit heroischer Selbstüberwindung: „Hol’s der Henker, ich nehm die Mama! Die Zeit der Illusionen ist vorüber, wir müssen vernünftig werden, Guido!“

Und am Nachmittag dieses denkwürdigen Tages fuhr der Graf zur Villa und ließ sich bei Frau Rosita melden. Sie empfing ihn im japanischen Salon, dessen Balkonthür geöffnet und gegen das einströmende Licht der Maisonne durch eine Markise geschützt war. Der Graf mußte sein Auge erst an das im Zimmer herrschende Halbdunkel gewöhnen, bevor er bemerkte, daß sich jener junge Künstler aus Florenz mit dem Rafaelkopf bei Frau Rosita befand; er war gekommen, um sich von seiner Gönnerin zu verabschieden, und er that dies mit überschwänglichen Dankesversicherungen. Als er das Zimmer verlassen hatte, wischte sich Rosita die thränenfeuchten Augen mit einem duftigen Spitzentuch und sagte mit trübem Lächeln: „Sie sehen, lieber Graf, meine Freunde verlassen mich, das Haus der Witwe verödet rasch. Der junge Mann, dessen harmlose, kindliche Fröhlichkeit mich so oft erheiterte, muß in seine Heimath zurückkehren. Eine Freundin in Rom hatte ihn mir empfohlen, und es gewährt mir jetzt einige Genugthuung, sein Talent gefördert und ihm das Vaterhaus nach Kräften ersetzt zu haben. – Doch ich spreche von mir, und Sie, lieber Graf, brennen unterdessen vor Begierde, Ihre Braut zu sehen; verzeihen Sie! Bettina ist, so viel ich weiß, im Garten, ich werde sie –“

Rosita wollte auf den Balkon treten, um die Tochter zu rufen, der Graf aber hielt sie mit der Bemerkung zurück, daß er nicht Bettina, sondern sie selbst zu sprechen wünsche.

Ueberrascht wandte sich die Witwe um, ließ sich auf einen Diwan nieder und lud den Grafen durch eine Handbewegung ein, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Dieser empfand in dem lauschigen, halbdunklen Raume die Anmuth ihrer Bewegungen, ihre üppige Schönheit. Der gedämpfte Ton ihrer Stimme erhöhte den Reiz der Unterredung.

„Sie sehen mich in der peinlichsten Lage meines Lebens, gnädige Frau,“ begann der Graf. „Nur die bezaubernde Liebenswürdigkeit Ihres Wesens verleiht mir den Muth, mich Ihnen ganz anzuvertrauen. Ich habe stets Ihre Einsicht praktischen Verhältnissen gegenüber bewundert, und ich hoffe, daß jetzt auch meine Lage von Ihnen richtig erfaßt und beurtheilt werden wird.“

Als der Sprecher hier eine Pause der Verlegenheit eintreten ließ, neigte Frau Rosita mattlächelnd den Kopf und warf ein: „Ich fürchte, Sie überschätzen mich. Sie wollten wohl mit mir über Ihre Verlobung sprechen?“

„So ist es, meine verehrte gnädige Frau, und ich muß Ihnen offen bekennen, daß sich den bisherigen Wünschen ein unübersteigliches Hinderniß in den Weg stellt.“

„Ah!“ – Die Witwe richtete mit einem Male den Kopf auf, und ihre Mienen wie die hastige Art, mit der sie ihren Fächer bewegte, ließen ihre Spannung erkennen.

Und der Graf legte ihr offen seine finanziellen Verlegenheiten dar. Er sprach von der Mißwirthschaft seines Vaters, welcher es zuzuschreiben sei, daß er die Familiengüter mit Schulden belastet empfangen habe, aber er schwieg von den eigenen Spielschulden; er nannte die Abfindungssumme, welche er seinen Schwestern habe zahlen müssen, und ging zartfühlend über die Summen hinweg, die er für seine eigene verschwenderische Lebensführung verbraucht hatte. Als er Frau Rosita den Betrag aller seiner Verbindlichkeiten genannt hatte, begriff diese es vollkommen, daß der Graf zwischen Bettina und der ihm liebgewordenen militärischen Laufbahn zu wählen habe. „Ich bot Ihrer liebenswürdigen Tochter meine Hand an,“ schloß der Graf seine Bekenntnisse, „weil Voßleben mich in den Glauben versetzt hatte, ich könne dem Zuge meines Herzens frei folgen, da meine Finanzlage von dem Herrn Konsul ohne Schwierigkeit geregelt werden würde. Leider ergab sich nach dessen Hinscheiden, daß dies nicht der Fall ist. Nun haben zwar Sie, verehrte Frau, in Ihrer Großmuth uns Ihre Unterstützung zugesagt, allein Sie werden einsehen, daß es sich schwer mit meinem Ehrgefühl in Einklang bringen läßt, laufende Unterstützungen anzunehmen. Ich würde niemals das drückende Gefühl überwinden können, daß Sie sich um unseretwillen Entbehrungen auferlegen müßten. Außerdem“ – hier dämpfte der Graf seine Stimme zum Flüsterton herab, „sind mir in den letzten Tagen schwere Bedenken gekommen, ob ich ein junges Mädchen wie Bettina so glücklich machen kann, wie sie es verdient. Ich zähle schon achtunddreißig Jahre und Ihre Stieftochter nicht viel mehr als zwanzig; aus diesem großen Unterschied der Jahre ergiebt sich naturgemäß auch eine weitgehende Verschiedenheit der Lebensauffassung. Bettina tritt mit allen Illusionen der Jugend ins Leben, ich aber – habe keine Illusionen mehr. Ja, wenn Bettina Ihr Lebensalter hätte und Ihre Erfahrung, meine Gnädigste – –“

Er verstummte mit einem Seufzer und sein Gegenüber setzte in Gedanken hinzu. „und meine halbe Million“; allein im nächsten Augenblick senkte Rosita unter seinem schmachtenden Blick den Kopf zum Fächerrand nieder und erwiderte: „Ich verstehe Ihre peinliche Lage, Herr Graf, und – ‚alles verstehen, heißt alles verzeihen.‘ Warum aber haben Sie sich an mich gewandt – wäre es nicht richtiger, Bettina alles zu bekennen? Meine Tochter ist einsichtsvoll und stolz genug, um Sie sofort Ihres Versprechens zu entbinden.“

„Das weiß ich. Und seien Sie versichert, daß ich mein Wort erfüllen würde, wenn Fräulein Bettina meine Vermögenslage anders beurtheilen sollte als ich selber. Was mir den Gedanken eingab, mich an Sie zu wenden, theuerste Frau, das ist der Umstand, daß ich vor allen Dingen von Ihnen zu hören wünschte, ob Sie nach Klarstellung der Verhältnisse mich um meines Zurücktretens willen verurtheiten werden, und dann, weil ich meine Schwäche kenne. Bevor ich es über mich gewinnen könnte, Bettina weinen zu sehen, würde ich mein Versprechen erneuern, und wenn es gleich mein Ruin wäre und der ihres eigenen Lebensglücks. Sie, meine Gnädigste, besitzen den feinen Takt und die Kenntniß des menschlichen Herzens, welche^ Sie befähigen werden, das Band zu lösen, ohne die Gefühle Ihrer Tochter zu verwunden. Wollen Sie mich von der schmerzlichsten Pflicht meines Lebens entbinden? Darf ich auf Ihre Vergebung, auf die Erhaltung Ihrer Achtung und Freundschaft rechnen, theuerste Frau Konsul?“

Er hatte ihre Hand ergriffen und schaute ihr mit so warmen Blicken in die glänzenden Augen, daß sie verwirrt erst nach einer Weile zu antworten vermochte. „Ich will Ihre Sache bei Bettina führen, lieber Graf,“ sagte sie leise.

„Und Sie billigen meinen Schritt, Sie denken nicht gering von mir?“ Seine Stimme hatte einen flehenden bangen Klang.

[43] „Wer vernünftig handelt, ist niemals zu tadeln.“

„Ich werde leider so lange Ihre Nähe meiden müssen, verehrteste Frau, bis Ihre Tochter mir nicht mehr grollt. Darf ich hoffen, daß Sie mich nicht vergessen, daß Sie mir die Zuneigung bewahren, die mich in Ihrem Hause so wohlthuend berührte? Darf ich hoffen – –“ Er war in der Stimmung, ihr schon jetzt ein Liebesgeständniß zu machen, allein er besann sich rechtzeitig, daß ein allzurasches Enthüllen seiner Absichten die erfahrene Frau stutzig machen könnte. Er brach daher mit einem Seufzer ab und küßte die wohlgepflegte Hand Rositas.

Diese sah ihn mit blitzenden Augen an und erwiderte lächelnd: „Ihre Frage war völlig überflüssig. Sie wissen recht gut, daß man Ihnen nicht zürnen kann und daß man Sie auch niemals vergißt. Auf Wiedersehen!“

Und der Graf Guido verließ die Villa mit dem erhebenden Bewußtsein, daß er ein widriges Geschäft glatt abgewickelt habe und diesmal seinen Gläubigern in Wahrheit versprechen könne, seine Schulden würden vor Ablauf eines Jahres getilgt werden.

*      *      *

Frau Rosita stand auf der Schwelle des japanischen Zimmers, bis die Schritte des Grafen auf der Treppe verhallten, dann lachte sie stolz auf und rief: „Er ist mein, der kluge Graf ist mein! Frau Rosita, Gräfin von Trachberg – wie das klingt! Doch still, da kommt Bettina! Nun, ich bin gerade in der Laune, um diesem Prinzeßchen den bitteren Trank zu mischen. Laßt uns Licht in die Sache bringen!“

Sie war eben dabei, die Markise aufzuziehen, als Bettina bei ihr eintrat. Das Mädchen hatte den Grafen vom Garten aus eilig das Haus verlassen sehen. Was war geschehen, daß er seine Verlobte nicht aufsuchte? Von innerer Unruhe getrieben, eilte sie zu ihrer Stiefmama und bat sie mit erregten Worten um Aufklärung dieses seltsamen Verhaltens.

Frau Rosita gab sich den Anschein mütterlicher Zärtlichkeit, führte die Tochter zu einem Sitzplatz und träufelte ihr Tropfen für Tropfen den Gifttrank ein. Sie ließ zunächst den Charakter des Grafen im edlen Feuer der Tugend und Ritterlichkeit erstrahlen, bezeichnete seine Geldverlegenheiten als die Folge seines Familiensinns und seiner Großmuth und erklärte ihr dann, wie der edle Mann nach und nach zu der Ueberzeugung gelangt sei, daß er voreilig gehandelt habe und die Verlobung auflösen müsse, weil er sich außer stande sehe, Bettina so glücklich zu machen, wie sie es verdiene.

Das Mädchen war bleich geworden und brachte erst nach längerem inneren Kampfe die Frage über die Lippen. „Also um der Mitgift willen sagt er sich los von mir?“

Diese Frage hatte Rosita erwartet. Indem sie sich jetzt den Anschein zartester Rücksichtnahme für ihr armes verschmähtes Kind gab, bewies sie, daß der Graf bei gewissenhafter Prüfung seiner Gefühle die Ueberzeugung gewonnen habe, sein Antrag sei einer flüchtigen Aufwallung entsprungen. In sanftem Tone führte sie demüthigende Einzelheiten an, um die Wandlung der gräflichen Empfindungen verständlich zu machen, und als sie die Unvermeidlichkeit des Bruches dargethan hatte, schloß sie mit der Aufforderung: „Und nun, mein armes, beklagenswerthes Kind, wirf Dich an dies mitfühlende Herz und weine Dich aus! Thränen erleichtern den Schmerz.“

Aber Bettina verschmähte es, sich an dieses Herz zu flüchten. Mit starr blickenden Augen saß sie am Fenster und regte sich nicht. Ihr Haar leuchtete unter den Strahlen der sinkenden Sonne wie rothes Gold und hob sich seltsam ab von der Marmorblässe ihres Gesichts. Sie besaß zu wenig Lebenserfahrung, um glatt vorgetragene Lügen von der Wahrheit unterscheiden zu können, und doch sagte ihr ein untrügliches Gefühl, daß die Stiefmutter sie hasse, daß der mitleidige Ton erheuchelt sei. Sie erhob sich daher nach einer Weile des Nachsinnens und erklärte in müdem Tone: „Wenn Graf Trachberg nicht den Muth besitzt, offen und männlich mit mir zu sprechen, so wird er vielleicht die Kraft finden, mir zu schreiben, warum er mich aufgiebt.“

Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm eine Karte und schrieb darauf: „Herr Graf, Sie sind frei!   Bettina.“

Schon am folgenden Tage erhielt sie eine ausführliche Antwort des Grafen, worin dieser alle seine Gründe und Bedenken wiederholte. Er versicherte ihr, daß es ihm entsetzlich schwer geworden sei, ihrer Hand zu entsagen, und daß er sie anflehe, ihm Verzeihung zu gewähren.

Das Mädchen zerriß den Brief, dessen gewundene Phrasen sie durchschaute. Lügen, nichts als feige erbärmliche Lügen, der Frühlingstraum ihres Lebens zerstört – wie sollte sie die Oede ihres Daseins verwinden? Wo blieb ihr ein Ort, der ihr eine Zuflucht bot und – Vergessen?

Sie dachte an Mathilde, welche am nächsten Morgen die Reise nach Mexiko antreten wollte. Zu ihr eilte sie hin. Sie fand die Schwester unter Kisten und Koffern; athemlos rief sie ihr schon auf der Schwelle entgegen: „Schwester, nimm mich mit Dir nach Mexiko!“

Mathilde blickte von dem Koffer auf, den sie eben verschlossen hatte, und antwortete mit allen Zeichen des Erstaunens. „Soll das Scherz oder Ernst sein?“

„Heiliger Ernst!“ Und nun erzählte Bettina in fliegender Hast und mit brennender Schamröthe im Gesicht, daß Graf Trachberg sie verschmäht und die Verlobung aufgelöst habe. „Du kannst mich vor Verzweiflung retten, Mathilde. Ich muß fort aus diesem Hause, aus dieser Stadt – ich kann mit der Stiefmutter nicht mehr zusammenleben! Nimm mich mit Dir, Schwester, ich bedarf großer Eindrücke, neuer Gesichtskreise, um über das brennende Gefühl da drinnen weg zu kommen. Ich werde Euch nicht zur Last fallen, kann ich doch die Kosten der Reise und meines Aufenthalts aus eigenen Mitteln bestreiten. Ach, Mathilde, Schwester, sei gütig und nimm mich mit Dir – Du ahnst nicht, wie elend und unglücklich ich mich fühle.“

Schluchzend warf sich das Mädchen der Schwester an die Brust, und heiße Thränen rannen über ihre Wangen. Allein Mathilde gehörte zu den ruhigen gleichmäßigen Naturen, welche sich durch Gefühlsausbrüche nicht überrumpeln und zu keiner Thorheit fortreißen lassen. Während Bettina sich an ihrem Halse satt weinte, sann sie nach, ob deren Absicht mit ihren eigenen Zukunftsplänen in Einklang zu bringen sei, ohne daß dadurch für sie selbst Unbequemlichkeiten entstehen würden. Und als die Weinende endlich ihre Thränen trocknete, wies sie ihr einen Platz auf einem Feldstuhl an, setzte sich ihr gegenüber auf eine Kiste und sagte. Ich begreife, liebe Betty, daß dieser Schlag Dich aus der Fassung gebracht hat. Und ich fühle Deine Vereinsamung mit. Ich wäre gern mit dem Bewußtsein von Dir geschieden, Du seiest in guter Hut. Wenn indessen die finanzielle Lage des Grafen eine so mißliche ist, wie er angiebt – und es liegt kein Grund vor, an seinen Worten zu zweifeln – so mußte er von einer Verbindung mit Dir zurücktreten, und wenn er Dich auch noch so sehr geliebt hätte. Das ist der Fluch unserer Verhältnisse: Offiziere und Beamte, welche kein Vermögen oder gar Schulden besitzen, können nur eine reiche Frau heirathen, oder sie müssen unvermählt bleiben. Wenn Du Deine zerstörten Hoffnungen beweint hast, lieb Schwesterchen, dann wirst Du zu der Einsicht gelangen, daß Dich Graf Trachberg unter den obwaltenden Verhältnissen vor einem Leben voll schwerer Sorgen bewahrt hat. Ein stolzer Name, eine hohe Lebensstellung bedürfen der goldenen Unterlage, sonst bringen sie dem Träger nur Entwürdigung. Die Grafenkrone wird auf dem Kopf eines Bettlers zur Narrenkappe. Darum sei vernünftig, Betty, und gerecht – der Graf trug Dir seine Hand an, weil er Dich liebte und in Dir die reiche Erbin sah; um Dich mit einer Mitgift zu heirathen, die ihn nicht einmal von seinen Schulden entlastet, dazu ist er nicht mehr jung und thöricht genug. Und ganz heimlich sei es gesagt: mein Mann hätte vielleicht an mir ebenso gehandelt wie sein gräflicher Vetter an Dir, wenn er vor unserer Hochzeit gewußt hätte, daß meine Mitgift so lächerlich gering ausfallen würde. Ja, mein Schwesterchen, sieh mich nicht so entsetzt und ungläubig an – ich bin frei von thörichten Einbildungen und kenne die zwingende Gewalt gesellschaftlicher Verhältnisse. Mein Georg ist ein prächtiger Mensch, und ich weiß, daß er mich aufrichtig liebt, allein er besitzt Ehrgeiz und strebt nach einer raschen glänzenden Laufbahn; dazu gehört aber Geld. Daß ich so wenig davon mein nenne, das wird Mißstimmungen auch in die Ehe hineintragen, und ich werde in den ersten Jahren all meine Klugheit aufbieten müssen, um das Band, das ihn an mich bindet, zu einem recht innigen zu machen, um meinem Gatten einflußreiche Freunde zu verschaffen. Aus diesem Grunde, liebe Betty, geht es nicht an, daß Du uns sofort begleitest. – Zürne mir nicht, mein Herz, und laß auch den Kopf nicht [44] hängen! Georg und ich wagen den Sprung ins Dunkle; wir gehen in ein fernes Land, kommen in fremde Verhältnisse, da müssen wir beide Hände frei haben und dürfen uns keine anderen Verpflichtungen auferlegen als die, welche das Amt bedingt. Haben wir uns erst drüben zurecht gefunden, haben wir unser Haus behaglich eingerichtet und uns einen Gesellschaftskreis gebildet, dann wirst Du uns allem Vermuthen nach sehr willkommen sein.“

Bettina war bei Mathildens scharfsinnigen Auseinandersetzungen immer gebrochener in sich zusammengesunken. Lange saß sie stumm und hoffnungslos auf ihrem Stühlchen, dann erhob sie sich mit der tonlosen Entgegnung. „Ich sehe ein, daß Du sehr vernünftig bist und daß ich hier zurückbleiben muß. Ich will mir Mühe geben, Deine klugen Gründe nach Verdienst zu würdigen.“

Mit Verzweiflung im Herzen kehrte sie in ihr Zimmer zurück; dort warf sie sich aufs Sofa und rief, in Thränen ausbrechend. „Ich suchte der Schwester Herz und fand nur schnöde Berechnung. O, nun verstehe ich Dich, theurer Toter, verstehe Deine Sehnsucht nach der stillen großen Welt der Natur. Wer mir den Weg zeigen könnte zur Flucht aus dieser Enge, dieser Lüge!“

Der Abschied der Schwestern am anderen Tage war ein recht kühler. Die praktische Frau von Voßleben hatte Bettina noch soviele Aufträge zu geben und wichtige Besorgungen einzuschärfen, daß ihr zu sentimentalen Anwandlungen keine Zeit blieb. Erst als sie Bettina zum Abschied küßte, fiel ihr deren verschlossene Haltung auf und sie bemerkte flüchtig: „Du siehst merkwürdig blaß aus, Betty. Nach den gesellschaftlichen Anstrengungen des Winters und den schmerzlichen Erregungen der letzten Wochen mußt Du etwas thun, um Dich wieder aufzufrischen. Nun, Du wirst ja mit der Mama Baden-Baden besuchen. Geh’ dort recht viel spazieren, mein Herz. Und jetzt lebt alle wohl!“

Es waren mit Bettina und Frau Rosita zahlreiche Freunde und Verwandte auf dem Bahnhof erschienen, um dem jungen Ehepaar Lebewohl zu sagen. Man brachte für Mathilde Blumen und kleine Andenken und tauschte mit ihr und Herrn von Voßleben die wärmsten Freundschaftsversicherungen aus. Nur Bettina stand abseits und blickte dem Zug, als er aus dem Bahnhof hinausrollte, mit trockenen Augen nach. Keine Trauer empfand sie, nur das Gefühl unendlicher erdrückender Leere. – –

In den nächsten Tagen fand der Umzug von der Villa in den ersten Stock eines neuen, vornehm eingerichteten Miethshauses statt. Das bot für Frau Rosita die willkommenste Zerstreuung. Auch Bettina nahm an den Arbeiten regen Antheil; beim Ausräumen der Zimmer, die ihr Vater bewohnt hatte, erschien ihr jedes Stück, das seine Hand berührt, wie ein heiliges Vermächtniß. Mit Sorgfalt forschte sie im Bücherschrank und in den Schubfächern des Schreibtisches nach hinterlassenen Papieren. Eines Tages fand sie ein unscheinbares verstaubtes Buch, dessen vergilbte Blätter eng beschrieben waren. Auf der ersten Seite stand in großen Buchstaben. „Mein Tagebuch“, darunter in kleiner Schrift: „Begonnen an Bord der ‚Schwalbe‘.“

Bettina zitterte vor Erregung. Ihr war es, als habe sie einen Schatz entdeckt, den sie vor neidischen Blicken schützen müsse. Hastig hüllte sie das Buch in eine Zeitung ein und verschloß es in ihren Schreibtisch. Sie konnte es nicht erwarten, sich in die geliebten Blätter zu versenken. Doch erst, als die Einrichtung von Frau Rositas neuer Wohnung annähernd vollzogen war und sie in derselben ein kleines, aber nett eingerichtetes Zimmer erhalten hatte, fand sie dazu Gelegenheit. – Eines Abends nahm sie ihren Schatz hervor und las bis um Mitternacht die Aufzeichnungen des Vaters. Diese umfaßten die Erlebnisse eines Jahrzehnts und reichten von seiner ersten großen Seereise bis zur Uebersiedlung von den Fidschi-Inseln nach Montevideo. Der junge Wesdonk war „mit tausend Masten“ in die Welt hinausgefahren, die Seele erfüllt vom Geiste Rousseaus. Mit der Phantasie des Dichters schilderte er das Meer, jene Inseln im Stillen Ocean, auf denen er seine schönsten Lebensjahre in Arbeit und Frieden verbrachte. Worte voll tiefen Glückes widmete er seiner ersten Frau, die er dort als die Tochter eines deutschen Kaufmanns gefunden und nach mannigfachen Schwierigkeiten heimgeführt hatte. Er verglich das Dasein, das er an ihrer Seite genoß, den Freuden von Paul und Virginie. Und aus allem leuchtete immer wieder das Entzücken an der schönen, tropischen Natur hervor, sein warmes Mitgefühl für die Eingeborenen des Landes. Nicht ohne tiefe Rührung konnte Bettina die letzten Blätter lesen, auf denen der Vater erzählte, wie schwer ihm und seiner Frau der Abschied von den Inselbewohnern geworden sei und wie viele Klagen und Scheidegrüße ihnen gefolgt seien. Das Tagebuch schloß mit einigen flüchtigen Bemerkungen, aus denen zu erkennen war, daß Wesdonk in der südamerikanischen Handelsstadt wohl die Absicht gehabt, die Aufzeichnung seiner Erlebnisse fortzusetzen, daß ihn jedoch die Fluth der Geschäfte abgelenkt hatte.

Als Bettina das Buch aus den Händen legte, glühten ihre Wangen und ihre Augen glänzten wie die einer Fieberkranken. Jetzt erst verstand sie die letzten Reden ihres Vaters ganz. Süße heilige Gefühle durchwogten ihr Inneres. Wie auf Geisterschwingen fühlte sie sich über Zeit und Meere weggetragen zu jener Inselwelt, die ihren Eltern zum Paradies geworden war. Sie hatte stundenlang mit den Theuren in der gleichen Welt geweilt, hatte den Hauch ihres Glückes verspürt, und jetzt, da sie das Tagebuch wieder sorgfältig verwahrte, sagte sie sich mit schwärmerischem Gefühl: „Ich werde nicht mehr allein sein. Dies Buch – es führt mich zu Euch zurück, die Ihr mich geliebt und gesegnet habt. O, daß ich auch ein solches Eiland fände wie Ihr, eine Stätte, die noch unberührt ist vom vergiftenden Hauche der Kultur!“




5.

Berlin schmachtete unter der Gluth der Julisonne, und die aus den Straßen und Alleen aufwirbelnden Staubwolken hatten die Laubmassen des Thiergartens grau gefärbt. Mit dem matten Aussehen der Bäume stand die Stimmung jener Stadtbewohner im Einklang, die in der schwülen Luft ausharren mußten. Auch Frau Rosita gehörte zu denen, welche die Millionenstadt an der Spree noch nicht mit einem Badeort vertauschen konnten. Sie befand sich in einem ärgerlichen Zwiespalt, und dieser Zustand wirkte derart auf ihre Nerven, daß sie Bettina ihre schlechte Laune empfinden ließ. Im Frühjahr hatte sie die Absicht gehegt, mit der Stieftochter die heiße Jahreszeit in Baden-Baden zu verbringen, wo sie darauf rechnen konnte, einen größeren Bekanntenkreis zu finden. Unterdessen war sie dem Grafen Trachberg begegnet, der ihr zu verstehen gab, daß er seinen Urlaub gern in ihrer Nähe verleben werde, falls sie allein reise. Die verständige Witwe begriff nach den Andeutungen des Grafen. daß sie zwischen seiner und Bettinas Gesellschaft zu wählen habe. Ohne Schwanken entschloß sie sich für den Gegenstand ihrer Hoffnung und mühte sich nun vergeblich mit der Frage ab: wie schaffe ich mir auf gute Art die Stieftochter vom Halse?

Die Hilfe sollte ihr von einer Seite kommen, von der sie es nicht erwartete. Bettina selbst war infolge der Lieblosigkeit und steten Bevormundung von seiten ihrer Stiefmutter zu dem Entschluß gekommen, Berlin nach einer andern Richtung zu verlassen als diese. Nur war sie noch unsicher, wie sie ihren Plan ausführen könne.

Eines Tages machte sie einen Besuch bei Lisa Horst, deren Mutter seit Jahren tot war. Sie fand die Freundin in großer Erregung und das ganze Haus in Unordnung. „Wir reisen,“ rief ihr Lisa entgegen, „und die ganze Last des Einpackens, die ganze Sorge für die Geschwister ruht auf mir. Wirthschafterin und Magd bleiben hier. Ach, ich wünschte, Du könntest uns begleiten, Betty!“

„Wohin geht Ihr?“

„An die Ostseeküste. Papa hat sich einen ganz einsamen Fleck Erde ausgesucht, ein Lotsendorf, das von Badegästen fast gar nicht und von Touristen noch weniger besucht wird. Er bedarf zur Kräftigung seiner Nerven nicht nur der Seeluft, sondern auch der Ruhe und Stille des Landlebens. Na, das wird schön langweilig werden! O, Betty, wenn Du der Freundschaft ein Opfer bringen, wenn Du auf Baden-Baden verzichten und mit uns ins Land der Flundern ziehen wolltest, das wäre groß, edel, erhaben – – aber freilich, alles in der Welt hat eine Grenze, und keine Menschenseele wird den Muth haben, sich freiwillig monatelang auf eine Sandbank zu setzen.“

Um Bettinas Mund irrte ein leises Lächeln. „Diesen Muth hätte ich schon, Lisa, wenn mich Dein Papa nur mitnehmen wollte.“

[45]

Nach Feierabend.
Nach einem Gemälde von K. Hartmann.


Die Tochter des Sanitätsraths stand einen Augenblick ganz starr vor Ueberraschung da; in der nächsten Minute aber rannte sie wie toll in das Arbeitszimmer ihres Vaters mit dem Alarmruf. „Sie geht mit uns! Sie opfert sich! Sie begleitet uns!“

Horst erschien gleich darauf mit seiner aufgeregten Tochter im Salon, um Bettina zu fragen, ob sie ernstlich gewillt sei, mit an die See zu gehen. Bettina erwiderte, daß sie ihrem Vormund sehr dankbar sein würde, wenn er sie mitnehmen wollte.

„Von Herzen gern,“ antwortete dieser, „allein das Lotsendorf, wohin wir gehen, ist der einsamste Ort der ganzen Küste.“

„Ich bedarf der Einsamkeit.“

„Aber wird Ihre Mama Sie freigeben, liebe Bettina?“

„Im Nothfall sprichst Du ein Machtwort, Papa. Wozu bist Du denn Vormund?“

Der Arzt lächelte über den Eifer seiner entschlossenen Tochter und meinte, Bettina solle erst bitten, und fruchte das nichts, so wolle er am Abend bei Frau Rosita vorsprechen und sie umzustimmen suchen.

Bettina versprach, Botschaft zu senden, und verließ in großer Erregung das Haus. Die Aussicht, mit der Freundin an der See leben zu können, erschien ihr so verlockend, daß sie hätte aufjubeln mögen. Nur die Furcht vor einem Nein der Stiefmutter dämpfte ihre Freude; trotzdem beschloß sie, die Sache gleich zur Entscheidung zu bringen. Bei den ersten Worten hatte Frau Rosita die Bittstellerin mit einem finsteren Blicke gemessen, dann aber, als sie erkannte, um was es sich handle, athmete sie plötzlich auf, ihre Augen leuchteten, ihr Gesicht verklärte sich. Als die Sprecherin zu Ende war, nahm sie wieder eine Leidensmiene an und antwortete im Tone der Klage. „Du weißt, mein liebes Kind, wie gern ich jeden Deiner Wünsche erfülle, soweit dies in meiner Macht steht. Ich werde Deine Gegenwart in Baden schmerzlich vermissen, allein ich begreife vollkommen, daß Du die Gesellschaft einer munteren Jugendfreundin der einer einsamen Witwe vorziehst. Außerdem glaube ich, daß die Seeluft Deine blassen Wangen rascher röthen wird als die des Schwarzwalds. So sage ich denn ‚ja‘ – geh’, mein Kind, und rüste Dich zur Abfahrt! Die Vorkehrungen für die Sicherheit unserer Wohnung treffe ich allein.“

Bettina war gerührt von dieser selbstlosen Willfährigkeit, und als Rosita sie am nächsten Morgen zum Bahnhof brachte, ihr dort eine Purpurrose ins Knopfloch des Mantels steckte und sie der Fürsorge Horsts mit mütterlicher Zärtlichkeit empfahl, wurde das Mädchen irre und warf sich das Unrecht vor, am Herzen dieser Frau gezweifelt zu haben. „Sie mag nervös und launenhaft sein,“ sagte sie sich, „aber sicher liebt sie Dich und ist keine Heuchlerin.^

Frau Rosita blieb auf dem Bahnsteig stehen und winkte den Scheidenden Abschiedsgrüße zu, bis der Zug ihren Blicken entschwunden war, dann aber wandte sie sich rasch mit einem Ausruf der Erleichterung zum Gehen. Am Abend desselben Tages fuhr sie strahlend vor Heiterkeit und freudiger Erwartung dem fernen Baden zu, und als die letzten Häuser Berlins hinter ihr lagen, murmelte sie vor sich hin: „Gott sei Dank, nun bin ich frei! Meine Geduld war nahezu erschöpft!“

*      *      *

Zur selben Zeit hatten die Horsts und Bettina bereits die Küste erreicht und befanden sich seit zwei Stunden an Bord eines kleinen Dampfers, der in flottem Lauf über ein weites Haff hinfuhr. Noch war das offene Meer nicht in Sicht, und Bettinas Auge schweifte über Wiesenflächen und weidende Heerden, über Dörfer und Kirchthürme bis zu blauen, bewaldeten Höben hin; doch schon verspürte sie den frischen Hauch des Meeres, und ihre Brust hob sich erleichterter, ihre Seele wurde freier.

Die Reisenden hatten im Schatten des Leinwanddaches ein recht schmackhaftes Gericht aus der Schiffsküche verzehrt, und als sie beim Kaffee angelangt waren, bat ein Herr um die Erlaubniß, mit seiner Gattin die noch vorhandenen freien Plätze in der Tafelrunde einnehmen zu dürfen. Während das Ehepaar sich niederließ und dem Kellner einen Auftrag gab, erkannten die Freundinnen in dem Fremden einen Schauspieler Namens Ludmiller, den sie im vergangenen Winter als Hamlet bewundert hatten. Zu ihrer Ueberraschung entpuppte sich der Tragöde als ein munterer Plauderer, der sich durch ein Taschenspielerkunststück einführte. Als ihm der Kellner ein etwas klein gerathenes Beefsteak vorsetzte, betrachtete er es von allen Seiten, schüttelte trübe den Kopf und wandte sich an den zwölfjährigen Fredi Horst mit der Bemerkung: „Sie werden dem Wirth nachher bezeugen, junger [46] Herr, daß dies Stück Fleisch zur Sättigung eines Hungrigen nicht ausreichte und daß ich genöthigt war, als Nachtisch Messer und Gabel zu verschlucken.“

Hierauf verspeiste er das Beefsteak, dann nahm er feierlich die Gabel und ließ sie vor Fredis Augen im Schlund verschwinden. Der Knabe war starr und stumm vor Verwunderung. Ludmiller aber zögerte nicht, der Gabel das blanke Messer folgen zu lassen, dann wischte er sich mit der Miene höchster Befriedigung den Mund und sagte zu dem fassungslosen Fredi. „Sollten Sie, junger Herr, jemals gleich mir genöthigt sein, Ihren Hunger mit solch geschmacklosem Futter zu stillen, so rathe ich Ihnen dringend, eine Tasse Kaffee mit Cognac darauf zu setzen, denn diese Dinge sind nicht leicht verdaulich. – Kellner, zwei Tassen Mokka mit Cognac!“

Dieses Kunststückchen bildete die Einleitung zur gegenseitigen Vorstellung und allgemeinen Unterhaltung der Reisegefährten. Lisa konnte dabei die neckische Bemerkung nicht unterdrücken, sie habe Herrn Ludmiller zuletzt als Hamlet gesehen und damals nicht geahnt, daß der finstere Dänenprinz auch Messer verschlucken könne.

„Sie werden sich vielleicht noch erinnern, mein Fräulein, daß dieser Prinz seinem Freund Horatio versichert, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lasse. Nun, solch ein Ding, das zwischen Himmel und Erde herumflattert und die landläufige Schulweisheit in Verwunderung setzt, mag wohl meine Seele sein. In mir regte sich schon früh das Komodiantenblut, ich entlief der Zucht meines Vaters, und da ich beim Theater, für das ich schwärmte, keine Gegenliebe fand, weil ich noch gar zu jung und unscheinbar aussah, so begann ich meine Laufbahn als Clown im Cirkus. Heute aber, da auf diesem ehrwürdigen Haupte der üppige Lockenwald langsam sich lichtet, vollzieht sich in meinem Innern ein wunderlicher, täglich sich erneuernder Kampf, der brauseköpfige, lärmende Clown der Jugendzeit will dem rheumatischen, den Weltfreuden entsagenden und der Altersversorgung beim Hoftheater zustrebenden Charakterspieler nicht das Feld räumen. Die beiden Gegner führen in meinem Innern ein verzweifeltes Ringen aus und darum erscheint mein Betragen oft wunderlich. Ich schwanke zwischen den entgegengesetztesten Stimmungen und bin wie ein verliebtes Mädchen bald ‚himmelhoch jauchzend‘, bald ‚zum Tode betrübt‘.“

Ludmiller hatte diese Erklärung mit erstaunlicher Zungenfertigkeit hervorgesprudelt, nun holte er tief Athem und erkundigte sich nach dem Reiseziel der Horsts. Als man ihm Massow nannte, rief er mit der Miene des Entsetzens seiner Frau zu: „Ludmilla, man ruiniert uns!“

Die Angeredete, eine nicht eben schön, aber klug und thatkräftig aussehende Frau, hatte der überschäumenden Natur ihres Gatten so oft einen Dämpfer aufzusetzen, daß ihre Sprache, nicht recht im Einklang mit ihren energischen Zügen, sich an einen sanften Klang gewöhnt hatte. „Du solltest die Erklärung voraufschicken, lieber Karl,“ sagte die kleine Frau, „daß Deine Worte nicht ernst zu nehmen sind.“

„Nicht ernst? Wo die Verzweiflung aus mir spricht? – Kennen Sie Massow, mein Herr?“

Horst entgegnete kopfschüttelnd, daß ihn nur die Schilderung eines Freundes bewogen habe, den Ort aufzusuchen.

„Nun, dann können Sie freilich nicht ahnen, wie sehr Sie uns berauben,“ fuhr Ludmiller in klagendem Tone fort. „Ich habe im vorigen Jahre Massow besucht und die Bäume jenes Wäldchens gezählt, das die Nordseite des Vorgebirges, des sogenannten ‚Höwts‘, bedeckt. Die Halbinsel, auf der das Lotsendorf liegt, besitzt rund hundertzwanzig Buchen und hundertzwanzig Föhren. Da sich nun bisher in jedem Sommer durchschnittlich zwölf Badegäste in Massow niederließen, so kamen auf jeden Gast zwanzig Schattenbäume. Dies auskömmliche Verhältniß aber wird schrecklich verändert, sobald die Zahl der Badegäste steigt. Ludmilla, uns bleiben nur fünfzehn Bäume, und was vielleicht noch schlimmer ist, uns steht eine Hausse der Flundern und Heringe bevor!“

Das Gelächter der kleinen Reisegesellschaft verstummte, als der Kapitän mit der Bemerkung herzutrat, daß ein von Massow kommendes Segelboot in Sicht sei.

Es war ein starkgebautes Boot, das auf ein Flaggenzeichen des Dampfers herbeigesegelt kam, um die für Kassow bestimmten Fahrgäste und Gepäckstücke mitzunehmen. Ludmiller sprang zuerst in das schwanke Fahrzeug, um den die Schiffstreppe herabsteigenden Damen behilflich zu sein. Allein er überzeugte sich schon beim Empfang seiner Gattin, daß die beiden breitschultrig und breitbeinig im Boot stehenden Lotsen fester standen und fester zugriffen als eine „Landratte“, und so begnügte er sich damit, die Damen zu den Bänken zu geleiten.

Als der Sanitätsrath mit seinen drei Kindern und Bettina neben den Ludmillers Platz genommen hatte, fragte der alte graubärtige Lotse am Steuer nach weiteren Passagieren für Massow.

Ein junger schüchtern aussehender Mensch, der während der Fahrt Lisa und Bettina unablässig mit schmachtenden Blicken angestarrt hatte, rief jetzt hinunter. „Pischel, ist noch Platz?“

Der Mann am Steuer nickte.

„Dann nehmt mich mit. Ich werde über den schmalen Hals zu Fuß nach der Pfarrei gehen.“

Die Lotsen brummten etwas in den Bart, was nicht gerade sehr ermunternd klang, allein sie nahmen auch diesen Reisenden ins Boot und wiesen ihm seinen Platz zwischen den Koffern an. Als der Dampfer den Kurs änderte und mit voller Kraft nordwärts steuerte, setzten die Lotsen ihr Segel um und richteten den Kiel gen Osten. Nach kurzer Zeit gewann das Fahrzeug die offene See und frischer Wind blähte sein Segel, sodaß es in flottem Laufe durch die Wellen schoß. Während Lisa lachend ihre Schwester Lotte umfaßte und beim Anschlagen und Aufspritzen der Wogen einen leisen Angstschrei ausstieß, erhob sich Bettina von der Bank, lehnte sich gegen den Mast und schaute auf die zackigen hohen Küstenränder. Im Licht der Abendsonne flimmerten fernab die Dünen, dann wurden einige glührothe Backsteinhäuschen sichtbar und eine weite grüngoldige Wiesenfläche. „Das ist Massow,“ sagte Ludmiller, „hier gründen wir unsere Ferienkolonie.“

Bettina fühlte bei dieser Nachricht ihr Herz schwellen. Das kleine Stück Land hob sich wie eine Insel aus dem weiten wogenden Meere. Den schmalen langen Dünenstreifen, der es mit der Küste verband, sah man nicht; dem Kenner der Landschaft verrieth er sich durch eine silberne Linie über den grünlich blauen Wogen – die Brandung.

(Fortsetzung folgt.)




Er hat spekuliert!

Mitten in das prickelnde Geräusch einer Tanzpause, in das Tönegewirr von flüsternden Stimmen, rauschenden Schleppen, schwirrenden Fächern, klirrenden Gläsern, dröhnt aus dem Erdgeschoß des Hauses herauf in den festlichen Saal ein dumpfer Knall. Die schwatzenden Gruppen, die wandelnden Paare verstummen, bleiben stehen; die Dame des Hauses mit dem Brillantdiadem im Haar stockt erblassend für einen Augenblick in der lebhaften Unterhaltung, die sie mit den vornehmsten ihrer Gäste führt, dann, sich gewaltsam beherrschend, versucht sie das befremdete Aufhorchen abzulenken und unbefangen das Gespräch weiterzuführen. Aber nicht nur ihre nächste Umgebung hat ihr Erbleichen gesehen, das Zittern bemerkt, welches sie befiel; vergeblich läßt der Sohn des Hauses die Musiker die nächste Tanztour anstimmen; von der weitgeöffneten Saalthür her dringt ein Flüstern anderer Art als das fröhliche, jäh unterbrochene, fliegt von Gruppe zu Gruppe, ein Flüstern voll Entsetzen, voll Mitleid, voll Scham; die Gesellschaft löst sich auf, entflieht mit verlegener Scheu der Stätte, welche eben noch schimmernde Festlust durchrauschte und durch die nun ein Schauer des Grauens geht, ein Hauch des Todes, dem die Dame des Hauses in Ohnmacht erliegt. – Wo ist ihr Gatte? – Auf der Treppe wächst das Flüstern zur lauten Klage, zum Zornesausbruch, zum Fluche … Unten im Komptoir hat er sich erschossen, der Bankerotteur! … Er hat spekuliert!

In der kleinen Provinzstadt geht mit niedergeschlagenen Augen, den Hut tief in die Stirn gedrückt und den Schatten der Häuser trotz des spärlichen Laternenlichts ängstlich suchend, ein

[47] Einsamer durch die Straßen. Da stutzt sein Schritt. Vor einem stattlichen Eckhaus am Markt steht er still. Sein Blick schweift über die breiten Fensterläden, die gerichtlich geschlossen sind, hinauf nach dem Firmenschild und liest bebend dort seinen Namen, den Ehrennamen seines Vaters. Da ringt sich ein gewaltsames Schluchzen vom Herzen empor, ein heißer Thränenstrom quillt ihm aus den Augen, er lehnt verzweifelt Haupt und Arm gegen das Haus, sein Haus, wie es noch kürzlich hieß, gegen die Thür zu seinem Geschäft, das trotz seines blühenden Ganges ihm nicht hatte genügen wollen und das nun den Gläubigern verfallen ist ... Er hat spekuliert!

„Er hat spekuliert!“ – „Spekuliert mit fremdem Geld!“ – „Unser Geld verspekuliert!“ – In wilder Erregung umsteht in einer der Hauptstraßen Berlins eine Menge Volks den Eingang zum Komptoir eines Bankinstituts, dessen Besitzer noch vor kurzem zu den reichsten Vertretern der Finanzwelt zählte und zu dessen Kassen sich jetzt die Gläubiger drängen, um die anvertrauten Kapitalien zurückzuverlangen. Die laute Klage wird zum Verlangen nach Sühne, nach Schutz! –

Die Zeiten sind vorbei, wo nur die kleinen Diebe das strafende Schicksal ereilte. Große politische Parteien haben in Anträgen die Forderungen des ergrimmten Volksgewissens formuliert, wie sie der Eindruck einer ganzen Reihe von schmählichen Bankbrüchen, die in schneller Folge in Berlin sowohl als in anderen deutschen Städten in jüngster Zeit vorgekommen sind, heraufbeschworen. Die Gefahren einer gemeingefährlichen Spekulation sollen mit den Mitteln des Gesetzes bekämpft werden. Aber nicht nur das frevle Thun, die Genußsucht und Verschwendung der betrügerischen Geldverwalter mahnen zu ernster Prüfung der bestehenden Verhältnisse auf dem Gebiete des Geldmarkts – das Schicksal der Tausende, die durch jene ihr Vermögen verloren haben, wendet die Klage auch gegen alle die, welche aus Sucht nach leichtem schnellen Gewinn ihr Geld an Schwindelfirmen zur wilden Spekulation in unsicheren Werthpapieren überließen. Hier kann nicht Staatshilfe, sondern nur die Läuterung der allgemeiueu Moral Hilfe schaffen, und diese Läuterung kann nur durch Aufklärung über die Grenzen von Recht und Unrecht auf dem Gebiete der Geldanlage, nur durch Selbsthilfe und Vorsicht aller verständigen und anständigen Leute erzielt werden. Hierdurch allein kann auch das ins Schwanken gerathene Vertrauen in die glücklicherweise doch noch ihrer Mehrzahl nach tüchtigen Bankinstitute und in die für den Nationalwohlstand unentbehrlichen Berufszwecke derselben wieder befestigt werden.

Spekulation wird es immer geben; jedes geschäftliche Unternehmen beruht auf Vorausberechnung von Faktoren, deren letzte Wirkung sich nur muthmaßen läßt. Die verwerfliche Spekulation an der Börse, das sogenannte Zeit- oder Differenzgeschäft, besteht im Kaufen und Verkaufen von Werthpapieren auf bestimmte kurze Zeittermine, wobei auf die muthmaßlich in diesem Zeitraum eintretenden Kursänderungen und die daraus sich ergebende Differenz zwischen Kaufs- und Verkaufspreis spekuliert wird. Die Anziehungskraft dieses verderblichen Glücksspiels hat in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zugenommen und Kreise ergriffen, welche sonst dem Geschäftsleben gänzlich fern stehen. Der spekulationslustige Privatmann, der nicht selbst an die Börse gehen kann, überläßt einfach dem Bankier seines Vertrauens größere Geldbeträge, sogenannte Depots. Sehen wir einmal zu, was es mit diesen Depots für eine Bewandtniß hat!

Im gewöhnlichen Leben und übrigens auch nach alten Rechtsbegriffen versteht man unter einem „Depositum“ ein hinterlegtes Gut, bei dem der Hinterlegende volles Eigenthum und Verfügungsrecht behält, während der Depositar, derjenige, bei welchem das Gut hinterlegt worden ist, dasselbe in keiner Weise veräußern darf. In unserem modernen Bank- und Börsenwesen hat sich aber dieser klare Begriff zu Gunsten der Spekulation verschoben, und zwar nicht allein durch die Schuld der Banken, sondern auch durch die des Publikums selbst. Für Hinterlegung von 1000 Mark in Papieren wird von Banken der zehnfache Kredit gewährt, um Differenzspekulationen zu machen. Fällt nun der Kurs der nominell gekauften, meist gar nicht wirklich bezogenen 10000 Mark Werthe irgend welcher Art um etwa ein Zehntel, so fordert der das Geschäft vermittelnde Bankier den Kunden auf, sein Depot zu verstärken, und wenn letzterer dazu nicht imstande ist, wird er einfach „exekutiert^, d. h. der Bankier verkauft die nominell für den Kunden angeschafften Papiere wieder und hält sich für den Verlust an das „Depot“ des letzteren, welches damit verschwindet oder auf ein Minimum herabgesetzt wird. Ja, gewisse Bankhäuser kündigen in großen Reklame-Prospekten an, daß sie Papiere bis zu 95 Prozent ihres Werthes beleihen, und das Haus Grosvenor und Company in London sucht die Kunden gar durch Anpreisung seines „Ein-Prozent-Systems“ zu locken, d. h. durch die Versicherung, daß man bei ihm ungünstigen Falls immer nur ein Prozent der Spekulationssumme verlieren könne, während auf der andern Seite unbeschränkte Gewinnaussichten ständen. Vor so gefährlichen Leihgeschäften zum Zweck der Spekulation kann gar nicht genug gewarnt werden. Diese und ähnliche Arten von Spekulations-Depots haben wesentlich mit dazu beigetragen, die ganze Rechtsgrundlage für das Depotgeschäft zu verrücken. Manche Bankiers machen es unmittelbar zur Bedingung, nicht die deponierten Stücke selbst, sondern nur ebensoviel von derselben Art zurückliefern zu müssen, andere verfügen stillschweigend über die hinterlegten Werthe, noch weitere behalten sich sogar ausdrücklich das Recht dazu vor.

Indeß giebt es genug Wege für den soliden, nicht spekulierenden Kapitalisten, sein Vermögen als Depot beim Bankier sicherzustellen. Außer der Reichsbank giebt es eine ausreichende Zahl großer Bankhäuser, welche alle Gewähr für die unberührte Aufbewahrung von Vermögenswerten bieten. Ja, die technischen Einrichtungen sind neuerdings vielfach so vervollkommnet worden, daß die Banken allein ohne Mitwirkung des Eigenthümers das Depot gar nicht herausnehmen können. Auch ist das Zurückbehalten der Coupons, bezw. die Hinterlegung von Mänteln und von Coupons der Werthpapiere an verschiedenen Stellen ein sicheres Mittel des Schutzes. Andere Maßregeln, wie gemeinsame Hinterlegungsstellen für die kleinen Bankiers, sind neuerdings angeregt worden, und es wäre gut, wenn sich mit solchen Mitteln genügende Sicherheit beschaffen ließe, denn auch auf dem Bankgebiet ist die Centralisierung und Monopolisierung in wenigen Händen durchaus nicht wünschenswerth.

Aber nicht nur die Gelegenheit und der verführerische äußere Anreiz durch die übermäßigen, für Spekulationen angebotenen Erleichterungen haben im Zusammenwirken mit dem größeren Hang nach Wohlleben und schnellem Verdienst ohne Arbeit den Anstoß zu den bedenklichen Erscheinungen der neuesten Zeit gegeben, sondern in zweiter Linie hat dazu auch die Entwicklung der wirthschaftlichen und finanziellen Verhältnisse selbst mit beigetragen. Das Leben ist teurer geworden, aber der Zinsfuß ist gesunken, das Kapital brachte weniger Rente, und die in einer längeren Friedensperiode ohne starken Geldbedarf für große industrielle und Verkehrs-Unternehmungen natürliche Bewegung des sinkenden Zinsfußes ist einigermaßen künstlich übertrieben worden. Hat doch Preußen allein im Jahre 1889 für ungefähr eine Milliarde Mark zu 4 und 4½ Prozent verzinsliche Prioritätsobligationen verstaatlichter Eisenbahnen in 3½prozentige umgewandelt! Auch bei städtischen Anleihen seitens der Hypothekeninstitute u. a. ist im Herabdrücken des Zinses des Guten zu viel geschehen. Die Folge davon ist, daß der deutsche Markt schon seit etwa 2 Jahren mit niedrig verzinslichen Papieren übersättigt ist, und 3½prozentige oder 3prozentige Werthe ersten Ranges kaum mehr in größeren Beträgen unterzubringen sind.

Unterdessen hatte sich aber bereits eine Menge besonders kleinerer Kapitalisten, die sich mit einem Zins von 3½ Prozent nicht zufrieden geben wollten, den ihnen in überreichlicher Masse oft mit ganz ungerechtfertigten Lobpreisungen angebotenen ausländischen Werten und zum Theil zweifelhaften oder wenigstens gewagten industriellen Gründungen zugewendet. Und hier trifft auch unsere Hochfinanz der Vorwurf, daß sie, in der Sucht, überhaupt Geschäfte zu machen und Geld zu verdienen, ohne die nöthige Beschränkung und Vorsicht zu viel ausländische Papiere wie Argentinier, Portugiesen etc. dem deutschen Kapitalistenpublikum aufgehalst hat.

Auch in dieser Beziehung sind jedoch Maßregeln zur Selbsthilfe im Werke. In der letzten Zeit haben sich nach englischem und belgischem Vorbild bei uns „Schutzkomitees“ für die Inhaber auswärtiger nothleidender oder gefährdeter Werthe gebildet, für Argentinier, Türken etc., und eine Zusammenfassung und Verallgemeinerung dieser Bestrebungen, wie sie in London in dem „Council of foreign bondholders“ gipfelt, dürfte zu erreichen sein. Ueberhaupt muß der deutsche Kapitalist von vornherein selbst mehr auf seine Interessen sehen und sich darum kümmern, wie [48] sein Geld angelegt und verwendet wird. Nur durch die Gleichgültigkeit des Kapitalistenpublikums, das wohl beweglich klagt, wenn der Schaden da ist, aber vorher sich oft in unbegreiflicher Weise wenig um das Schicksal seines Geldes kümmert, haben so viele große Bankerotte stattfinden, so viele Millionen verloren werden können. Bei vielen Aktienunternehmungen wäre eine regere Nachprüfung durch die Aktionäre zu wünschen; allein trotz aller schlimmen Erfahrungen sieht man noch oft genug kritische Fälle, wo die Betheiligten nicht einmal sich die Mühe geben, in den Generalversammlungen zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen. Und nur durch grenzenlose Vertrauensseligkeit war es auch möglich, daß Hunderte kluger und sich ihrer Verantwortung bewußter Leute bei einer Firma ihr Vermögen in Verwahrung ließen, deren Leiter ein stadtbekannter Spieler und Verschwender war und über deren bedenklichen Zustand schon längere Zeit vor der Katastrophe Gerüchte umliefen.

Der kleine und mittlere Kapitalist, an den sich unsere Worte vornehmlich wenden, sollte überhaupt, und wenn er dabei auch seine Lebenshaltung etwas einschränken und sich manches versagen muß, sein Geld nur in den sichersten Werthen, in deutschen Staats- und Kommunalpapieren, in Pfandbriefen, Prioritäten u. dergl. anlegen. Schon die Industrieaktien bieten zu viel Gefahr, als daß ein vorsichtiger Hausvater wesentliche Theile seines Vermögens darauf setzen sollte. Bei den industriellen Aktiengesellschaften hängt zuviel von der guten Leitung und Aufsicht, aber auch von zufälligen Konjunkturen, Glücks- und Unglücksfällen ab. Nach großen Gewinnen können Perioden der Dividendenlosigkeit folgen, die Kurse auch der zur Zeit bestangesehenen industriellen Aktiengesellschaften sind bedeutenden Schwankungen unterworfen. Wer ruhig schlafen und für seine Familie ehrlich sorgen will, läßt sich nicht auf bedenkliche Wagnisse ein, die sich seiner Prüfung gänzlich entziehen. Das ist oft auch bei den größten Unternehmungen der Fall. So hat sich z. B. der Suez-Kanal außerordentlich gut rentiert und seine Aktionäre haben Hunderte von Millionen gewonnen; die zu 500 Franken ausgegebenen Aktien haben den fünffachen Werth und darüber erreicht. Dieser mächtige Erfolg ließ Herrn von Lesseps bei dem zweiten ähnlichen Werke, dem Panama-Kanal, das Geld in riesigen Massen zuströmen, und was ist das Ende? Der Verlust von einer Milliarde Franken für das französische Nationalvermögen, nachdem die Gesellschaft gänzlich verkracht ist und der Kanal selbst sich als kaum ausführbar erwiesen hat.

Am eindringlichsten ist aber vor dem eigentlichen „Spekulieren“, dem Ankauf von mehr Papieren, als mit dem wirklich vorhandenen Vermögen zu erwerben sind, vor Differenz- und Prämiengeschäften zu warnen. Wer einmal Blut geleckt, läßt nicht mehr davon; der Gewinn entfacht die Sucht nach Mehr und vermindert die Vorsicht, der Verlust reizt zu neuem Wagen, um das Verlorene einzubringen. Und dann kommt häufig das Ende mit Schrecken! Wer hat nicht in seinem Verwandten– oder Bekanntenkreise irgend einen traurigen Fall von verspekuliertem Vermögen, welches oft in jahrelanger saurer Arbeit verdient und erspart war, aufzuweisen, mit seinem Gefolge von Jammer, Elend und Gewissensbissen für die Betroffenen selbst!

Hoffen wir also, daß die Vorkommnisse der jüngsten Zeit vor allen Dingen unser Kapitalistenpublikum, den sorgsamen Hausvater, die meist von Geldsachen noch weniger verstehende Frau und Mutter vorsichtiger und der schweren Verantwortung bewußter gemacht haben; daß alle berufenen und betheiligten Kreise mehr als bisher dazu mitwirken, faule Elemente auszustoßen, den Schwindel aufzudecken; daß überhaupt eine strengere Moral auch in Geldsachen wieder platzgreift und daß bei dem Eingreifen der Gesetzgebung behufs Regelung des Depotwesens, Unterdrückung der Differenzgeschäfte, schärferer Bestrafung der Veruntreuungen und der betrügerischen oder leichtfertigen Konkurse etc. etwas Ersprießliches herauskomme. Dann werden die traurigen und schmachvollen Ereignisse, die am Schluß des letzten Jahres auf weitverzweigte ungesunde Zustände ein grelles Licht fallen ließen, doch unserer Zukunft zum Segen gereichen, dann wird man nicht mehr so oft angesichts einer zertrümmerten Existenz, eines aus zwar bescheidenen, aber doch gesicherten Verhältnissen ins Elend gerathenen Familienvaters die verhängnißvollen Worte hören: „Er hat spekuliert!“ Dr. Otto Ballerstedt.     


Der Blinde und seine gesunden Sinne.

Von Anna Pötsch in der Blindenanstalt zu Leipzig.

Wie verschiedenartig auch die Ansichten sein mögen, die unter dem großen Publikum über Blinde, über deren Fühlen, Können und Wissen verbreitet sind, und wie schwer es gelingen mag, dieselben völlig zu klären, so pflegt doch eine Thatsache von allen leicht begriffen und verstanden zu werden: daß das Gehör des Nichtsehenden sich durch ungewöhnliche Schärfe auszeichnet. Durch das Auge nehmen andere eine Anzahl von Eindrücken und Bildern in sich auf, die uns Blinden nur durch das Gehör oder den Tastsinn zugänglich werden können. Während die Empfindung des Sehenden häufig auf Auge und Ohr zugleich sich stützt, so zwingt uns Blinde die Nothwendigkeit, zunächst das Gehör als den Schlüssel zu benutzen, der uns zum großen Theil die Außenwelt öffnet, als den Untergrund, auf dem sich der Inhalt unserer Erfahrungswelt aufbaut. Was wir nicht durch die Thätigkeit des Ohres wahrzunehmen vermögen, das muß uns in vielen Fällen gänzlich verschlossen bleiben; kein Wunder daher, daß wir durch unausgesetzte Uebung die Leistungsfähigkeit desselben zu erhöhen und nach Kräften auszubeuten bemüht sind!

Wir Blinde vernehmen das Prasseln der Flammen, den singenden Ton des Gaslichts, das Brausen des Gewässers, können uns also vor Beschädigungen hüten, ohne von Fremden erst gewarnt werden zu müssen. Wenn ein Gegenstand unserer Hand entgleitet und auf harten Untergrund aufschlägt, so werden wir ihn weit leichter wieder finden, als wenn er auf einen weichen Teppich fällt, weil wir im ersten Falle durch Vermittlung des Gehörs ungefähr die Stelle errathen, wo das Vermißte liegen muß.

Der nichtsehende Lehrer, dem es vergönnt ist, seine Schicksalsgenossen zu unterrichten, ist zur Erfüllung dieser schönen aber schweren Aufgabe vielfach ebenfalls auf die Zuverlässigkeit seiner Gehörwerkzeuge angewiesen. Durch sie kann er kleine Eigenheiten seiner Schüler entdecken und bekämpfen; so wird er z. B. unruhiges Sitzen, Drehungen des Kopfes, die von manchen kleinen Blinden mit großer Vorliebe fort und fort ausgeführt werden, an dem veränderten bewegteren Klange der Stimme wahrnehmen. Auf gleiche Weise pflegt es ihm nicht zu entgehen, wenn ein Kind, dem noch ein Theil seiner Sehkraft verblieben ist, beim Arbeiten diese statt des Tastsinns in Anwendung bringt und sie dadurch unnöthig schwächt; denn das angestrengte Niederbeugen zum Sehen giebt der Stimme eine gedämpfte Färbung. Sogar Achtsamkeit oder Unaufmerksamkeit wird der blinde Lehrer bei seinen Schülern aus den veränderten Schattierungen des Tones herauslesen können.

Die angeführten Beispiele, die sich verzehnfachen ließen, zeigen genugsam, daß das Gehör die Lichtlosen vor mancherlei Gefahren schützt, ihnen eine gewisse Selbständigkeit verleiht und häufig ihre berufliche Thätigkeit erleichtert. Allein damit ist die große Wichtigkeit, welche dieser Sinn für uns hat, noch bei weitem nicht erschöpft. Wie nämlich der Mangel des Gehörs den Tauben so häufig unzufrieden, mürrisch und mißtrauisch macht, so versöhnt der Besitz desselben den Nichtsehenden in der Regel mit seinem Schicksale und verschönert ihm seine Lichtlosigkeit. Der Gesang der Vögel läßt uns vergessen, daß unser Auge das liebliche Grün des Frühlings nicht erblickt; wenn im milden Sonnenschein, dessen Wärme wir fühlen, die Schwalbe zwitschert, dann zieht lichte Lenzstimmung ein auch in unser Herz. Ein Gelehrter hat einmal mir gegenüber die Aeußerung gethan, es gewähre ihm besonderen Genuß, an schönen Sommerabenden im Freien geschlossenen Auges die Laute der Natur und das allmählich verstummende ferne Treiben der Menschen auf sich wirken zu lassen. Und wirklich, eine sommerliche Abendlandschaft mag dem Sehenden vielleicht mannigfaltiger aber kaum poetischer erscheinen als dem Blinden! Im Gegentheil: dieser wird das wesentlichste Merkmal derselben, den von ihr ausgehenden

[49]

Eine Begegnung im Gebiete der Tuareg.
Nach einer Zeichnung von Alb. Richter.

[50] majestätischen Frieden, voller und reiner empfinden, weil der Anblick seiner Umgebung ihn nicht zerstreut, weil entfernte Laute, obgleich er sie deutlicher als andere vernimmt, ihm so klein und ohnmächtig erscheinen gegenüber dem erhabenen unnennbaren Etwas in der Natur, das seine Seele mit heiligem Schauer berührt. – Aber, so dürfte hier mancher einwenden, was sind jene poetischen Schwärmereien, die vielleicht nur von einzelnen Blinden empfunden werden, im Vergleich zu dem überwältigenden Schauspiele, das sich beim Auf- und Niedergang der Sonne dem Auge des Sehenden als schöne Wirklichkeit darbietet, während jener Abendfriede doch immer etwas Gedachtes, Ungreifbares bleiben wird? Dem antworten wir: wohl ist es wahr, daß der des Augenlichtes Beraubte vieles entbehrt, aber ebenso wahr ist es, daß er dafür alles, was die Natur hör- oder fühlbar zu ihm spricht, mit doppelter Wärme umfaßt und daß er selbst ihre herrlichsten Erscheinungen nicht schmerzlich vermißt, weil Dichterwort und eine reichere Phantasie sie ihm aufs glänzendste zu schildern vermögen.

Ueberhaupt läßt das lebhafte Vorstellungsvermögen, mit welchem die meisten Lichtlosen begabt sind, sie manches erreichen, was ihr Gebrechen ihnen ganz vorzuenthalten scheint. So dürfte es keineswegs allgemein bekannt sein, daß vielen und zwar sogar frühzeitig Erblindeten die Vorstellungen von Licht und Farbe nicht völlig verschlossen sind, da sie sich beide theils in Tönen theils in Formen, also durch Vorstellungen aus ihrer Welt des Hörens und Tastens verkörpert denken. Mir z. B. erscheint, obwohl ich schon im dritten Lebensjahre das Augenlicht und daher auch jede Erinnerung an das wirkliche Aussehen der Farben verloren habe, doch jeder Gegenstand gefärbt, sobald ich ihn betaste. In ähnlicher Weise kann ich nicht umhin, jedem Menschen, je nach dem Klang seiner Stimme, helles oder dunkles, krauses oder schlichtes Haar, blaue oder schwarze Augen anzudichten. Freilich geschieht es nicht selten, daß meine Vorstellungen irrig sind, und es wird mir dann, besonders bei Menschen, niemals leicht, ja hin und wider ganz unmöglich, den Erklärungen Sehender mich unterzuordnen und von meinen Phantasiegebilden zu lassen. Während ich nun für gewöhnlich, wenn ich mir Farben vorstelle, sie zu hören, zu fühlen oder dann und wann auch zu riechen glaube, so kommt es mir merkwürdigerweise im Traume häufig vor, daß ich sie sehe. Es ist dann, als ob sich die kleine, mir noch gebliebene Lichtempfänglichkeit vervielfältigte; sie zeigt mir Bäume, Sträucher, Wiesen – Menschen dagegen nur selten und in verschwommenen Umrissen. Die genannten Dinge erscheinen mir manchmal in milder Färbung, öfter aber von einem grellen blitzähnlichen Feuerstrahl übergossen – zu meinem Entsetzen bin ich nämlich noch imstande, den Blitz wahrzunehmen.

Ferner vermag unsere Phantasie Bildern, die uns von anderen beschrieben werden, vor unserem seelischen Auge feste Gestaltung zu verleihen. Manchem hat es schon ein Lächeln abgenöthigt, wenn er hörte, daß ich mich trotz meiner Blindheit für Malerei interessiere, denn auf den ersten Blick erscheint die Anwesenheit Blinder in kunstgeschichtlichen Vorträgen ebenso widersinnig und nutzlos, als wenn ein vollständig Tauber Musikstücke anhören und bewundern wollte, und man hat mich deshalb vielleicht da und dort jenen Blinden beigezählt, die in falscher Scham über ihr Gebrechen bemüht sind, sich anderen gegenüber sehend zu stellen. Allein wenn ich den Schilderungen von Gemälden oder Bauten mit Aufmerksamkeit folge, so thue ich dies nicht nur, um so Gebieten näher zu treten, die mir sonst ganz verschlossen bleiben würden, sondern auch, um für meine Phantasie neue Anregung zu erhalten. Mit wenigen Blicken überschaut der Sehende ein ihm vorher beschriebenes und dann zur Betrachtung dargereichtes Bild; während es also ihm ein Leichtes ist, sich in die gegebenen Gedanken des Künstlers zu versenken, muß meine Phantasie unablässig selbstschöpferisch thätig sein. Aber sie thut das so gern und zuweilen mit solcher Lebhaftigkeit, daß ich schon öfter den Wunsch hegte, zeichnen zu können, um zu erfahren, ob meine Vorstellungen der Beschaffenheit ihrer Vorbilder entsprachen oder wenigstens nahe kamen.

Unstreitig jedoch bringt der Gehörsinn für den Blinden die schönsten Früchte, wenn in Tönen und Melodien zu seiner Seele gesprochen wird; denn wenn auch die Musik auf alle fühlenden Menschenherzen einen großen Einfluß ausübt, so darf dies doch ganz besonders von dem Blinden gesagt werden, der in ihrem Reiche Trost sucht und findet für anderes, was das karge Leben ihm versagt; er ist wahr – jener Satz: „Allen Blinden ist die Musik viel, vielen ist sie alles.“ Wie sehr zuweilen die Tonkunst das Seelenleben Nichtsehender beherrscht und wie leicht diese geneigt sind, die so empfangenen Eindrücke mit der Wirklichkeit zu vermengen, das möge ein Beispiel beweisen aus dem Leben einer meiner Freundinnen, für die auch die Musik alles war. Diese Freundin hatte ihr schwärmerisches Herz einer Künstlerin zugewendet, durch deren herrlichen Gesang sie zur höchsten Bewunderung hingerissen worden war, die sie aber nicht persönlich kannte. In guter Absicht waren nun Bekannte grausam genug, der Armen den Glauben an die sittliche Tüchtigkeit jener Sängerin, den ihr die musikalische Begeisterung eingegeben hatte, zu zerstören, indem sie ihr deren Leben wahrheitsgemäß schilderten. Unvergeßlich wird mir der Ton bleiben, in dem das junge Mädchen nach jenen Eröffnungen ausrief: „Nun, wenn diese Stimme lügen konnte, dann ist alles Lüge!“

Sollte dieser schmerzliche Aufschrei nur der Ausdruck gewesen sein für eine Enttäuschung, wie sie übertriebener Schwärmerei nicht erspart werden kann? Ich glaube nicht – es handelte sich hier vielmehr um eine tiefgehende Verwechslung von Künstlerin und Kunst, von Person und Stimme, wie sie bei Sehenden nicht vorzukommen pflegt. Einmal war meiner Freundin der Gesang das Höchste, Schönste, was sie auf Erden kannte, und dann hielt auch sie wie alle Blinden die Menschenstimme für ein aufgeschlagenes Buch, in welchem über Menschencharakter und Menschenwerth offen zu lesen ist. So mußte die Enttäuschung sie aufs tiefste treffen.

Bedeutsam ist auch der Abschluß, den das Leben dieses Mädchens fand; in dem Bestreben, Sängerin zu werden, zog sie sich durch allzu eifrige Studien, denen ihr schwacher Körper nicht gewachsen war, ein Lungenleiden zu, an dem sie in jungen Jahren starb. Ihr Ende veranlaßt mich, darauf hinzuweisen, wie viel Mühe musikalisch begabte Blinde daran setzen, um ihr Talent praktisch zu verwerthen. Wer dem einen oder andern zur Erreichung dieses schönen Zieles seine Hilfe leihen kann, der möge es doch ja thun; er wird einem dunklen Menschenleben jenes Licht reiner innerer Befriedigung entzünden, das uns höher steht als das des Auges. So können z. B. Organistenstellen sehr wohl von Nichtsehenden ausgefüllt werden, und es wäre mir zu wünschen, daß diese Ansicht Verbreitung finden möchte. Die große Bedeutung des musikalischen Berufes für die Blinden richtig erkennend, hat der jüngst in England verstorbene blinde Dr. Armitage in edler Fürsorge zu Norwood bei London eine Musikhochschule für seine Schicksalsgenossen ins Leben gerufen. Die treffliche Anstalt, in welcher schon zahlreiche Zöglinge zu tüchtigen Musikern und Klavierstimmern ausgebildet wurden, steht gegenwärtig unter Leitung des blinden Direktors Cambel.

Neben das Gehör, das, wie wir gesehen haben, den größten Einfluß auf den Blinden ausübt, sowohl auf sein Thun als auf sein Gemüthsleben, tritt in zweiter Linie der Tastsinn. Nicht ohne Berechtigung hat man die Fingerspitzen der Lichtlosen ihre Augen genannt; auf dem Tastsinn baut sich wesentlich der Unterricht der Blinden im Lesen und Schreiben auf. Die Möglichkeit des Lesens und Schreibens ist für die Nichtsehenden erst eröffnet worden, als es gelungen war, tastbare Schriftsysteme für sie zu erfinden. Die eigentliche Anregung zum Unterricht der Blinden ist von Frankreich ausgegangen, wo 1784 durch Valentin Hauy das erste Blindeninstitut der Welt in Paris gegründet wurde; die ältesten Blindenschulen Deutschlands sind die zu Berlin und Dresden, welche in den Jahren 1806 und 1809 entstanden, ebenfalls auf Hauys Veranlassung hin. Erst allmählich jedoch kam man auf Schriftsysteme, die auch den Blinden zugänglich waren. In erster Linie sei die Braillesche Punktschrift erwähnt, so benannt nach ihrem blinden Erfinder Louis Braille (geboren 1809, gestorben 1852). Die Buchstaben werden dabei durch 1 bis 6 fühlbare Punkte von wechselnder Stellung wiedergegeben und beim Schreiben mittels eines spitzen Griffels meist auf metallenen Rillentafeln dem Papier eingedrückt. Dieses Schriftsystem, mit welchem Braille 1829 an die Oeffentlichkeit trat, wurde erst fünfzig Jahre später auf dem Blindenlehrerkongreß zu Berlin für die deutsche Sprache eingerichtet. Bis dahin bediente man sich in Blindenschulen hauptsächlich der erhabenen großen lateinischen Buchstaben, in denen die ganze Bibel für Blinde gedruckt ist und die von den letzteren [51] auch in sogenannter Flachschrift geschrieben werden können. Doch ist diese Schreibart für den Nichtsehenden schwieriger zu erlernen als die des Punktsystems und hat außerdem noch den Nachtheil für ihn, daß er das auf solche Weise Geschriebene nicht selbst zu lesen vermag. Aehnlich wie beim Schreiben und Lesen wendet sich die Blindenschule auch im Geographieunterricht vorwiegend an den Tastsinn der Schüler; Städte, Flüsse, Gebirge etc. werden hier auf besonders angefertigten Landkarten durch fühlbare Punkte und Linien veranschaulicht.

Das Tastvermögen befähigt ferner den Nichtsehenden zu Handarbeiten, sogar zu solchen feinerer Art, zu tüchtigen Leistungen besonders auf dem Gebiete der Korbmacherei, Seilerei, Stuhlflechterei und Bürstenbinderei. Doch ragt die Bedeutung dieses Sinnes für ihn weit über das Feld des bloß Nützlichen hinaus.

Schon manchmal konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren, wenn von Sehenden im Tone tiefsten Bedauerns die Behauptung ausgesprochen wurde, daß die armen Blinden doch unmöglich wissen könnten, was schön und häßlich sei. Hier tritt eben der Tastsinn ergänzend ein; ob eine menschliche Gestalt zierlich oder plump, ob eine Form ebenmäßig oder unharmonisch ist, darüber wird der Lichtlose seine fühlenden Finger befragen, und in vielen Fällen wird er ihrem Urtheil Glauben schenken dürfen. Daß der Formensinn bei vielen Blinden scharf ausgeprägt ist, das beweist ihre große Vorliebe für plastische Figuren, Köpfe etc., welch letztere von einzelnen sogar auf Geldstücken richtig erkannt werden. Freilich, soviel ist richtig, daß wir uns über menschliche Schönheit keinen klaren Begriff zu bilden vermögen, da die edlen Verhältnisse eines Antlitzes, der vielgerühmte Glanz der Augen, die Macht des menschlichen Blickes überhaupt außer dem Bereich unserer Wahrnehmung liegen. Doch bedingt das keineswegs, daß der Unterschied von schönen und häßlichen Menschen für uns gar nicht vorhanden ist. In die Klasse der ersteren werden wir vielmehr diejenigen rechnen, denen eine sympathische Stimme, eine zierliche Gestalt, schön geformte Hände, weiches Haar, ein leichter Gang eigen ist, oder die wenigstens einige dieser Merkmale besitzen. Dabei kann es natürlich geschehen, daß infolge der verschiedenartigen Ausgangspunkte unsere Schönheitsbegriffe mit denen Sehender in entschiedenem Widerspruche stehen. Dem Auge des Beschauers kann z. B. ein Stoff farblos und unscheinbar dünken, der vermöge seiner Weichheit das lebhafteste Wohlgefallen unserer tastenden Hand erregt, oder es kann eine melodische, seelenvolle Stimme uns mit größter Bestimmtheit den Glauben an Schönheit da einflößen, wo der Blick des Sehenden das gerade Gegentheil hiervon wahrnimmt. Im übrigen ist die Empfänglichkeit für das Schöne und damit die Freude daran dem Nichtsehenden in keinem geringeren Maße, wenn auch hin und wider auf eine etwas andere Weise verliehen als jedem anderen mit Schönheitssinn begabten Menschen. Das gilt schon von den tausend kleinen Aeußerlichkeiten, die das Menschenleben schmücken und verschönen, es gilt aber noch in weit höherem Grade von jener idealen innerlichen Schönheit, die nur durch das Auge des Geistes, das Fühlen der Seele empfunden werden kann. Denn nicht nur der Tastsinn der Blinden zeichnet sich durch besondere Feinheit und Schärfe aus, sondern überhaupt alles, was man unter dem Worte „Gefühl“ begreift. Den Beweis hierfür liefert ihr meist treffendes Urtheil über die Gesinnungen anderer, der feine Instinkt, mit welchem sie Freundschaft von Heuchelei, wahre Herzlichkeit von Künstelei zu unterscheiden wissen, selbst dann oft, wenn ihnen nur ein geringes Maß von Welterfahrung zur Seite steht. Und alles nun, was wahr, gut und in des Wortes edelster Bedeutung schön ist, wird häufig von ihrem reicheren Seelenleben mit größerer Wärme festgehalten, als von dem des Sehenden, der über dem Blick in die mannigfaltige bunte Außenwelt so leicht den in die stillere Innenwelt versäumt. Es ließe sich noch mancherlei über das Gefühlsleben Blinder bemerken, namentlich darüber, wie es mit seiner von vielen unverstandenen Wärme und Tiefe oft ein ernsteres Verhängniß für das Leben der Lichtlosen bildet als ihr Gebrechen an sich – allein das würde über den Rahmen unserer Aufgabe hinausführen. Diese verlangt vielmehr noch ein kurzes Eingehen auf die Stellung, welche Geschmack und Geruch unter den Sinnen des Blinden einnehmen.

In Bezug auf den Geschmack ist, da wesentliche Abweichungen nicht vorhanden sind, nur wenig zu sagen. Die Annehmlichkeiten, die der Geschmack bietet, werden dem Nichtsehenden durch sein Gebrechen in keinerlei Weise verkürzt, und er wird, wie jeder andre auch, je nach seiner Veranlagung größeren oder geringeren Werth auf sie legen. Manchmal mag der Blinde den zweifelhaften Vortheil haben, daß er eine Speise, die dem Sehenden unappetitlich vorkommt, in seiner Harmlosigkeit mit der größten Gemüthsruhe verzehrt. Aber einmal über einen derartigen Irrthum aufgeklärt, wird er ihn nicht so leicht ein zweites Mal begehen, ja für einzelne Naturen kann eine solche Entdeckung Grund zu bleibendem Argwohn werden. Uns fremde Speisenbestandtheile, besonders wenn sie durch zu große Weichheit oder Fettigkeit ein unangenehmes Gefühl im Munde erzeugen, erregen in uns eine fast allgemeine Abneigung. Daß blinde Kinder äußerst empfänglich sind für Freuden des Gaumens und daß bei ihnen die Frage „Was werden wir essen? was werden wir trinken?“ eine große Rolle spielt, bedarf kaum der Erwähnung, da es ja bei dem sehenden kleinen Volk ebenso zu sein pflegt; merkwürdig und belustigend wirkt nur die fabelhafte Gedächtnißtreue, welche die lichtlosen Kinder in dieser Hinsicht an den Tag legen.

Im Interesse der Blindenwelt sei hier noch auf eine gewisse Unsicherheit hingewiesen, mit welcher sich fast sämmtliche Blinden bei Tisch in großer fremder Gesellschaft bewegen. Schwer zu schneidenden Kuchen von einem feinen platten Glasteller mit einem Löffelchen zu essen, ist für den Nichtsehenden eine wahre Folter, wenn er nicht den Muth findet, sich von seinem Nachbar das Gebäck zerkleinern zu lassen. Wie viel die Sehenden durch freundliches Entgegenkommen zur Erleichterung einer solchen peinlichen Lage beitragen können, ist klar, und doch wird es bei allem Mitleid so vielfach vergessen oder unzart angefaßt.

Was endlich den Geruchsinn des Blinden betrifft, so ist er es vor allem, welcher unsere Freude an der Natur erweitert. Die Düfte der Rose, des Veilchens, des Flieders erregen ein Gefallen wohl in jedem Menschen, aber schwerlich werden sie sonst mit dem gleichen Entzücken begrüßt wie von den Blinden.

Unsere tastende Hand schon vermag ein saftig grünes Blatt von einem welken oder welkenden sehr wohl zu unterscheiden, in noch höherem Grade geschieht das durch den Geruchsinn; daher der bei Nichtsehenden gebräuchliche Ausdruck. „Es riecht grün.“ Wo es im Blindenleben gilt, das Wesen eines Dinges oder irgend einer Masse festzustellen, da kommt es nicht selten vor, daß der Geruch um sein Urtheil befragt wird. Blinde im Naturzustande, also besonders Kinder, pflegen darum eine Sache nicht nur zu befühlen, sondern auch, unbekümmert darum, ob das gerade angebracht ist oder nicht, in möglichst nahe Berührung mit der Nase zu bringen. Aus meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich der Thatsache, daß ich regelmäßig vor dem ersten Besuch in irgend einem Hause anderen und mir die Frage stellte: „Wie wird es dort wohl riechen?“ Um des lieben Anstandes willen muß der Lichtlose lernen, den Gebrauch seines Geruch– und selbst den seines Tastsinnes auf ein gewisses Maß zu beschränken. Da nun hierin ein Verzicht auf mancherlei Wahrnehmungen, also etwas der menschlichen Natur Widerstrebendes liegt, so fällt jener Zwang vielen nicht leicht. Der Sehende sollte indessen, anstatt in dem unzeitigen Umhertasten einzelner kurzweg eine üble Angewohnheit zu erblicken, rücksichtsvoll bedenken, daß wir nur auf diesem Wege uns zurechtzufinden vermögen. –

Damit bin ich am Ziele meiner Aufgabe angelangt, und ich möchte zum Schlusse nur noch einem Mißverständniß vorbeugen, das diese Zeilen da oder dort hervorrufen könnten. In dankbarer Freude über das, was ein gütiges Geschick uns gelassen hat, über den Ersatz, den es uns durch Schärfung unserer gesunden Sinne in mancher Beziehung gewährt, sind diese Schilderungen entstanden. Darüber darf der Leser aber nicht das eine vergessen, daß das Geschick zwar viel uns ließ, aber auch viel nahm, daß trotz der Schärfe unserer gesunden Sinne die Blindheit niemals aufhört, ein Unglück für uns zu sein. Der Mangel des Augenlichtes umgiebt uns mit tausend Schranken, erschwert unser Arbeiten und läßt uns die Abhängigkeit von anderen oft in recht schmerzlicher Weise empfinden. Was jene Schranken, wenn auch nicht aufheben, so doch weiter hinausrücken, jene Schwierigkeiten erleichtern, die Schmerzen mindern kann, das zu untersuchen und das Erprobte durchführen zu helfen, ist Sache jedes echten Menschenfreundes.


[52]

Die Farbe der Gewässer.

Von Carl Vogt.

Großpapa!“ fragten die beiden Enkelinnen wie mit einem Munde, „Großpapa, werden wir, wenn wir nach Genf gehen, über den blauen See fahren?“

Unser Aufenthalt in Salvan, einem reizenden Dorfe des Kantons Wallis, etwa tausend Meter über dem Meeresspiegel, nahte seinem Ende. Die Rückfahrt war lebhaft besprochen worden und beschäftigte fast ausschließlich die Einbildungskraft der Kinder. Des Fragens war kein Ende.

„Wir werden über den blauen See fahren,“ sagte ich. „Zuerst steigen wir hinab zur Station. Die Großmama und ich fahren im Wagen, Ihr anderen geht zu Fuß. Dann steigen wir alle in die Eisenbahn und fahren an den See. Das Dampfschiff ist schon da, und sobald wir eingestiegen sind …“

„Großpapa!“ unterbricht die andere, „warum ist der See so blau?“

Ich mag ziemlich verdutzt ausgesehen haben bei dieser Frage. Wenn ein Narr mehr fragen kann, als zehn Weise beantworten können, so kann ein Kind mehr fragen, als hundert Großväter beantworten können. Mit einer ausweichenden Antwort aber, etwa wie die: „Er ist blau, weil er nicht gelb ist, wie die Oder bei Euch,“ wäre meinen Enkelinnen nicht gedient gewesen.

Je einfacher eine Naturerscheinung auf den ersten Blick scheint, desto verwickelter ist sie in der That. Das ist ein alter Satz; aber man thut immerhin gut, darauf aufmerksam zu machen, daß es keine einheitliche Erscheinung in der Natur giebt, daß alles, was irgend sich ereignet oder von unseren Sinnen aufgefaßt wird, nur ein Ergebniß der verschiedensten, oft sogar einander entgegenstrebenden Kräfte und Ursachen ist, die wir nicht allein durch die Beobachtung auffassen, sondern auch durch den Versuch auseinanderlösen müssen, wenn wir wirklich zu einem Schlusse kommen wollen, der Hand und Fuß hat. Daß der Genfersee blau ist, kann jedermann sehen, und die meisten nehmen diese Thatsache als eine höchst einfache und selbstverständliche hin, ohne weiter über die Ursache dieser blauen Farbe zu grübeln; wenn aber ein Kind in seiner naiven Unbefangenheit nach dem Grunde dieser Färbung fragt, die ihm aufgefallen ist, weil die Gewässer seiner Heimath eine solche nicht zeigen, so taucht vor dem Bewußtsein des Kenners eine fast unübersehbare Menge von Problemen aus dem Gebiete der Optik auf, welche die schwierigsten Gesetze und ausgebreitete Kenntnisse in Anspruch nehmen und über welche nicht nur Mathematiker und Physiker, sondern auch Forscher aller Art, Künstler und Dichter sich die Köpfe zerbrochen haben, ohne überall zu bestimmten Lösungen gelangt zu sein. Wie nun einem Kinde einige Begriffe beibringen, die eine seiner Fassungskraft angemessene Antwort auf die gestellte Frage geben?

Ich war im Begriffe, ein kleines Aquarell zusammenzutuschen, als die Kinder ihre neugierige Frage stellten. Warum sollte ich nicht die Muse der Kunst zu Hilfe rufen? Ein großes Cylinderglas, etwa ein Liter haltend, stand auf dem Tische, gefüllt mit dem herrlichen Wasser, das in Salvan aus den Dachschiefern hervorsprudelt, frisch und kühl, krystallhell und sogar fast chemisch rein.

„Seht Euch einmal das Wasser im Glase an,“ sage ich. „Welche Farbe hat es?“

„Ich sehe keine Farbe,“ meint die eine. – „Es ist roth,“ ruft die andere.

„Aber das kommt ja von den Blumen, die dahinter stehen!“ sagt Anny wieder. „Komm einmal hierher, an meinen Platz, da sieht es nicht roth aus!“

Lili läuft um den Tisch herum und bestätigt, halb ärgerlich, daß das Wasser nicht roth ist. Sie hat vielleicht Anlage, ein Lessing zu werden, den es ärgerte, daß der Frühling stets grün und nicht zur Abwechslung zuweilen roth sei.

„Nicht wahr, Großpapa, das Wasser hat keine Farbe?“

„Doch, liebes Kind. Es ist blau, aber so wenig, daß Du es nicht sehen kannst.“

„Kannst Du denn sehen, daß es blau ist?“

„Ich auch nicht. Aber es ist doch blau. Gieb einmal acht!“ Ich nehme mit der Pinselspitze eine kleine Menge Ultramarin auf und mische sie mit dem Wasser. „Sieht es nun blau aus?"

„Nein! Ich sehe nichts!“

„Ich auch nicht. Aber Du hast doch gesehen, wie ich mit dem Pinsel ein wenig blaue Farbe hinein gethan habe?“

„Ja! Aber es war zu wenig! Thu mehr hinein!“

Ich nehme stillschweigend das Glas und stelle es auf ein weißes Papier in die helle Sonne. „So! Nun sieh einmal von oben hinein!“

„Es ist blau!“ ruft die Kleine, in die Hände klatschend. „Aber nur ganz wenig.“

„Betrachte es auch von der Seite, jetzt, wo die Sonne hineinscheint! Ist es nicht ein bißchen röthlich wie die Glockenblumen, die Ihr gestern gepflückt habt?“

„Das ist doch sonderbar,“ sagt die Kleine. „Von oben ist es blau, in der Sonne ein bißchen röthlich, und wenn man es von der Seite her im Zimmer anguckt, sieht man gar nichts!“

„Denke einmal ein bißchen nach! Das Glas ist so breit wie mein Finger lang ist. Es ist aber wenigstens dreimal so hoch als mein Finger. Wenn Du es von der Seite ansiehst, siehst Du nur durch einen Finger lang Wasser, wenn Du aber von oben hineinschaust, siehst Du durch drei Finger lang Wasser, dreimal mehr! Von der Seite siehst Du einmal blau, von oben dreimal blau! Nicht?“

„Ist das auch wirklich wahr?“ sagt die Kleine und mißt mit ihren Fingern nach. Sie nickt befriedigt.

„Nun stelle Dir einmal vor, das Glas wäre so hoch wie der Kirchthurm oder noch höher, daß es von hier oben in Salvan bis hinunter nach Vernayaz reichte! Dann würdest Du von oben her das Wasser ganz blau sehen!“

„Ist der See denn wirklich so tief?“

„Freilich! Noch tiefer!“

Doch ich will die Unterhaltung nicht weiter fortsetzen. Sie endete schließlich damit, daß verschiedene, sehr einfache Versuche, zuerst mit verschieden gefärbten Steinchen, die ich in das Glas fallen ließ, dann auf die Weise angestellt wurden, daß ich das Glas mit seinem schwach bläulichen Inhalte auf verschieden gefärbte Papiere stellte und den Kleinen begreiflich zu machen suchte, wie die Farben sich veränderten, wenn sie durch die ganze Höhe des Glases betrachtet würden. Daß die Kleinen zu vollständigem Verständniß durchgedrungen seien, will ich nicht behaupten; sie blieben wohl bei dem Satze stehen, daß das Wasser blau sei, unendlich schwach blau, und daß die blaue Farbe erst dann gesehen werde, wenn man in eine gewisse Tiefe schaue.

Zu dieser Erkenntniß sind die Physiker erst durch einen Versuch von Bunsen gelangt, der in eine mit destilliertem Wasser gefüllte Röhre ein Stück weißes Porzellan fallen ließ und sich überzeugte, daß das untersinkende Stück um so blauer erschien, je tiefer es gelangte. Bunsen hatte natürlich Vorsorge getroffen, daß in seine Röhre nur weißes, von der Zimmerdecke zurückgeworfenes Licht einfallen konnte, nicht das blaue Licht vom Himmelsgewölbe. Der Versuch ist in mannigfaltiger Weise verändert, handlicher gemacht worden, aber stets hat er dasselbe Ergebniß geliefert, und heute steht es als wissenschaftliche Wahrheit fest, daß chemisch reines Wasser, das gar keine anderen Bestandtheile, weder aufgelöste noch aufgeschwemmte, enthält, eine prachtvolle, rein blaue Farbe hat.

Aber solches Wasser giebt es in der Natur nicht, denn das Regenwasser, das doch destilliertes, aus dem Meere und überall her verdunstetes Wasser ist, welches in der Gestalt von Wolken fortgeführt und in Tropfen niedergeschlagen wurde, selbst dieses Regenwasser enthält einige aufgelöste Substanzen und noch mehr mikroskopisch kleine Körperchen, die in der Luft schweben und die der Tropfen im Falle mit sich reißt.

Indessen man kann sich trösten, wenigstens hinsichtlich der aufgelösten Stoffe, an denen das Meerwasser z. B. so reich ist. Alle im Meerwasser gelösten Salze, das Kochsalz voran, sind farblos im krystallisierten Zustande und beeinträchtigen somit die Farbe des Meerwassers nicht im mindesten. Schiffer und Matrosen, obgleich in dieser Beziehung durchaus ungebildet und kenntnißlos, wissen sehr wohl, daß sie von der Küste abfahrend, nach einiger Zeit in das reine, „das blaue Wasser“ gelangen und dann über Tiefen schwimmen, bis zu deren Grund sie ihre Anker nicht hinablassen können.

[53] Aber ich sagte oben, daß jede Erscheinung in der Natur eine höchst verwickelte Sache sei, von vielerlei Ursachen und Bedingungen abhänge. So geht es auch mit der Färbung größerer Wassermassen, namentlich der Seen und Meere, die ja, wie man weiß, in ihren Nuancen sehr verschieden ist. Es möge gestattet sein, hier auf einige Verhältnisse einzugehen, die auf die Hervorbringung der Gesammtwirkung ihren Einfluß üben.

Eine ruhige Wasserfläche bildet stets einen Spiegel, der diejenigen Farben des Horizontes wiederstrahlt, welche unter demselben Winkel auf die Fläche einfallen, unter welchem das Auge zu dem horizontalen Spiegel steht. Befinde ich mich am Strande des ruhigen Meeres, des stillen Sees, so strahlt das Wasser in den Farben des Horizontes. In einer umwaldeten Bucht sehe ich tiefes Grün; auf der weiten Fläche bei Sonnenuntergang die lebhaftesten gelben und rothen Farben, bei senkrechter Betrachtung von dem Boote aus das Blaue des Himmels über meinem Kopfe.

Diese Reflexfarben beschäftigen den Physiker am wenigsten, weil er weiß, daß jede spiegelnde Fläche sie wiedergiebt; – sie beschäftigen im Gegentheile den Maler am meisten, ja fast ausschließlich. Sie machen die Stimmung seiner Landschaft; sie beleben die sonst einförmige, tote Fläche, und er sowohl wie der Beschauer des Bildes empfängt großentheils nur ihren Eindruck. Es sind meist die Farben des tiefen Horizontes, denn der Standpunkt des Beschauers ist ja meist nur wenige Meter über den Wasserspiegel erhaben.

So bei glattem Spiegel. Allein die Scene verändert sich schon bei geringer Bewegung. Das Meer ist nur höchst selten ganz ruhig. Die Wellen aber bilden Hügel und Thäler, ihre Flächen sind mehr oder minder geneigt und strahlen dann nicht den Horizont mit seinen abgetönten Farben, sondern die mehr gesättigten Tinten des Zenithes wieder. Wer das Mittelländische Meer oder den Genfersee bei einem wolkenlosen Sonnenuntergange und leichtem Wellenspiel gesehen hat, wird sich erinnern, daß die in brennend gelben und rothen Farben glühenden Flächen unterbrochen sind von scharfen, tiefblauen Schmitzenlinien – das sind die Wellenthäler, die infolge ihrer schiefen Neigung die tiefblauen Farben des Himmels im Zenith dem Auge zuwerfen.

Rosa Sucher.
Nach einer Photographie von J. C. Schaarwächter, Hofphotograph in Berlin.


Doch damit ist es nicht genug. Bei glatter Spiegelfläche und niederem Standpunkte erhält das Auge fast nur die von der Fläche reflektierten Strahlen, aber durch die geneigten Theile der Wellenthäler dringt der Blick in die Wassermase selbst ein, er gewahrt somit die eigenthümliche Farbe des Wassers, und diese um so gesättigter, je senkrechter die kleine Fläche des Wellenthales zu dem Auge steht. Sind die Wellen sehr kurz, folgen sie sich rasch, so kann dieser Eindruck der Wasserfarbe sogar denjenigen der Spiegelung überwältigen. Davon kann ich mich täglich überzeugen.

Die Fenster auf der Westfront meines Hauses liegen der Arve gegenüber, welche hier durch ein Wehr gequert ist, das einen Fall von etwa einem Meter Höhe hat. Ueber dem Wehre ist der im Sommer graugelb, im Winter grün gefärbte Gletscherstrom vollkommen glatt, und von meinen Fenstern, die etwa sechs Meter über dem Flusse gelegen sind, sehe ich fast nur die Spiegelfarben, immerhin etwas gemischt mit der eigenthümlichen Wasserfarbe, die besonders dann stärker hervortritt, wenn der Himmel bedeckt ist und sein grelles Licht nicht, wie die Maler zu sagen pflegen, die sanfteren Töne „frißt“. Aber unterhalb des Wehres ist das Wasser in lebhafter Bewegung mit unendlich kleinen, rasch aufeinander folgenden Wellenkräuselungen, und hier tritt die grüne Färbung lebhaft hervor, so daß die Spiegelung fast gänzlich verschwindet.

Noch ein anderer Umstand tritt durch die Bewegung hinzu. Nur bei vollkommen glatter Spiegelfläche sind auch die Umrißlinien der gespiegelten Gegenstände durchaus voll und scharf; die Spiegelung ist dann so vollständig, daß man oft nicht weiß, ob man den wirklichen Gegenstand oder nur dessen Spiegelbild auf der Wasserfläche sieht und die Grenze zwischen Wasser und Ufer sich gänzlich verwischt. Die geringste Bewegung läßt die Umrisse des Spiegelbildes gezackt erscheinen; hellere Linien vom Horizonte greifen in die dunkleren Farben des Spiegelbildes ein, aber auch Zacken von diesem springen über die Linien hinaus, welche die Umrisse haben sollten. Diese Erscheinung ist so gewöhnlich, daß man auf Farbenbildern, wie auf nur in schwarzer Manier gemachten Blättern die Spiegelbilder im Wasser stets mit gezackten Rändern ausstattet. Ich zweifle nicht daran, daß dieser Erscheinung ein ähnliches Verhältniß zu Grunde liegt, wie der von Colladon zuerst beobachteten und jetzt vielfach benutzten Thatsache, daß das bewegte Wasser die Lichtstrahlen mit sich reißt. Ein Wasserstrahl, der durch eine dunkle Röhre aus einem erleuchteten Recipienten ausströmt, reißt das Licht, mag es nun weiß oder farbig sein, mit sich und leuchtet – warum sollten bewegte Wellen nicht dieselbe Wirkung äußern?

Doch genug von diesen malerischen Eindrücken, die, wie gesagt, von den Physikern bei Seite geschoben werden, aber dennoch von höchster Bedeutung für den einfachen Beschauer wie den Künstler sind und, wie aus unserer Darstellung hervorgehen mag, immerhin aus verschiedenen Faktoren zusammengesetzt sind, unter welchen, neben der Spiegelung, auch die eigene Farbe des Wassers in Betracht kommt.

Gehen wir auf diese näher ein!

Reines oder farblose Salze in Auflösung enthaltendes Wasser ist also schön blau und vollkommen durchsichtig, wenigstens bis auf eine gewisse Tiefe.

Es ist daher klar, daß zu der Farbe aller bis in diese Tiefe sichtbaren, mithin Lichtstrahlen zurückwerfenden Gegenstände unter dem Wasser sich blauer Schimmer beigesellen wird, um so intensiver, je größer die Tiefe ist, in welcher der Gegenstand liegt. Die Kiesel am Strande eines Sees oder des Meeres werden durch das blaue Wasser gesehen wie durch eine blaue Glasscheibe, und da fast alle Strandgebilde, mit geringen Ausnahmen, eine gelbliche Färbung zeigen, so werden sie mehr oder minder grünlich schimmern und das Wasser also am Strande grün erscheinen.

[54] Ich lasse hier ganz die physikalischen Deduktionen über die Natur der Farbe selbst bei Seite. Wir wissen ja, daß diese nicht, wie man früher glaubte, eine den Körpern anhaftende Eigenschaft ist, sondern daß ein durchsichtiger Körper, wie z. B. das Wasser, deshalb eine bestimmte Farbe zeigt, weil er die so gefärbten Lichtstrahlen durchläßt, die andern aber nicht, und daß ein fester Körper die farbigen Strahlen, welche wir empfinden, zurückwirft, die andern aber gewissermaßen verschluckt. Für unsere Betrachtung ist diese Anschauung über das Wesen der Farbe nicht von sehr großer Bedeutung.

Blaues Wasser nimmt also eine andere Nuance an, wenn die auf dem Grunde liegenden Gegenstände hindurchschimmern, und dieser gemischte Farbenton wird von der Farbe des Bodens abhängen. Man kann sich davon leicht überzeugen durch die oben erwähnten einfachen Versuche mit blau gefärbtem Wasser in einem Cylinderglase. Weiße Körper, wie z. B. Porzellanstücke, erscheinen lichtblau, gelbe grün, rothe violett, und je tiefer sie sinken, desto mehr wird dieser Schimmer von der Bläue übertäubt und schließlich gänzlich verzehrt. Die rothen Farbentöne verschwinden vor allen anderen.

Ganz gewiß aber ist die Tiefe, aus welcher noch ein Schimmer der Bodenfarbe heraufdringt, keine geringe und kann unter günstigen Umständen auf mehrere hundert Meter angeschlagen werden. Indessen die Frage ist eine weitschichtige, und wir werden sie erst dann wieder ins Auge fassen können, wenn wir gerade die mehr oder minder günstigen Umstände, die ich oben erwähnte, einer genaueren Prüfung unterworfen haben werden.

Ich sagte schon: reines Wasser giebt es nicht in der Natur. Stets wird es aufgelöste oder aufgeschwemmte Stoffe enthalten, welche seine Farbe verändern.

Torfwasser enthalten gelbe, braune und schwärzliche organische Stoffe in Auflösung. Sie können vollkommen klar und durchsichtig sein; nichtsdestoweniger wird die Farbe, welche die Humussäuren und ähnliche Substanzen ihnen verleihen, stets einen bedeutenden Einfluß äußern und dies um so mehr, da ja auch der Boden der Torfseen eine dunkelbraune oder schwarze Farbe besitzt. Man hat auch behauptet, daß das filtrierte Wasser von blauen Seen beim Abdampfen einen weißen oder hellgrauen, dasjenige von grünen Seen bei gleicher Behandlung einen gelblichen Rückstand hinterlasse, daß also blaue Seen weiße Stoffe, grüne dagegen gelbe Stoffe in Auflösung enthalten, deren Farbe mit derjenigen des Wassers eine Mischfarbe erzeuge. Man hat namentlich aus diesem Umstande den Unterschied zwischen der Farbe des Genfersees und derjenigen des Bodensees erklären wollen; aber die Ergebnisse dieser Versuche sind lebhaft bestritten worden, so daß für manche Zweifel Raum bleibt.

Sei dem, wie ihm wolle, soviel ist sicher, daß alles in der Natur vorkommende Wasser niemals vollkommen klar und durchsichtig, sondern mehr oder minder trübe ist durch die darin aufgeschwemmten Stoffe. Daß diese Trübung mehr oder minder bedeutend sein, daß man also auf größere oder geringere Tiefen hinein Gegenstände unterscheiden kann, die in dem Wasser schwimmen wie z. B. Fische, oder die am Boden liegen, lehren sowohl die tägliche Erfahrung als Versuche, die man in der Weise angestellt hat, daß man bei Sonnenlicht oder trübem Himmel in verschiedenen Jahreszeiten entweder feste Körper, wie Porzellanscheiben oder selbst Lichtquellen, brennende Lampen und elektrische Glühlichter, in das Wasser versenkt und dabei die Tiefe aufgezeichnet hat, in welcher sie noch einen erkennbaren Schimmer wahrnehmen ließen. Man kann bedauern, daß diese wie andere auf das Eindringen des Lichtes bezüglichen Versuche nur in nicht ganz hellen Gewässern, wie in einigen Schweizerseen und im Mittelmeere, nicht aber an andern Orten angestellt worden sind. Wer jemals an den Küsten Norwegens gereist ist, wird erstaunt gewesen sein über die Durchsichtigkeit des Wassers in manchen Fjorden; man behauptet sogar, daß in einigen nordamerikanischen Seen der Blick bis auf mehrere hundert Meter Tiefe Gegenstände am Boden erkennen könne. Von solchen Tiefen kann weder im Genfersee noch im Mittelmeer die Rede sein. Im Winter ist das Wasser des Genfersees durchsichtiger als im Sommer; aber hier sowohl wie in den bis jetzt untersuchten Meeren mag die äußerste Grenze der Sichtbarkeit etwa in 45 bis höchstens 50 Metern Tiefe liegen. Beobachtungen im Taucherapparate haben gezeigt, daß man dort wie in einen blauen Nebel und in wagrechter Richtung nur auf 7 bis 8 Meter Entfernung sieht, bloß in Ausnahmefällen bis auf 20, höchstens 25 Meter Entfernung. Aber freilich kann der sehende Mensch mit dem Apparate nur bis in eine Tiefe von 30 Metern tauchen und immerhin, wenn er auch nicht deutlich sieht, ist er von diffusem Licht umflossen.

Das Licht von oben muß also tiefer eindringen. Man ist der Frage auf mittelbarem Wege näher gekommen, indem man sehr empfindliche photographische Platten in das Wasser senkte, die man in bestimmter Tiefe dem Lichte öffnete, oder indem man gewisse Substanzen einsenkte, die durch das Licht chemisch verändert und zersetzt werden, so daß das Maß dieser Zersetzung zugleich das Maß der Stärke des einwirkenden Lichtes gab. Die photographischen Versuche zeigten, daß eine Tiefe von 400 Metern in dem Mittelmeere im allgemeinen die Grenze sei, in welcher noch eine Schwärzung der Platte wahrgenommen werden konnte.

Also dringt das Licht bis in eine etwa zehnmal größere Tiefe ein, als unser Auge, und das ist ein wesentlicher Punkt – eine ganze Zone von 300 Metern Mächtigkeit empfängt noch Licht, sendet also auch Lichtstrahlen nach oben, die unser Auge zwar nicht unmittelbar empfindet, aller Wahrscheinlichkeit nach aber mittelbar durch die Mischung der Farbentöne wahrnimmt, welche sie erzeugen. Man weiß ja, daß in dieser Beziehung die Augen der einzelnen Menschen, auch abgesehen von der Blindheit derselben für einzelne Farben, wesentlich voneinander abweichen und daß unser so unvollkommenes Sehinstrument außerordentlich in Beziehung auf Auffassung der feineren Farbentöne geübt werden kann. Ich habe einmal in Begleitung von Malern die Fabrik der Gobelins in Paris besucht; die Arbeiter unterschieden zweifellos und mit Leichtigkeit Farbentöne, welche unsere, doch auch nicht ungeübten Augen für vollkommen identisch ansehen mußten. Es muß also, um darauf zurückzukommen, aus jener Tiefe noch Licht herauf an die Oberfläche strahlen, Licht von bläulicher Farbe, die freilich auf unser Auge einen weit geringeren Eindruck macht als die sogenannten warmen Farben, gelb und roth, welche von dem Wasser – namentlich die letztere – verschluckt werden.

Man glaubte bisher, daß in noch größeren Tiefen, bei tausend Metern und mehr, gänzliche Finsterniß herrsche, daß man also sämmtliche Farben des tiefen Wassers wie auf schwarzem Grunde sehe.

Allein infolge der neueren Tiefseeforschungen hat man diese Ansicht ebenso aufgeben müssen wie die früher herrschende, daß in großen Tiefen kein Thierleben bestehe. Die meisten in dunklen Grotten lebenden Thiere haben verkümmerte oder gar keine Augen; man findet aber auch an der Oberfläche der Erde lebende Thiere, die sich an dunklen Orten, in der Erde etc. verbergen, welche blind sind. Aehnlich verhält es sich in den großen Tiefen; es giebt dort blinde Krebsthiere, die wahrscheinlich im Schlamm und unter Steinen leben, jedoch die andern, beweglichen Thiere, die Fische, haben große, wohlgebildete Augen. Sie müssen also sehen, mit anderen Worten, es muß dort unten Licht vorhanden sein. Ob dieses Licht in dem Abgrunde selbst erzeugt wird, durch die phosphorescierenden Leuchtorgane, welche viele dieser Thiere, selbst Fische besitzen, ob es von oben hereindringt, wie vielleicht aus dem Umstande geschlossen werden konnte, daß manche dieser Tiefseethiere, welche ihre Organisation zwingt, auf dem Boden zu kriechen, gelbe und rothe Farben auf ihrem Rücken zeigen, ist für unsere Untersuchungen vollkommen gleichgültig; wir müssen nur zu dem nothwendigen Schlusse gelangen, daß wir die Farben des Wassers nicht auf dunklem, schwarzem, sondern auf einem, wenn auch schwach beleuchteten Grunde sehen. Diese Entscheidung ist auch um deswillen wichtig, weil dann die im Wasser aufgeschwemmten Theilchen nicht nur von oben, sondern auch von unten her beleuchtet sind.

Von der Wirkung der gröberen Aufschwemmungen an Sand und Schlamm kann man sich leicht durch die Beobachtung überzeugen, ebenso wie von der Thatsache, daß die Färbung der Wassermassen großenteils von der Farbe dieser gröberen Aufschwemmungen abhängt. Die vor meinem Fenster strömende Arve ist im Sommer graugelb, undurchsichtig, nach stärkeren Regengüssen noch stärker gelb gefärbt; im Winter dagegen ist sie grün, durchsichtiger und wird um so grüner und heller, je weniger Wasser sie führt: leicht erklärliche Verhältnisse, die einer meiner Schüler durch Beobachtungen, welche ein ganzes Jahr hindurch fortgesetzt wurden, näher begründet hat. Im Sommer führt die Arve mit dem Gletscherwasser aufgeschwemmte, zerriebene Gebirgsmasse von graugelblicher Farbe in großen Mengen; bei Regengüssen gesellt sich dazu gelbe Schlammmasse, die aus den [55] Ufergeländen zugeführt wird; im Winter ist die Menge des den Gletschern entstammenden Geschwemmes nur gering und die blaue Farbe des Wassers bricht in der grünen Mischfarbe durch. Jeder Gletscherbach hat seine eigene, von den zerriebenen Gebirgsmassen stammende Farbe; man unterscheidet nicht ohne Grund bei Zweilütschinen im Berner Oberlande die beiden Flüsse, die sich dort einigen, als „schwarze“ und „weiße“ Lütschine: die eine bringt zerriebenen, weißen Kalk, die andere Schmirgel von zermalmten dunklen Schiefern.

Wie ungemein kräftig die durch die aufgeschwemmten Stoffe erzeugten Mischfarben auftreten können, zeigte mir eine Beobachtung, welche ich Ende Dezember 1889 in Nizza machte. Während einiger Tage war das Wetter schön, das Meer, das ich von meinem Fenster aus bis zu dem etwa 15 Kilometer entfernten Cap von Antibes beherrschte, wunderbar blau gewesen. Nun gingen schwere Gewitter mit wolkenbruchartigem Regen in den Gebirgen des Var nieder. Der Fluß, der in 6 Kilometern Entfernung von meiner Wohnung mündet, wälzte beträchtliche Wassermassen von gesättigter Ockerfarbe in das Meer, und man sah deutlich die scharfe Wellengrenze zwischen der lehmgelben Zunge, die stets weiter in das Meer hinein leckte, und dem tiefblauen Salzwasser. Aber nur wenige Stunden. Dann umsäumte sich die Zunge mit einem stets breiter werdenden grünen Bande, so grell, so giftig grün, daß ich zur Anfertigung einer Studie, auf welcher ich die Erscheinung so treu als möglich festzuhalten suchte, meinen ganzen Vorrath von Deckgrün (Vert Paul Véronèse) verwenden mußte. Unter dem Einfluß des Westwindes leckte die Zunge weiter, an dem Felsufer hinter dem Hafen von Nizza herum gegen die Bucht von Villafranca hin, und als ich diese am folgenden Tage besuchte, erschien das Wasser nicht wie gewöhnlich tief stahlblau, sondern grün, gesättigt grün, und der Fischer der dortigen zoologischen Station klagte, es seien keine schwimmenden Seethiere zu finden, sie müßten sich vor dem grünen Wasser zurückgezogen haben. Erst nach einigen Tagen nahm das Blau wieder überhand.

Die grüne Mischfarbe war durch die feineren aufgeschwemmten gelben Lehmtheilchen erzeugt – das gröbere Geschwemme hatte sich bald niedergeschlagen.

Feineres Geschwemme erhält sich aber ungemein lange in der Schwebe. G. Bischof schöpfte bei einer Ueberschwemmung des Rheins Wasser in große Gefäße und stellte diese in den Keller des chemischen Laboratoriums in Bonn. Nach mehreren Monaten vollständiger Ruhe hatten sich die feinen Theilchen noch nicht vollständig abgesetzt, war das Wasser noch nicht klar geworden. Man begreift, daß in einem See, in welchem der ein- und ausströmende Fluß immerhin eine fließende Bewegung unterhält, mag sie auch noch so gering und für gewöhnliche Beobachter, für Fischer und Ruderer, ganz unmerklich sein, doch diese aufgeschwemmten feinsten Theilchen niemals zur Ruhe kommen und daß demnach, wenn diese Theilchen eine gelbe Färbung besitzen, der See dauernd eine grüne Farbe zeigen muß, die sogar an den tiefen Stellen gesättigter erscheinen muß, weil dort eine größere Menge gelber Theilchen durch eine bedeutendere Schicht von Wasser hindurchschimmert. Da aber ferner die Nuancen, welche die Geschwemme der einzelnen Bäche und Flüsse zeigen, ins unendliche zwischen grau, gelb und selbst röthlich variieren, so ergeben sich auch die mannigfaltigsten, in feinster Weise abgetönten Mischfarben und ein steter Wechsel je nach der Menge von Geschwemme, welches den großen Wasserbecken zugeführt wird. Auch in dem Meere, dem nimmer ruhenden, werden diese feinen Aufschwemmungen sich lange Zeit schwebend erhalten und über ungemein große Flächen vertheilen.

Aehnlich wie solche mineralischen Stoffe wirken auch die organischen, Pflanzen und Thiere. Die Ufer sind mit einer Menge von Pflanzen bedeckt, an den Seen in allen Abstufungen von Grün und Braun (zahlreiche mikroskopische Pflänzchen, welche die Steine wie mit einem Schleime überziehen, haben eine gelbe oder braune Farbe); an den Meeresufern wachsen bis zu einer Tiefe von 30 Metern grüne, in noch größerer Tiefe gelbe und rothe Algen, die oft förmliche Wälder und Wiesen bilden und deren Farbe sich mit derjenigen des Wassers mischt. Selbst in unseren nordischen Meeren giebt es eine Menge von festsitzenden Thieren, Schwämme, Seescheiden, Muscheln, deren Anhäufungen eine bestimmte Farbe hervorbringen, und die Besucher der südlichen Meere wissen nicht genug von den herrlichen Farben zu sagen, die von den Korallenriffen hervorgezaubert werden.

Aber damit nicht genug. Es wimmelt in allen Seen und Meeren von schwimmenden, sogenannten „pelagischen“ Pflanzen und Thieren. Einzellige, mikroskopische Algen von grüner oder gelblicher Farbe sind die gewöhnlichsten Bummler bis in bedeutende Tiefen; doch auch gelbe und rothe Algen kommen zuweilen so massenhaft vor, daß „das rothe Meer“ keine willkürliche Bezeichnung, sondern der richtige Ausdruck für eine beobachtete Thatsache ist. Selbst größere Thiere können solche Farbenwirkungen hervorbringen. Ich habe die Bucht von Villafranca theilweise röthlich gefärbt gesehen von Millionen schwimmender, erbsengroßer Seescheiden (Anchinia rubra); ich habe den unmittelbaren Randsaum meilenlanger Strecken an der Riviera in einer Breite von mehreren Metern tief königsblau gesehen von dicht aneinander gedrängten, schwimmenden Segelpolypen (Velella spirans).

Wir können sogar die schwimmenden, durchsichtigen Wasserwesen, von den größeren Quallen bis zu den unendlich kleinen Mikroben, nicht von einer gewissen Einwirkung auf die Färbung des Wassers freisprechen. Wir würden ihre glashell durchsichtigen Leiber nicht sehen können, wenn sie das Licht nicht in anderer Weise brechen würden, als das sie umgebende Wasser es thut. Sie senden also durch dieses eine Menge von Brechungsstrahlen, die an und für sich höchst unbedeutend sind, aber doch durch ihre Häufung eine Wirkung hervorbringen müssen, wenn auch Millionen dieser kleinsten Wesen in dem Raume eines Kubik-Millimeters Platz haben. Wozu hätten wir denn an gewissen Stellen der Netzhaut unseres Auges auf dem Raume eines Quadrat-Millimeters bis zu einer Million empfindender Elemente (sogenannter Stäbchen), wenn wir solche minimale Eindrücke nicht auffassen und zu einem Gesammteindrucke vereinigen könnten?

Endlich wollen wir die dem Wasser beigemischte Luft nicht vergessen. Wenn wir eine etwas zähe Flüssigkeit mit Luft schütteln, so wird sie weißlich, schließlich weiß wie Milch. Und doch ist die Flüssigkeit durchsichtig und die Luft auch. Aber die in dem Wasser vertheilten Luftbläschen brechen das Licht in anderer Weise. Die Welle erscheint weißlich, ganz weiß an ihren Rändern von der eingeschlossenen Luft, und je stärker die Bewegung, desto mehr tritt das Weiß hervor, mit grünlicher Abtönung bei klarem Wasser und bedecktem Himmel, mit strahlend gelber bei Sonnenschein, mit lehmgelber Färbung, wenn das Wasser nicht rein ist. Alle diese Töne mischen sich mit den Farben der Unterlage, mit den Spiegelfarben der Oberfläche.

So wird denn die Frage nach der Ursache der Färbung der Gewässer zu einem der verwickeltsten Probleme der Wissenschaft wie der Kunst, dessen vollständige Lösung noch nicht erzielt worden ist, trotz der mannigfaltigsten Bemühungen von seiten der Gelehrten und der darstellenden Künstler. Ich muß gestehen, daß ich vor den Marinemalern den größten Respekt habe, weil sie, um der Auffassung des gewöhnlichen Auges entgegenzukommen, die verschiedenen, in der Farbe so unendlich wechselnden und doch so formlosen Bilder, welche das Meer bietet, in einem Bilde zusammenfassen müssen. Aber wenn ich vor einer gemalten Welle von Mazure in Paris stehe (er wird dort gewöhnlich „Mazure la vague“, der „Wellen-Mazure“, genannt) und sehe, wie dieser Künstler, ohne Beihilfe von Strand, Mauern, Gebäuden und Schiffen, die dem Auge durch ihre Form einen Halt bieten, mich eine Welle des Mittelmeeres sehen läßt mit ihren Spiegelungs- und Brechungsfarben, harmonisch gemischt mit den aus der Tiefe vorquellenden Farbentönen des Bodens und der eigenthümlichen Färbung des Wassers selbst, so fallen mir, wie man zu sagen pflegt, die Arme vom Leibe. Und es wird mir dann schwer, in meinem Geiste das Bewußtsein aufzurütteln, daß die Farbe des Wassers im allgemeinen sich aus einer Menge von Faktoren zusammensetzt, unter welchen die wesentlichsten sind: die normale Bläue des reinen Wassers, die Spiegelfarben der Oberflächen, die Brechfarben der bewegten Theile, die Eigenfarben der in dem Wasser aufgeschwemmten Körper und die durchschimmernden Farben des Grundes oder der nur sehr sanft erleuchteten Tiefe.

Hier, wie überall, bewährt sich aber der Spruch, daß es in der Natur keine einfachen Erscheinungen giebt, daß alle nur das Ergebniß einer Menge von einzelnen Faktoren sind, deren Gesammtwirkung wir obenein noch mit einem sehr unvollkommenen Instrumente, unserem Auge, betrachten und auffassen.


[56]


Der „Finanzer“.




Wo der Inn mit hellen Fluthen
Lustig aus Gebirgesenge
Niederströmt in ebene Gaue
Und in letztem Jugendträumen

5
Rauscht um ein behaglich Städtlein,

Dort zu Rosenheim, welch Drängen,
Welch ein Wettkampf hoher Häupter!
Auch Gewaltige heutzutage
Leiden unter Konkurrenten,

10
Und so streckt sein majestätisch

Silbern Haupt der Wendelstein heut
Unzufrieden übers Städtchen:
Ob auch festlich drin die Menge
Auf und niederwogt, kein Auge

15
Schickt wie sonst ihm frohe Blicke.

Eines andern Majestät und
Silberschimmernd Haupt bannt jeden:
Kaiser Wilhelm ist gekommen,
Er, der Greise, Nimmermüde,

20
Und des Reiches Paladine,

Seiner Siege Schwert und Feder,
Moltke und der große Kanzler.
Und wen rings in Hof und Dörfern
Diese Kunde traf, der eilte,

25
Sich die Helden zu beschauen,

Die des Reiches Ring geschmiedet.
Manch ein „Dirndel“ schreitet kräftig
Durch die kranzgeschmückten Gassen,
Keines aber stolzer, schlanker

30
Als das Walderinger Veverl –

Frischer Mund und frisches Auge,
Nur auf ihrer braunen Stirne
Schattet’s wie von Unmuthswolken.
Kaiser sah sie wohl und Kanzler,

35
Hat auch wacker „Hoch!“ geschrieen,

Bloß den Moltke wies ihr keiner.
Und doch hat sie grad „dös Miannl“
Schauen wollen, denn die Brüder
Sepp und Hansei haben tapfer

40
Mitgekämpft im großen Kriege,

Haben, heimgekehrt, gar manchmal
Ihr erzählt vom alten Feldherrn
Und der Sepp schloß stets bedeutsam:
„Muasßt’n schau’n, dös is a Mannl!“

45
Jetzt blieb doch, was sie ersehnte,

Unerfüllt und ach! sie kann nicht
Ungestörte Umschau halten,
Denn sie muß ein blondes Bürschchen
Hüten, ihren jüngsten Bruder.

50
Ja, wenn’s möglich wär’, den Franzei

Bei ’nem Menschen in der Nähe
Auf ein Stündchen „einzustellen“!
Wart – da drüben bei dem Hause
Drin der Kaiser abgestiegen,

55
Steht ein würdevoller Alter,

„So a freundli’s Mannsbild“, denkt sie;
Der hat g’wiß vom Staat an Amterl,
Denn er hat a saubers G’wandel,
Wie an Uniform, der is wohl

60
Eisenbahner, is am Ende

So ein mächtiger Finanzer.
Raschen Schrittes geht das Veverl
Zu ihm hin und sagt: „Finanzer,
Sei so guat und b’halt dös Büaberl

65
Auf a kloane Stund’n bei Dir.

Möcht’ ma nur den Moltke anschau’n.“
Sprichts, drückt dankbar im Enteilen
Dem Finanzer noch ein Geldstück
In die Hand und ist entschwunden.

70
Franzei sieht sich den Finanzer,

Der Finanzer sich den Franz an;
„Is mir völli fremd“ – denkt Franzei,
„Was beginn’ ich?“ – denkt sein Hüter.
Doch wo Alte klug erwägen,

75
Fährt dazwischen laute Jugend:

Franzei bricht in dicke Thränen,
Bricht in jene wirkungsvollen
Laute aus, wie die Natur sie
Für die Durchsetzung und Wahrung

80
Von berechtigten Int’ressen

Wilden lieh und braven Kindern.
Nun ist plötzlich dem Finanzer
Klar geworden, was beginnen.
An das Ohr des Tönereichen

85
Hält die Uhr er voll Erfahrung

Und macht kunstvoll: „Ticktack, Ticktack!“

[57]

Franzei reibt sich erst die Augen,
Horcht dann staunend auf das Wunder
Und mit rothen Backen schmiegt er

90
Traulich schon sich an den Alten,

Als das Veverl endlich auftaucht.
Finster naht sie dem Finanzer:
„Laß Diar’s guat san, daß D’ no doa bist –
Koanen Menschen is mehr z’ trauen!

95
Haben’s nit in d’ Zeitung g’logen,

Daß der Moltke kimmt, dia Schlankel’n,
Dia soll’n dengerst Schtrix’n kriag’n.“
„Nun“, sagt freundlich da der Alte,
„Lügen manchmal auch die Schlankel’n’

100
In der Zeitung, diesmal hat sie

Wahr gesprochen, auch der Moltke
Kam hierher und ist zu sehen.“
„Jessas, Jessas, Alpenrosen
Von da schönst’n gab i leichtli,

105
Kunnt’ i nur dös Mannl sehg’n.“

„Gut, es sei!“ lacht der Finanzer,
Schreibt im Flug in fremder Sprache
Ein paar Worte auf ’ne Karte
Und spricht zu dem braunen Veverl:

110
„Wenn Du dies so gegen neun Uhr

Morgen früh dort drüben abgiebst,
Wo der Kaiser wohnt, so zeigt man
Sicher Dir ,dös alte Mannl’;
Nur mußt Du die Alpenrosen

115
Nicht vergessen.“ Veverl mustert

Prüfend das Gesicht des Alten,
Endlich meint sie: „Will’s probieren.
Aber dös, Finanzer, mark Dir,
Hast mir g’log’n, b’hüat der Deixel

120
Deine Aug’n, denn so bin i,

Seh’g i Di, i kratz Dir’s außi.
Und da hast Du no a Zwanzgerl,
Kauf a Moaßerl Dir im Hirschen,
Nur sei g’scheit und trink koan Rausch nit. –

125
Franzei kumm, wir müssen hoamwärts!“


  * *  
*

Sonnenglanz und Sommermorgen!
Von dem Thurm des Städtchens schlägt es
Neun Uhr jetzt – so träg und schläf’rig,
Denkt das Veverl, als wenn’s keine

130
Eile gäbe, keinen Moltke.

Rosig wie des Frühlichts Schimmer,
In der Hand ’nen mächt’gen „Buschen“,
Tritt sie zögernd in das Haus ein,
Das ihr der Finanzer zeigte,

135
Und blickt scheu nach einem Helfer,

Der die Karte ihr erklären,
Ihr den Moltke weisen könnte.
Schau, da naht sich wieder einer
Mit ’ner Uniform, wie gestern

140
Der Finanzer, der muß helfen!

Veverl knixt und reicht die Karte
Stumm dem Fremden, der lacht freundlich,
Als er rasch sie überflogen,
Und führt Veverl in ein Zimmer.

145
„Will Dich gleich dem Marschall melden,“

Damit geht er, und dem Veverl
Klopft das Herz und surrt das Köpfchen:
„Wenn der Moltke iatzt daher käm’!
Veverl, Veverl, wärst nit gang’n!“

150
Doch da ist auch ihr Begleiter

Schon zurück und sagt: „Der Marschall
Will Dich sehen; geh’ nur herzhaft
Durch die Thür – dort drinnen ist er.“
Veverl thut’s, indessen hat sie

155
Kaum die Schwelle überschritten

Läßt sie jäh den Buschen fallen
Und ruft schreckensbleich: „O Jessas
Maria und a bissel Josef,
Der Finanzer! Werd’ i aufg’henkt?

160
O Herr General, verzeihen’s,

Daß Sie an Finanzer gleich seh’n!“
Doch der Marschall streckt ihr fröhlich
Seine Hand hin und erwidert:
„Wirst ,dös Mannl‘ doch nicht fürchten?

165
Komm’, gieb mir den schönen ,Buschen‘

Und nimm diesen Siegesthaler
Als ein Zeichen, daß Du wirklich
Heut den Moltke hast gesehen,
Als Gedenkstück vom ,Finanzer‘!“

170
Noch ein Händedruck des Marschalls

Und das Veverl ist entlassen.
Draußen, wo im Sonnenscheine
Ihre Berge leuchtend winken,
Wirft sie zu den Fenstern Moltkes

175
Einen letzten Blick hinüber,

Denkt, was die zu Haus wohl sagen,
Denkt an Sepp und spricht dann leise:
„Is a woahr, dös is a Mannl!“
 Hans Ebert.

[58]

Der Zeitgeist im Hausstande.

Bilder aus dem Familienleben.
Von R. Artaria.
(1. Fortsetzung.)


3.

Das Atelier von Karoline Wiesner zeigte nichts von der pomphaften Dekoration, welche heutzutage auch die kleinere künstlerische Größe an ihre Umgebung zu wenden pflegt. Breit und viereckig, ohne jede Vorhangdraperie, hob sich das große Fenster mit seinem Scheibengitter gegen den bleigrauen Winterhimmel ab, Gobelins und Fußteppiche fehlten gänzlich; an den getünchten Wänden waren da und dort Studien angeheftet, auch wohl ein Arm oder ein Bein mit Kohle auf die Mauer gezeichnet. Das Mobiliar beschränkte sich auf ein paar Strohsessel, einen großen, mit Büchern und verstaubten Fläschchen und Farbentuben bedeckten Tisch, sowie auf einen wurmstichigen Großvaterstuhl in der Ecke, in dem die große Gliederpuppe, Toni genannt, ein beschauliches Dasein führte. Ihren haarlosen Kopf, der in verzückter Wendung nach oben gerichtet war, schmückte ein durchlöcherter Strohhut, die übrigen Glieder schlotterten unter einer Art Toga von grünem Glanzkattun hervor. Fräulein Linchen behandelte diese wattierte Armseligkeit mit der gebührenden Verachtung, aber mit der ganzen Zärtlichkeit ihres feurigen Herzens liebte sie den Bewohner der anderen Zimmerecke: ein Skelett von seltener Tadellosigkeit. Sie hatte seinerzeit fast gehungert, um es sich kaufen zu können, nun erfüllte sie auch der gesicherte Besitz mit stets neuer Wonne.

„Sehen Sie nur diesen Bau,“ pflegte sie zu sagen, „diesen herrlichen Brustkorb, die schlanken geraden Arme und Beine! Ja, die wahre Schönheit fängt eben doch erst beim Knochen an!“

„Rinaldo^ nannten Walters Kinder den stillen Mann, wegen eines vom Papa scherzweise ausgesprochenen Verdachts hinsichtlich seines Vorlebens und der Todesursache, die ihn in der Blüthe seiner Jahre der Anatomie überliefert habe – eine schnöde Unterstellung, welcher Fräulein Linchen stets durch den Hinweis auf seine gänzlich unverletzten Halswirbel entrüstet zu begegnen pflegte. Aber den klangvollen Namen hatte er behalten, und es kam gelegentlich vor, daß sie ihn selbst in Gedanken so nannte.

In diesem Augenblick stand sie in der Nähe des Fensters vor ihrer Staffelei, die Brille auf der Nase, eine große Malschürze umgebunden, die Palette und den Pinselbüschel in der Linken, und betrachtete zwischen eifrigem Arbeiten dann und wann voll Entzücken das Original ihres angefangenen Porträts, welches ihr gegenüber auf einer einfachen Erhöhung vor einem aufgespannten Vorhang saß. Zart und bestimmt wie eine geschnittene Gemme hob sich der jugendliche Mädchenkopf von dem dunklen Hintergrund ab. Hellblondes, glänzendes Haar, vom Nacken aufgenommen und oben in einen Knoten vereinigt, zeichnete, von da zur Stirn absteigend, in weichen Hebungen und Senkungen eine Umrißlinie, die entweder der Natur aufs wunderbarste gelungen oder einer sehr erfahrenen Kunst zu verdanken war. Das Gesicht mit dem kurzen Näschen und dem eigensinnigen hübschen Mund hatte mehr den Reiz des Pikanten als der wirklichen Schönheit, aber unbedingt erobernd strahlten daraus ein Paar wundervoller graublauer Augen mit schwarzen Brauen und Wimpern. Die letzteren sollten allerdings, nach Aussage von Vilmas Schulfreundinnen, erst mit ihrem sechzehnten Jahr und ganz plötzlich so dunkel geworden sein, aber Thatsache war nun einmal, daß sie dem zarten Gesichtchen einen eigenartigen Zauber verliehen, der den Beschauer fesselte. Wie sie so im Sessel lehnte, das hellbeleuchtete Profil etwas abgewandt, in der lässigen Stellung den reinen Linienfluß ihrer Glieder zeigend, wäre Vilma von Düring auch für unbefangenere Augen als die des guten Linchens ein reizender Anblick gewesen. Ein schwarzes Kleid, wie sie es mit Vorliebe trug, hob die helle Gesichtsfarbe und die goldene Haarpracht aufs vortheilhafteste hervor; das schmale Hälschen schimmerte durch einen schwarzen Tüllstreifen, der, zur großen duftigen Schleife gebunden, halb einen Strauß blasser Rosen verdeckte, welche Vilma als einzigen Schmuck angelegt hatte.

„Ich bringe und bring’s nicht heraus!“ rief plötzlich Fräulein Linchen in künstlerischer Verzweiflung und warf die Palette zur Seite.

„Was denn?“ fragte Vilma mit einem erstaunten Heben ihrer großen Augen.

„Ja, schauen Sie mich nur an! – Das Unbeschreibliche in Ihrem Gesicht meine ich, das, wofür das Wort Schönheit gar kein Ausdruck ist, obwohl man wieder keinen andern dafür anwenden kann. – Sehen Sie, in Ihrem Alter – ich kann wohl sagen, das gewöhnliche Hübschsein habe ich nie beneidet, weil es mir zu oft langweilig vorkam. Aber wenn es einmal der Natur so geglückt ist – dann sich sagen zu können: das bist Du selbst – Herrgott, das muß wohl schön sein! Sie sind ein Glückskind, liebe Vilma – so, ach, halten Sie den Kopf nur ein wenig so, ich glaube doch, ich könnte es am Ende noch herausbringen.“

Sie raffte die Palette auf und begann von neuem eifrig über die Leinwand zu streichen. Nach einer Pause sagte Vilma:

„So besonders glücklich fühle ich mich aber um meines Gesichtes willen, das Sie noch dazu sehr überschätzen, in keiner Weise. Zum Glück gehört doch viel, viel mehr, was man erleben muß, sich selbst nicht verschaffen kann!“

„Ja, ja, ich weiß – Verlobung und so weiter, ohne das thut es Ihr jungen Mädchen nun einmal nicht. Allein da haben doch Sie wahrhaftig die Wahl, während die andern armen Dinger warten müssen, bis sie gnädigst gewählt werden, um dann ihr Leben lang ihrem Pascha dafür dankbar zu sein!“

„Gewiß,“ sagte Vilma vorsichtig und gedehnt, „die Wahl hätte man ...,“ sie senkte für ein Paar Augenblicke die langen Wimpern: es log sich merkwürdig schwer dieser einfachen unabhängigen Seele gegenüber, die keinen Begriff von der Kette von Entbehrungen und geheimen Erniedrigungen hatte, womit Vilma und ihre Mutter das Leben in der Gesellschaft erkauften, von all den Anstalten und Hoffnungen und nachfolgenden Enttäuschungen, die den Hauptinhalt ihrer bisher erlebten fünf Ballwinter ausmachten. Nicht ihrer besten Freundin hätte Vilma gestehen mögen, wie wenig „Wahl“ sie bis jetzt gehabt hatte. Und nun war sie dreiundzwanzig Jahre alt, und die große Partie, von welcher seit ihrem achtzehnten die Mama träumte, wollte immer nicht erscheinen. O, welche Scenen sie manchmal miteinander hatten, daß ihre Schwester Paula angewidert aus dem Zimmer ging: Klagen, Vorwürfe, Heftigkeitsausbrüche, Thränen – ja, es war wohl der Mühe werth, sie vor andern glücklich zu preisen!

Aber das junge Geschöpf war längst gewohnt, derartiges in sich zu verschließen und mit dem kinderhaften Lächeln zu bedecken, das ihrem Gesichtchen so lieblich stand. Sie zeigte dieses Lächeln auch jetzt, als sie fortfuhr:

„Ich glaube, liebes Fräulein, Sie sind die wahre Glückliche unter uns. Niemand sieht Sie je schlechter Laune, Sie sind eine so zufriedene ...“

„‚Nebenfigur‘, wollen Sie sagen. Ja, das bin ich und darin liegt eben das Geheimniß meiner Zufriedenheit. Es können nicht alle Hauptfiguren sein; wer das früh erkennt und sein Leben auf ehrliche und tüchtige Thätigkeit einrichtet, dem geht es besser als denen, die immer nach einem großen Glück für ihre ausgezeichnete und werthvolle Person streben und darüber nicht einmal die Zufriedenheit erreichen, die jeder ordentliche Mensch in tüchtiger Arbeit finden kann. Es leiden heute gar zu viele an der ‚Ich-Krankheit‘ – die übertriebenen Romane, die jahraus jahrein gelesen werden, mit der dummen Ueberschätzung der Persönlichkeit tragen auch ihr Theil Schuld daran. Man sollte in jeder Schule, in jeder Familienstube eine Tafel aufhängen mit der Inschrift: ‚Du bist gar nichts Besonderes, gehe hin und arbeite fürs Ganze!‘ Das würde dem heranwachsenden Geschlecht gut thun.“

Die schöne Vilma hatte eine Empfindung, als ob ihr Fräulein Linchen einen Vortrag in chinesischer Sprache halte, und suchte ihn deshalb nach Kräften abzukürzen. Sie verfolgte beim Besuch dieses Ateliers einen ganz bestimmten Zweck, der nichts mit philosophischen Gesprächen zu thun hatte, und wollte ihn nicht aus den Augen verlieren. Also neigte sie das Köpfchen, sah die in Eifer gerathene Künstlerin schalkhaft an und sagte:

[59] „Aber die Liebe, Fräulein Wiesner, die große Angelegenheit, in der sich doch jeder gern als Hauptfigur fühlt?“

„Gehen Sie mir mit der! Das ist auch so ein Gethue von den Romanschreibern. Hauptsache im Leben! Es giebt andere Hauptsachen darin, die wichtiger sind und länger vorhalten. In Wirklichkeit nimmt jede Grete den Hans, den sie gerade kriegen kann, oder tröstet sich ohne ihn, wenn nichts draus wird. Es ist nicht der Mühe werth, um eine so gewöhnliche Sache große Worte zu machen.“

„Wenn man Sie so reden hört, sollte man denken, daß Sie nie geliebt hätten.“

„Nie?“ versetzte die Malerin, indem sie die Augen halb zudrückte und mit zurückgebogenem Kopfe ihre Anlage prüfte, „das will ich nicht gerade sagen – aber eigentlich der Rede werth kann’s nicht gewesen sein, denn ich habe mich nie unglücklich dabei gefühlt, und das muß man doch, nicht wahr? Mir stand es von Anfang an fest, daß ich zum Malen auf der Welt sei, und so denke ich heute noch und fühle mich hier allein in meinem Atelier glücklicher als in der größten Gesellschaft, ja ich muß gestehen, daß mir diese immer langweiliger wird. Mit ein paar guten Freunden bin ich allezeit gern zusammen, doch mich in einen davon zu verlieben“ – sie lachte laut auf, „nein, das wäre mir nie eingefallen.“

Von hier aus war der bewußte Punkt zu erreichen! Vilma ließ langsam die Enden ihres Gürtelbandes zwischen den Fingern durchlaufen und fragte in gleichgültigem Tone.

„Kennen Sie den Maler Thormann?“

„Na und ob! Sein Atelier ist ja hier unter dem meinigen. Haben Sie das Thürschild beim Heraufkommen nicht bemerkt?“

Nein, Vilma hatte nicht darauf geachtet, sie kannte auch Thormann nicht persönlich, nur ein großes Marinebild von ihm hatte sie auf der Ausstellung gesehen, und es hatte ihr so unendlich gut gefallen! „Er ist wohl schon ein alter Herr?“ fragte sie.

„Warum nicht gar,“ widersprach die Malerin, „kaum vierzig! Allerdings, sein Haar ist schon ziemlich grau, er hat viel Schweres erlebt mit seiner armen Frau, die so lange leiden mußte, ehe sie starb. Er hat sie sehr geliebt und kann ihren Verlust noch nicht verwinden, deshalb geht er auch nicht in Gesellschaft und lebt ganz für sein Töchterchen, das ebenfalls von zarter Gesundheit ist. Er will im nächsten Frühjahr draußen am Stadtpark ein Haus im Grünen für sie bauen. Hier herauf zu mir kommt er öfters, ich kenne ihn von früher her, auch zu ein paar andern alten Freunden geht er, sonst aber zu niemand.“

„Wie alt ist das Kind?“

„Zehn Jahre.“

Das genügte vorderhand. Vilma versank in ein schweigendes Nachdenken und „saß^ dabei so ausgezeichnet, daß die Malerin in athemloser Hast die schwierige Partie um den Mund, wie es ihr schien, sehr glücklich hinsetzen konnte. Eine geraume Zeit war so den beiden unbemerkt vergangen, als es an die Thür klopfte und eine hohe Stimme rief:

„Fräulein Linchen, sind Sie drinnen?“

Die Malerin machte ein grimmiges Gesicht, und ihr „Herein!“ klang durchaus nicht einladend.

Unbekümmert darum hüpfte ein dünnes Figürchen mit breitkrempigem Federhut und knappanliegender Tuchjacke herein. Aus ihrem sehr blassen Gesicht forschte ein Paar wasserblauer Augen, und das spitze Näschen zwischen ihnen trug auf seinem Gipfel den Hauch von Röthe, welcher Wangen und Lippen fehlte. Aber ein dichter brauner Tituskopf, der unter dem hellgrauen Filzhut hervorblickte, wog in den Augen seiner Besitzerin diese kleinen Unvollkommenheiten genügend auf. Frida Gersdorff, eine Schulgenossin Vilmas, zählte sich entschieden zu den hübschen Mädchen und wußte dieser Ueberzeugung stets durch eine „patente“ Toilette Ausdruck zu verleihen. Ihr Vater, ein reicher Fabrikant, „hatte es“, und darin wenigstens fühlte sie sich Vilma entschieden überlegen.

Einen verhüllten Gegenstand in der Rechten, näherte sie sich jetzt von der Thür her den beiden.

„Tag, Fräulein Linchen! Der Tausend, Vilma, Du wirst gemalt ... dazu können Sie mich auch ’mal haben, wenn Sie wollen!“

Die also Angeredete räusperte sich stark. Es gab Leute, von denen sie das „Linchen“ nicht vertrug, und wenn diese Leute dann noch in ihre beste Arbeitszeit hereinfielen, so erregte das bei ihr eine innere Umwälzung, welcher leicht ein Ausbruch folgen konnte.

„Was wünschen Sie denn eigentlich, Frida?“ fragte sie, ohne das zuvorkommende Angebot einer Antwort zu würdigen. „Sie sehen, ich habe zu thun!“

„O, ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ich wollte bloß fragen, ob Sie mir ein paar Lose für unseren Wohlthätigkeitsbazar abnehmen, hinkommen werden Sie ja doch nicht, da muß man sie Ihnen wohl nachtragen.“

„Lose für Ihren Bazar ‚künstlerischer Dilettantenarbeiten‘? Gut, ich will Ihnen drei Stück abnehmen, sollte ich damit etwas gewinnen, so können Sie es gleich dort behalten.“

„Es sind sehr hübsche Sachen da,“ versicherte Frida empfindlich, „kein Schund, wie Sie zu glauben scheinen.“

„Haben Sie mir gleich eine Probe davon mitgebracht?“ fragte die Malerin spottend und deutete auf das Packet.

„Nein“ – versetzte Frida zögernd mit einem Blick auf Vilma, „ich wollte Sie da um eine große Freundlichkeit bitten. Hier“ – sie wickelte das Papier auseinander – „mit dieser griechischen Tänzerin komme ich um keinen Preis zustande.“ Sie brachte eine große gemalte Glasvase hervor und hielt sie Linchen zur Betrachtung hin.

„Schauderhaft!“ sagte diese.

„Ja, die Stellung ist nicht ganz richtig, und da sollen Sie mir einen Rath geben!“ Sie wagte trotz ihrer Keckheit nicht, zu sagen: „Die Figur hineinmalen,“ wie sie eigentlich beabsichtigt hatte.

„Der einzige Rath, den ich Ihnen geben kann, ist der: waschen Sie das da mit Terpentin herunter, kleben Sie ein paar ausgeschnittene japanische Bilder hinter das Glas und streichen Sie dann – soweit wird Ihre Oeltechnik reichen – einen blauen oder grauen Grund darüber. Dann können Sie in Ihrem Bazar fünf Mark dafür verlangen, was Sie für diese Schmiererei hier entschieden nicht bekommen.“

„Ja, mein Gott, Sie dürfen doch daran nicht einen hohen künstlerischen Maßstab legen! Ich habe gar nie zeichnen gelernt, und dafür, das sagte sogar neulich der Maler Leichtherz, sind meine Sachen sehr talentvoll gemacht.“

„Sie sind köstlich, Sie und Ihr Leichtherz,“ lachte Fräulein Linchen grimmig auf. „Weil Sie nicht zeichnen gelernt haben, deshalb fühlen Sie sich gedrungen, zu malen, und machen Figuren von zehn Kopflängen, die auf keinem Bein stehen können und in der Mitte abbrechen. Sehen Sie, Fräulein Frida, Sie sind mir wirklich merkwürdig, denn Sie stellen das Prachtexemplar einer Dilettantin vor, jener Menschensorte, die ihren höchsten Ruhm darein setzt, nichts gelernt zu haben, aber trotzdem alles zu können –“

„Sie mißverstehen mich, Fräulein Linchen –“

„Während,“ fuhr diese unbeirrt fort, „die größten Genies mit der riesigsten Begabung jahrelang angestreugt arbeiten müssen, um ihres Stoffes Herr zu werden, erfliegt das der glückliche Dilettant im Handumdrehen. Ich will ihm sein Vergnügen nicht verderben, solange er thut, was das Wort besagt: dilettarsi, sich ergötzen an der großen Kunst, solange er mit Bescheidenheit die eigene kleine Kraft in ihren Bahnen übt. Allein das Großthun in Gesellschaft, wo heutzutage die Pfuscherei mit Selbstgefühl als Kunstwerk ausgegeben wird, das krankhafte Auszeichnungsbedürfniß ohne Hintergrund eines ordentlichen Studiums, die Talentlüge mit einem Wort, die wie falsches Geld durch alle Kreise geht – sie muß man rücksichtslos beim Namen nennen. Talent ist eine viel zu seltene und kostbare Gabe, um ‚zur Bildung‘ gehören zu können. Aber unbedingt gehört zur Bildung, die Kunstwerke, welche die wirklichen Meister geschaffen haben, zu kennen, sich liebevoll mit ihnen zu beschäftigen und aus der Tiefe seiner eigenen Kleinheit heraus mit Ehrfurcht die Großen zu bewundern. Wer das einmal so recht aus Herzensgrund gethan hat, dem vergeht es gründlich, ‚Ich auch!‘ zu sagen.“

„Wenn man aber doch freie Zeit hat und das entschiedene Bedürfniß fühlt, selbst etwas zu leisten?“ entgegnete Frida, durch diesen Platzregen von Grobheit sichtlich eingeschüchtert.

„Dann setzt man sich hin, mein Engelchen, und lernt einmal etwas. Gründlich und gewissenhaft von Anfang an – das Weitere findet sich dann bald. Die Kunst ist nur eine und der Weg dazu ist auch nur einer. Da – Sie können gleich hier anfangen! Versucheu Sie einmal, den Rinaldo dort ganz getreu abzuzeichnen!“

[60] Fridas Blicke folgten dem ausgestreckten Finger der Malerin nach der Ecke, der sie bisher den Rücken zugekehrt hatte, aber mit einem Schrei fuhr sie zurück vor dem freundlich grinsenden Totenschädel mit seinen schönen zweiunddreißig Zähnen.

„Pfui! Wie abscheulich! Davor würde ich mich zu Tode fürchten. – Wie Du das nur fortwährend ansehen kannst, Vilma, Du guckst doch von oben gerade darauf hin!“

Linchen lachte ihr tiefes behagliches Lachen.

„Ja sehen Sie, der ist ehrlich. Aller Schwindel von Fleisch und Kleidern abgefallen – wenn da ein Bein nicht recht steht, sieht man’s auf den ersten Blick.“

„Ach liebstes, bestes Fräulein!“ sagte nun Frida mit ihrer süßesten Stimme, „Sie haben mich vorhin so gescholten und ich habe es ruhig angehört – habe ich das nicht? Ich will mich auch bessern und will zeichnen lernen, doch jetzt – bitte, bitte – nicht wahr, jetzt helfen Sie mir mit der Unglücksvase und stellen mir die Tänzerin ein bißchen auf die Beine? Nächsten Sonntag wird der Bazar eröffnet, ich kann mich nicht sehen lassen, wenn ich nichts Ordentliches habe; es wäre eine furchtbare Schande.“

Karoline Wiesner war nur gegen Anmaßung gepanzert, demüthiger Bitte gegenüber fühlte sie sich regelmäßig wehrlos, und es half nichts, daß sie sich hinterher ebenso regelmäßig über diese ihre Dummheit entrüstete. Sie sah das „armselige Ding“, wie sie Frida im stillen nannte, in seiner Herzensangst, sie sah über die Bittstellerin hinweg Vilmas leises Lächeln, sie wußte, wie bitter deren Gegenwart für jene war – und fühlte ein menschliches Rühren.

„Nun denn,“ sagte sie in milderem Ton. „Stellen Sie das Ding dort hin, ich will nachher sehen, was sich thun läßt!“

„O Sie himmlisches, einziges Fräulein!“ jubelte Frida und nahm einen Schwung, der Künstlerin stracks an den Hals zu fliegen. Linchen reckte die Schultern etwas höher und sagte abwehrend:

„Ruhig, ruhig, zu danken brauchen Sie mir erst, wenn’s gethan ist. Sie wissen ja noch gar nicht, wie es ausfällt.“ Es half nichts, Frida strömte unaufhaltsam weiter von Glückseligkeit über und Fräulein Linchen begriff in diesem Augenblick, was ihr sonst stets räthselhaft vorkam, daß dieses abgeschmackte Wesen doch bei vielen Leuten wirklich wohlgelitten war. Eine ähnliche Empfindung mochte auch Vilma bewegen; sie, welche sonst unter den Freundinnen den Ruf hatte, durchaus nicht immer „nett“ zu sein, sagte jetzt vom Podium herunter in gutmüthigem Ton und scherzend:

„Nun, einen Trost waren Sie der armen Frida am Ende auch schuldig, Fräulein Wiesner, Sie sind ein bißchen hart mit ihr umgegangen dafür daß sie doch von uns allen die begabteste im Kunstfache ist. Ich habe mir schon oft ihre verschiedenen kleinen Talente gewünscht, aber vorhin, während Ihrer strengen Strafrede, war ich ordentlich froh, keines davon zu besitzen.“

„Du kannst ganz zufrieden sein,“ erwiderte Frida etwas spitz, „Du besitzest eben ein großes, das wir andern nicht haben –“

„Und das wäre?“ forschte Fräulein Linchen arglos, doch die schwierige Antwort blieb Frida erspart, denn in diesem Augenblick öffnete sich ein Spalt der Thür, und ein schmales Kindergesicht, von dünnen blonden Haaren umgeben, sah aufmerksam herein.

„Darf ich und der Papa kommen, Tante Linchen?“ fragte die kleine Stimme.

„Gewiß, Sigrid!“ Die Malerin öffnete die Thür vollends, und auf der Schwelle erschien jetzt hinter dem schmächtigen Mädchen ein hochgewachsener Mann, dessen hellblaue Augen einfach und freundlich aus den schon etwas eingefallenen Zügen hervorschauten; ein blondgrauer Bart umrahmte das Gesicht. Beim Anblick der beiden Besucherinnen machte er eine Bewegung nach rückwärts, allein Linchen ergriff mit gewohnter Bestimmtheit seine Hand und zog ihn vollends herein. „Stören? Keine Rede davon, Herr Thormann, wir sind ohnedies gerade bei einer Pause. Darf ich Sie meinen jungen Freundinnen vorstellen?“

Die Gelegenheit, Thormann, den interessanten menschenscheuen Norweger, hier leibhaftig vor sich zu haben, war für Frida zu entzückend, um nicht von ihr auf der Stelle zu einem begeisterten Ansturm auf seine Person benutzt zu werden. Sie hatte seine Aquarelle gesehen – göttlich! Diese Fjorde, diese Ufer! Und die kleinen Häuschen daran, welche aussehen, als ob in ihnen nur idyllische Menschen wohnen könnten, und dann vollends das Nordkap bei Mitternachtssonne – einfach grandios! Sie hatte sich noch niemals von Bildern so hingerissen gefühlt!

Er sah ihre lebhaften Bewegungen mit seinen ruhigen Augen an. „Wenn Ihnen jene Gegenden so gefallen, müssen Sie einmal hinreisen,“ sagte er kurz und richtete dann den Blick über ihr kleines Persönchen dem Podium am Fenster zu.

Wieder diese Vilma! Natürlich, man war es gewohnt, daß sie immer die Aufmerksamkeit auf sich zog, ohne scheinbar etwas dazu zu thun. Dort war sie sitzen geblieben, weil sie wußte, wie anmuthig ihre Stellung war, sie hatte nur leise den Kopf geneigt, als Linchen den Maler vorstellte, und nun blickte dieser so angelegentlich hinüber, als ob sonst niemand im Atelier sei. Es war einfach lächerlich!

Mittlerweile bemühte sich Sigrid, hinter das angefangene Bild zu kommen. Sie war groß für ihr Alter, aber eckig von Gliedern und hastig in den Bewegungen, so daß ihr Durchschlüpfen ein gefährliches Wanken verschiedener Staffeleien zur Folge hatte. Die Malerin hielt sie abwehrend auf, worüber die Kleine ärgerlich das Gesicht verzog. Ihre Züge waren plump und breit, dem länglichen Gesichtsschnitt des Vaters unähnlich. Nur das helle Blau der Augen hatte sie von ihm.

„Aber warum darf ich es denn nicht sehen?“ rief sie mit dem Ton eines verzogenen Kindes. „Papa läßt mich immer dabei sein, wenn er malt.“

„Wenn es einmal weiter ist, sollst Du’s zu sehen bekommen,“ beruhigte die Malerin, ihr freundlich über die Haare streichend; aber Sigrid, welche im Durchsetzen ihres Willens offenbar eine bedeutende Uebung besaß, machte mit einem unartigen: „Nein, jetzt!“ neue Anstrengungen zum Vorwärtsdringen. Endlich rief ihr Vater mit einem unsicheren Bestreben, sein Ansehen geltend zu machen: „Ruhig, Sigrid! Belästige Fräulein Wiesner nicht, oder ich muß Dich wegschicken.“ Er wandte sich zu dieser und fuhr fort: „Wir kommen nur, um zu fragen, ob Sie wohl nächsten Sonntag meine Kleine zu Landgerichtsrath Walter mitnehmen wollten. Ihre Vermittlung der Bekanntschaft zwischen den Kindern hat Früchte getragen, man war so freundlich, Sigrid einzuladen, sie freut sich auch sehr auf die Kindergesellschaft, aber sie ist so scheu. Da kam mir der Gedanke, ob Sie vielleicht auch hingehen ...“

„Versteht sich, versteht sich,“ fiel das gute Linchen ein, dessen Herz vor einer Minute noch nicht an eine solche Aufgabe gedacht hatte. „Werden Sie auch hinkommen, Vilma?“ suchte sie nun die hartnäckig Schweigende ins Gespräch zu ziehen.

„Wohl kaum,“ ertonte endlich deren sanfte Stimme. „Meine kleine Schwester, Elsbeths Schulfreundin, ist eingeladen und freut sich ebenfalls schon sehr darauf.“

Thormann beobachtete voll Antheil, wie anmuthig sich ihre Züge beim Sprechen belebten. Gerade begann in ihm die dunkle Vorstellung aufzudämmern, daß es für ihn wohl schicklich sein möge, nach der Kindergesellschaft Sigrid selbst abzuholen und sich Walters vorzustellen; aber ehe er noch wußte, was ihm diesen Gedanken eingegeben hatte, sah er sich von Frida, die niemals nach einer ersten Niederlage den Muth verlor, von neuem aufs Korn genommen.

„Herr Thormann“ – sie blickte ihm kindlich in die Augen, „nicht wahr, Herr Thormann, Sie kommen doch übermorgen in unseren Ueberschwemmtenbazar im Schloßtheater?“

Aufs unangenehmste berührt, fuhr er herum. „Aufrichtig gesprochen – nein, Fräulein. Mir sind alle solche Ansammlungen verhaßt ... ich war seit Jahren niemals ... kann ich Ihnen nicht meinen Beitrag hier ...“

„Gott bewahre!“ wehrte sie mit beiden Händen geziert und kichernd ab. „Nein, diese Entschuldigung wird nicht angenommen, wir müssen Sie selbst haben. Christenpflicht und Barmherzigkeit, denken Sie doch! Und für Ihre paar geopferten Goldstücke sollen Sie Wunder schauen, es wird famos, ganz famos! Von unseren Kostümen will ich gar nichts sagen, aber Vilma –“ setzte sie mit ungeheurem Entschluß um der guten Sache willen bei.

[61]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

Der kleine Patient.
Nach einem Gemälde von Jul. Adam.

[62] Doch des Menschenfeindes Stirn blieb gefurcht. Zwar zog er die Hand, welche sich nach dem Geldbeutel gesenkt hatte, wieder leer aus der Tasche hervor, indessen nur, um trocken und kurz zu sagen:

„Ich werde Ihnen meinen Beitrag durch einen Freund zustellen lassen. Komm, Sigrid, wir haben die Damen schon zu lange aufgehalten.“

„Du hättest auch ’was sagen können,“ schmollte Frida, als die Tritte auf der Treppe verhallten. „Das hätte ihn vielleicht bestimmt. Nun kommt er nicht! Und es wäre so nett gewesen, wenn er gekommen wäre.“

Vilma lächelte leise. Er kommt! dachte sie bei sich, denn sie erinnerte sich des Blickes, der sie gestreift hatte, als Thormann das Atelier verließ.




4.

„Das ist ja das reine ‚Tausend und eine Nacht‘!“ sagte Frau Emmy, ihres Gatten Arm vor Erstaunen loslassend, als die hohe Vorhangpforte sich theilte, und sie in das zum Zaubergarten umgewandelte Schloßtheater eintraten. Ein Lichtmeer ergoß sich über riesige Palmenfächer und farbige Blumenbeete, weiße Statuen schimmerten aus dem Grün hervor, im Hintergrund zwischen hohem Lorbeergebüsch plätscherte lebendiges Wasser in ein von Rosenbüschen umsäumtes, klares Becken nieder. Die oberen Logenreihen waren durch Laubgewinde und phantastische Schilfbüschel verdeckt, zwischen welchen farbige Lampions, riesenhafte Käfer und Schmetterlinge hervorwinkten; die unterste Reihe aber in ihrer goldenen Barockdekoration erstrahlte, durch erfahrene Künstlerhände zu den Läden des Bazars umgeschaffen und magisch beleuchtet, in einer solchen Farben- und Schönheitsfülle, daß der Neueintretende Zeit brauchte, sich einigermaßen zurechtzufinden – vorausgesetzt, daß es ihm gelungen war, aus der umklammernden Menschenwoge heraus und auf einen stilleren Platz zu gelangen.

Von einem solchen aus genoß das Ehepaar Walter schon längere Zeit den feenhaften Anblick. „Donnerwetter,“ sagte der Landgerichtsrath, nachdem seine Blicke allmählich auch in das Innere der Logen drangen, „was haben sie hier für eine Pracht von schönen Mädels beisammen! Sieh nur dort den Theeladen mit der reizenden dunkeläugigen Japanerin, sollen wir uns da nicht eine Tasse ausbitten?“

„Es ist die Soubrette vom Stadttheater,“ meinte Emmy zögernd.

„Um so besser!“ antwortete unternehmend der Gatte, und ihres leisen Widerstrebens ungeachtet, befand sie sich eine Sekunde später vor der Loge, die wie ein Schmuckkästchen von Lack- und Metallkostbarkeiten strahlte. Mit echt japanischem Schmachtblick reichte die brokatumhüllte Schauspielerin die beiden winzigen Tassen und ein paar Biskuits über die Brüstung.

„Zwei Mark fünfzig, bitte,“ war wohl alles, was für die beiden von Fräulein Mizis Lippen abfiel, aber Hugo schien vollbefriedigt. „Der Thee war vorzüglich,“ erklärte er im Weiterschreiten, „und, wenn man die Umstände bedenkt, nicht einmal theuer.“

Emmy gedachte zagend des vorher zu Hause gefaßten Vorsatzes „Fünf Mark im ganzen!“, allein Hugos gehobener Stimmung gegenüber wagte sie keine Einrede, sie störte ihn auch nicht im Erwerb eines Cigarrenbechers mit Häkelarbeit und eines Arbeitskörbchens aus Waldmosaik, an dem sie schon im Geist ihre sämmtlichen Seidenfäden hängen sah, nur suchte sie ihn in weitem Bogen an dem Kunstladen vorüberzulenken, wo die beiden reizenden Zwillingstöchter seines Präsidenten Photographien und Aquarelle zu haarsträubenden Preisen feilboten. Plötzlich erhielt sie einen leichten Schlag auf die Schulter: „Bazarpost, meine Herrschaften!“ und Frida Gersdorff stand vor ihnen, in weißem Rock und kokettem Postillonsfrack aus rothem Atlas, einen Dreispitz mit Federbusch auf die gepuderten Locken gedrückt. Sie überreichte salutierend die Festzeitung, deren Erwerb wenigstens eine Schutzstandarte abgab gegen die Angriffe der andern schönen Postillone, die, nach allen Seiten den Saal durcheilend, unwiderstehlich auf Auge und Börse wirkten.

„Kommen Sie nur mit,“ rief Frida, „es liegt auf der Expedition ein Brief an Sie, Herr Rath!“ und sie zog die beiden hinter sich her, vorüber an den Blumenläden, wo es verlockend von frischen Müdchenlippen erklang: „Nur fünfzig Pfennig das Sträußchen!“, vorüber an der Galanterieauslage, die glänzende Geschäfte machte, obgleich oder weil ihre Inhaberin, Lucie Peters, die gefeierte Königin sämmtlicher Studentenbälle, erklärt hatte: „Gebt mir nur allen Bafel, ich bringe ihn doch an!“ und diesem Ausspruch in wahrhaft ruchloser Weise Ehre machte, vorüber an dem benachbarten Schmuckladen, wo ein blasses reizloses Mädchen im kostbaren Ballkleid, die Tochter eines hohen Beamten, voll Bitterkeit nach dem Gedränge um Lucie hinübersah, von dem sich niemand zu ihr verlieren wollte – an alle dem vorbei zu der glücklich erdachten und glanzvoll ausgestatteten „Postexpedition“ mit Annahme- und Abgabeschalter, bedient von den schönsten Frauen der Stadt in rothcr Gala-Uniform, umdrängt von einer dichten Menschenmenge. Postlagernde Briefe und Sendungen, gute und schlechte Scherze enthaltend, wurden herausgereicht, mit dem Gelächter wuchs das Gedränge, und schon nach einer Viertelstunde war die „Postexpedition“ als der große gelungene Wurf des Bazars anerkannt.

Hugo entfaltete sein Blatt und las: „Sirach 26, 1 und 2.“ Fragend sah er Emmy an, denn seine Bibelfestigkeit war nicht stark genug, um sofort zu wissen, ob ihm hier eine Schmeichelei oder eine Grobheit gesagt werde. Aber auch sie konnte diesmal der Pflicht einer guten Ehefrau, alles zu wissen, was der Mann vergessen hat, nicht genügen und sah zweifelhaft auf die kurze Zeile.

„Habe die Ehre!“ erklang jetzt neben ihr eine Stimme, und aufsehend erkannte sie die kurze dicke Gestalt des Geheimen Medizinalraths Hoffmann, der mit Paketen und Schachteln beladen war, daß ihm kaum eine Hand zum Gruße frei blieb. Sein sonst recht sarkastisches Gesicht trug eine stille Duldermiene.

„Herr Geheimrath – ja, was haben Sie denn alles?“ lachte Emmy.

„Fragen Sie lieber, was ich noch nicht habe? Genug habe ich jedenfalls und ich verziehe mich jetzt dahin, wo das Buffet aufgeschlagen ist. Dort weiß man wenigstens, wofür man sein Geld hergiebt, und sitzt in Sicherheit. Gehen Sie mit?“

Ja, man ging mit, zu Emmys stiller Erleichterung, und bald fand man zwischen mächtigen Orangenkübeln ein geschütztes Tischchen, an dem nur ein einsamer Gast saß.

Der berühmte Heldentenor der Hofoper trat in weißer Konditortracht heran, um zu fragen, was die Herrschaften befehlen, dann brachte er das bestellte Eis mit tadelloser Grandezza. Niemals zuvor hatte Emmy „Vanille und Erdbeer“ mit solchem Hochgefühl geschlürft! Der Medizinalrath saß, seiner Pakete entledigt, behaglich da und sah in das rastlose Menschengewühl hinaus.

„’S ist doch nur ein großer Schwindel,“ bemerkte er plötzlich. „Man will sich vergnügen, sucht aber dabei sein Gewissen zu beschwichtigen und den Nebenmenschen heuchlerisch Sand in die Augen zu streuen.“

„Sagen Sie das nicht,“ fiel Emmy lebhaft ein. „Ich habe mich so gefreut über die allgemeine Opferwilligkeit und hoffe, es soll etwas Tüchtiges für die Ueberschwemmten dabei herauskommen.“

„Wissen Sie auch, wie ungeheuer die Wunde ist, die man hier mit einem kleinen bunten Fleckchen zukleben will?“

„Wenn jede Stadt in demselben Maßstabe ihre Schuldigkeit thut, dann kann das Pflaster am Ende reichen.“

„Liebenswürdige Optimistin!“ lächelte Hoffmann. „Was sagen Sie dazu, Walter?“

„Ich bin mehr Ihrer Ansicht; das Wohlthätigkeitsvergnügen ist mir eigentlich zuwider, weil die Mittel mit dem Zweck in so grellem Widerspruch stehen. Aber hier, wo man erst schenkt und dann wieder kauft, wo soviel Aufopferung zum guten Zweck sichtbar ist, sagt man sich doch, daß mit einer einfachen Sammlung nicht der vierte Theil zusammengekommen wäre.“

„Wie zum Beispiel,“ fügte Emmy belustigt bei, „Herr Medizinalrath Hoffmann in keinem Ladengeschäft diese alte leere Bonbonniere des Erwerbens für werth gefunden hätte.“ Sie hielt ihm die verblichene Seidenschachtel mit den abgerissenen Bändern und dem fragwürdigen Spitzenpapier vor Augen.

Er lachte: „Die hat mir die ausbündige Hexe Lucie aufgehängt, sie sagte, das sei ein reizendes Taschentuchetui für meine Frau. Ich merkte den Schwindel wohl, allein die kleine Schlange sah so allerliebst aus und rollte dabei ihre nichtswürdigen Schelmenaugen, daß ich nicht lange fragte, sondern zehn Mark hinlegte.“

[63] „Und das gewiß herzlich gern.“

„Natürlich, ich erkaufe mir damit das Recht zum Schimpfen. Wenn ich einen Werth dagegen eingetauscht hätte, müßte ich ja stille sein.“

„Das heißt, Sie ziehen vor, die Wohlthätigkeit rein auszuüben,“ sagte Emmy freundlich. „Hoffentlich denken recht viele eben so.“

Ein undeutliches Brummen kam statt der Antwort. „Wir sind doch in der That gewaltig fortgeschritten,“ nahm nach einer Pause Hugo das Wort. „Derartige Veranstaltungen, die uns heute selbstverständlich vorkommen, wären früher unerhört gewesen. Man kann wohl sagen: das öffentliche Gewissen ist erwacht.“

„Es dürfte noch ganz anders erwachen,“ kam es jetzt langsam und ironisch von den Lippen des alten Herrn, der mit am Tische saß und bisher scheinbar theilnahmlos vor sich hingestarrt hatte. „Entschuldigen Sie meine Freiheit,“ er lüftete mit leicht zitternder Hand den Hut und verneigte sich gegen die Drei, „aber Sie sprechen hier von Dingen, über die ich selbst unablässig nachdenke. Mein Name ist Mayer. Professor Mayer. – Glauben Sie nicht, daß riesige Summen herauskommen müßten, wenn jeder das geben würde, was er sich an Luxus leicht abstreichen könnte, ohne Noth zu leiden?“

Von Namen kannten sie alle den etwas absonderlichen Gelehrten, der große Entdeckungsreisen gemacht und wissenschaftliche Bücher geschrieben hatte. Man freute sich also der persönlichen Bekanntschaft, und Hugo fuhr nach der Gegenvorstellung gleich im angefangenen Thema fort:

„Ich glaube, Herr Professor, Sie überschätzen unsern Luxus. Die meisten haben nicht viel übrig zum Geben.“

„Ich berechne mir nur manchmal die Summen, die täglich in der Pferdebahn über das Pflaster rollen und beim schönsten Wetter von Leuten bezahlt werden, deren Zeit durchaus nicht immer Geld ist; jeder dritte Schuljunge ist ja heute zu faul, seinen Heimweg von einer halben Stunde zu Fuß zu machen, und fährt im Schülerabonnement! Das ist weggeworfenes Geld, ebenso wie die Spielverluste, die den ganzen Nachmittag über an den Tischen der Kaffeehäuser bezahlt werden. Es empört nich stets, wenn ich im Vorübergehen die Säle voll junger müßiger Leute erblicke. Man sollte sie wegjagen können, an die Arbeit, wie es der alte Friedrich Wilhelm ganz vernünftiger Weise gethan hat. Und erst die Summen für Bier, [die] in unserer guten Stadt allabendlich verschleudert werden! Was könnte für die Armen geschehen, wenn jeder Bürger nur einmal in der Woche einen Abend lang Wasser trinken wollte!“

Diese Zumuthung empörte den Medizinalrath, der Wasser nur zum Zahnputzen verwandte.

„Mein lieber Herr Professor,“ begann er, „Sie sprechen als Menschenfreund und Idealist. Das erstere bin ich auch, aber als Mann der Praxis kann ich Sie versichern: mit Geld allein ist unsern sozialen Schäden nicht zu helfen. Das Hauptübel liegt in der ganz unglaublich gesunkenen Tüchtigkeit und Sparsamkeit. Das verschweigen stets die, welche über das Massenelend jammern. Geben Sie Geld, soviel sie wollen, Sie werden dem Elend nicht steuern, nur die Unzufriedenheit vermehren.“

„Wenn ich sage: Geld für die Armen,“ erwiderte der Professor, und seine hellen Augen blitzten unternehmend unter der starkgewölbten Stirn hervor, „so ist das nur ein kurzer Ausdruck für: Mittel, die Rohheit, die Unwissenheit, das Laster zu bekämpfen, Mittel, die Leute, welche mit uns gemeinsam arbeiten sollen, zu erziehen und auf unseren sittlichen Standpunkt zu heben.“

„Das ist unmöglich bei der tiefen Kluft, die ihre Bildung von der unserigen trennt!“

„Aber schauen Sie doch um sich! Besteht denn diese Kluft nicht zwischen den sogenannten Gebildeten selbst? Auf der einen Seite die kleine Zahl derjenigen, die unsere wundervollen Kulturmittel zur höchsten Geistesfreiheit und schönen menschlichen Pflichterfüllung verwenden; auf der andern die große Menge, die trotz dieser Mittel kein anderes Ziel kennt, als äußeren Luxus, die sich den Winter über regelmäßig ihr Karlsbad für den Sommer anißt und antrinkt – Menschen, welche jählings statt in ‚stilvollen‘ in Zimmern mit Spitalmöbeln wohnen würden, wenn auf einmal ein Zauberspruch die Umgebung eines jeden auf den Rang seiner Gedankenwelt einstellen könnte! Und diese Leute geben heute im öffentlichen Leben den Ton an. Soll das so fortgehen – die Jagd nach Genuß, die unbedenkliche Ausnützung jedes Vortheils, das Streberthum in jeder Gestalt? Wahrlich, es wäre Zeit für das öffentliche Gewissen, wirklich zu erwachen, sich zu erinnern, daß der Zuwachs an Reichthum nicht die eigene Genußsucht ins ungemessee steigern darf, sondern daß er dringende Verpflichtungen fürs Allgemeine auferlegt. Wie ganz anders könnten unsere öffentlichen Zustände sein, wenn sich die Besitzenden dessen erinnern wollten!“

„Es wird doch viel gethan!“ sagte Hugo.

„Lange nicht das, was gethan werden müßte,“ fiel der Professor eifrig ein, „wenn wirklich überall tüchtige Einrichtungen zum öffentlichen Besten entstehen sollten. Dem Egoismus, den unser wirthschaftliches Emporkommen großgezogen hat, muß jetzt der ‚Altruismus‘, die Sorge für den andern, aufgesetzt werden, das sieht jeder, der diese Zeit und ihre ungeheuren Aufgaben mit aufmerksamem Auge betrachtet. Es wird eine geistige Umwälzung dazu nöthig sein, so tief als die der Reformation und der großen Revolution, aber sie wird vollzogen werden ...“

„Und den sozialistischen Staat begründen,“ sagte ironisch der Landgerichtsrath, der seinen Mann zu haben glaubte.

„Und endlich die Moral des Christenthums wirksam machen,“ erwiderte dieser lächelnd, „nachdem man sich seit Jahrhunderten für seine Dogmen die Köpfe blutig schlägt.“

„Ich verstehe Sie ganz gut, Herr Professor,“ versetzte jetzt Emmy uachdenklich. „Sie meinen, jedes sollte die Augen über den eigenen Familienkreis hinausrichten und sich nicht nur mit Geld, sondern mit eigener Sorge und eigenem Handeln der öffentlichen Uebelstände annehmen?“

„Genau das meine ich, und außer dem Vortheil, der fürs Ganze dabei herauskäme, würde eine Menge bisher müßiger unzufriedener Menschen ganz nette Freuden kennenlernen, die nur kostet, wer einmal selbst einen verwahrlosten Jungen auf den rechten Weg brachte, einen Genesenden warm bekleidete oder den Lichterbaum in eine Stube schickte, die sonst dunkel und traurig geblieben wäre.“

„Wir Frauen gehen schon auf diesem Weg,“ versetzte Emmy, „unsere Wohlthätigkeitsvereine wirken viel Gutes. Allein Sie haben recht, es könnte noch mehr geschehen, und für das Wort Wohlthätigkeit müßte ‚Pflicht‘ gesetzt werden. Jede von uns leidet unter der Untüchtigkeit und Leichtfertigkeit der weiblichen Dienstboten und Arbeiterinnen; ich habe noch jede Köchin kochen, noch jede Wäscherin waschen und jede Putzerin putzen lehren müssen. Wenn man es in eigenen Anstalten die jungen Mädchen gleich recht lehren würde und ein anständiges Benehmen dazu, dann wäre wohl viel geholfen. Und ähnlich wird es auch bei den männlichen Arbeitern sein.“

„Es ist das derselbe Zweck, dem die Knaben- und Lehrlingshorte, die Fachschulen und Sparkassen dienen,“ erwiderte der Professor. „Um die Heranwachsenden handelt es sich in erster Linie, denn Erziehung und nur Erziehung heißt die Losung, um die unzufriedenen Genußsüchtigen der unteren Klassen zu fleißigen, ihre Verantwortung fühlenden Menschen zu machen und der ungeheuren sozialen Gefahr immer steigender Verwilderung und Verbitterung zu begegnen.“

„Eine Riesenarbeit,“ sagte der Medizinalrath kopfschüttelnd. „Ich gestehe, ich bin nicht Idealist genug, um an ihre Ausführbarkeit zu glauben.“

„Alle neuen Gedanken, die ein Zeitalter bewegten, waren zuerst Forderungen der Idealisten und sind dann realisiert worden – denken Sie nur drei Jahrhunderte zurück! – Und der Schluß auf die Zukunft ergiebt sich sicher durch den Blick auf die Vergangenheit. Den Weg, den wir bisher gingen, werden wir weiter gehen, aus ursprünglicher Rohheit und Verfinsterung zur allgemeinen Bildung und zum menschenwürdigen Dasein, von dem heute so viele noch weit entfernt sind!“

Er hatte sich während der letzten Worte erhoben, grüßte nun mit einer gewissen Feierlichkeit und entfernte sich langsam.

„Amen,“ sagte der Geheimrath. „Es giebt doch merkwürdige Käuze. Uebrigens, was Karlsbad betrifft, da hat er recht, sehr recht. Nur ist es grausam, zu denken, was aus Hummer und Gänseleber werden sollte, wenn gebildete Menschen sie nicht mehr essen würden.“

(Fortsetzung folgt.)




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Blätter und Blüthen.


Krieg den Vögeln. Das österreichische Abgeordnetenhaus war am 9. Dezember v. J. Zeuge einer sehr merkwürdigen Rede, welche der Minoriten-Rektor Salvadori zum Titel „Ackerbauministerium“ zu halten den Humor besaß. Abgesehen davon, daß der Abgeordnete für Trient seine Kollegen und wohl auch die meisten Wiener mit der Enthüllung überraschte, daß er mitten im Weichbilde der Haupt- und Residenzstadt einen Weingarten besitze, rief er durch eine Philippika gegen das gefiederte Volk der Lüfte bei allen, die seiner Rede zuhörten, eine nicht geringe Verblüffung hervor.

Veranlaßt durch die allerdings traurige Thatsache, daß im vergangenen Sommer sechs Amseln aus dem Volksgarten in die Weinhecken Salvadoris meuchlings eingebrochen waren und daselbst eine reiche Ernte – 80 Kilo Trauben – verwüstet hatten, wirft der solchermaßen in seinem Eigenthum Geschädigte alle Erfahrungen über den Haufen und erklärt die alte Ansicht von der Nützlichkeit der Vögel kurzweg für eine ganz und gar unrichtige. Nach der Ueberzeugung des Herrn Pfarrers sind die gefährlichsten Feinde der Insekten nur wiederum Insekten, nicht aber Vögel – weshalb denn auch sein Antrag in der betreffenden Sitzung auf die Aufhebung des Vogelschutzgesetzes hinzielte.

Die Sache erregte zwar im Hause der Abgeordneten wiederholt Ausbrüche lebhaftester Heiterkeit. Allein daß sie nicht jedermann als harmlos erscheint, beweist eine Erklärung des tirolisch-vorarlbergischen Thierschutzvereins, in welcher sich dieser entschieden gegen den Glauben verwahrt, als ob die Ansicht des Herrn Salvadori in Tirol allgemein getheilt werde. Wie wenig dies der Fall ist, zeigte sich z. B. bei jenen Landgemeinden, welche jüngst aus Besorgniß vor der Verbreitung der Nonne dem Vogelfange energisch entgegengetreten sind. Ueberdies dürfte die Begeisterung für den Vogelfang hauptsächlich auf jene Gegenden beschränkt sein, welche die kleinen Vögel „als Garnierung der Polentaschüsseln“ brauchen, wo dann allerdings auch das Verständniß für den Werth der Vögel im Haushalte der Natur mehr und mehr gesunken ist. Thatsächlich wurde die italienische Regierung schon vor mehr als zwei Jahrzehnten plötzlich auf die traurige Erscheinung aufmerksam, daß die Wälder und Felder immer mehr vereinsamten, daß Gebüsch und Hecken aufhörten, Brut- und Sammelplätze von Vögeln zu sein, daß man stundenlang in gewissen Gegenden wandern konnte, ohne das Gefieder eines Vogels schimmern zu sehen oder die Stimme eines Sängers zu hören. Diese Erkenntniß führte zu einigen Verschärfungen der Gesetze gegen den Vogelfang. Aber sie gaben nicht aus und wurden wohl auch mangelhaft gehandhabt – der Vogelmassenmord steht in Italien und Südtirol noch immer in voller Blüthe.

Eine merkwürdige Naturerscheinung.
Linde mit Adventivwurzeln im Dresdner Großen Garten.


Tausende zarter Thierchen erreichen im Herbste auf ihrer Wanderung nur deshalb ihr Reiseziel nicht, weil sie, nachdem sie die deutschen Wälder verlassen, auf ihrem Zuge in die Hände der Roccolijäger gerathen und hingeschlachtet werden. Es sind darunter nur wenige Schädlinge, fast alle aber Sänger, also Insektenfresser. Kaum kann man es glauben, daß heute noch jemand über den Nutzen der meisten Singvögel in Zweifel sein sollte. Haben doch hundertjährige Beobachtungen gelehrt, daß, ganz abgesehen von der ästhetischen Bedeutung des Vogelschutzes, unsere ganze Land- und Waldwirthschaft mit der Hegung und Pflege der Vögel in innigem Verhältnisse steht. Täglich fallen ganze Heere schädlicher Kerfe und schädlichen Gewürms den Millionen der für sich und ihre Jungen sorgenden Vögel zum Opfer. Der Schreiber dieser Zeilen hat einmal während eines ganzen Tages einen Hausröthling (Erythacus titis) beobachtet und die Nahrung registriert, die der Vogel seinen fünf Jungen zutrug. Das unermüdliche, bis zur Erschöpfung sich abquälende Thierchen flog durchschnittlich alle drei Minuten aus und ein und brachte innerhalb zehn Stunden gegen 200 Stück der verschiedensten Beutethiere in das Nest. Wohl giebt es nicht leicht ein lebhafteres, beweglicheres und im Fangen von Insekten geschickteres Geschöpf als den Hausröthling. Allein wenn wir auch die obige Ziffer beschneiden, um ein Mittelmaß zu erhalten, und an die Millionen von gefiederten Insektenfängern denken, so können wir uns schon daraus eine Vorstellung von der Wichtigkeit des Vogelschutzes machen. Jener Hausröthling trug in seinem Schnabel bald ein Würmchen herbei, bald eine Raupe, bald einen bunten Falter, bald eine Motte – was ihm eben in den Weg kam. Aehnlich machen es alle Sänger. Was zählen dagegen selbst die Verwüstungen der Beeren- und Obstfreunde unter ihnen?

Es giebt ja freilich auch einige Schädlinge unter den Vögeln, Rektor Salvadori aber hat seine Ansichten an einem unglücklichen Beispiele demonstriert. Denn gerade die Gattung, zu der auch jene sechs übermüthigen Amseln gehören, welche in den Weingarten auf dem Wiener Minoriten-Platz eingefallen sind – gerade die Drosseln übertreffen an Nützlichkeit alle anderen Gattungen der großen Sängerfamilie. Vermöge ihrer Größe bedürfen diese Vögel eines sehr reichlichen Futters – und da sie mit wenigen Ausnahmen Insektenfänger sind, so mag man sich vorstellen, was von den 20 Species, welche die Gattung Turdus zählt, an Kerfen alljährlich vertilgt wird. Das dermaßen unglücklich gewählte Beispiel des Trientiner Abgeordneten schützt ihn also davor, mit seinem Namensvetter, dem großen italienischen Ornithologen und Vogelfreunde, Grafen Salvadori, verwechselt zu werden. Und seine Rede gegen die geflügelten Kinder der Lüfte, ohne welche sozusagen unsere Erde finster und stumm wäre, wird hoffentlich nicht dazu beitragen, die wohlthätigen, namentlich in Deutschland und Deutschösterreich verständig gehandhabten Verordnungen und Gesetze des Vogelschutzes zu entkräften.R. F.     

Eine Invalidenunterstützung in der Natur. (Mit Abbildung.) Ein winterlicher Nordweststurm des vorigen Jahres hat den Dresdener „Großen Garten“ durchbraust und zahlreiche Opfer unter den Bäumen des Parkes gefordert. Auch die fast 250jährige Linde, welche unser Bild zeigt, ist dem Orkan erlegen. Lange hat sie sich, obgleich hohl und morsch im Stamm, gegen das Absterben gewehrt und es verstanden, in geheimnißvoller, merkwürdiger Weise ihr Leben zu verlängern; der Sturm legte das Innere des Baumes bloß und offenbarte, wie es kam, daß trotz der inneren Zerstörungen die Aeste im Frühjahr stets neu grünten und duftende Blüthen brachten.

Die Kernfäule hatte den Stamm bis auf eine außerordentlich dünne Rindenschicht verzehrt, die wuchtige Krone bog sich auseinander und an der Gablungsstelle des Stamms entstanden Zerklüftungen; die Wunden bedeckten sich mit sogenannten Callus-Bildungen, wie man sie auch an der Schnittfläche von Stecklingen, bei Veredlungen u. s. w. beobachten kann. Solche Bildungen neigen sehr zur Entwicklung von „Adventivwurzeln“, und dieser Umstand kam auch der Linde zu statten. Die Aeste der Krone entsandten Wurzeln in den vom verrotteten Holzkörper gebildeten und durch eindringendes Schnee- und Regenwasser angefeuchteten Nährboden und machten sich so in Bezug auf ihre Ernährung von den eigentlichen Wurzeln und dem Stamme gewissermaßen unabhängig. Immer tiefer in die Holzerde eindringend, gelangten die neuen Gebilde bis auf den Boden und durch die fauligen Wurzeln in das Erdreich, aus welchem sie als Stellvertreter der letzteren die Baumkrone mit Nahrung versorgten, als das fast gänzlich abgestorbene Zellgewebe in der Weichbastschicht des Stammes seinen Dienst nicht mehr zu erfüllen vermochte. B.     

Wieviel Licht brauchen wir zum Lesen und Schreiben? Wir messen das Licht nach „Normalkerzen“, das heißt wir vergleichen die Stärke einer Lichtquelle mit dem Schein der Flamme einer Normalkerze. In Deutschland gilt als solche eine Paraffinkerze von 20 Millimetern [65] Durchmesser bei 50 Millimetern Flammenhöhe. Eine solche Normalkerze wirft nun auf ein Blatt Papier, das wir ihr gegenüber halten, eine gewisse Menge Licht, von der alsdann die Helligkeit des Papiers abhängt. Diejenige Helligkeit, die entsteht, wenn wir das Blatt Papier in einem Meter Entfernung senkrecht zu der Normalkerze halten, nennt man eine „Meternormalkerze“ oder abgekürzt eine „Meterkerze“. Auf diese Helligkeit einer Fläche kommt es nun an, wenn wir das Maß des für unsere Arbeiten wie Lesen, Schreiben, Sticken etc. nöthigen Lichtes bestimmen wollen. Versuche, die der berühmte Breslauer Augenarzt Herrmann Cohn ausgeführt hat, haben ergeben, daß erst bei einer Helligkeit von 50 Meterkerzen das Auge ebenso leicht lesen kann wie bei Tageslicht am Fenster. Daraus wurde als das geringste erforderliche Maß der künstlichen Beleuchtung beim Lesen und Schreiben die Papierhelligkeit von 10 Meterkerzen abgeleitet. Diese Helligkeit erzielt man ungefähr, wenn man ein Blatt Papier wagrecht hinlegt und zwar 15 cm unter und 20 cm seitlich von einer Stearinkerze. Es ist das, wie sich jeder überzeugen kann, eine mäßige Beleuchtung. Geringere Grade der Helligkeit sind für das Auge sehr schädlich und leisten namentlich der Kurzsichtigkeit Vorschub.

Welche Helligkeit ergeben nun unsere Petroleumlampen? Von den besten sind es nur sehr wenige, welche die geforderte Lichtmenge noch auf dreiviertel Meter Entfernung auf das Papier werfen, und daraus ergiebt sich die hygieinische Regel, daß man eine Petroleumlampe nicht weiter als einen halben Meter von dem Lesebuch oder Schreibheft entfernt halten sollte. Diese Regel, eine Errungenschaft der letzten Jahre, sollte im Hause stets beachtet werden.* 

Vor einem Wirthshause in Ostgalizien.
Nach einer Zeichnung von T. Rybkowski.

Vor dem Wirthshause (Mit Abbildung.) Gleiche Verhältnisse schaffen überall gleiche Formen. Auch in den Städtchen Ostgaliziens erscheint einmal in der Woche der Bauer aus der Umgegend, um seine Erzeugnisse abzusetzen und seine Bedürfnisse einzukaufen. Da sammeln sich dann vor den Wirthshäusern die ländlichen Fuhrwerke, die charakteristischen Gestalten der polnischen Bauern und Bäuerinnen gehen ab und zu, es ist ein Grüßen und Schwatzen, Feilschen, Streiten und Lachen, wie es eben ein Marktgetriebe mit sich bringt. Der Maler Rybkowski, selbst ein Pole und genauer Kenner seiner Heimath, führt uns einen solchen Sammelplatz im winterlichen Gewande vor. Unter die Wagen mischen sich zahlreiche Schlitten, zum Theil einfachster Bauart, einer der Bauern ist stolz zu Pferde erschienen. An der Mauer des Wirthshauses aber entziffern wir verheißungs-, manchem vielleicht gar verhängnißvolle Worte: „Pivo“ und „Wodki“ (Bier und Schnaps) – hoffen wir, daß des Guten darin nicht zu viel geschehe und daß daneben der gesündere nahrhaftere Gansbraten zu verdienten Ehren gelange!

Freund oder Feind? (Zu dem Bild S. 49.) Nirgends ist das Schicksal des Menschen unsicherer als in der Wüste. Sobald er die schützenden Mauern der angrenzenden Städte verlassen hat, umringen ihn tausend Gefahren, und die schlimmste droht ihm von den Söhnen der Wüste.

Unter den Bewohnern der Sahara gelten die Tuareg für den schönsten Menschenschlag, ja sie sollen die schönsten Männer von ganz Afrika sein. Sie sind in ihrem südlich von Algerien gelegenen Gebiete die Herren der Karawanenstraße und lassen nur zu oft den Reisenden ihre Herrschaft in schlimmster Weise fühlen. Unter den Speeren der Tuareg haben schon viele Forscher ihr Leben ausgehaucht, die Mörder der kühnen Forscherin Alexandrine Tinné waren gleichfalls Tuareg. Das Menschenleben hat bei ihnen wenig Werth und an Fremden wird der Raubmord ohne viel Umstände verübt.

Das wissen die Händler, die auf dem Rücken der Kamele die Wüste durchziehen, und lassen das Vertrauen jenseit des Dünengürtels, der die nördliche Grenze des Tuareggebietes bildet. Sie reiten still dahin auf dem Wege, den Sanddünen, Felsen und Gerippe bezeichnen, und sind froh, wenn sich in der weiten Runde keine Menschengestalt blicken läßt. Eines Tages aber taucht am Horizonte ein Reiterbild auf. Wer ist es? Freund oder Feind? Es muß entschieden werden, bevor man weiter zieht. Die Karawane macht Halt und einer der Führer reitet vor, der fremde Reiter kommt näher, es ist ein Targi (so heißt die Einzahl von Tuareg). Man erkennt ihn wohl an seiner Tobe, dem hemdartigen Ueberwurf, am Speer, am langen Schwert und der langen Flinte, eine phantastische Hutmaske trägt er auf dem Rücken, er hat sie vielleicht unlängst geraubt. Der Führer der Karawane läßt seinen Schleier fallen, giebt sich zu erkennen und nennt seinen Namen. Der Targi thut es nicht; er lüftet nicht den um Kopf und Gesicht sorgfältig gewickelten Litham – er legt diesen Schleier überhaupt so selten wie möglich ab. Leute des Schleiers, „Ahel-el-Litham“, wurden ja die Tuareg schon von den ersten Arabern benannt, die mit ihnen in Berührung kamen.

Freund oder Feind? Der sorgliche Händler wünscht den Frieden und betheuert es beim Allah, indem er die Rechte erhebt, der Targi blickt über ihn hinweg und zählt die Häupter und Flinten der Karawane ... auch er versichert jetzt den Fremden seiner friedlichen Gesinnung. Er wendet sein Meheri (Reitkamel) und trabt zurück nach dem ausgetrockneten Flußbette, in welchem seine Freunde versteckt lauern.

„Zu stark ist die Karawane,“ lautet die Meldung des Kundschafters.

„Fürsorge für Erholungsbedürftige.“ Unter diesem Titel sind zwei Vorträge von Dr. Ad. Hägler in Basel erschienen, in welchen uns ein Ueberblick gegeben wird über die verschiedenen Anstalten für Genesende und Kranke aller Art, über Ferienkolonien, Seehospize, Bergsanatorien etc. Unsere Leser sind mit diesen menschenfreundlichen Bestrebungen durch die lange Reihe von Artikeln vertraut, in welchen die „Gartenlaube“ gleich beim Beginn für jede dieser Neuerungen eingetreten ist; sie werden auch der Ueberzeugung des Verfassers zustimmen, daß ein Rückblick auf [66] das gewonnene uns in der Einsicht bestärken muß, Schönes und Großes könne oft mit kleinen Mitteln geschaffen werden, jeder Menschenfreund könne in irgend einer Weise mit beitragen zu der Lösung der edlen Aufgabe, den Schwachen und Sinkenden wieder aufzuhelfen und eine Saat der Liebe zu säen, welche beiden, den Gebenden und Empfangenden, welche der Gesammtheit zum Segen gereichen wird. *     

Etwas mehr Rücksicht! Ab und zu empfängt man neuerdings einen Brief, vorzugsweise von zarter Hand, der scheinbar unfrankiert ist, aber dennoch keinen Strafporto-Vermerk aufweist. Das Räthsel löst sich beim Umwenden: die Schreiberin hat, einer neuen Mode zufolge, die Marke als Siegel rückwärts aufgeklebt, und die Post muß auch solche Frankatur gelten lassen. Wie viel ärgerlichen Zeitverlust aber solche Briefe, wenn sie massenhaft auftreten, den ohnedies vielgeplagten Postbeamten verursachen, daran hat die sonst vielleicht ganz gutmüthige und menschenfreundliche Absenderin nicht gedacht. Wir wollen ihr deshalb hier erklären, daß die schnelle Stempelung und Abfertigung der Briefe einzig darauf beruht, daß dieselben ihre Marke alle an der gleichen Stelle, d. h. rechts oben, tragen. Nur so ist ein maschinenartig schnelles Stempeln und Abwerfen möglich; jeder erst umzudrehende Brief kostet die dreifache Zeit, verzögert also die Stempelung von den andern. Welche ärgerliche Störung eine größere Anzahl der ersteren bei der ohnedies knapp gemessenen Frist der Postabfertigung bedeutet, liegt ja auf der Hand. Mögen dies unsere neuerungslustigen jungen Damen bedenken und danach handeln! Ihre Individualität kann sich in Form und Farbe der Umschläge schrankenlos entfalten: lang oder viereckig, himmelblau oder krebsroth – einerlei, wenn nur die Marke an der richtigen Stelle sitzt, rechts oben! Bn.     

Frau Rosa Sucher. (Zu dem Bilde S. 53.) Zu den künstlerischen Erscheinungen, die seit Jahren während der Bayreuther Festspielzeit die Bewunderung einer aus allen Welttheilen zusammenströmenden Wagnergemeinde an sich ketten, zählt Frau Rosa Sucher. Wer sie vor Monden gelegentlich der letzten Festspielperiode als Venus im „Tannhäuser“ gesehen, wer ihre Isolde kennengelernt hat, der kam sicher unter dem Eindruck ihrer in der Darstellung wie im Gesang gleich ausgezeichneten Leistungen zu der festen Überzeugung: so und nicht anders müssen diese Gestalten ihrem Schöpfer vor Augen geschwebt haben.

Und ihre Brunhild in Wagners „Nibelungentrilogie“ vergißt wohl gleichfalls keiner, dem einmal das Glück zu theil geworden ist, ihr in dieser Rolle zu begegnen. Sie verkörpert so herrlich die Heldenjungfrau, sie prägt so klar den Walkürencharakter aus, ohne jemals die Grenzen des Schönen zu verletzen, und schmettert so hell den Hojotohoruf in die Welt, schwingt so kraftvoll den Speer: ein herzerfreuender Anblick, bei dem man sofort begreift, warum gerade Brunhild der Liebling Wotans geworden ist. – Und einer solchen Darstellung entspricht auch der Gesang. Mag sie nun den Geschwistern Siegmund und Sieglinde den Tod ankündigen oder dem zürnenden Allvater ins Auge sehen und zerschmettert zusammenbrechen unter der Last seines Strafgerichtes, mag sie zujauchzen dem hehren Helden Siegfried oder sich aufbäumen in wildem, verzweiflungsvollem Schmerz über den an ihr verübten Verrath; mag sie ahnend verweilen bei der Lösung ihres Lebensräthsels oder ins Flammenmeer sich stürzen, um im Tode dem anzugehören, der einst sie aus dem Feuerschlaf furchtfrei geweckt. In allen diesen Scenen hält sie Auge und Ohr in einer Spannung, die sich nicht beschreiben, nur empfinden läßt. Den dramatischen Accent meisterlich beherrschend, fesselt sie gleichzeitig durch den Wohllaut und die ausgeglichene Schönheit ihres Stimmmaterials.

So erblickt sie denn auch in den Wagnerschen Frauengestalten das Ideal ihrer Kunst; ihnen von der Bühne herab zu vollem dramatischen Leben zu verhelfen, gilt ihr als höchste Aufgabe. Trotzalledem widmet sie auch den Werken der älteren Meister warmen Antheil. Wie versteht sie es z. B., Glucks „Armide“ mit allem Zauber der Erscheinung, mit vollendeter Gesangstechnik zu vermitteln! Warum auch sollte sie, die mit allem ausgerüstet ist, was Mozart, Weber, Beethoven, Gluck von einer dramatischen Künstlerin verlangen, ihr Pfund vergraben und einer Einseitigkeit zuneigen, bei der sich nur ein Theil ihres reichen Talentes entfalten könnte?

Mit der Größe ihrer natürlichen Begabung verbindet sie meisterhaften Fleiß und echte Begeisterung für ihren Beruf, ihr außerordentlich rollenreiches Repertoire giebt darüber den bündigsten Aufschluß.

Geboren zu Vellburg (Oberpfalz) als die Tochter des dortigen Chorregenten Hasselbeck, fand sie frühzeitig Gelegenheit, ihr Gesangstalent leuchten zu lassen; in München erfuhr es nach des Vaters Tod seit 1871 gründlichere Ausbildung, die ihr das Auftreten auf der Bühne ermöglichte.

Frau Rosa Sucher ist seit einigen Jahren eine der gefeiertsten Zierden der Berliner Hofoper; die Leipziger Bühne, der sie als Fräulein Hasselbeck jahrelang unter der Direktion Förster-Neumann angehörte, sollte auch ihr, wie so mancher andern Kraft, zur Wiege des Ruhmes werden. Als Gattin Jos. Suchers, des geistvollen Dirigenten, Komponisten und glühenden Wagnerverehrers wurde sie mehr und mehr vertraut mit den Geheimnissen des Wagnerschen Musikdramas. Nach mehrjährigem Wirken an der Hamburger Oper folgte sie einem ehrenvollen Ruf nach Berlin. Möge sie noch lange als auserwählte Priesterin des dramatischen Gesangs zum Entzücken der Kunstfreunde ihres Amtes walten! Bernhard Vogel.     

Einrichtungen zur Erleichterung des Fremdenverkehrs. Zwei bemerkenswerthe Neuerungen zur Bequemlichkeit des reisenden Publikums hat die französische Nordbahn auf ihrem Pariser Bahnhofe ins Leben gerufen; es sind dies ein Schreibsaal und eine Aufbewahrungsstelle für gekaufte Gegenstände. In dem ersteren findet der Reisende alles zum Schreiben Erforderliche vor, ausgenommen Papier und Briefumschläge, welche er aus einem im Saale aufgestellten automatischen Verkäufer entnehmen kann. Dieser liefert auf Wunsch auch Postmarken und Postkarten.

Die Aufbewahrungsstelle scheint eigens für die Frauenwelt geschaffen zu sein und wird namentlich jenen zahlreichen Wallfahrerinnen zugute kommen, welche regelmäßig vor Beginn der „Saison“ kisten-, kasten- und schachtelbeladen die von der tonangebenden Modestadt abgehenden Eisenbahnzüge zu füllen pflegen. Hat man nämlich in einem größeren Geschäfte seine Einkäufe besorgt, so giebt man dem Verkäufer die Absicht kund, mit der Nordbahn zurück- oder weiterzufahren. Man erhält dann einfach eine Marke, zeigt diese vor der Abfahrt bei der Aufbewahrungsstelle auf dem Bahnhofe vor und bekommt nun dort seine Sachen, wohl verpackt, ausgehändigt. Der Preis für diese Mühewaltung der Bahn ist ein äußerst geringer; er beträgt nur zwei Sous für den Tag und für ein Paket; bei mehreren Paketen sogar nur einen Sou für das Stück.

Unter Tannen und Farren. Das liebliche Thüringen hat viele eifrige Verehrer. Wiederum hat August Trinius, der Verfasser eines größeren Werkes über jenes Land, ihm ein begeistertes Loblied angestimmt in einer kleinen Schrift, welche den obigen Titel führt und „Skizzen aus dem Thüringer Wald“ enthält (Berlin, Hans Lüstenöder). Es ist darin ein herzlicher warmer Ton angeschlagen; die Schilderungen haben etwas Anheimelndes, manche gemahnen wie stimmungsvolle Lieder in Prosa. Einiges von dem, was der Verfasser eingehend schildert, ist den Lesern der „Gartenlaube“ nicht fremd. Besonders was er über die Thüringische Puppenindustrie sagt, ist denselben aus dem Aufsatz „Aus den Geheimnissen der Puppentoilette“ (Jahrgang 1888, S. 15) großentheils bekannt. Unser Blatt ist ja auch seit allen Zeiten in jenen Gegenden besonders heimisch, und wo Trinius ein Stillleben aus Hildburghausen schildert, erwähnt er nicht nur den traulichen Sitz am Hause, von Pfeifenkraut und Geißblatt überwuchert und mit den Lieblingsblumen der Hausfrau umstellt, sondern auch die „Gartenlaube" im gelben Umschlage, die auf dem Tische neben dem blinkenden Kaffeegeschirr am Morgen zwischen Handarbeiten und dem Schlüsselkorbe liegt.

Der Verfasser wandert in das Frankenland hinüber über den Rennstieg, der für die meisten norddeutschen Touristen die Grenze ihrer Wanderschaft bildet. Und dies Franken schildert er als ein schönes, ein glückliches Land voll lachender Anmuth, ein fröhliches, sangeslustiges Land:

„Und wenn die Menschen verstummen, dann trillert’s und rollt’s und lockt’s von allen Fenstern herab, aus jedem Hause, aus den tausendfachen Kehlen einer befiederten Sängerwelt. Wohl sind die Zeiten vorüber, wo manch’ unbemittelter Waldbewohner seine beste Kuh für einen Edelfinken hingab, die Leidenschaft mäßigte sich eben zur Liebhaberei, aber noch heute tritt der Fabrikarbeiter in der Werkstatt jenseit des Rennstiegs am Montag Morgen mit dem Käfig unterm Arm zur Arbeit an, um während der Woche seinem Liebling vor sich draußen am Fenster ein Plätzchen einzuräumen und stillvergnügt ihm zuzulauschen. Zu der Liebhaberei der Vögel gesellt sich noch ein schöner Kultus der Blumen. Wie oft erblickt man ein niedriges Schubfensterchen mit blinden Scheiben, vom Sturm halb zerschlagen, aber blühende Nelken grüßen freundlich dahinter und im Bauer zwitschert ein leichtsinniges Kind des grünen Waldes. Nelken, Levkojen und Rosmarin stehen überall in hohen Ehren.“

Auch mancherlei geschichtliche Kunde, namentlich von den Burgen der Grafschaft Hennegau, berichtet Trinius und manche Sage erzählt er z. B. aus dem industriereichen Lautergrund, in welchem das „lustige Suhl“, das deutsche Damaskus mit seinen Waffenfabriken, sich ausbreitet. Dort, wo nahe der Schmücke, tausend Fuß jäh herunter, an der Lauter das Dorf Goldlauter liegt mit seinen rothen Dächern, da erzählt man sich in den Spinnstuben eine alte Geschichte:

„Die Hochzeitglocken klangen durch Goldlauter und drüben in einem kleinen Hause stand im bräutlichen Schmuck, den Kranz im Haar, die Schönste des Dorfes, welche nun bald dem ungeliebten, ihr aufgedrungenen Mann folgen sollte. Da kam ein Weh über sie und heiße Thränen entfielen ihren Augen. Als nun die Glocken zum zweiten Male läuteten und auf dem Hausflur der lärmende Troß der geladenen Gäste und dazwischen die triumphierende Stimme des Bräutigams laut wurden, da schlich sie sacht aus der Hinterthür in den anstoßenden Garten, um noch einmal Abschied zu nehmen von all den stillen Zeugen ihrer frohen Jugend. Und siehe da – ein freundlicher Mann trat ihr entgegen und faßte sie sanft bei der Hand und willenlos ließ sie sich leiten, von Blume zu Blume, von Garten zu Garten. Und als der Abend sich ins Thal senkte, da standen sie wieder an der Gartenthür des elterlichen Hauses. Sie aber wandte sich noch einmal um und erblickte jetzt eine hohe, hehre Lichtgestalt, welche mit der Hand freundlich winkte und dann verschwand. Sie pochte nun an die Thür; fremde Gesichter zeigten sich; sie ging herab ins Dorf, frug hier und sprach dort ein. Niemand kannte sie, niemand vermochte Auskunft zu geben, und als man endlich die alten Kirchenbücher nachschlug, siehe, da waren hundert Jahre seit jenem Tage vergangen. Da wußte sie, daß es der Heiland gewesen sei, welcher ihr erschienen, und sie sank lächelnd tot darnieder. So hat man sie begraben, im zerknitterten Brautkleide und auf dem Silberhaar die welke Myrthenkrone.“ †     

Die hydraulische Presse bei Thieren. Durch die rastlosen Untersuchungen der Zoologen ist uns heute ein tieferer Einblick in das geheimnißvolle Walten der uns umgebenden Welt der kleineren Thiere und namentlich das der Insekten gestattet, als dies jemals der Fall war. Viele wechselseitige Beziehungen dieser kleinen Lebewesen sowohl unter sich wie auch zu der ihrer harrenden Pflanzenwelt wurden der sorgfältigsten Beobachtung unterworfen, und je mehr der Schleier sich lüftete, der seither alle diese wunderbaren Rätsel vor unseren Augen verbarg, um so mehr wuchs auch das Interesse des größeren gebildeten Publikums an den Fortschritten dieser Wissenschaft. Wir berichten heute über eine neue Erforschung auf diesem Gebiet, die sicher die Bewunderung der Naturfreunde verdient.

Es ist bekannt, daß Algier vor einigen Jahren von einer Heuschreckenüberschwemmung heimgesucht wurde, der zufolge sich fast die ganze Provinz der Gefahr einer Hungersnoth ausgesetzt sah. Die französische [67] Regierung beauftragte deshalb einen jungen Zoologen, Kunkel d’Herenlais, vom zoologischen Museum, den Schaden an Ort und Stelle zu studieren und die geeigneten Mittel zu dessen Beseitigung vorzuschlagen. Seitdem hat sich derselbe das Studium der Heuschrecke zu seiner vornehmsten Aufgabe gemacht, den Entwicklungsprozeß derselben Schritt für Schritt verfolgt und dabei ganz seltsame Eigenthümlichkeiten entdeckt.

Aus einem Bericht, den Kunkel an die „Akademie der Wissenschaften“ in Paris eingereicht hat, erfahren wir die besonderen Umstände, von denen das Ausschlüpfen der jungen Heuschrecken aus dem gemeinsamen Gehäuse, in welches die Eier von dem Weibchen abgelegt wurden, begleitet ist. Diese eiförmigen Hüllen sind stets in die Erde eingegraben. Kunkel nahm einige davon und barg sie in Glasröhren, so daß er alle Vorgänge darin bequem verfolgen konnte. Die Befreiung der im Innern des Gehäuses schon den Eiern entschlüpften Heuschrecken findet regelmäßig in den ersten Stunden des Tages statt. Jede Umhüllung aber ist durch einen wunderbar genau schließenden Deckel verschlossen, der von den jungen Thieren im Innern erst emporgehoben werden muß. Zu diesem Zweck vereinigen wohl sechs oder noch mehr von ihnen ihre Kräfte und lassen den Deckel emporspringen, so daß er bisweilen centimeterweit davonfliegt.

Wie ist das möglich? wird der Leser fragen; wie fangen sie das an? – Nun sie verwandeln sich – in wirkliche kleine hydraulische Pressen. Man sieht nämlich, wie sie aus ihrem Körper hinten am Kopfe ein mit Blut gefülltes Bläschen hervortreten lassen, das sie ganz willkürlich anschwellen und wieder zusammenziehen können. Mittels dieser Bläschen vermögen sie ohne große physische Anstrengung einen recht ansehnlichen Druck auszuüben und so mit diesem vorzüglichen Apparat die Pforte des Gefängnisses zu sprengen, in welchem sie geboren wurden. Stellt sich dem jungen Insekt ein neues Hinderniß entgegen, so nimmt es seine Zuflucht zu seiner kleinen Presse und drängt das Hinderniß damit zurück, indem es das im Körper noch zurückgehaltene Blut durch Zusammenziehung des ersteren dem Bläschen zuführt.

Durch dieses willkürliche Aufblähen und Zusammenziehen ist es dem Insekt möglich, durch die engen Spalten des Bodens nach der Oberfläche heraufzugelangen und bisweilen sogar durch die kleinen Oeffnungen der Schachtel hindurch zu entweichen, welche der Sammler für undurchdringlich hielt.

Diese Eigenthümlichkeit der afrikanischen Heuschrecke, in der Jugend ihren Nacken höckerartig aufblähen zu können, dient ihr auch beim Wechsel ihres Gewandes. Denn ist der Augenblick der Häutung gekommen, macht sich auch sofort die kleine Presse bemerkbar, sprengt die zu eng gewordene Hülle auseinander und gestattet so dem Thiere, durch den entstandenen Riß hindurchzuschlüpfen und die alte Haut abzustreifen.

In dem Felsengebirge Nordamerikas giebt es eine andere Heuschreckenart, die ähnliche Verwüstungen anrichtet wie die in Algier; aber die Naturforscher der Vereinigten Staaten haben an derselben bis jetzt nicht die merkwürdigen Manöver beobachtet, von denen uns heute Kunkel zum ersten Male berichtet. Sicher würden die Entdeckungen Kunkels auch mit einer gewissen Ungläubigkeit, wenigstens mit großer Vorsicht aufgenommen werden, wenn uns das Reich der Insekten, so weit uns dasselbe bereits bekannt ist, nicht schon Aehnliches darböte. Man findet nämlich denselben hydraulischen Mechanismus bei einer Fliegenart wieder, deren Larve oder Made jeder Angler kennt, weil er sie als einen vortrefflichen Köder zu benutzen weiß. Wer jedoch die Entwicklung dieses Thieres schon beobachtet hat, dem ist gewiß auch aufgefallen, daß an der eiförmigen braunen Puppe die früheren Ringe der Larve noch deutlich sichtbar sind.

Diese Puppe hat in der That keine andere Umhüllung als dieselbe Haut, welche bereits der Larve zur Bedeckung diente, und aus dieser Hülle geht elf Tage nach der Verpuppung das vollkommene Insekt wie aus einem Gespinst hervor. Es ist nicht schwierig, den Vorgang genau zu beobachten; dann wohnt man aber auch einem Schauspiel bei, wie man es sich merkwürdiger kaum zu denken vermag. Sogleich beim ersten Versuch bemerkt man, wie unter den angestrengten Bewegungen des Insekts, das aus dem Innern hervorzugehen wünscht, das Ende der braunen Hülle an der Seite, wo sich der Kopf der Larve befand, sich wie ein Deckel ablöst. Schaut man nun mit größerer Aufmerksamkeit hin, so sieht man den Kopf des Thieres bald sich aufblähen, bald wieder einschrumpfen, um die alte Haut, worin es ihm jetzt zu eng und unbehaglich wird, bersten zu machen. Und das Aufblähen und Entleeren des Apparates geht abwechselnd wie bei einem Ballon so lange vor sich, bis das Thier sich endlich losgelöst hat und wie ein Phönix aus seinem Futteral hervorschlüpft. Nach Verlauf von wenigen Minuten, während welcher Zeit das erlöste Insekt in seinem noch erdfarbigen Gewand ganz unbeweglich bleibt, nimmt es seine kupferige Färbung und sein sonstiges straffes Aussehen an.

Diese merkwürdige Eigenthümlichkeit gewisser Insekten, bestimmte Theile ihres Körpers aufzublähen und gleichsam als hydraulische Presse zu benutzen, war demnach den Forschern bereits vor den anziehenden Beobachtungen Kunkels kein Geheimniß mehr. Dennoch finden wir in denselben einen neuen Punkt, der nicht weniger beachtenswerth ist, nämlich die gemeinsame Anstrengung mehrerer junger Heuschrecken, sich miteinander zu verbinden, um den Deckel ihres Gefängnisses zu sprengen, den zu beseitigen einer einzigen nicht möglich wäre. L. Haschert.     

Geschoß zum Oelen der See.

Das Oelen der See. Die Verwerthung des Oels zur Glättung der Meereswogen ist bekanntlich eine Frage, welche die öffentliche Aufmerksamkeit seit einer Reihe von Jahren wieder lebhaft beschäftigt. Auch die „Gartenlaube“ hat ihren Lesern im Jahrgang 1888, Halbheft 23 über den Stand der Angelegenheit Bericht erstattet. Neuerdings hat ein Franzose Namens Silas ein Geschoß konstruiert, welches vor allem dem Zweck dienen soll, die Bändigung der gefährlichen Meereswogen auf längere Strecken vor dem fahrenden Schiffe her zu bewerkstelligen. Das Geschoß, welches unsere nebenstehende, dem neuesten, wieder äußerst reichhaltigen und anregenden Bande des „Neuen Universum“ entnommene Abbildung wiedergiebt, ist aus Holz, 46,5 cm lang, besitzt eine innere Höhlung H, welche mit 300 g Oel gefüllt ist, und trägt bei A eine starke Garnumwicklung. Vermittelst eines kleinen Mörsers oder auch einer Schleuder wird es in der gewünschten Richtung in das Wasser geworfen, wo es sich alsbald in der Weise, wie unsere Figur zeigt, aufrecht stellt. Am Boden der Patrone befindet sich nämlich ein Blechbeschlag nebst einer weiteren Beschwerung, während oben bei L ein Korkring ringsum läuft. Hat das Geschoß diese Lage erhalten, wobei die zur Oelkammer führenden Mündungen O unter Wasser zu liegen kommen, so dringt nach Durchweichung einer leichten Löschpapierumwicklung durch jene Mündungen Wasser in die Oelkammer, sinkt vermöge seines größeren spezifischen Gewichts zu Boden und verdrängt ein entsprechendes Quantum Oel, welches alsbald seine beruhigende Wirkung auf die umgebende Wogenfläche ausübt.

Noch ist eine besondere Vorrichtung am Kopfe der Patrone zu erwähnen. Dieser enthält nämlich bei B eine Höhlung, welche mit Phosphorcalcium gefüllt ist. Durch eine unter Wasser liegende Oeffnung, in der Abbildung links unter dem Kopf sichtbar, kommt das Phosphorcalcium mit Wasser in Berührung, es entwickelt sich Phosphorwasserstoff, der in der durchlöcherten Röhre P aufsteigt, sich an der Luft entzündet und mit hellleuchtender Flamme brennt, die im Winde nicht erlöscht. Man kann also vom Schiffe aus auch bei Nacht genau verfolgen, wo das Geschoß schwimmt.

Heilung durch Dynamit. Das ist eine recht verfängliche Ueberschrift für eine kurze Notiz. Die modernen Mordbrenner wollen ja die Gesellschaft mit solchen Mitteln heilen, was vernünftige Menschen eben morden und brennen nennen. Doch nicht von Heilmitteln Mostscher Art soll hier die Rede sein, sondern von einer wirklichen Arznei. Die wenigsten Laien wissen, daß in dem Heilschatze auch das Nitroglycerin, der explodierende Bestandtheil des Dynamits, eine wenn auch bescheidene Stelle einnimmt.

Gegenwärtig wird in den Fachblättern folgender Fall veröffentlicht. Dr. K. Hoffmann, Arzt in Baltimore, wurde eines Tages früh morgens um 9 Uhr zu einer 30jährigen Schauspielerin gerufen, die anscheinend tot im Bette aufgefunden worden war. Es handelte sich um eine Leuchtgasvergiftung. Der Gashahn war in dem kleinen Schlafzimmer vom vorhergehenden Abend 11 Uhr bis zum andern Morgen 9 Uhr offen geblieben. Tot war die Schauspielerin für den Arzt noch nicht, denn er konnte noch einen schwachen Puls und eine langsame oberflächliche Athmung feststellen. Als einige andere Belebungsversuche nichts fruchteten, machte ihr der Arzt eine Einspritzung von 1 Milligramm Nitroglycerin unter die Haut der Herzgegend. Schon nach einer halben Minute hob sich der Puls, das Athemholen wurde tiefer und die Kranke gab einen Laut von sich. Sie wurde bis zum Nachmittag wiederhergestellt – der Sprengstoff hatte ihr geholfen. *     


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

F. R. 29. Ihre „Weihnachts-Fest-Erinnerung“ ist verspätet eingetroffen.

L. J., Gymnasiast in Darmstadt. Die Grabschrift Livingstones in der Westminsterabtei zu London lautet wie folgt: Von treuen Händen über Land und Meer gebracht, ruht hier David Livingstone, Missionar, Reisender, Menschenfreund. Geboren 19. März 1813 in Blantyre, Lanarkshire. Gestorben 1. Mai 1873 in Tschitambos Dorf, Ilala. Dreißig Jahre seines Lebens waren dem unermüdlichen Streben gewidmet, die Völker Afrikas zu evangelisieren, unenthüllte Geheimnisse zu erforschen, den verwüstenden Sklavenhandel in Centralafrika zu vernichten, wo er noch zuletzt die Worte schrieb: „Alles, was ich in meiner Einsamkeit sagen kann ist: möge des Himmels reicher Segen auf jeden, Amerikaner, Engländer oder Türken, herabkommen, welcher helfen will, diese offene Wunde der Welt zu heilen.“ – Die Aufsätze in der „Gartenlaube“ über Livingstone finden Sie leicht unter Hilfe der Register.

R. Schlicht. Leider nicht verwendbar!

P. S. in T. Eine gut geschriebene Gesammtdarstellung der Geschichte unseres Volkes bietet Ihnen in mäßigem Umfang die „Deutsche Geschichte“ von Professor Dr. O. Kämmel (Carl Höckner, Dresden). Sie können das Werk durch jede Buchhandlung beziehen.

A. L. in Barmen. Ihr Gedicht können wir leider nicht verwenden.

A. F. in J. Das Motto des betreffenden Buches heißt auf Deutsch: „Dem bißchen Geist, welches der gute Mann besaß, mußte der Geist anderer Leute zur Ergänzung dienen“ – Die Georginen finden Sie vielleicht unter ihrem Familiennamen „Kompositen“. – Eine Ostertabelle für das 20. Jahrhundert enthält der „Gartenlaube-Kalender“ für das Jahr 1892.


[68]
Allerlei Kurzweil.


Skataufgabe Nr. 1. Von K. Buhle.

Ein Spieler hat in den ersten Gängen folgende sieben Karten erhalten:

(tr.7.) (tr.9.) (tr.D.) (tr.Z.) (tr.B.) (car.B.) (car.7.)

Obwohl die übrigen drei Karten nur 4 Augen enthalten, kann er doch ein großes, bei jeder beliebigen Vertheilung der übrigen Karten unverlierbares Spiel ansagen.

Welches ist das größte Spiel, das er ansagen kann, und welche drei Blätter müssen hinzugekommen sein?

Dominopatience.

Aus den 28 Steinen eines gewöhnlichen Dominospiels ist obenstehende Figur in der Weise zu bilden, daß die Augensumme jeder senkrechten, jeder wagerechten und jeder diagonalen Reihe 21 beträgt. Die gegebenen 11 Steine dürfen nicht umgelegt werden.

A. Stabenow.


Logogriphaufgabe.

Hader, Gehalt, Geste, Reihe, Weide, Leier, Kind, Leiter, Raupe, Barde, Stille, Sonne, März, Huë, Kaste, Last, Cid, Bohne, Reiter, Minne.

Aus jedem dieser Wörter ist dadurch ein neues substantivisches Wort zu bilden, daß irgend ein Buchstabe gestrichen und durch einen andern ersetzt wird. Drei Wörter, welche Homonyme sind, werden nicht geändert. Wird dieser Forderung in richtiger Weise genügt, so nennen die gestrichenen Buchstaben, vorwärts gelesen, und die hinzugefügten Buchstaben, rückwärts gelesen, je einen den Lesern der „Gartenlaube“ bekannten Roman.

Schieberäthsel.

Reederei, Segel, Reifen, Eros, Aargau, Lamm, Eber, Linsen, Tasche, Idee, Selen, Zink, Agra, Lehrer, Jffland, Haushund, Wickel, Ebene, Liga, Stern, Tenor, Denar, Minze, Nola, Renz, Inn.

Durch Verschieben – nicht Umstellen – der Buchstaben sind aus obigen Wörtern 29 neue Wörter zu bilden. Die vorletzten Buchstaben dieser Wörter nennen einen Roman, der in einem früheren Jahrgang der „Gartenlaube“ veröffentlicht worden ist.

Eiszapfenräthsel. Von Al. Weixelbaum.


Auflösung des Kapselräthsels auf S. 36: Kreis, Reis, Eis, Ei.

Auflösung des Logogriphs auf S. 36: Onkel – Enkel.

Auflösung des Räthsels auf S. 36: vogelfrci.

Auflösung des Bilderräthsels „1892“ auf S. 36:

Beim ersten Ablesen der Lettern an den Zweiglein der Tannenzweige ist der von rechts nach links gehende Ast zu nehmen und alle an den Zweiglein stehenden Lettern abzulesen; beim zweiten Lesen kommt der von links nach rechts gehende Ast daran und wird in gleicher Weise abgelesen. Der erste Ast giebt das Wort: „Prosit“, der zweite: „Neujahr!“


Auflösung der Schachaufgabe Nr. 1 auf S. 36:

1. a 3 – a 4 L e 8 – a 4;
2. S b 6 – a 4: matt.

1. … L e 8 – b 5
2. D b 2 – b 5: matt.

1. … L e 8 – c 6
2. T d 6 – c 6: matt.

1. … L e 8 bel. a.
2. S b 6 – d 7 matt.

1. … S a 6 – b 4
2. S a 5 – b 3 matt.

1. … S a 6 – c 7
2. D b 2 – a 3 matt.

1. … T b 8 – b 6;
2. D b 2 – b 6: matt.

1. … T b 8 bel. a.
2. S a 5 – b 7 matt.

1. … e 6 – e 5
2. T d 6 – d 5 matt.

1. … d 4 – d 3
2. D b 2 – c 3 matt.

1. … L g 1 beliebig.
2. T h 1 – c 1 matt.

Auflösung des Scherzräthsels auf S. 36: Stearin.

Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 36: Sirene – Irene.



In dem unterzeichneten Verlag erscheint soeben und ist durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

W. Heimburg’s gesammelte Romane und Novellen.

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Vollständig in 75 Lieferungen à 40 Pfennig, alle 14 Tage eine Lieferung.


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Inhalt: Band 1. Aus dem Leben meiner alten Freundin. Mit Illustrationen von W. Claudius. – Band 2. Lumpenmüllers Lieschen. Mit Illustrat. von R. Wehle. – Band 3. Kloster Wendhusen. – Ursula. Mit Illustrationen von A. Zick. – Band 4. Ein armes Mädchen. – Das Fräulein Pathe. Mit Illustrationen von A. Wandlick. – Band 5. Trudchens Heirat. – Im Banne der Musen. Mit Illustrationen von E. Ravel. – Band 6. Die Andere. – Unverstanden. Mit Illustrationen von W. Claudius. – Band 7. Herzenskrisen. Mit Illustrationen von C. Zopf. – Band 8. Lore von Tollen. Mit Illustrationen von W. Flashar. – Band 9. Eine unbedeutende Frau. Mit Illustrationen von R. Gutschmidt. – Band 10. Unter der Linde. (Am Abgrund. Unsere Hausglocke. Unser Männe. Fascha. In der Webergasse. Großmütterchen. Nachbars Paul. Aus meinen vier Pfählen: 1. Dorotheens Bild. 2. Onkel Leos Verlobungsring. 3. Flickdorchen. 4. Auf schwankem Boden.) Mit Illustrat. v. A. Zick, C. Koch, R. Wehle, C. Zopf und W. Claudius.

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