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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[565]

No. 35.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)
2.

Also b’hüt’ Dich Gott, Pointner“

„B’hüt’ Dich Gott, Nachbar, b’hüt’ Dich Gott auch!“ so gab der Pointner den Gruß zurück und verließ, um die Hausbank wieder aufzusuchen, den Zaun, über welchen hinweg er die erstaunliche Neuigkeit von des Bygotter’s unerwarteter Heimkehr des Langen und Breiten mit dem Nachbar verhandelt hatte.

Karli’s Vater war ein Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren, ein wenig schon gebückt, aber mehr in Folge der schweren Bauernarbeit als vom Drucke des Alters. Das Grau, das sich in die braunen Haare mischte, war noch nicht allzu vordringlich. Gesundheit, Freude an behaglichem Leben und vergnügliche Zufriedenheit sprachen aus dem vollen, leicht gerötheten Gesichte. Ein unvergängliches Lächeln spielte um die Lippen, über denen ein dicker Schnurrbart zu kecken Spitzen aufgedreht war, und lustig funkelten unter den buschigen Brauen die kleinen lichtbraunen Augen.

Hang zur Bequemlichkeit verrieth sich in der Kleidung, die der Bauer trug: in dem leichten Janker, in dem faltigen Hemde darunter, in der weiten, unter den Knieen lose gebundenen Lederhose, in den locker sitzenden, dunkelblauen Strümpfen und in den unförmlichen, aus schwarzen und rothen Filzstreifen geflochtenen Hausschuhen.

Und die Füße mit diesen Schuhen streckte er weit von sich, während er nun im Schatten des flach vorspringenden Daches auf der Hausbank saß, mit den Händen in den Hosentaschen wühlte und mit sorglosen Blicken die drohenden Wetterwolken beobachtete, die sich, einer blaugrauen Mauer gleich, höher und höher emporschoben über die Kette der westlichen Berge. Was konnte das nahende Ungewitter, das so Manchen im Dorfe mit schweren Sorgen erfüllen mochte, den Pointner bekümmern? Festgebaut war sein Haus, schwere Ziegel schützten die Dächer der Ställe, der Scheunen und des stattlichen, zweistöckigen Wohngebäudes. Auf seinen Wiesen lag kein Heu, das der Regen hätte verderben können – und hoch, wie die Halme auf seinen Feldern standen, so hoch waren diese Felder gegen Hagelschlag versichert. Er war überhaupt ein „Aufgeklärter“, der Pointner, und hielt es immer mit den neuen Erfindungen, wenn er durch dieselben sein Leben um eine Sorge ärmer machen konnte.

„Der laßt sich’s wohl sein wie der Bauer auf der


Des Kaisers ältester Urenkel in seiner ersten Uniform.
Nach einer Photographie von Selle u. Kuntze in Potsdam.

[566] Point!“ Das war seit einigen Jahren ein geläufiges Sprichwort im Dorfe geworden. Seit einigen Jahren erst! Denn in früherer Zeit, als die hochselige Kätter, die Pointnerin noch gelebt hatte, da war ein ganz anderes Sprichwort im Umlauf gewesen: „Auweh zwick! Der muß sich ducken wie der Bauer auf der Point.“

Ja, so eine Geldheirath! Der Pointner hatte alle Ursache, seinem Buben die gute Lehre zu geben: „Karli, schau net aufs Geld, schau aufs G’müth.“

Sie hatte ein ungutes Regiment geführt, die Pointner-Kätter. Gleich von vornherein hatte sie sich auf den dicken Geldsack gesetzt, den sie mit in die Ehe gebracht. Und der junge Pointner, der als ein halbfertiger, unselbständiger und allzu gutmüthiger Charakter auf seines Vaters Willen hin ganz plötzlich in diese Heirath hineingesprungen war, hatte von allem Anfang an der mehr als energischen Frau gegenüber das Gleichgewicht verloren. „Um’s lieben Friedens willen“ hatte er klein beigegeben und hatte sich im Stillen mit der Hoffnung auf „seine Zeit“ vertröstet. Aber „seine Zeit“ hatte lang auf sich warten lassen; sie war erst gekommen, als man die Kätter zum Hofe hinausgetragen hatte. Am Werkeltage Arbeit und Arbeit, am Sonntag das Hochamt und der Rosenkranz, und zwischenein zu allen Mahlzeiten die endlosen Litaneien der Kätter: das war durch fünfundzwanzig Jahre des Pointner’s Leben gewesen. Seit dem fidelen Räuschlein, das er sich an seinem Hochzeitstage angetrunken, hatte er keine recht vergnügte Stunde mehr gehabt bis zu dem Tage, an welchem – es war im siebenten Jahre seiner Ehe – sein Bub’, der Karli, getauft worden war. Dann nahm sein Leben wieder den alten unguten Gang – bis zum letzten Tage dieser Ehe, der in Einem so sehr jenem ersten glich: denn als der Pointner nach dem Leichenbegängniß beim „G’sturitrunk“ im Wirthshause saß, rühmte er vor seinen „Mitklägern“ so unermüdlich die guten Eigenschaften der Verblichenen, daß ihm die Zunge ganz trocken wurde; da mußte er denn „netzen und netzen“, und das Ende war, daß der Pointner auf den Füßen der Nachbarn vom Leichenschmaus nach Hause ging.

Ehe noch die vier „schwarzen Wochen“ verflossen waren, führte der Bauer auf der Point eine Neuerung in seinem Hofe ein, welche die Leute des Dorfes zu dem lächelnden Kommentar veranlaßte: „Der Pointner rührt sich!“ Was er in den unfreundlichen Jahren seiner Ehe der Kätter am allermeisten zum wohlweislich verschwiegenen Vorwurf gemacht hatte, das war ihr gänzlicher Mangel an jeglichem Schönheitsgefühl gewesen. Nach den „wirthschaftlichen“ Principien der Pointnerin mußten die Mägde, die jeweilig im Pointnerhofe in Diensten standen, das kanonische Alter noch um ein Erkleckliches überschritten haben. Und da suchte jetzt der Pointner den Beweis, daß nun „seine Zeit“ gekommen wäre, vor allem dadurch zu erbringen, daß er den beiden zahnlückigen Unholden, die mit Keifen und Gezänk in Küche und Ställen umherrumorten, den Abschied gab und an ihrer Stelle zwei junge, dralle, muntere Dirnen auf die Point berief. Dadurch gewann das Leben im Pointnerhof allerdings mit einem Schlag ein neues, ein „junges“ Gesicht; der Tag, der bislang mit Schelten begonnen, mit Schelten geendet hatte, nahm von nun an mit trällerndem Gesang seinen Anfang, mit Scherz und Gekicher sein Ende. Und da nannte es der Pointner: in Haus und Hof nach dem Rechten sehen – wenn er den lustigen Dingern bei der Arbeit zuschaute, wenn er mit ihnen schwatzte und kicherte und sie zur Versicherung seiner Zufriedenheit in die dicken rothen Backen kniff. Geschah es dann manchmal, daß die Nachbarn den Pointner um dieser „Renavürung“ willen in die Zwickmühle nahmen, so vertheidigte er sich lachenden Mundes mit der Versicherung: „Ich schau’ halt auf mein’ Nutzen, denn a junge Hand greift allweil riegelsamer bei der Arbeit zu als wie an alte!“ Eine gewisse Einseitigkeit verrieth sich nun allerdings in dem Umstande, daß der Pointner diesen Satz nicht auch bei der männlichen Hälfte seines Gesindes zur Anwendung brachte. Freilich, daß er seinen „Maier“, den Götz, nicht entließ, das war begreiflich; aber Martl, der „Rosserer“, und Stoffl, der „Hausl“, trugen doch auch zusammen schon ihre hundert Jährlein auf dem Rücken; aber in ähnlicher Weise, in welcher jene „Renavürung“ auf den Bauer gewirkt hatte, wirkte sie auch auf diese beiden Knechte, die zu den gestrengen Zeiten der Pointnerin zwei griesgrämliche Kerle gewesen waren und jetzt mit lachenden Gesichtern umherspazierten, als hätte man ihnen ein Päcklein Jahre von den Schultern genommen. Nur einer war sich bei all diesem Wandel gleich geblieben – das war der Götz. Der ging seinen gleichen, stillen Weg wie zuvor, that auf diesem Wege zehnmal mehr, als seine Pflicht und Schuldigkeit war, und hielt dabei mit Geschick und Ruhe die Zucht unter dem Gesinde aufrecht, welche die lächelnde Nachsicht des Bauern häufig zu lockern drohte.

Und während der Götz in seinem Schweiße schaffte, ließ der Pointner die Arme ruhen und streckte die Füße. Er hatte sich genug geplagt in seinem Leben, so versicherte er bei jeder Gelegenheit; nun wollte er auch einmal den Dank der Arbeit genießen. Auf den Götz durfte er sich ja verlassen; der kannte kein anderes Interesse als dasjenige seines Herrn; und was der Götz dem Pointner anrieth, gedieh immer zum Besten. „Laßt’s mir mein’ Fried’,“ pflegte der Pointner zu greinen, wenn eines vom Gesinde in einer wirthschaftlichen Angelegenheit des Bauern Rath erholen wollte, „laßt’s mir mein’ Fried’ und geht’s zum Götz – der weiß eh’ alles besser wie ich.“

So kam es nach und nach, daß die Knechte und Mägde in allen wirthschaftlichen Dingen den Götz als ihren eigentlichen Herrn erkannten, daneben aber den Bauer, wie das Sprichwort sagt, in die weichste, wärmste Wolle wickelten.

Und wie das Gesinde zwischen Bauer und Maier stand, so ähnlich stand auch Karli zwischen Götz und dem Vater. Er war dem Vater von Herzen zugethan – Respekt aber hatte er vor dem Götz. Daneben bewahrte er in seinem Herzen ein freundliches Gedenken an die verstorbene Mutter, obwohl dieselbe den Bestrebungen des Pointner’s, den Buben gründlich zu verziehen, stets mit verdoppelter Strenge entgegenwirkte, wobei ihr der Götz nach Kräften an die Hand gegangen war.

Ueber die Wandlung auf dem Pointnerhofe hatte sich Karli wenig Gedanken gemacht. Trotz seiner ehrlichen Trauer um die Mutter sagte auch ihm dieser lustige Ton besser zu als die unwirsche Stimmung, in welcher früher die Tage vergangen waren. Und daß seinem jungen Blut das junge Dirnenvolk nicht gefährlich wurde, welches auf dem Pointnerhofe eingezogen war, dafür wußte Götz zu sorgen. Bald nach der Mutter Tod war Karli zum Militär einberufen worden, hatte in München drei Jahre als strammer Dragoner gedient, war dabei nach Soldatenweise aufgethaut und hatte auch ab und zu den „verfluchten Kerl“ gespielt, ohne jedoch aus diesen kleinen Scharmützeln zwischen Ernst und Leichtlebigkeit irgend welchen Schaden an Herz und Seele davonzutragen.

Bei seiner Rückkehr in das Vaterhaus hatte er die Dinge genommen, wie er sie vorgefunden, hatte sich rüstig in die entwöhnte Arbeit wieder eingeschickt – und daß ihm jetzt, wo er manches mit anderen Augen ansah als früher, der leichte Ton, den allen Anderen voraus der Bauer im Pointnerhofe anschlug und den allein der Götz nicht mitredete, nicht mehr gefährlich werden konnte: dafür war die Wirkung eines Zauberblümleins gut, das in dem Herzen des Burschen sachte zu sprossen begann, als er ein gewisses freundliches Dirnlein, dem er als Knabe schon gar gut gewesen, bei der Heimkehr als ein schmuck erblühtes Mädchen wiederfand.

Bei all den sentimentalen Stimmungen, in welche dieses aufkeimende Empfinden den Burschen versetzte, dachte er doch auch mit manch einem praktischen Gedanken an die Zukunft und meinte, daß bald eine Stunde kommen könnte, in der er den Vater bei besonders guter Laune finden müßte. So that denn auch er sein Bestes, um dem Vater das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Und wie sich’s der Pointner wohl sein ließ! Es schien eine rechte Wahrheit in dem Sprüchlein zu liegen, das der Stoffel – der „schwäbische Stoffel“, wie er um seiner Herkunft willen genannt wurde – verfaßt und in Umlauf gebracht hatte:

„Beim Bauern auf der Point
Ischt der luschtbare Frieden dahoint.“

Und dieser „luschtbare Frieden“ sprach aus den zwinkernden Aeuglein, glänzte auf den vollen Backen und lächelte von den Lippen des Pointner’s, während er sich im Schatten auf der Hausbank streckte und dehnte, die Hände in den Taschen, den Steinkrug an der Seite, in behaglicher Ruhe sein friedvolles Haus behütend.

Nun plötzlich seufzte er auf und schnitt eine verstimmte Miene. Es war ihm eingefallen, daß das Haushüten eigentlich eine Arbeit wäre.

[567] Mit blinzelnden Augen schaute er nach der Gasse und brummte: „Das hat man davon, wenn man so Sakra-Deandln recht freundlich halt’t! Da rennen s’ davon, lassen den Bauern in der Einschichten dasitzen, und bei keiner is a Heimkommen zum erwarten! Ich sag ’s, g’rad plagen muß sich der Mensch allweil für andere Leut’!“

Und mit verdrießlichen Blicken spähte er über Hof und Gemüsegarten hinweg den bergwärts sich erstreckenden Wiesen zu, ob nicht etwa der Götz von dorther nach Hause käme.

Da machte er große Augen. Hoch oben in der Wiese hatte er eine weibliche Gestalt gewahrt, die sich dem Gehöfte raschen Schrittes näherte. Sie mußte aus dem Walde gekommen sein und mochte sich wohl verirrt haben. Wenigstens schloß der Pointner so, als die Person inmitten der Wiese eine Weile stehen blieb, ringsum Ausschau hielt, dann wieder vorwärts schritt und mit geschickter Behendigkeit den Stacketenzaun überstieg, der den Gemüsegarten von den steilen Wiesen trennte.

„Hoho, die geht aber amal schön g’radaus!“ lachte der Bauer. „Was is denn jetzt das für Eine? A Hiesige is das net!“

Er stützte die Hände auf die Kniee und schaute neugierigen Blickes der Fremden entgegen, welche leichten Ganges zwischen den Gartenbeeten einherschritt und jetzt den Hof betrat, indeß sie in der einen Hand ein weißes Bündel schlenkerte und mit der anderen das geblumte Kopftuch tiefer in die Stirne zupfte. Es war eine mittelgroße Gestalt mit starken Formen, und dennoch von gefälligem und geschmeidigem Wuchse. Die üppige Büste umschloß ein schwarzes, straff anliegendes Tuchleibchen von städtischem Schnitte. Aus den engen Aermeln spitzten die schmalen Säume weißer Manschetten hervor. Ueber die runden Hüften schwankte in schmalen Falten ein schwarz und weiß gestreiftes Röckchen, das kaum bis zu den Knöcheln reichte. Die ganze Gestalt machte den Eindruck bewußter Sauberkeit, wenngleich die hohen, mit baumelnden Quästchen besetzten Seidenstiefelchen in üblem Zustand sich befanden.

Der Pointner legte den Kopf auf die Seite und spitzte, nach einwärts pfeifend, die Lippen. Und völlig gingen ihm die Backen aus einander, als er erst das Gesicht der Fremden besser gewahren konnte, dieses runde, weiße Gesicht mit den lebhaften schwarzen Augen, mit den molligen Grübchen im Kinn und auf den leicht gerötheten Wangen, auf welchen einige Sommersprossen nur vorhanden schienen, um das reine Weiß und Roth der übrigen Haut noch mehr zu heben.

„Ja was is denn jetzt das?“ rief der Pointner mit Schmunzeln der Näherkommenden entgegen. „Was krieg’ denn ich jetzt da auf amal für an bildsaubern B’such – so ganz von hinterucks? Wo kommst denn her, Madl? Wer bist denn?“

„No, jetzt bin ich schon z’frieden,“ lachte die Fremde und zeigte, indeß sie vor dem Bauer stehen blieb, zwischen den vollen rothen Lippen die schneeweißen Zähne. „Ich hab’ mich schon auf a Donnerwetter g’faßt g’macht; denn so viel kenn’ ich schon, daß a Bauer wenig Freud’ dran hat, wenn man ihm so g’rad ’reinstapft über d’ Wiesen.“

„Macht nix, Madl, macht nix! Kannst ja nix dafür – denn wie ich mir denk’, wirst Dich verirrt haben?“

„Ja, und wie! G’wiß a drei Stund’ bin ich da droben im Holz umeinander ’kraxelt. Und wo bin ich denn eigentlich jetzt?“

Der Pointner nannte den Namen des Dorfes. „Und im B’sondern bist im Pointnerhof, und ich bin der Bauer.“

Mit musternden Blicken überflog die Fremde das Haus und nickte dann unter leichtem Gähnen. „A schöner Hof, der Pointnerhof! G’fallt mir – ja!“

„So, jetzt is recht! Und vom Bauern sagst gleich gar nix! Der g’fallt Dir ’leicht net a Bißl, han?“

Lachend zuckte die Fremde mit den Schultern und schaute dem Pointner aus schief gehaltenem Kopfe mit einem blinzelnden Blick in die Aeuglein.

„Das kannst ja net wissen – denn – so g’rad ’nein ins G’sicht kann ich Dir d’ Schönheiten doch net sagen!“

„Allweil zu! Mußt kein’ Schenirer net haben!“ lachte der Pointner, daß ihm die Thränen auf die runden Backen sprangen. „Ich nimm mir ja auch kein Blattl vor’n Schnabel; ah na, schau, ich sag’ Dir’s gleich ins G’sicht, wie Du mir g’fallst, Du teufelmaßig saubers Madl Du!“

Auch die Fremde lachte. „Bist a lustiger Bauer, das muß ich sagen! Aber – ’s Lachen hilft mir net weiter. Han, das wirst mir schon verrathen können, ob im Ort a Wirthshaus is, wo man über Nacht a Bißl passabel aufg’hoben is?“

„No freilich is a Wirthshaus da! Aber das giebt’s fein net, daß man sich durch ’n Pointnerhof durchtummelt wie a Mäuserl durch d’ offene Stubenthür. So a G’sellschaft krieg’ ich ja gleich net wieder! Da setz’ Dich a Bißl her zu mir!“ Und mit beiden Händen zog der Pointner die Fremde zu sich auf die Hausbank nieder. „So, da bleibst jetzt sitzen, bis eine von meine Deandln heimkommt; die kann Dich nachher führen, daß Dich net wieder verirrst!“

„Meinetwegen! Is auch recht! Ich kann ’s Sitzen jetzt schon verleiden, der Marsch, den ich g’macht hab’, liegt mir ordentlich in die Füß’.“

„Wo kommst denn eigentlich her?“

„Von Rosenheim.“

„Was? Das is ja a Weg von a paar Tag!“

„Ich bin auch schon drei Tag’ unterwegs. Am Mittwoch bin ich aus mei’m Dienst ausg’standen, und da hab’ ich mir ’denkt, ich möcht’ auch amal a Sommerreis’ machen. Und weil ich nach Reichenhall ’nüber hätt’ mögen, wo ich an neuen Dienst suchen will, hab’ ich meine Sachen mit der Eisenbahn vorausg’schickt zum Rösselwirth – und nachher bin ich drauf los marschirt. No, und bis heut’ Mittags is Alles auch ganz gut ’gangen. Aber da droben durchs Holz durch hab’ ich den richtigen Weg verloren – ja – g’rad umeinanderschliefen hab’ ich müssen. Ich bin nur froh, daß ich mein G’wandl ganz davon’bracht hab’ – aber meine armen Schucherln hab’ ich mir sauber zug’richt’.“

Leicht hob sie dabei die Füße und zog das Röckchen ein wenig in die Höhe.

„Jesses, jesses! Ah, ah, ah, ah!“ jammerte der Pointner, wobei der vergnügliche Ausdruck seines Gesichtes mit dem kläglichen Ton seiner Worte wenig übereinstimmen wollte. Und um den Schaden, den die armen „Schucherln“ genommen, besser besehen zu können, beugte er sich vornüber und suchte die bauschigen, seinen Blicken hinderlichen Falten des Röckchens glatt zu drücken. Aber hastig fuhr die Hand der Fremden mit klatschendem Schlag auf seine Finger nieder.

„Jetzt den schau an! Wart’, Du!“ zürnte sie und streifte das Gesicht des Bauern mit einem halb belustigten, halb geringschätzenden Blicke. Auch in der Art und Weise, in der sie den Bauer mit dem Ellbogen von ihrer Seite drängte, verrieth sich kein allzu ernstlicher Unwille; das sah sich eher an wie eine gewohnheitsmäßige Bewegung.

„Jeh! Du bist aber a Schneidige!“ lachte der Pointner, indeß er sich die Finger rieb. „G’hörst ’leicht zu die Igel, han, daß man gar net ankommen därf an Dich. Aber –“ und da tappte er schon wieder nach dem Arm der Dirne, die sich erhoben hatte und nach ihrem Bündel griff, „was is denn? Wirst mir doch am End’ net jetzt schon ausreißen wollen?“

„Ja. Ich mein’, ich find’ ’s Wirthshaus allein auch. Das kannst Dir doch denken, daß Ein’ auf so an Marsch hin der Hunger ankommt.“

„Was? Hungern thut’s Dich? Ja, Du arms Madl! Weßwegen hast denn das net gleich g’sagt! Essen und Trinken kriegst fein im Pointnerhof schon besser als wie im Wirthshaus. Ja, wart’ a Bißl, da is g’holfen auf der Stell’!“

Und während ihm die Fremde mit lächelnder Verwunderung nachblickte, trippelte er davon und verschwand im Hause. Bald kam er wieder zum Vorschein und stellte vor die Dirne ein kleines Tischchen hin, welches von einem weißen, mit grober Kreuzsticharbeit gezierten Linnen bedeckt war. Schwatzend eilte er wieder davon, kehrte zurück, verschwand aufs Neue, und da sah nun die Dirne vor sich auf dem Tische schäumendes Bier in einem geschliffenen Deckelglase, einen frischen Brotlaib und zwei zinnerne Teller mit Rauchfleisch und Käse. Zuletzt brachte der Pointner ein silberbeschlagenes Besteck, kratzte mit der Gabel die angeklebten Brotreste von der Messerklinge, griff nach dem Brotlaib, machte mit der Messerspitze das Kreuz darüber, schnitt ihn zur Hälfte durch und reichte ihn der Dirne hin.

„So, Madl, jetzt iß und laß Dir’s schmecken!“

[568]

Prinz Wilhelm und sein ältester Sohn Prinz Friedrich Wilhelm.
Nach einer Photographie von Selle u. Kuntze in Potsdam.

[569]

Prinzessin Wilhelm und ihr jüngster Sohn Prinz August Wilhelm.
Nach einer Photographie von Selle u. Kuntze in Potsdam.

[570] „Das is aber schon a Bißl z’ viel Freundlichkeit!“ meinte die Dirne mit einem leisen, fast spöttischen Lächeln. „Is das … allweil so der Brauch im Pointnerhof?“

„Was denn anders?“ schmunzelte der Pointner, während er sich an die Seite des Mädchens setzte. „Selig sind, welche die Durstigen tränken und die Hungrigen speisen, sagt der Herr Pfarrer.“

„Aber was sagt denn nachher die Bäuerin zu Deiner christlichen Nächstenlieb’?“

„Gar nix! Die hat der liebe Herrgott selig! Ja – ich bin a Wittiber.“

„So? A Wittiber bist?“ erwiederte die Dirne zögernden Wortes und maß von der Seite die Gestalt des Bauern mit einem wägenden Blick. Dann verzog sie den Mund, und während über ihre schmal gewordenen Lippen ein kurzes Lachen klang – als lache sie über einen Gedanken, der plötzlich in ihr aufgestiegen – drückte sie den Kopf in den Nacken und hob die Schultern in die Höhe.

„Jetzt da schau her!“ staunte der Pointner, als er diese Bewegung des Mädchens gewahrte. „G’rad, als wie wenn’s Eins vom Andern g’lernt hätt’.“

„Was g’lernt?“

„No, weißt, an Maier hab’ ich, Götz heißt er, der macht’s fein g’rad so wie Du – so!“ Dabei suchte er jene Bewegung nachzuahmen, was bei seinem kurzen Halse schwer gelang und possierlich anzusehen war.

„Mein Gott, so werden’s auf der Welt noch mehr Menschen machen!“ meinte die Dirne und griff nach dem Bierglas. Sie klappte mit dem Daumen den Zinndeckel auf, blies den Schaum zurück, nippte und streifte mit der flachen Hand den Deckel wieder zu, ganz in der Weise, wie es die Gewohnheit der Kellnerinnen in den Dorfwirthshäusern ist.

Mit blinzelnden Augen hing der Pointner an ihren Lippen und frug unter Schmunzeln, wie ihr der Trunk munde. Dann war er ihr beim Zerlegen des Fleisches behilflich und bediente sie unter endlosem Zureden und Schwatzen mit überfreundlicher Aufmerksamkeit. Diese ganze Art und Weise des Bauern schien die Dirne entweder nicht zu bemerken oder wie etwas Gewohntes zu dulden. Gleichmüthig aß und trank sie und gab auf die langen, lachenden Reden des Pointners kurze, trockene Antworten, als begänne ihr die Sache langweilig zu werden. Manchmal klang aus ihren Worten ein gar nicht schwer zu verstehender Spott, für den aber das glückliche Selbstbewußtsein des Pointner’s keine Ohren hatte. Als sie einmal mit ihm anstoßen wollte, „auf lange, g’sunde Wittiberzeit“, rannte er davon, um seinen geleerten Steinkrug wieder zu füllen. Und während er dann mit ihr weiter plauderte, trank er häufig und in hastigen Zügen, so daß der sanfte Glanz auf seinen wohlgenährten Backen bald zum hellen Leuchten wurde und die Wirkung des raschen Trinkens nicht nur in seinen sprudelnden Reden sich bekundete.

Nun plötzlich war er ganz untröstlich darüber, daß er die Dirne noch immer nicht um ihren Namen gefragt hätte. „Na, na, wie man auch so ’was vergessen kann! Aber jetzt sag’ mir nur gleich, wie heißt denn, han?“

„Kuni Rauchenberger.“

„Kuni? A schöner Nam’. Kuni, Kuni, das sagt sich schon so g’wiß – da weiß man doch gleich, daß ’was dahinter is. Han, und wo hausen denn Deine Leut’?“

„Aus ’m Oberisarthal bin ich her,“ erwiederte sie, und ein Zug von Schwermuth erschien auf ihrem hübschen Gesichte, „aber – mein Mutterl is lang schon todt!“ Aufseufzend schüttelte sie den Kopf und fügte mit raschen, hart klingenden Worten bei: „Und mein Vater is auch schon verstorben – ja – a Wirth is er g’wesen.“

„O mein Gott! Unser Herrgott soll s’ selig haben – alle zwei!“ so wünschte der Pointner, indem er sich in rührseliger Vertraulichkeit an Kuni’s Schulter lehnte. „Na, na, wie Du mich dauern thust, Du arms Madl, Du! Und jetzt stehst ganz allein in der weiten Welt?“

„Ah na! Ich hab’ schon noch zwei Brüder – und was für Brüder! Der ein’ is in Lenggries – so a Pamperlwirth. Und der ander’, von dem unser Herrgott wissen mag, wo er jetzt g’rad um einander fahrt, der is a Metzger – aber schon mehr a Schinder als wie a Metzger! Das is a ganz a braver – der!“

Dem Pointner war schon das Weinen nahe gewesen; jetzt aber lachte er hell auf. „Sauber! Sauber! Du redst amal schön von Deine Brüder!“

„Sie sind auch darnach!“ klang es hart und schneidend von Kuni’s Lippen. „Die zwei, die haben sich bei mir kein’ gute Nachred’ net verdient – und gar der Metzger!“ Ein tiefer, stockender Athemzug schwellte ihre Brust, und mit hastiger Hand, als würde es ihr plötzlich zu schwül, riß sie das Kopftuch herunter.

Da war dem Pointner schon wieder das Weinen näher als das Lachen. „Geh’, geh’, haben s’ Dich recht schlecht g’halten?“ jammerte er, während er zugleich mit offenem Wohlgefallen zu dem kleinen, rosigen Ohr der Dirne emporblinzelte und zu den dicken, rothbraunen Zöpfen, die über dem weißen, weichen Nacken zu einem straffen Netze verflochten waren. „Na, na, so zwei Teufelsbraten von Brüder! Und so a Schwester haben! Ja – Du – ich wenn fein Dein Bruder g’wesen wär’, ich hätt’ Dich schon anders g’halten – ich schon, ich! Du, da hättst es fein gut g’habt – überhaupt – weißt – auf ’m Pointnerhof, da is fein ’s gute Leben daheim. Ja – g’rad wohl fein laß ich mir’s! Und im nächsten Frühjahr, da übergieb ich mei’m Buben mein’ Hof – und nachher hab’ ich gar kein’ Arbeit nimmer und kein Sorg’ – ja – und nachher laß ich mir’s Leben erst recht schmecken!“

„So? An Buben hast?“ warf Kuni, aus deren Zügen noch die helle Erregung sprach, mit zerstreuten Worten ein. „Und jetzt schon willst übergeben? Geh’, wer wird sich denn so frühzeitig schon auf die linke Seite legen? Bist ja noch so wax bei ’nander – aus Dir lacht ja noch ’s helle Leben!“

„Wahr is, Deandl! Jetzt Du hast amal die richtigen Augen!“ fuhr der Pointner auf und fuchtelte vor Vergnügen mit den Fäusten in der Luft umher. „Und mir g’fallst auch! Weißt ’was G’scheidt’s! Bleibst gleich da bei mir! Und haltst mir mein Haus in Ordnung! Und kochst mir gute Sachen zum essen! Da is nix mehr z’ reden! A ganz a saubers Stüberl kriegst, und Lohn kannst haben, was D’ magst! Ja, da därfst jetzt g’rad verlangen!“

„Ah was! Dummheiten!“ wehrte Kuni und runzelte die Stirn. „Für Dein’ freundliche Bewirthung sag’ ich Dir a schöns Vergeltsgott – und im Uebrigen mach’ ich, daß ich bald weiter komm’. Was thät’ denn ich da heraußen auf dem Nest? Ah na! Ich geh’ nach Reichenhall!“

„Was? Net bleiben willst? Bei mir net bleiben?“ kreischte der Pointner. „Bei mir net bleiben? Oho! Ausg’redt is ausg’redt! Da – da is mein Hand – und jetzt eing’schlagen auf der Stell’!“ Er wartete nicht lange auf den Handschlag; mit allen zehn Fingern haschte er die Rechte der Dirne.

Sie aber entwand ihm die Hand mit den unwilligen Worten: „Geh’ weiter, laß mir mein’ Ruh’!“

Der Pointner zappelte mit den Armen, rollte die Augen, blies die Backen auf und hub zu kollern an: „Madl! Madl! Ich sag’ Dir’s! Ich sag’ –“ Da verstummte er plötzlich und schaute mit halb geärgerten und halb verlegenen Blicken nach dem Thürchen des Straßenzaunes.

(Fortsetzung folgt.)




Im Marmorpalais zu Potsdam.

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Alle Rechte vorbehalten.

Der Reisende, welcher Potsdam besucht, versäumt jetzt selten, durch die Platanenallee im Norden der Stadt dem sogenannten Neuen Garten zuzustreben, um einen neugierigen Blick nach dem in demselben befindlichen Marmorpalais zu werfen. Dieses Palais ist die Sommerresidenz des kaiserlichen Enkels, des Prinzen Wilhelm von Preußen und seiner Familie. Vor nun bald hundert Jahren wurde es von Friedrich Wilhelm II. am Westufer des Heiligen Sees erbaut, und die rothen Backsteinfaçaden mit ihrem weißen Marmorschmuck und den grüngestrichenen Fensterladen bilden noch heute den Hauptanziehungspunkt in dem großen, noch [571] immer als Neuer Garten bezeichneten, aber schon recht alten und mit einer Fülle der merk- und ehrwürdigsten Bäume besetzten Parke.

Wer das Wachtgebäude am südwestlichen Eingange zu diesem Parke passirt hat, den umschmeichelt sofort der durch den Aushauch des nahen grossen Wasserspiegels erfrischte Waldesodem; mit weiter Brust, mannigfachen Blüthenduft begierig einfangend, schreitet er vorwärts auf dem von pyramidenförmig gezogenen Eichen besetzten Hauptwege, an dessen linker Seite verschiedene kleinere, in holländischem Geschmack erbaute Häuschen dem Hofstaate des Prinzen zu Wohnungen dienen. Bald jedoch hindert ein schildernder Grenadier am weiteren Vordringen. Die nächste Umgebung des Marmorpalais ist als Privatgarten der hohen Herrschaften abgesperrt, und der Fremde muß einen linksabführenden Seitenpfad einschlagen, um über die Orangerie und deren kreisrunden Rosengarten den Weg zu gewinnen, der bei der Hofgärtnerwohnung vorbei nach der Meierei am Jungfernsee führt und in liberaler Weise dem Publikum zur Benutzung überlassen ist. Dicht hinter der Hofgärtnerwohnung erreicht man einen Punkt, von wo aus man zur Rechten über eine weite Rasenfläche hinweg die mit vorspringenden Arkadenflügeln versehene Westseite des Palais frei überblicken kann. Die unschönen italienischen Pappeln, die früher einen Theil des Schlosses dem Anblicke entzogen, sind nun gefallen; in allen seinen Theilen übersichtlich, flimmert der bunte Bau mit seiner eigenartigen hochragenden Kuppel im Sonnenlichte, und die vom Mast wehende prinzliche Hohenzollernstandarte verkündet, daß der Schloßherr anwesend ist.

Wem es vergönnt ist, durch die trennende Schranke hindurch dem Schlosse näher treten zu dürfen, der gewahrt bald ein staffagenreiches landschaftliches Bild, das seinem Gedächtnisse so leicht nicht wieder entschwinden wird. Vor dem durch die beiden vorspringenden Arkadenflügel gebildeten, nur auf der Westseite offenen Binnenhofe des Schlosses, der mit einer von blühenden Orangen umgebenen Prometheus-Statue geschmückt ist, breiten sich duftige Teppichanlagen mit rauschenden Fontainen und lauschigen Schattengängen aus, an die sich wiederum auf der Westseite die Spielplätze der prinzlichen Kinder anschließen. Auf diesen Spielplätzen ist es heute besonders lebendig. Der kleine Prinz Adalbert, der dritte Sohn des prinzlichen Paares, feiert seinen dritten Geburtstag. Seine Geschwister und mehrere kleine Gäste, die ihm als Spielgefährten eingeladen sind, umgeben ihn. Die Schaukel wird fleißig benutzt; auch fehlt es nicht an Bällen, Waffen und sonstigem Spielzeug; selbst ein Sandhaufen ist da, in dem die kleinen Händchen wühlen und graben dürfen. Die Aufsicht über die Kinderschar führen die prinzliche Kinderfrau und mehrere Bonnen. Lakaien gehen hin und her und bringen der jungen Welt gelegentlich eine Erfrischung. Die Linden blühen; Clematis und Geisblatt klettern dufthauchend an Stämmen und Spalieren empor; Rosen aller Arten und Farben glühen im Gestäude, und ab und zu fährt ein kühlender Lufthauch vom Heiligen See herüber durch die Wipfel der Baumriesen und schüttelt hier ein Blättchen und dort eine Blüthe hernieder auf die jauchzende Kinderschar. Tiefer und tiefer neigt sich das Tagesgestirn. Vom Schlosse her naht sich eine hohe, jugendliche Blondine in leichtem kirschrothen Sommerkleide und schreitet strahlenden Auges auf die sich tummelnden Kinder zu. Ein fünfjähriger Knabe, in der kecken kleidsamen Uniform der Garde-Husaren, stürmt ihr entgegen. „Mama!“ tönt es freudig von seinen schwellenden Lippen. „Mein süßer Wilhelm!“ jubelt die Mutter, und mit ausgebreiteten Armen beugt sie sich nieder, um ihren ältesten Sohn an das glückliche Herz zu ziehen. Es ist die Prinzessin Wilhelm, Augusta Viktoria, geborene Prinzessin von Schleswig-Holstein, die als Gemahlin des Kaiserenkels dem Lande diesen einstigen Thronerben und nach ihm noch drei andere Prinzen geschenkt hat. Erst seit dem 27. Februar 1881 mit dem Prinzen Wilhelm von Preußen vermählt und also kaum länger als ein Lustrum diese Sommerresidenz bewohnend, ist sie doch schon sämmtlichen Bewohnern der Stadt Potsdam wohlbekannt und ans Herz gewachsen. Voll Anmuth und anspruchslos verkehrt sie mit dem Publikum. Sie scheut es nicht, nur von einer einzigen Dame begleitet, weitere Spaziergänge zu machen oder unvermuthet in eines der Kaufgewölbe der Stadt einzutreten, um dort irgend einen Einkauf für ihre zahllosen Schützlinge und Pflegebefohlenen zu machen; denn kein der Sorge für die Armen und Elenden gewidmeter Verein existirt in der Stadt, den sie nicht durch ihre Theilnahme und thatkräftige Unterstützung wesentlich zu fördern weiß.

Als sie am 6. Mai 1882 in demselben Schlosse ihres ersten Söhnleins genesen war, durfte ich, wohl im Sinne der ganzen, glücklich bewegten Bevölkerung von Stadt und Land, folgenden Glückwunsch in das Meldebuch der hohen Frau eintragen:

„Am sechsten Mai zur Abendstund’
Wie sternhell glänzte das Himmelsrund!
Im ‚Neuen Garten‘ am Marmorpalast
Wie huschten die Vöglein von Ast zu Ast!
Es scharten die Nachtigallen sich all
Und sangen ein Ständchen mit süßem Schall:

Ein Dreiblatt grünte im Deutschen Reich,
Nichts war auf Erden dem Dreiblatt gleich:
Solch Kaiser, solch Kronprinz, solch Kronprinzensohn
War nie noch berufen zu Scepter und Kron’.
Dem Dreiblatt – o jubelt, daß weithin es gellt! –
Hat heut sich ein viertes Blättlein gesellt.
Glückbringende Blüthe, daß Gott Dich erhalt’;
Gedeihe und blühe und werde alt!

Die Vöglein schwiegen, es kam die Nacht;
Cantate-Sonntag ist drauf erwacht;
In alle Lande die Kunde drang
Von der neuen Knospe, die gestern sprang.
Die Flaggen flatterten hoch empor,
Die Völker sangen im frohen Chor:

Solch kaiserlich Vierblatt ward nicht gesehn,
So lang um die Sonne sich Sterne drehn!
Ein Kaiser, ein Kronprinz, siegesgeschwind,
Ein schneidiger Enkel, ein Urenkelkind!
Empor die Herzen! Wir beugen die Knie’:
Solch Maienwunder geschah noch nie!
Erhalte das Vierblatt, du starker Gott,
All seine Feinde mache zum Spott!“

Schon ein Jahr darauf wurde Prinz Eitel Friedrich geboren; im Juli 1884 Prinz Adalbert. Hatten so die drei ersten Prinzen im Lenz und Sommer das Licht der Welt erblickt, so erblühte der vierte, Prinz August, ausnahmsweise im Winter 1887 als jüngstes Reis am alten ehrwürdigen Hohenzollernstamme. Wer je die innigen Blicke belauschen durfte, mit denen die hohe Mutter auf dieses glückverheißende Vierblatt ihrer schönen Söhne zu schauen pflegt, wer aus dem Antlitze des prinzlichen Vaters, wenn dieser einen seiner Knaben auf seinem Knie reiten läßt, das Glück und den Stolz des Vaterherzens zu lesen vermag, der weiß, daß es im ganzen deutschen Lande kein glücklicheres und reicher gesegnetes Ehepaar giebt als das Prinz Wilhelm’sche.

Die Sonne küßt den Horizont. Betäubender duften die Blüthen; aber ein leiser Schauer geht durch die Natur, und die sorgliche Mutter meint, daß es Zeit sei, das Spiel der Kinder zu beenden. Equipagen rollen heran, welche die geladenen kleinen Gäste aufnehmen und entführen. Die prinzliche Mutter kehrt mit ihren drei ältesten Knaben nach dem Schlosse zurück; Prinz August, das „Baby“, wird ihr nachgetragen. Noch ein herzhafter Kuß auf jedes Lippenpaar des blühenden Kindersegens, und die junge Schar wird der Obhut einer älteren Dame übergeben, die sich mit dem ihr anvertrauten Schatze in den linken Arkadenflügel, das besondere Reich der Kinder, zurückzieht. Bald liegt das Schloß, von der Silberfluth des Mondlichts übergossen, still und träumerisch; nur die taktmäßigen Schritte der auf- und abwandelnden Schildwache werden laut, und auf der Ostseite des Palais plätschern die Wogen des Heiligen Sees in leisem Gemurmel an das Steinfundament der Terrasse.

Im Schloßhofe aber scheint sich das marmorweiße Prometheus-Standbild zu beleben und die Arme wie segnend in die Luft zu erheben; mag auch der Schloßherr, der da drinnen sein Lager sucht, dereinst dem deutschen Volke ein anderer Prometheus werden, der ihm das Feuer der Kraft und des Nationalbewußtseins in den Adern mehrt, der es zu immer höherer Weisheit und Erkenntniß hinanführt und den Namen der Deutschen immer geachteter macht von einem Ende der civilisirten Welt bis zum andern! – Auf Prinz Wilhelm setzt Deutschland die schönsten Hoffnungen. Er ist ein schneidiger Soldat, aber auch allen Künsten des Friedens hold und geneigt, und, was die Hauptsache ist, ein deutscher Mann vom Scheitel bis zur Sohle. Nichts Undeutsches duldet er an seinem Hofe; keine aus Frankreich oder England importirte Mode darf je Einfluß üben auf die Ordnung seines Hauses. [572] Schon früh am Morgen sind die Bewohner des Marmorpalais auf den Beinen. Die Prinzessin Wilhelm frühstückt stets zusammen mit ihrem Gemahl, und wenn diesen sein Dienst als Oberst und Befehlshaber der Garde-Husaren schon in der sechsten Morgenstunde in den Steigbügel zu treten zwingt, so leistet sie ihm auch schon um diese Zeit, als pflichttreue und hingebende Gemahlin, am Frühstückstische Gesellschaft. Ein ceremonielles zweites Frühstück existirt nicht; schon um ein Uhr wird zu Mittag gespeist.

Gegen fünf Uhr Nachmittags wird der Thee genommen und nach einem frühen und frugalen Abendessen begiebt man sich zeitig zur Ruhe. Diese außerordentlich gesunde und besonders der jungen Welt bekömmliche Lebensweise, die von vielen Residenzbewohnern leider schon gänzlich verlernt worden ist, wird hoffentlich nach und nach auch in weiteren Kreisen bahnbrechend wirken; in dem Marmorpalais wird nur dann von ihr abgewichen, wenn unabweisliche Verpflichtungen gegen hohe Gäste oder der unerbittliche militärische Dienst einmal ausnahmsweise dazu zwingen.

An den Nachmittagen werden Promenaden zu Fuß oder im Wagen gemacht; gelegentlich legt auch ein schmuckes, von Matrosen der nahen Matrosenstation am Jungfernsee bemanntes Boot am Fuße der Schloßterrasse an: dann schreitet das prinzliche Paar, nur von einigen Herren und Damen vom Dienste begleitet, über die Steinstufen der Terrassentreppe hinab und nimmt Platz auf den mit Polstern belegten Bootsitzen. Die prinzliche Standarte wird gesetzt; die Ruder der Matrosen tauchen gleichmäßig in die Fluh, und pfeilgeschwind fliegt das Boot über die im Sonnenschein aufglitzernde Seefläche. Durch einen schmalen Kanal unter der Schwanenbrücke hindurch gelangt man auf den weiten Spiegel des Jungfernsees und bei der von Friedrich Wilhelm IV. im italienischen Geschmacke hart am Strande erbauten Kirche von Sakrow vorüber nach der reizend gelegenen Pfaueninsel. Dort wird angelegt, und das prinzliche Paar dringt ein in die Schattengänge dieses lieblichsten aller Eilande, auf dessen fruchtbarem Grunde Baumriesen gedeihen, deren Alter kaum noch zu schätzen ist und unter deren Laubdächern wahrscheinlich noch altwendische Opfer geblutet haben.

Wenn die kleinen Prinzen den hohen Eltern im Wagen nachkommen, so bietet ihnen die auf der Insel erbaute hölzerne Rutschbahn willkommene Gelegenheit zu allerlei Belustigungen. Erst bei sinkender Sonne wird die Rückfahrt angetreten; dann geht ein erquickender Hauch über die leicht gekräuselte Wasserfläche, vom Gestade her weht Rosen- und Jasminduft aus den Glienicker Gärten herüber, und langsam steigt die blasse Scheibe des Mondes herauf. Dann liegt ein Zauber über der stillen Havellandschaft, wie ihn kein anderer Strom des deutschen Landes besitzt.

Prinz Wilhelm ist überhaupt ein Freund des Wassers, zumal des Meeres; er interessirt sich lebhaft für unsere Flotte und nimmt an allen ihren Schicksalen einen so regen und sachverständigen Antheil, daß ihm der Kaiser auch die Uniform des Seebataillons verliehen und ihn so auch äußerlich in nähere Beziehungen zur Marine versetzt hat.

Der Aufenthalt des prinzlichen Paares im Marmorpalais währt gewöhnlich bis tief in den Spätherbst hinein; erst wenn die Stürme gar zu arg zu toben beginnen und den Laubschmuck der prächtigen Bäume des Neuen Gartens unbarmherzig zerzausen und auf die Erde schütteln, siedelt der Prinz nach der Stadt über und läßt seine Standarte auf dem im Lustgarten gelegenen Schlosse aufziehen. Dort bewohnt er das zweite Stockwerk des Mittelbaues und des der Garnisonkirche zugewandten Flügels. Ob er auch im kommenden Winter daselbst residiren wird, ist zweifelhaft; man spricht davon, daß er das Kommando eines Garde-Infanterie-Regimentes übernehmen und seinen Wohnsitz vielleicht nach Berlin verlegen wird. Wohin ihn aber auch der Dienst entführen möge, überall hin wird ihn und die Seinen die Liebe und Verehrung der Potsdamer Einwohnerschaft begleiten, in deren Mitte er seine Honigmonde und die ersten Ehejahre verlebt und das Beispiel des reinsten und glücklichsten deutschen Familienlebens gegeben hat. Gerhard von Amyntor.




Schlafstätten im Walde.

Von Dr. Willrich-Berka (Ilm).

Früher war es an der Tagesordnung, Kranke, welche mit chronischen Lungenleiden behaftet waren, das Zimmer hüten und Arzneien nehmen zu lassen. In neuerer Zeit aber hat der Fortschritt der medicinischen Wissenschaft das gerade Gegentheil in der Behandlung derselben für gut erkannt; statt des sorgsamen Verschließens der Kranken in den Zimmern und statt des Gebrauchs der mehr oder weniger als specifisch gepriesenen Heilmittel tritt die Freiluftkur ein. Allmählich nur konnte sich dieser Wandel vollziehen und keineswegs ist die Methode der Freiluftkur bei Behandlung von chronischen Lungenleiden nach allen Seiten als abgeschlossen und fertig zu betrachten; vielmehr wird dieselbe noch immerfort ausgebildet, mit verwandten Heilmethoden verquickt, verbessert und erweitert. So sollen auch diese Zeilen nur dazu beitragen, die neueste Erweiterung der Freiluftkur zur Kenntniß zu bringen.

Als der Nutzen des kurgemäßen Genusses frischer Luft den Lungenkranken gewährt wurde, hielt man es anfangs für selbstverständlich, daß diese Kur nur am Tage in Anwendung kam; die lange Nacht hindurch aber lag der Kranke in seinem Schlafzimmer, die Fenster verschlossen und verhängt. Wohl wurde die Luft der abgeschlossenen Schlafstube schlecht, wohl erkannten Aerzte diesen Mißstand, aber lange hat es gedauert, bis das starre Vorurtheil der Aerzte und Kranken von der Schädlichkeit der freien Nachtluft ins Wanken gebracht wurde. Nur ganz allmählich versuchte es hier und dort ein nachdenkender Kranker, auch des Nachts ein Fenster im Nebenzimmer zu öffnen und frische Nachtluft aus dem Nebenzimmer durch die nur angelehnte Thür in die Schlafstube zu leiten. Da diese Versuche nicht zum Nachtheil der Kranken ausfielen, wurde man kühner und verordnete, des Nachts die Fenster im Schlafzimmer offen zu lassen. Auch dies that wohl und wurde in Kurorten mit bevorzugten klimatischen Bedingungen schnell zum Gebot. Es wurden an offenen Luftkurstationen und in geschlossenen Kuranstalten Einrichtungen getroffen, daß ein Wechsel der freien Luft und der Schlafstubenluft ununterbrochen die ganze lange Nacht stattfinden konnte.

Auch in Berka, dem Meran Thüringens, ist es seit Jahren üblich, den Brustkranken nicht nur den unausgesetzten kurmäßigen Aufenthalt Tags über im Walde, sondern auch Nachts das Schlafen in Stuben mit geöffneten Fenstern zu empfehlen, und die guten Erfolge des Kuraufenthaltes in Berka sind wohl oft dem strengen Innehalten dieser letzterwähnten Verordnung mit zuzuschreiben. Aber wie nützlich auch diese Art und Weise der Erhaltung guter Luft in Schlafzimmern für Brustkranke immerhin sein mag, so läßt sie doch noch viel zu wünschen übrig. Die in der ausgeathmeten Luft enthaltenen Keime sowie andere vom kranken menschlichen Körper kommende schädliche Ausdünstungen werden durchaus nicht vollständig durch die geöffneten Fenster mit fortgenommen, sondern bleiben zum großen Theil an den Wänden und Geräthen des Schlafzimmers haften, von wo aus dieselben immer von Neuem wieder ihre verderbliche Einwirkung auf den Kranken ausüben.

Dieser Umstand war es, welcher mich bestimmte, für unsere brustkranken Sommergäste zunächst wenigstens während der heißesten Monate Ruhestätten zu erdenken, in welchen dieselben kurgemäß die frische Waldluft Tag und Nacht in gleich vollkommenem Maße genießen können. Bevor aber der Verwirklichung dieses Gedankens näher getreten werden konnte, mußte festgestellt werden, ob der unmittelbare Genuß nächtlicher Waldluft kranken Athmungsorganen auch zuträglich sei. Leicht fand sich eine kleine Schar von brustkranken Herren und Damen, welche auf meinen Wunsch Ende August vorigen Jahres eine Nacht im Nadelhochwald schliefen. Man bediente sich als Lager der hier sehr gebräuchlichen Hängematten, welche zwischen zwei Baumstämmen befestigt werden. Dieser Versuch lieferte weit günstigere Ergebnisse, als ich erwartet hatte. Ich hatte geglaubt, man würde mir berichten, daß man zwar geschlafen habe, daß aber das Unerträgliche der Dauerlage schwer kranker Menschen in einer Hängematte ein unbefangenes Urtheil über die Dienlichkeit eines solchen nächtlichen Aufenthalts im Walde beeinträchtige. Thatsächlich indeß war die kleine kühne Schar von Waldschläfern nur des Lobes voll; alle hatten sie vorzüglich geschlafen. Dem Einen war sein Fieber nicht so lästig erschienen; den Andern hatte der Nachtschweiß nicht geplagt, den Dritten hatte der quälende Husten in dieser Nacht merkwürdiger Weise weniger gerüttelt etc. Alle befanden sich wohl am andern Tage und waren voll Begeisterung über ihr jüngstes Erlebniß. – Und auch mir war es wohl; der Versuch war gelungen! Die ganze moralische Verantwortung für die Folgen, welche aus diesem nächtlichen Aufenthalt im Walde für die fünf Kranken hervorgehen konnten, ruhte doch auf mir. Aber der Gedanke hatte sich bewährt, ich ging nun an die Verwirklichung meiner einmal gefaßten Absicht, Brustkranken kurgemäße Schlafstätten auch für nächtlichen Aufenthalt im Walde während der heißen Sommermonate einzurichten.

Was soll ich erzählen von den vielerlei Schwierigkeiten, welche sich im Verfolg meines Planes hindernd in den Weg stellten? Dieselben sind ja alle überwunden, die ganze Einrichtung ist fertig und seit Ende Juli dieses Jahres im Betrieb.

Der Ort, den ich zum Bau der Schlafstätten auswählte, befindet sich im Harthwalde, welcher in unmittelbarer Nähe über unserem Badestädtchen liegt und seit einer Reihe von Jahren als werthvoller Kurplatz für Brustleidende von Aerzten und Kranken hochgeschätzt wird. Hart am Rande dieses Waldes baute Herr Arthur Petzold, welcher selbst diesem Platz die Kräftigung seiner durch vieljährige Brustleiden geschwächten Gesundheit verdankt, im Jahre 1885 Schloß Rodberg und richtete das Haus zu einer Kurpension ein. Hundert Schritte waldeinwärts über [573] Schloß Rodberg befindet sich die Anlage, welche unser Bild wiedergiebt.

  Schlafstätten für Kranke im Harthwalde bei Berka.
  Originalzeichnung von A. Lewin.
Schloß Rodberg.  

Es ist ein friedlich stiller Platz unter den Wipfeln hochragender Kiefern, rings umgeben von niedrigem Tannennachwuchs. Hier liegt, völlig versteckt, die zwei Meter hohe Lattenumzäunung, welche einen 40 Meter langen und 20 Meter breiten Raum umschließt. Dieser Raum wird durch eine ebenfalls zwei Meter hohe und dicht gefügte Bretterwand in zwei gleich große Abtheilungen getheilt, deren eine für kranke Herren und deren andere für kranke Damen bestimmt ist. In jeder der beiden Abtheilungen befinden sich sieben Schlafstätten, welche in angemessenen Zwischenräumen zum größten Theil in anheimelnder Weise hinter dicht gewachsenen kleinen Tannen verborgen liegen. Jede dieser lauschigen Schlafstellen hat außer dem hölzernen Fußboden und dem ventilatorisch eingerichteten Dach nur eine einzige feste Wand, nämlich diejenige, welche hart an der allgemeinen Umzäunung liegt. Die drei dem Innern des umzäunten Schlafraums zugekehrten Seiten der Hütte sind völlig frei, können aber, wenn es durch irgend einen Umstand erforderlich wird, durch Herablassen von hölzernen Rollwänden theilweise oder ganz verschlossen werden. Diese Einrichtung ist durchaus leicht, und zwar vom Bette aus zu handhaben, da über dem Bett die Schnüre der Rollwände sämmtlich zusammenlaufen. Der theilweise oder gänzliche Verschluß der Schlafstätte erfolgt nur dann, wenn Regen, Wind oder Sonne von irgend einer Seite lästig empfunden werden oder wenn der Kranke sich aus- und ankleidet etc. In der Regel aber sind diese drei Seiten völlig frei und gestatten Tag und Nacht hindurch der würzigen Waldluft ungehinderten Zutritt zum Kranken.

Die Ausstattung der Hütte ist einfach, aber zweckentsprechend. An der festen Wand steht ein Bett mit guter Matratze, einem Keilkissen, zwei Kopfkissen und einer warmen Zudecke. Die Füße der Bettstelle stehen in kleinen, mit Sublimatlösung gefüllten Metallgefäßen, welche das Heraufkriechen von Ameisen, Käfern und anderem kleinen Gethier verhindern. Ueber dem Bette ist neben den Leitungsschnüren der Rollwände ein Knopf der elektrischen Klingel, welche zur Wache führt, die sich außerhalb des Schlafraums befindet. Ein Waschtisch mit zwei verschließbaren Auszügen, ein Spiegel, ein großer Kleiderhaken, ein Tischchen und ein Stuhl vervollständigen das Ganze. Der allen Bewohnern der Schlafstätten gemeinsame Raum ist dann noch ausgestattet mit Gartenstühlen und Tischen, mit einem sicheren Gelaß für Kleider und Koffer und mit einigen Laternen, welche des Abends und des Nachts die erforderliche Beleuchtung liefern.

Die Wache der Schlafstätten wohnt in einem Bretterhäuschen, welches unmittelbar vor den beiden dicht neben einander gelegenen Thüren der gemeinschaftlichen Schlafräume liegt. Diese Wache besteht aus einem Manne und einer Frau und hat die Aufgabe, die Schlafstättcn zu bedienen und den Nachtwächterdienst auszuüben. Die Verwaltung dieser neuen Einrichtung wird von der Pensionsvilla Schloß Rodberg aus besorgt, welche ja in unmittelbarer Nähe liegt. Die Inhaber der Schlafstätten haben das Recht zur unentgeltlichen Mitbenutzung der gemeinschaftlichen Räume im Schloß Rodberg wie der Speisesäle, des Billard- und Lesezimmers etc. und können, im Falle ein Gewitter oder irgend ein anderer Umstand den zeitweiligen Unterschlupf in ein Haus dem Einen oder Andern wünschenswerth erscheinen läßt, mit wenigen Schritten das schützende Dach eines großen Hauses erreichen. Indeß sind die Hütten so gebaut, daß dieselben jedem hier vorkommenden Wetter zu trotzen im Stande sind. Die Verpflegung der Kranken wird vom Schloß Rodberg aus besorgt, und diese neue Freiluftstation ist überhaupt Eigenthum des Herrn Petzold. Derselbe vermiethet die Schlafstätten zu dem Preise von 12 Mark die Woche, und außerdem hat der Miether noch wöchentlich Mark 1,50 an die Wache für deren Dienst zu entrichten.

Wenn ich am Schlusse meiner Mittheilung mir noch ein Wort über die Krankheiten zu sagen erlaube, welche sich zur Kur in dieser Freiluftstation eignen, so dürften wohl vornehmlich die mit ansteckendem Auswurfe einhergehenden chronischen Lungenleiden genannt werden. Auch andere chronisch entzündliche Krankheiten der Lungen und des Brustfells würden sich für diese Station eignen. Ferner nenne ich Blutarmuth des männlichen und weiblichen Geschlechts sowie endlich Schlaflosigkeit in Folge geistiger Ueberanstrengung und Ueberreizung.

Diese neu ins Leben getretene Einrichtung erregt in gleich hohem Maße die Aufmerksamkeit der Aerzte wie der Kranken. Mängel der Einrichtung werden hier und da zu Tage treten, und die Erfahrung wird gar bald die nöthigen Fingerzeige für Verbesserungen und Vervollständigung geben. Aber davon bin ich fest überzeugt: diese neue Freiluftstation wird sich das Interesse der Aerzte und Kranken dauernd sichern.




[574]

Magdalena.

Von Arnold Kasten.
(Schluß.)
12.

In Ruitenheim,“ begann Felsing, „einem kleinen Orte, der mitten in den Besitzungen des Grafen liegt, bin ich geboren. Meine Eltern waren arm, der Vater ein kleiner Handwerker, dem langjähriges Siechthum den Erwerb rüstigerer Jahre aufgezehrt. Einst hatte er eine wohleingerichtete Werkstatt besessen, in welcher er Scheren, Messer, Sicheln, Sensen und andere bäuerliche Werkzeuge verfertigte. Aber er war, wie gesagt, durch Krankheit und sonstige Unfälle herunter und so weit gekommen, daß er schließlich, schwach und krank wie er war, mit Umherziehen sich und seine Familie ernähren mußte. Ich war noch ein kleiner Knabe und verstand nicht viel vom Leben, aber doch wurde ich immer traurig, wenn er oft schon vor Tagesanbruch auszog aus unserer ärmlichen Behausung und sich im Zwielicht über mein Lager beugte, um mich zum Abschied zu küssen. Ich seh’ es noch, das blasse Gesicht mit den müden, kranken Augen, die mich so zärtlich anblickten. Die Mutter – Gott, sie war auch elend genug – erhob sich immer mit ihm und gab ihm das Geleit bis vors Dorf hinaus; dann kehrte sie zurück, und ich sah still liegend – denn ich konnte nicht mehr schlafen – beim Scheine eines Lämpchens ihre mageren Hände sich bewegen in rastloser Arbeit, dann die Milch zum Feuer stellen für mich und Magdalena.“

Emil’s Züge geriethen bei der Nennung des Namens in lebhafte Bewegung.

„Für Magdalena, meine Mutter?“ frug er.

„Für Magdalena, Deine Mutter. Damals war sie noch ein kleines, zartes Kindchen, drei Jahre jünger als ich, und ich hielt sie für mein Schwesterchen. Das war sie aber nicht. Sie war des Vaters Schwesterkind und von den Eltern auferzogen worden, nachdem ihre Mutter gestorben. Die war einmal sehr schön gewesen und hatte eine wundervolle Stimme, mit der sie Alle entzückte, die sie singen hörten. Da war denn eines Tages ein fremder Herr durchs Dorf gekommen, der hatte sie gehört und ihr gesagt: wenn sie mit ihm käme und ihre Stimme fürs Theater ausbilden ließe, so könnte sie große Ehre und Reichthümer erwerben und sich und die Ihrigen glücklich machen. Da ist sie denn mit ihm gegangen, und es schien auch so zu kommen, wie der Herr es ihr gesagt: sie wurde eine berühmte Sängerin und verdiente viel Geld und wurde bewundert und hofirt, und ein Baron soll sie sogar geheirathet haben. Aber lange hat die Herrlichkeit nicht gewährt: als ihre Stimme nachließ, verschwand auch der Baron. Da ging’s mit ihr herunter, tiefer und tiefer, und endlich kam sie wieder im Dorfe an, arm und krank! Aber nicht allein kam sie, sie brachte ein Kindchen mit von wenig Monaten, die kleine Magdalena.

Ich hatte große Freude, als ich das Kindchen sah, wenn auch Vater und Mutter unwirsch waren über die unerwartete Bescherung. Ich freute mich, weil ich nun doch nicht mehr so allein sein mußte, denn mit den andern Kindern im Dorfe hatt’ ich keinen Umgang, oder vielmehr, sie hatten keinen mit mir – unser Häuschen lag etwas abseits, vor dem Dorf draußen! Das hatte mich oft traurig gemacht, jetzt fühlt’ ich es nicht mehr, denn jetzt hatt’ ich ja ein Schwesterchen, die kleine Magdalena. Mit ihr konnt’ ich den ganzen Tag spielen, wenn ich nicht zu lernen hatte, denn der Vater brachte uns von Zeit im Zeit alte, zerbrochene Puppen und Spielsachen, welche die Kinder der reichen Leute nicht mehr mochten.

So vergingen mehrere Jahre und wir wuchsen trotz all der Armuth froh heran. Wenn der Frühling und der Sommer kam, da gingen wir mit einander hinaus an den Bach und in den Wald an den schönen Waldsee, legten uns nieder unter den großen Bäumen, pflückten Gräser und Blumen, und Magdalena erzählte dann wunderbare Geschichten von Nixen und Feen, von verzauberten Prinzen und Prinzessinnen und prächtigen Königsschlössern, die sie alle in ihrem Kopfe erfand. Sie hatte den hoffärtigen Sinn und das phantastische Wesen von ihrer armen Mutter. Die wurde nun kränker und kränker, und als ich eines Abends mit der kleinen Magdalena vom Walde heimkam, da lag sie kalt und steif auf dem Bette ausgestreckt, und mein Vater und meine Mutter saßen in einer Ecke und weinten. Dann nahm der Vater die kleine Magdalena an der Hand und führte sie zu der Todten hin; aber das Kind bekam einen solchen Schreck, daß es in Krämpfen umfiel und fast auch gestorben wäre. Magdalenens Mutter wurde begraben, und mein Vater wurde noch stiller und trauriger als vorher. Das Elend seiner Schwester war ihm sehr nahe gegangen und das hatte sein Leiden noch verschlimmert. Er nahm mich jetzt manchmal mit ins Geschäft auf die Wanderschaft.

Ich ging anfangs nicht gern mit, aber mein Vater sah mich dann immer so ängstlich an und sagte: ‚Komm, Johann, komm, es muß sein! Was wollt Ihr machen, wenn ich sterbe, Du und die Mutter und die Magdalena? Sieh’ zu, daß Du etwas verdienen lernst, damit Ihr nicht Hungers sterben müßt.“

Und ich ging mit dem Vater und half ihm mit meinen schwachen Kräften den schweren Karren mit dem Schleifstein ziehen von Ort zu Ort, half ihm auch beim Schleifen und Ausbessern der vielerlei Werkzeuge, welche uns die Bauern auf die Straße heraus brachten, wo wir denn, der alte kranke Mann und ich armseliger kleiner Junge, Tage lang standen in Sonne, Hitze und Winterkälte, in Regen und Sturm. Damals machte ich meine Lehre durch fürs ganze Leben, eine harte Lehre.

Ich hatte aber gleich von Anfang Geschick zum Geschäft und der Vater hatte seine Freude an mir, denn als er dann immer kränker wurde und schwächer, da konnt’ er doch zu Hause bleiben und sich pflegen: ich besorgte das Geschäft allein und verdiente mit vierzehn Jahren, was wir Alle brauchten. Hätte wohl auch noch etwas erübrigen können, wenn die Krankheit des Vaters nicht so viel Geld gekostet hätte, denn ich holte ihm den besten Arzt aus der Stadt. Der kam zweimal in der Woche und verschrieb ihm theure Arzneien und gutes Essen und Trinken. Aber es war Alles umsonst, der Vater mußte doch sterben, und in seiner letzten Stunde, als er immer schwächer wurde und kälter und sein Athem schwerer ging und er spürte, daß es bald zu Ende sei mit ihm, da winkt’ er mir mit den Augen und ich kam an sein Lager, und er suchte meine Hand und sprach:

„Du bist ein guter Sohn, Johann, und machst mir das Sterben leicht, denn ich weiß, Du wirst für Deine Mutter und die kleine Magdalena sorgen. – Du verstehst ja das Geschäft, und weil Du Vater und Mutter geehrt hast, so wird Dir der liebe Gott beistehen und Dir weiter helfen!“

Dann sank sein Kopf schwerer ein ins Kissen, ich kniete nieder, er legte mir die kalte Hand auf den Kopf und gab mir seinen Segen. Und ich fühlte plötzlich eine große Furcht und rief der Mutter, die draußen arbeitete und gar nicht wußte, daß es schon so weit mit ihm war. Der gab er auch noch die Hand und sah sie lange unverrückt an, bis er starb.“

„Mein armer guter Vater!“ seufzte Emil, indem er die Hand auf Felsing’s Schulter legte.

„Ja,“ fuhr dieser fort, „es war recht traurig, als wir ihn begruben. Ich ging mit Magdalena hinter dem Sarge her. Es gingen sonst nur noch ein paar arme Taglöhner und alte Weiber mit. Als die Schollen mit dumpfem Gepolter in die Grube fielen, da nahm ich mir’s vor, für die Mutter und Magdalena zu sorgen und nicht zu rasten und zu ruhen, bis ich sie in bessere Verhältnisse gebracht. Es ging wohl schwer in der ersten Zeit. Die lange Krankheit und die Beerdigungskosten hatten viel Geld verschlungen, und nun wurde auch die Mutter krank. Aber gern müht’ ich mich vom Morgen bis zum Abend und fuhr meinen Karren von Ort zu Ort, von Haus zu Haus, bis mich die Füße schmerzten, und ließ mich hundertmal des Tags von den Leuten abweisen, wenn ich nur unsern Lebensunterhalt verdiente und Abends meiner Mutter was Gutes zu essen und zu trinken bringen konnte zu ihrer Stärkung. Auch war’s gar nicht traurig bei uns trotz der Krankheit der Mutter, denn Magdalena wuchs heran und blühte auf wie eine Rose, und das niedere, ärmliche Zimmer, in dem wir wohnten, glänzte hell von ihrer Schönheit. Sie war jetzt achtzehn Jahre alt geworden und ich einundzwanzig, [575] und ich hatte sie sehr, sehr lieb. So lebten wir zufrieden und glücklich.

Da kam wieder ein trauriger Tag, an dem ich mit Magdalena wieder vor einem Sterbebette stand. Diesmal war’s die Mutter. Bevor sie die Besinnung verlor, legte sie unsere Hände zusammen und sagte. sie fühle, daß sie uns bald verlassen müsse, und wenn sie nun todt sei und wir so allein, so sollten wir uns heirathen. Mir war, als hört’ ich einen Engel aus dem Himmel reden, ich sah Magdalenen an, mit Thränen fiel sie mir um den Hals, die Mutter lächelte wie verklärt, und obwohl die Besinnung sie bald verließ, lächelte sie selig fort, bis sie starb, und noch über dem blassen starren Antlitz der Todten schwebte dieses friedliche, verklärte Lächeln.“

Felsing machte eine längere Pause, während welcher es in seinem Gesichte eigenthümlich zuckte.

„Du regst Dich zu sehr auf, lieber Vater!“ sprach ihm Emil herzlich zu. „Erhole Dich! Komm, laß uns ein wenig in den Garten gehen, in den Rebengang!“

„Wozu?“ unterbrach ihn Felsing. „Ich bin ganz ruhig! – Als wir die gute Mutter begraben hatten, beschlossen wir, nicht lange mehr mit der Heirath zu warten. Wir waren ja ganz allein auf der Welt und hatten Niemand mehr zu fragen. Ich war so glücklich damals, daß ich mir oft Vorwürfe machte, weil ich über den Tod der Mutter nicht trauriger sein konnte.

Es war im Frühling, und im Spätsommer schon, in wenigen Monaten sollte Magdalena mein Weib sein. Noch eifriger, noch unermüdlicher als zuvor trieb ich jetzt mein Geschäft. ich hatte einen Messerhandel begonnen, der gut ging, und wollte noch eine bestimmte Summe bei einander haben vor der Hochzeit. Da, als ich eines Abends, auf dem Heimweg begriffen, müde an der Landstraße saß und meine Baarschaft zählte, fuhr ein Wagen mit vier Pferden pfeilschnell an mir vorüber, daß mir der Staub ins Gesicht flog.“

Felsing hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort:

„In dem Wagen saß neben dem alten Grafen Hochberg-Eckartshausen ein junger schöner Mann in glänzender Officiersuniform. Das war der junge Graf. Er kam auf Urlaub aus der Residenz nach Eckartshausen zu seinem Vater. Die Uniform legte er bald ab, machte sich’s bequem und durchstreifte zu Pferd oder zu Fuß, die Flinte auf dem Rücken, die ganze Herrschaft. Bald war er hier, bald dort, und überall, wo er sich zeigte, steckten die Mädchen und die Weiber die Köpfe zusammen und wunderten sich über den schönen, jungen Herrn Grafen.

So kam er auch nach Ruitenheim und sah Magdalena und sie sah ihn – und sie gefiel ihm und er – er gefiel auch ihr, und sie sahen sich wieder und wieder, und damit es nicht auffalle und damit ich’s nicht so bald merke, bestellten sie sich in den Wald, und wo sie früher als Kind mit mir so gern gesessen unter den hohen Bäumen am Ufer des Waldsees, wo die Erlen ihre Zweige herunterhängen ins Wasser und wo’s so schattig und kühl und einsam ist, da saß sie jetzt mit dem jungen Grafen und hörte seine Schmeichelworte und träumte von Glanz und Pracht und glaubte dem Verführer!“

Emil’s Gesicht war todtenblaß geworden, er horchte in gespanntester Aufmerksamkeit.

„Ich merkte wohl,“ fuhr Felsing fort, der die Aufregung Emil’s gar nicht zu sehen schien, „ich merkte wohl, daß es nicht mehr richtig war mit ihr, denn geheuchelt hat sie nicht. Sie sagte mir auch bald genug, daß sie mich nicht mehr liebe, daß sie sich geirrt hätte, daß sie mich nicht heirathen könnte. Es schicke sich auch nicht mehr, daß sie allein mit mir in dem Häuschen wohne, sie wolle fort. Ich bat und beschwor sie, nur dies nicht zu thun. Ich dachte, sie werde sich doch wieder anders besinnen, wenn sie nur nicht ginge. Von den Zusammenkünften mit dem jungen Grafen wußte ich freilich nichts, so sehr ich auch ihres veränderten Wesens halber auf sie Acht gab. Sie machten’s gar geschickt, und so dacht’ ich mir, es gehöre eben mit zu ihrem seltsamen Wesen und Charakter, daß sie nun plötzlich nicht mehr wollte, und ich hoffte und hoffte, sie werde sich wieder anders besinnen, während sie immer aufgeregter wurde und ihre Augen immer mehr glänzten. Da plötzlich wurden sie matt und trübe und bekamen einen ganz veränderten Ausdruck und weinten viel und sahen mich oft voll Angst und Verzweiflung an, daß auch mir angst und bange wurde. Und als ich nun in sie drang, mir zu sagen, was sie habe, und sie an die Mutter erinnerte, die uns doch in ihrer Todesstunde zusammengegeben, da fiel sie mir schluchzend vor die Füße und gestand, daß – daß der junge Graf sie verführt – und verlassen habe!“

„Arme, arme Mutter!“ sagte Emil voll tiefen Schmerzes.

„Als ich die Worte hörte,“ fuhr Felsing fort, „war mir’s, als nähme mich ein Wirbelwind plötzlich vom Boden weg und schleuderte mich hoch hinauf in die Lüfte. Ich suchte nach einem festen Halt für meine Füße, meine Hände, und fand keinen und fiel zu Boden. Lange mag ich so besinnungslos dagelegen haben; denn als ich erwachte, war es dunkel im Zimmer und ich erinnerte mich nicht mehr, wie und warum ich gefallen, bis ich das Schluchzen der Magdalena hörte, die zu meinen Häupten knieete und deren heiße Thränen mir auf die Stirn tropften. Da faßte mich ein solches Mitleid mit ihrem Schmerz und kam die alte Liebe wieder so stark und mächtig über mich, daß ich mich erhob und sie in meine Arme nahm und sagte: ‚Magdalena, weine nun nicht mehr! Es war nicht gut, was Du gethan; es ist aber geschehen, und wenn er Dich verläßt und der Schande preisgiebt, so will ich Dich wieder zu Ehren bringen und glücklich machen. Magdalena, ich verzeihe Dir Alles, ja, und in acht Tagen machen wir Hochzeit.‘“

„Mein guter, guter Vater!“ rief Emil in tiefer Bewegung, indem er den Konsul umarmte; „Gott möge Dir’s lohnen, was Du an meiner armen Mutter gethan! Du nahmst sie zu Deinem Weibe und gabst ihr die Ehre wieder!“

„Nein, Emil,“ erwiederte Felsing düster, „so kam es nicht.“

„Nicht? Und warum nicht?“ fragte Emil athemlos.

„Als ich ihr den Vorschlag gemacht hatte, weinte sie noch stärker. Ich sei der beste Mensch von der Welt, stammelte sie, und sie habe mich von Herzen lieb und sie wolle mir’s ewig danken, aber heirathen könne sie mich nun nicht mehr. Sie sei jetzt zu schlecht für mich. Das konnt’ ich ihr nicht ausreden, so viel Mühe ich mir auch gab. Nun wurde ich zornig und meinte, sie halte es doch noch heimlich mit dem Grafen. Bald aber sah ich, daß dem nicht so war. Der Graf schickte noch einige Briefe, sie gab aber keine Antwort, auch nicht, als er einmal seinen Herrn Verwalter sandte, um fragen zu lassen, was er für sie thun könnte.“

„Meine arme Mutter! Was mag sie gelitten haben!“

„Wohl war sie zu beklagen damals,“ fuhr Felsing fort, „denn es kämpfte noch so hart in ihr, weil sie den Grafen noch immer liebte. Ich glaube, sie nährte damals noch eine schwache Hoffnung, er werde plötzlich wiederkommen und nach ihr sehen; er könne sie doch nicht so ganz allein ihr Elend tragen lassen; denn von Zeit zu Zeit wurde sie wieder aufgeregt, fast heiter, und ging in den Wald und setzte sich unter die Bäume, von welchen die Blätter fielen im Herbstwind. – Da kam aber eine Nachricht, die alledem ein jähes Ende machte: der junge Graf hatte sich in der Residenz verheirathet! – – Sie verzog keine Miene, als sie es hörte, nur ihre Augen wurden plötzlich so starr und kalt und glanzlos! Nachher ging sie aber so ruhig, als ob nichts geschehen wäre, an die Geschäfte unseres kleinen Hauswesens, und diese besorgte sie nun auch so fort, Tag für Tag, still und gelassen. Jeder Besprechung ihrer Lage wich sie aus. Ich ließ ihr den Willen, ich dachte, es sei das Beste, sie nicht mit Fragen zu beunruhigen, ihr Zeit zu gönnen, sich zu fassen. So ging der Winter hin, ich wanderte jeden Tag hinaus und besorgte mein Geschäft. – Und es war wieder Frühling geworden, da kam ich eines Abends von einem weiten Gange heim und fand das Nest leer.“

„Was war geschehen?“

„Auf dem Tische lag ein Brief von ihr, in dem sie mir schrieb, ich solle sie nicht suchen, sie sei wohl aufgehoben. Sie danke mir für alles Gute, was ich ihr gethan, und es sei ihr so leid, daß sie sich so undankbar gegen mich erwiesen, ich solle ihr nicht zürnen! – Zürnen? – ihr? – O Gott, nein, das that ich nicht! Ich setzte mich hinter den Tisch und stützte den Kopf in beide Hände und weinte bitterlicher als damals, wo mir der Vater und die Mutter gestorben! – Nun war ich ganz allein in dem Häuschen, ganz allein noch übrig, denn wenn es auch nicht in dem Briefe stand, ich wußt’ es doch, daß sie nicht mehr kommen würde. Ich habe in der Nacht nicht geschlafen. Ich suchte durch unaufhörliches Nachdenken herauszubringen, wo sie wohl hingegangen sein könnte, dachte da und dorthin – [576] vielleicht doch in die Residenz zum Grafen? – nein, das war nicht möglich, auch alles Andere, was mir beifiel, nicht wahrscheinlich. Ich fand nichts’ und doch ging ich am andern Morgen, als der Tag graute, fort, um sie aufs Gerathewohl zu suchen. Ich habe sie dann ein Vierteljahr lang gesucht, Tag und Nacht, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, hab’ keine Geschäfte mehr gemacht, nur gefragt und gespürt und gesucht hab’ ich und hab’ sie nicht gefunden! Aber wieder eines Abends, als ich an mein Häuschen kam, da saß vor der Thür ein fremdes Weib, das auf mich wartete und auf den Armen, eingebettet in ein schönes weiches Tragekissen ein Kindchen trng, das mich mit hellen Augen ansah. Das Kind – warst Du.“

„O Gott!“ stöhnte Emil. „Wo aber war – meine Mutter?!“

Felsing schien die Frage zu überhören.

„Die fremde Frau,“ fuhr er fort, „sagte mir, Magdalena hätte sie angewiesen, mir das Kind zu bringen und einen Brief habe sie auch für mich. Ich nahm den Brief und las ihn – ich habe ihn später oft genug gelesen, um ihn auswendig zu wissen. ,Lieber Johann,‘ schrieb sie, ‚ich schicke Dir mein Kind und bitte Dich, es so lange zu behalten, bis der Graf, sein Vater, es bei Dir holen lassen wird. Das wird nicht lange anstehen; denn ich habe ihm schon geschrieben, daß es bei Dir ist. Das Kind gehört ihm; ich darf es nicht mit mir nehmen dahin, wohin ich jetzt gehen will. Ich bitt’ Dich drum, recht Acht darauf zu geben und es ihm richtig zu überliefern. Ich weiß, daß Du meine Bitte erfüllen wirst, es ist die letzte. Suche mich nicht, es würde doch nichts nützen. Leb’ wohl, lieber Johann, und sei tausendmal bedankt für all’ Deine Lieb’ und Treue. Magdalena.‘

Ich drang in das Weib, mir zu sagen, wo Magdalena sei. Sie wußte es selbst nicht. Wohl habe jene bei ihr das Kindchen zur Welt gebracht und habe es gepflegt zwei Monate lang, dann aber habe sie ihr gesagt, sie müßte jetzt verreisen, habe ihr Geld gegeben und sie angewiesen, das Kind mit dem Briefe zu mir zu tragen. Da nahm ich das Kind von ihren Armen und sah es an – ‚Des Grafen Kind!‘ schrie laut der Haß in mir und ein mörderischer Grimm schüttelte mich und ich wollt’ es von mir schleudern, daß es stürbe! Da sah mich’s an mit großen blauen Augen und – ‚Magdalenens Kind!‘ stöhnte leis die alte Liebe und ich küßte es, küßt’ es – und meinte, die Magdalena sei mir nun doch wieder halb geschenkt – und trug’s ins Häuschen und legt’ es in das Bett der Magdalena und holte ihm Milch und gab ihm zu trinken, und setzte mich neben das Bett und wachte wieder und sann die ganze Nacht, wie damals, als sie fortgegangen war. Des andern Tags, dacht’ ich, werde der Graf schicken, um das Kind holen zu lassen, es kam aber Niemand. Ich ließ ein armes altes Weib aus dem Dorfe in das Häuschen ziehen, weil ich’s doch nicht recht verstand, das Kind zu pflegen. Am dritten Tage kamen zwei Forstwächter des Grafen auf mein Häuschen zu. Ich erschrak, denn nun, dacht’ ich, werden sie’s holen, und obwohl ich darauf wartete, daß man käme, fürchtete ich mich doch vor dem Augenblick, wo ich es hergeben sollte. Sie fragten aber nicht nach dem Kinde, sondern sagten, drüben im gräflichen Walde, im Weiher, schwimme die Leiche einer Frauensperson, sie glaubten, es sei die Magdalena –“

„Entsetzlich!“ stammelte Emil – „meine Mutter!“

„Ich solle mit ihnen gehen, um zu sehen, ob dem so sei, sie wollten nur noch den Schulzen dazu holen.“

„Und war sie's wirklich?“ fragte entsetzt, athemlos Emil, „– wirklich – meine Mutter?!“

„Sie war es – wirklich! Sie hatte sich gar nicht verändert und war leicht zu erkennen. Mit gefalteten Händen schwamm sie in dem hellen Wasser des Sees, der mit ihren langen, blonden Haaren spielte.“

Die Aufregung des jungen Mannes war bei den letzten Worten Felsing’s eine furchtbare geworden. Er war von seinem Sitze herunter auf den Boden geglitten und hatte die Arme um die Kniee Felsing’s geschlungen.

„O Gott, Vater,“ schluchzte er krampfhaft, „Du zerreißest mir das Herz! Ich kann, ich kann es nicht ertragen!“

„Auch ich, Emil, glaubte es nicht ertragen zu können und mußt’ es doch, mußte mit ansehen, wie sie aus dem Wasser gezogen, auf eine Tragbahre gelegt und durch den gräflichen Wald, der sproßte und grünte und in dem die Vögel sangen, nach dem Dorfe getragen wurde. Vor dem Dorfe war großer Zusammenlauf mit Geschrei. ‚Die Magdalena! Die Magdalena!‘ schrieen sie durch einander – ‚man hat sie! - sie hat sich ersäuft!‘ – Als ob es die Leiche einer Pestkranken wäre, wehrten sie sich dagegen, daß wir mit ihr das Dorf passirten, und drängten sich doch Alle heran, um das arme Opfer zu begaffen! Die Träger besprachen sich eine Weile mit dem Schulzen, und darauf wurde die Leiche ums Dorf herum getragen. Jenseit des Dorfes ist eine Schlucht, die falsche Klinge genannt, ein unheimlicher Ort, aus abergläubischer Furcht gemieden von den Ortsbewohnern. Dort gruben sie ein Loch und legten sie hinein, deckten sie mit Erde zu und gingen. Vorher aber hatte ich eine von den blonden Locken abgeschnitten, die über die Tragbahre herabhingen, und ein kleines Kreuz von ihrem Halse gelöst, das einzige Erbtheil, das sie ihrem Kinde hinterließ … und dereinst mein Brautgeschenk! …“

Seine Stimme zitterte, Emil hielt seine Hand, und ein unendliches Mitleid mit dem gequälten Mann, in dessen Innerstes er heute zum ersten Male sah, erfüllte sein Herz. Ein paar Augenblicke blieben sie schweigend so, dann zog Felsing die kleine Schachtel aus seiner Brusttasche und reichte sie Emil, der das Kreuzchen und die Locke herausnahm und tiefergriffen an seine Lippen drückte.

„Ich blieb,“ fuhr endlich Felsing in seiner Erzählung fort, „und kniete nieder und sprach ein Gebet. Dann wälzte ich einen schweren Stein auf den Erdhügel und ging nach Hause zu ihrem Kinde – zu Dir!“

Wieder folgte eine lange Pause, endlich sagte Emil gramvoll: „Hätte sie mich doch mitgenommen, daß ich diese furchtbare Stunde nicht zu erleben brauchte!“

„Du siehst jetzt, warum ich gerne geschwiegen hätte,“ erwiederte der Konsul, indem er die Hand auf Emil’s Haupt legte, „aber daß sie Dich nicht mit sich nahm, daran hat sie recht gethan! Ich hab’ es ihr oft gedankt, und auch Du dankst es ihr morgen schon wieder. – Als ich damals nach Hause kam, lachtest Du mir freundlich entgegen, und es war mir ein Trost, daß Du da warst. Und es vergingen Tage und Wochen, und der Graf schickte nicht nach Dir. Da hört’ ich, daß er von der Residenz nach Eckartshausen aufs Schloß gekommen sei mit der jungen Gräfin, seiner Frau. Und ich sagte mir in meinem Gewissen, daß ich den letzten Wunsch Magdalenens nicht unerfüllt lassen, daß ich Dich dem Grafen, Deinem Vater, ausliefern müsse, so gerne ich Dich auch behalten hätte. Und weil er nun noch immer nicht nach Dir schickte und Dich in Saus und Braus so ganz vergessen zu haben schien, so stieg der Gedanke in mir auf, daß ich Dich ihm doch wenigstens einmal zeigen müßte!“

Emil nickte zustimmend. „Nun – und?“ frug er.

„So legt’ ich Dich denn in schöne seidene Tücher und wanderte mit Dir nach Eckartshausen ins Schloß zum Grafen. Als ich am Schloßthor angekommen war, wehrte man mir den Eingang. Bettler würden nicht eingelassen, man werde mir etwas herausbringen.

‚Ich bin kein Bettler,‘ sagte ich, ‚ich will mir nichts holen, ich will dem Herrn Grafen ’was bringen!‘ Und damit ging ich hinein, schritt über den Schloßhof und trat ins Schloß. Dort hielten mich der Jäger und der Kammerdiener des Grafen an. Was ich wollte? ‚Sie möchten dem Herrn Grafen sagen,‘ erwiederte ich, ‚es sei Einer da, der bringe ihm etwas von der Magdalena, das würde er schon verstehen.‘ Die Beiden gingen die Treppe hinauf und ich folgte ihnen auf dem Fuß. Nun ging der Kammerdiener in ein Zimmer hinein, der Jäger wartete bei mir und sah mich und meine Last mißtrauisch an, denn ich hatte Dich ganz unter die Tücher versteckt und Du schliefst und rührtest Dich nicht. Es dauerte nicht lange, so kam der Kammerdiener wieder heraus und fuhr mich an: ‚der Graf habe nichts mit mir zu schaffen, ich solle machen, daß ich fortkäme!‘ Da bewältigte mich der Zorn und ich schrie, daß er’s drinnen hören konnte: ,Ich bringe dem Grafen sein Kind, sein eigen, leiblich Kind, und wenn er auch schlecht genung gewesen, die Mutter zu verlassen, so wird er doch sein Kind nicht verleugnen wollen!‘ Da packten mich die Beiden und stießen und zerrten mich die Treppe hinunter, und Du wachtest auf und fingst an zu wimmern und kläglich zu schreien, und wie ich unten im Schloßhof war und über mich blickte, stand am offenen Fenster

[577]

Der Regenstein im Harz.
Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

[578] der junge Graf und sah finster auf mich herunter. Da hob ich Dich empor und schrie hinauf zu ihm: ,Ihr Kind, Herr Graf, das Ihnen die Magdalena schickt, die Sie verführt und verlassen haben, und die sich ersäuft hat im Waldsee!‘

Da sah ich, wie er blutroth wurde im Gesicht und dann leichenfahl, und wie er dann zurücktrat und das Fenster zuschlug, daß es klirrte. Aber nun stießen mich der Jäger und die Bedienten mit Gewalt aus dem Schloßhof hinaus, und zuletzt kamen noch die Hunde des Grafen hinter mir drein, die mit Gebell an mir emporsprangen, während ich Dich fest an meine Brust drückte, damit sie Dich nicht zerrissen. Schon hatten sie mich auf den Boden geworfen und ihre Zähne zerrten an den Tüchern, in denen Du lagst, da pfiff man ihnen vom Schloßhof und so ließen sie uns los!“

„Vater! Vater!“ rief Emil verzweiflungsvoll aus. „Ich bitte – ich beschwöre Dich! Höre auf! Genug nun des Gräßlichen!“

„Sei ruhig Emil,“ erwiederte Felsing, „ich bin gleich zu Ende. – Als ich mich vom Boden erhob, war es just derselbe Ort, wo ich im vorigen Jahre gesessen und geruht und in Gedanken ausgerechnet hatte, wie lange es noch sei bis zur Hochzeit, als der Unglückswagen gefahren kam. Ich lief so schnell ich konnte weiter. Die Sonne stach heiß herunter, ich war zum Tod ermattet und strengte alle meine Kräfte an, mit Dir nach Hause zu kommen. Der Weg zog sich in den Wald und plötzlich stand ich an dem dunkeln kleinen See, in dem Magdalena ihr Ende gefunden. Es war so still ringsum, mich faßte plötzlich der Gedanke, es ihr nachzuthun und mit Dir ebenfalls hineinzuspringen, um Erlösung aus all der Qual zu finden. Ich starrte auf das grüne Wasser hin, und plötzlich schien mir’s, als sehe ich ihr blasses Gesicht daraus auftauchen mit den langen blonden Haaren. Es dauerte nur einen Augenblick, dann sah ich Nichts mehr. Aber da war mir’s, als riefe mir Einer in die Ohren: ‚Sei kein Feigling, räche sie! Strafe ihren Mörder!‘ Ich warf mich auf die Kniee neben dem Baumstumpf auf den ich Dich gelegt, und streckte die Hände gen Himmel. Kein Gebet ist jemals heißer und inbrünstiger hinaufgestiegen als der Fluch und Racheschwur, den ich damals aus tiefster Seele dem Allmächtigen gleichsam in die Hände gelobte. Als ein verwandelter Mensch stand ich auf – ich hatte jetzt wieder ein Ziel im Leben, und wenn es auch noch so fern stand: daß ich es erreichen würde, eines Tages, das wußte ich sicher!

Mein erster Schritt war, von Ruitenheim wegzuziehen; ich verhandelte mein armseliges Häuschen an einen Bauern, der es zu einem Stalle brauchen konnte, und mit dem geringen Erlöse desselben und einem Kapital, das mir der brave Pfarrer von Eckartshausen verschaffte, zog ich in die Welt und fing ein festes Geschäft an. – Von da an hab’ ich Dich als meinen eigenen Sohn gehalten. Sag’ selber: hab’ ich nicht?“

„Ja, ja,“ rief Emil mit von Thränen erstickter Stimme, indem er seinen Pflegevater umarmte, „Du hast mich überschüttet mit Güte und Liebe, Dir dank’ ich, daß ich lebe – Alles, Alles dank’ ich Dir!“

„Nun denn,“ sagte Felsing, die Hand seines Pflegesohnes ergreifend, „so folge mir!“

Aber Emil wich nicht von der Stelle.

„Kann ich denn?“ rief er aus. „Alles was Du sagtest, ist schlimmer, als ich es für möglich hielt, und dennoch fühle ich auch jetzt wieder nur das Eine: er ist – mein Vater!“

„Er ist der Mörder Deiner Mutter,“ entgegnete Felsing hart. Ein schmerzliches Zucken des jungen Mannes zeigte, wie furchtbar ihn diese Worte berührten. Er brauchte lange, um sich wieder zu fassen und zu sammeln.

„Wo find’ ich Worte,“ begann er endlich, „Dir zu entgegnen? Wo die Kraft, wider die ungeheure Anklage zu kämpfen, die sich aus jedem Deiner Worte gegen ihn erhebt? – Er hat Dich schwer verletzt, Dich hart geschlagen, aber was ist all’ das Unrecht, das er Dir gethan gegen das, welches er meiner armen Mutter zugefügt! Dir raubte er die Braut, ohne Dich zu kennen; ihr raubte er die Ehre und das Leben, ihr, die ihm vertraute!“

„Du sprichst sein Urtheil!“ unterbrach ihn Felsing.

„Nein, Vater, nein!“ fuhr Emil fort, „denn meine arme Mutter hat ihm verziehen und als ein Pfand ihrer Verzeihung vermachte sie mich ihm in ihrer Todesnoth. Dir aber hat sie zum Zeichen ihres höchsten Vertrauens die Vollstreckung ihres letzten Willens übertragen. Wie sicher baute sie doch auf Dein Herz! Und Du – hast Du nun ihren Willen so erfüllt, wie sie’s erhoffte? Als Du mich dem Vater damals brachtest, wolltest Du ihn schonen, so wie sie’s wollte? War jener Weg ins Schloß nicht schon der Anfang Deiner Rache? – Im peinvollen Drange des Augenblicks, von falscher Scham verführt, hat auch er den rechten Weg damals nicht gefunden. Er wies Dich von seiner Schwelle, Dich, den er schwer verwundet, dem er so viel genommen! Er hat es schwer gebüßt! Dein ganzes Lebensglück aber hat nicht er, Dein Rachedurst hat es Dir geraubt; denn wie ein Kranker, der, immer nach der Stelle tastend, die ihn schmerzt, den Schmerz dadurch erneuert und die Heilung hindert, so hast Du in der Wunde, die er Dir schlug, ohn’ Unterlaß gewühlt, daß sie sich niemals schließen konnte. Laß sie endlich, endlich sich schließen und versöhne Dich mit meinem Vater, welcher glücklich wäre, Alles wieder gut machen zu können, was damals wider seinen Willen Dir geschah!“

„Wider seinen Willen? Wer sagt das? Hat er denn das Mindeste gethan, um sein Unrecht gut zu machen? Hat er auch nur einmal nach mir, nach Dir wieder gefragt?“

Emil war stumm an den Tisch getreten und hatte aus den dort liegenden Papieren eines ausgesucht, welches er nun dem Konsul überreichte. „Lies das,“ sagte er.

Es war der Brief des Pfarrers von Eckartshausen mit der Quittung Felsing’s.

Der Konsul flog die Papiere durch und seine Züge bekundeten das lebhafteste Erstaunen. „Das ist die Quittung über das Geld, mit welchem ich meinen jetzigen Wohlstand gründete. Wie kommt –“

„Dieses Geld kam von meinem Vater,“ unterbrach ihn Emil.

Es trat eine lange Stille ein. Felsing starrte unverwandt auf das Papier, auf die Unterschrift, die er damals in seiner größten Noth für den unbekannten Wohlthäter gegeben.

„Vom Grafen!“ murmelte er endlich. „Wenn ich’s gewußt hätte, wahrlich, ich hätt’ es nicht genommen! Nun, ich hab’ es zurückbezahlt, das Geld, mit dem er mich zu bezahlen wähnte! Und glaubst Du wirklich, daß er mit diesem Gelde seine Schuld bezahlt hat: den Verrath an Deiner Mutter und die Vernichtung meines Lebensglücks? Glaubst Du, daß er damit das Recht erkauft habe, mir meinen letzten Trost, Dich, zu rauben und sich weiter seines Lebens zu freuen?!“

In diesem Augenblick hörte man im Nebenzimmer ein Geräusch von Schritten, welche sich der Thür näherten. Dieselbe wurde geöffnet und heraus trat, von der Gräfin und Gabriele geführt und von Richard gefolgt, Graf Erich.

Der vor wenigen Monaten noch so stattliche und jugendlich aussehende Mann war kaum mehr zu erkennen. Tiefe Falten durchfurchten sein mageres Gesicht, welches von langen, schneeweißen Haaren eingerahmt war.

Mühsam nur schleppte er sich mit Hilfe der beiden Frauen fort.

„Warum wollt Ihr mich durchaus auf die Terrasse führen?“ kam es in abgerissenen Lauten von seinen Lippen. „Ich kann das Licht nicht ertragen! Laßt mich im Dunkeln! Ich bitte Euch! Laßt mich!“

Emil hatte seinen Pflegevater rasch in die Ecke gedrängt, aber schon hatte der Graf denselben gesehen und seinen Blick unverwandt auf ihn gerichtet.

Es lag weder Furcht, noch Schreck, noch Haß – nicht einmal Ueberraschung in diesem Blick.

„Sind Sie endlich gekommen, Felsing? Ja, ja, ich dachte mir’s, daß Sie kommen würden – habe Sie lange erwartet. Sie wollen mir meinen Sohn nehmen und ich weiß ja wohl, Sie haben das Recht, ihn zu besitzen, das ich verwirkt habe!“

Mit Felsing, der beim Erscheinen des Grafen denselben mit finstern Blicken gemessen hatte, ging bei diesen Worten eine seltsame Veränderung vor. Alle seine Gesichtsmuskeln waren in Bewegung, er griff mit der Hand nach dem Herzen, sein Mund öffnete sich, als wollte er sprechen, aber kein Laut entrang sich demselben.

„Mein Eugen dahin,“ begann der Graf wieder mit beinahe tonlosem Flüstern – „und nun werd’ ich wohl auch diesen nicht mehr wiedersehen, der mir erschienen war als Pfand der Verzeihung meiner schweren Schuld!“

[579] Die Schwäche des Grafen wurde bei den letzten Worten so groß, daß die beiden Frauen Mühe hatten, ihn zu halten, und Emil und Richard zu ihrer Unterstützung beispringen mußten, um den Grafen zu einem Stuhle zu geleiten.

„Ihr Eugen, Herr Graf, ist gerettet! Ich – ich habe ihn wieder auf die Füße gestellt – in diesem Augenblicke ist er wieder bei seinem Regimente und von seinen Thorheiten gründlich geheilt!“

„Felsing!“ rief der Graf, den die Worte mit neuer Lebenskraft zu erfüllen schienen; „Sie – Sie hätten – o Dank! Dank!“

„Ich verlange keinen Dank, es war nur so eine Marotte von mir,“ erwiederte Felsing und seine Stimme hatte einen weicheren, milderen Klang bekommen. „Auch Magdalenens Sohn will ich Ihnen nicht rauben. Er soll frei sein in seinen Entschließungen. Ich habe ja das Entsagen gelernt! Leben Sie wohl, Graf Erich! Unsere Rechnung ist ausgeglichen!“

Lautlos hatten Alle auf diese Jedem unerwarteten Worte gelauscht. Jetzt aber eilten Emil, die Gräfin und Gabriele auf Felsing zu und faßten in überströmendem Dankesgefühle seine Hände.

„Nicht doch, Felsing,“ redete die Gräfin ihm zu – „Sie dürfen nicht von uns gehen, Sie können so nicht von uns gehen. Ihr edles Herz wird das nicht zulassen.“

Und mit einem Blick auf ihren Gatten fuhr sie fort: „Was er verschuldet, hat er schwer gebüßt! Wollen Sie den Tiefunglücklichen, Schwerbereuenden nicht mit einem Worte aufrichten? Wollen Sie die zitternde Hand, die er Ihnen entgegenstreckt, nicht ergreifen?“

„Wenn ich es auch wollte – ich kann es nicht,“ erwiederte tiefergriffen Felsing. „Magdalena steht zwischen uns und wehrt mir ab!“

„Nicht doch, mein Vater,“ sagte Emil feierlich, „Du irrst! Der Wahn, der Haß sind nur von dieser Welt, da droben schwinden sie, und wenn meine arme Mutter jetzt auf uns hernieder schauen kann, so wird sie den Augenblick segnen, wo Ihr Beide dem Sohne zulieb Eure Hände in einander legt!“

Felsing machte einen Schritt dem Grafen entgegen, dann zauderte er wieder.

„Ich stehe schwer in Ihrer Schuld, Felsing,“ flüsterte der Graf.

„Wir haben Beide geirrt und gefehlt,“ erwiederte Felsing. „Auch ich habe gethan, was mich reut! – Hätt’ ich gewußt, daß Sie es waren, der mich damals unterstützte, Manches wäre nicht geschehen! Was ich an Gütern dieser Welt besitze, dank’ ich Ihnen!“

„An Gütern dieser Welt! Sie haben Ihnen kein Glück gebracht,“ sagte der Graf. „Sie sind mir keinen Dank dafür schuldig. Ich aber, ich danke Ihnen einen Sohn – zwei Söhne!“

Felsing stand in heftigem inneren Kampfe; er vermied es, einem der Anwesenden ins Gesicht zu sehen, und Niemand wagte, in diesem Augenblick das Wort an ihn zu richten. Da trat Gabriele, die bis jetzt zur Seite gestanden, leise zwischen ihn und ihren Vater. Sie hob die feuchten Augen mit kindlich bittendem Ausdruck zu Felsing empor, und indem sie seine Hand nach dem Grafen hinzulenken suchte, drückte sie schweigend einen Kuß auf dieselbe.

Die einfache Liebkosung wirkte erschütternd wie keine der vorhergegangenen Reden, sie schmolz den letzten harten Groll von seinem Herzen – und laut aufschluchzend umfing er das blonde Haupt und drückte es fest und innig an seine Brust.

Dann streckte er die Rechte dem Sohn entgegen und rief mit bebender Stimme:

„In Gottes Namen – ja – Ihr habt gewonnen – die Vergangenheit soll begraben sein – für immer!“

„O Vater,“ rief Emil, indem er ihn stürmisch umarmte, „wie glücklich machst Du mich!“ –

„Denn ich habe in den letzten Stunden erkannt,“ fuhr Felsing ernst und feierlich fort, „daß der Mensch sich nicht vermessen soll, den Richter und Rächer zu spielen. Unser Haß ist blind und eine höhere Hand schnellt den Pfeil auf den Schützen zurück. Wir haben es erlebt. Und jetzt heißt es umkehren!“ rief er mit seiner alten Energie, „den falschen Weg verlassen und den rechten einschlagen. Die Sühne, das fühle ich jetzt tief, liegt nicht in der Rache – ich glaube,“ fügte er leiser hinzu, „sie liegt in der Selbstüberwindung, in –“

Im Verzeihen,“ vollendete die Gräfin und legte die Hände der beiden Männer in einander.




Blätter und Blüthen.

Die Frauen in Persien. Was uns über die Lage des weiblichen Geschlechtes in dem Sonnenlande Persien berichtet wird, ist ganz geeignet, dasselbe den Frauen des Abendlandes als eine Art von „Eldorado“ erscheinen zu lassen. Nicht als ob die gesellschaftliche Stellung der Frauen irgendwie an die unserige erinnerte; aber sie sind frei von jeder Arbeitslast; die Bedienung des Hauses besteht nur aus Männern, die auch auf den Markt gehen und jede häusliche Arbeit verrichten. Ausgenommen sind nur die Haremssklavinnen, welche sich natürlich, da sie in alle Geheimnisse der Toilette eingeweiht werden, nicht ersetzen lassen. Diese Toilette ist fast die einzige Beschäftigung der Frauen: dazu Gesang und Tanz, Bäder, Besuche und Spaziergänge. Mit Farben, Salben, Schminktöpfen jeder Art ist die Toilette der Perserinnen reich ausgestattet. Die Wimpern werden mit Salbe zusammengepappt und geschwärzt; die Brauen müssen über der Nase zusammenstoßen; Wangen und Kinn werden roth und blau gemalt, das Haar, die Nägel und Handflächen roth gefärbt und zwar mit dem Pflanzenstoff Hennah. Das Haar hängt meist in zahlreichen Zöpfen herab, wird indeß auch von vielen Frauen hinten in einem Knäuel aufgesteckt. Es giebt in den persischen Harems blutjunge Frauen: mit zwölf Jahren ist ein Mädchen heirathsfähig. Der Mann lernt das Gesicht seiner Braut erst nach der Hochzeit kennen; auch die Gestalt wird durch die bis zu den Füßen wallenden Schleier unkenntlich gemacht. Kaufen und ausstatten muß der Mann die Frau, die in der Regel nur ein kleines Gegengeschenk in Waffen oder ähnlichen Dingen bietet. Bei der Heirath giebt es allerlei symbolische Gebräuche, besonders bei den Kurden: der Mann tritt der Frau auf den Fuß und läßt ihr einige gelinde Ruthenhiebe zu Theil werden. Die persischen Schönheiten haben runde Gesichter, Gazellenaugen und Neigung zur Körperfülle. Die ehelichen Verhältnisse sind übrigens von einer Bequemlichkeit für die Männerwelt, von welcher das Eherecht des Abendlandes nichts weiß. Vier rechtmäßige Frauen sind dem Perser zugestanden, und auch der gemeine Mann hat in der Regel mehr als eine Frau; der Unterhalt ist nicht theuer; ein Landmädchen wird oft für wenige Groschen verkauft, wenn es nur versorgt wird. Doch bleibt diese Versorgung unsicher, denn der Mann kann sich jeden Augenblick wieder scheiden lassen und braucht dafür gar keine Gründe anzugeben.

Nun giebt es aber noch allerlei Spielarten des ehelichen Glückes; außer den rechtmäßigen Ehefrauen giebt es noch Vertragsfrauen, Frauen auf unbestimmte Zeit, welche meistens aus der Zahl der geschiedenen Frauen und der Wittwen genommen werden und deren jeder Mann sich so viele halten kann, als seine Mittel irgend erlauben. Die Zeit kann sehr kurz gemessen sein; denn beim Landaufenthalt oder auf Vergnügungsreisen kann der Perser irgend ein Bauernmädchen heirathen, von dem er sich dann nach beendigter Villeggiatur wieder scheiden läßt. Daß die rechtmäßigen Ehefrauen sich mit denen „auf Zeit“ nicht aufs Beste vertragen und auch die mehrjährigen und mehrmonatigen sich gelegentlich in den Haaren liegen, ist begreiflich; es sollen sogar häufig genug Vergiftungen vorkommen. Am schwierigsten ist natürlich das persische Erbrecht: denn es bedarf einer mehr als Solonischen Weisheit, um die Rechtsansprüche der Kinder aus diesen verschiedenen Ehen in billiger Weise festzustellen. †     

Der Regenstein. (Mit Illustration S. 577.) In ungeheuerlichen drohenden Massen ragt am Nordrande des Harzes ein theils bewaldeter, theils wild zerklüfteter Felsblock empor, der den ganzen Gau zwischen Halberstadt und Quedlinburg beherrscht, der Regenstein. Unheimlich ist das Gepräge dieses nach Norden und Westen steil abfallenden, von Süden und Osten sanft ansteigenden Sandsteinfelsens, unheimlich wie die Reste jener trotzigen Burg, die einst den Scheitel dieses gewaltigen Klotzes krönte.

Die Ruine Regenstein ist eine der merkwürdigsten natürlichen Befestigungen des frühesten Mittelalters; möglich, daß die zahlreichen Klüfte und Höhlen in und an den Felsen schon die Schlupfwinkel jener längst vergessenen Geschlechter waren, die mit dem Ur, dem Riesenelch und dem Höhlenbär im Kampfe lagen. In geschichtlicher Zeit soll es Heinrich der Vogelsteller gewesen sein, der hier (919) eine Burg errichtete. Später hausten hier oben die Grafen von Regenstein, Kampf- und Schnapphähne im wahrsten Sinne des Worts, die in fast allen mittelalterlichen Fehden und Händeln dieser Gegend eine bedeutende Rolle spielten. Sie waren es auch, die ihre Burg in ein Raubnest verwandelten, dem man mit Recht nachrühmen konnte, daß es völlig uneinnehmbar sei. Alle Theile der Burg, Gänge, Hallen, Kammern und Gemächer waren mit Benutzung vorhandener natürlicher Höhlungen aus dem Felsen herausgemeißelt. Gemauerte Räume schlossen sich unmittelbar an die aus dem Felsen gehöhlten und fanden in ihnen ihre Fortsetzung und Ergänzung. Ganze gewaltige Felsen wurden so zu Geschossen umgewandelt, die sich, einem riesenhaften Taubenhause vergleichbar, neben und über einander in dem Hauptstocke des Felsberges befanden. Viele dieser Geschosse waren durch schmale Durchgänge verbunden, und der ganze Bergrücken stellte also eine Naturveste dar, wie sie eigenartiger, seltsamer in deutschen Landen wohl [580] schwerlich wieder zu finden ist. Waren doch selbst die Sitzbänke, die Schlafstellen und Pferdekrippen aus Stein gehauen.

Nach dem Aussterben Derer von Regenstein kam die Burg an die Herzöge von Braunschweig; im dreißigjährigen Kriege erhielt Wallenstein das Felsennest zum Geschenk. Später nach manchen wechselvollen Zwischenfällen, nahmen die Brandenburger Besitz von der Grafschaft und befestigten den ohnehin schon uneinnehmbaren Regenstein sehr stark. Nach dem siebenjährigen Kriege aber wurden die Befestigungen, so viel sich eben davon niederreißen ließ, von Preußen zerstört.

Manche Erinnerung, manche Sage haftet an dem alten Burgthurm, an den dunklen Verließen und Felsengefängnissen; vornehmlich erzählt man sich abenteuerliche Historien von jenem wilden Grafen Albrecht von Regenstein, der sein Leben lang mit den Städten und der Geistlichkeit in blutigster Fehde lag. Noch wird auf dem Boden des Rathhauses zu Quedlinburg ein mächtiger eisenbeschlagener Holzkasten bewahrt, in welchem die Bürger den Raufbold wegen Störung des Landfriedens volle zwanzig Monate eingesperrt hielten. Wer sich für die Geschichte dieses Abenteurers interessirt, möge sich mit der Lektüre des von Julius Wolf, dem Dichter des „Rattenfänger“, verfaßten „Raubgrafen“ einige angenehme Stunden bereiten.

Kritikerbosheiten. Heine und Börne, die klassischen Theaterkritiker – Lessing kommt hier nicht in Betracht, denn er hat seine Aufgabe ernster genommen – haben das Vorbild für Kritiker abgegeben, die sich gelegentlich in kleinen Bosheiten gefallen. Eine der empfindlichsten Recensionen leistete einmal M. G. Saphir, indem er in der „Theater-Zeitung“ über das Gastspiel eines an drei Abenden angetretenen stimmlosen Tenoristen Namens Hahn die Bibelstelle: „Und als der Hahn zum dritten Mal krähte, ging Petrus hinaus und weinte bitterlich“ abdrucken ließ. – Ein anderer, späterer Kritiker schrieb über eine durch fürstliche Gunst an einem Hoftheater festgehaltene, weder schöne noch kunsttüchtige Tänzerin: „Man sagte, Fanny Elsler tanze Hegel, und ich behaupte, Fräulein ** tanzt Schopenhauer – sie lehrt Einen die Weiber hassen.“ – Nicht minder ungalant sprach sich ein Berliner Recensent über die seiner Zeit engagirt gewesene, von hoher Stelle protegirte Tänzerin Soldanski aus, indem er folgende Meinung abgab: „Fräulein Soldanski soll tanzki, muß tanzki, kann aber nicht tanzki.“

Von einem Liebhaber, der bei seinem Debut durchfiel, schrieb ein Kritiker: „Der Debütant scheint trotzdem sehr viel Glück in der Liebe zu haben, denn er hat namenloses Unglück im Spiel.“ – Derselbe Schauspieler war es, der einen witzigen Kollegen jenes Beurtheilers zu der Bemerkung verleitete, der junge Künstler habe Arme, die „so lang wie die Reue“ seien, und er laufe den Abend über damit herum, „als suche er mit nassen Händen ein Handtuch.“ Einer unabsichtlichen Bosheit sieht es gleich, wenn ein Theaterkritiker von einer Darstellerin der Maria Stuart einmal schrieb: „Wir hatten bisher geglaubt, daß diese Rolle Jugend und Schönheit erfordere; die Maria Stuart von gestern Abend hat uns belehrt, daß man einen Erfolg haben kann, ohne das Eine oder das Andere zu besitzen.“

Von einer Bühnenkünstlerin, die ihre besseren Tage längst hinter sich hatte und durchaus nicht zurücktreten wollte, schrieb ein Berliner Kritiker einmal: „Frau F. ist schließlich nicht mehr jung, wenn man bedenkt, daß es Friedrich der Große war, der gesagt hat: ‚Die F. – ja, die war einmal sehr schön.‘“

Eine nicht mehr in dem der Rolle angemessenen jugendlichen Alter stehende Darstellerin der „Rosine“ mußte von einem Opernrecensenten die Bemerkung hinnehmen: „Ich möchte diese Rosine wohl als Traube gekannt haben;“ – und ein später sehr berühmt gewordener Sänger hat nach dem Urtheil eines viel genannten Kritikers den „Don Juan“ am Berliner Opernhause „krähirt“ (anstatt krëirt). Man weiß, daß die wenigsten Menschen der Versuchung widerstehen können, einen „Witz“ zu unterdrücken: warum soll ein Kritiker diesen Heroismus besitzen, und mußte sich nicht der große Giacomo Meyerbeer gefallen lassen, von Heine „Maestro Fiascomo“ genannt zu werden?


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

C. in Elbing. Sie meinen, nach den Mittheilungen in Dr. Förster’s „Geschichte der Befreiungskriege“ sei es doch wahrscheinlicher, daß der Reisewagen Napoleon’s sich in England befinde; denn Förster erzähle, daß Major von Keller, der Führer des Füsilierbataillons des 15. Regiments, den Wagen Napoleon’s für eine gute Prise erklärt, ihn nach England gebracht und dort für Geld habe sehen lassen. Dann wäre freilich eher anzunehmen, daß er in England geblieben; doch die Nachrichten aus Schlesien treten mit solcher Bestimmtheit auf, daß man sie wohl für verbürgt halten muß; jedenfalls wäre die Familie des Fürsten Blücher im Stande, authentische Auskunft zu ertheilen.

B. in Z. Ueber einen allgemeinen „Touristengruß“ hat man sich unseres Wissens bis jetzt nicht geeinigt. Viel Beifall fand neuerdings der vorgeschlagene Gruß „Frisch auf!“ „Frisch ab!“ Ob der von Ihnen erfundene Gruß „Bedächtig auf!“ „Heil ab!“ Anklang finden wird, möchten wir bezweifeln, obwohl die Mahnung, die in demselben für waghalsige Bergsteiger enthalten ist, wohl berechtigt erscheint.


Inhalt: Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 565. – Im Marmorpalais zu Potsdam. Von Gerhard von Amyntor. S. 570. Mit Illustrationen S. 565, 568 und 569. – Schlafstätten im Walde. Von Dr. Willrich-Berka (Ilm). S. 572. Mit Illustration S. 573. – Magdalena. Von Arnold Kasten (Schluß). S. 574. – Blätter und Blüthen: Die Frauen in Persien. S. 579. – Der Regenstein. S. 579. Mit Illustration S. 577. – Kritikerbosheiten. S. 580. – Kleiner Briefkasten. S. 580.



Soeben ist erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

„Gartenlaube-Kalender“
für das Jahr 1888.
Dritter Jahrgang.
14 Bogen 8° mit zahlreichen Original-Illustrationen.
Ganzleinenband mit reicher Deckelpressung.
Preis: Eine Mark.

Der Kalender bringt wieder neben einem ausführlichen Kalendarium, verbunden mit haus-, garten- und landwirthschaftlichen Notizen zahlreiche praktische Nachweise und Tabellen, populär-wissenschaftliche, belehrende und unterhaltende Artikel, besonders auch gute Erzählungen, Humoresken, Gedichte und vorzügliche Illustrationen. Aus dem reichen Inhalte geben wir im Nachstehenden einen kurzen Auszug:

Uebersichtskarte der deutschen Schutzgebiete und Konsulate.Franzi. Illustration von F. Defregger. – Kalendarium, statistische Nachweise, Tabellen etc. etc. – Mutterglück. Illustration von L. Blume-Siebert. – Zum neuen Jahr. Gedicht von Frida Schanz. – Die goldene Hochzeit. Erzählung von M. Lenz. Mit Illustrationen von Arthur Lewin. – Die Sonnenfinsterniß des Herrn Kuschbert. Humoreske von Oskar Justinus. – In der letzten Stunde! Aus den hinterlassenen Papieren eines Kriminalbeamten. Von F. F. Engelberg. Mit Illustrationen von Arthur Lewin. – Nur ruhig Blut! Eine Mahnung an Hitzköpfe und alle Anderen, die es angeht. – Die neue Brücke über den Douro bei Oporto. Mit Illustration. – In der „Rose“ zu Betzingen. Eine Skizze aus dem Schwabenlande von Karl Weitbrecht. Mit Illustrationen von Fritz Bergen. – Aus meinen vier Pfählen. Erzählung von W. Heimburg. Mit Illustrationen von C. Koch. – Gute Freunde. Illustration von Br. Piglhein. – Blätter und Blüthen. Mit Illustrationen. – Das Hutten-Sickingen-Denkmal. Von A. Hackenberg. Mit Illustration. – Die Ernährung des Säuglings. Ein Briefwechsel zwischen Mutter und Arzt. Mitgetheilt von Sanitätsrath Dr. L. Fürst. – Wirksames Wohlthun. Von A. Lammers. – Das Tegetthoff-Denkmal in Wien. Mit Illustration. – Goldene Lebensregel für junge Eheleute.Unser Maulwurf. Von Adolf und Karl Müller. Mit Illustrationen. – Die Frau des „kleinen Mannes“. Zeitgemäße Betrachtungen von Emil Peschkau. – Vom Büchermarkt. Von Rudolf von Gottschall. – Kaiser Wilhelm im 90. Lebensjahre. Illustration. – Rückblick auf die merkenswerthen Ereignisse vom Juli 1886 bis 1887. Von Schmidt-Weißenfels. Mit Illustrationen. – Polytechnische Umschau. Mit Illustrationen. – Post- und Telegraphen-Tarife.Verzeichniß der wichtigsten deutschen Messen und Märkte.Die kleine Wäscherin. Illustration von P. Wagner etc.

Der reiche gediegene Inhalt, die geschmackvolle Ausstattung und der überaus billige Preis, welche auch den dritten Jahrgang unseres „Gartenlaube-Kalenders“ vortheilhaft auszeichnen, werden ihm, so hoffen wir zuversichtlich, die Gunst des Publikums in immer größerem Maße erwerben und ihm zu den vielen seitherigen viele neue Freunde gewinnen.

Die ersten Jahrgänge 1886 und 1887 des „Gartenlaube-Kalenders“ stehen denjenigen Abonnenten, welche dieselben noch nicht besitzen, soweit der Vorrath reicht, zum Preise von 1 Mark für den Jahrgang ebenfalls noch zur Verfügung.

manicula Den beiliegenden Bestellzettel wolle man gefl. mit Namen und Adresse versehen der Buchhandlung übergeben, welche die „Gartenlaube“ liefert. – Postabonnenten erhalten den „Gartenlaube-Kalender“ in jeder beliebigen Buchhandlung oder gegen Einsendung von 1 Mark und 20 Pfennig (für Porto) in Briefmarken direkt von der unterzeichneten Verlagshandlung.

Leipzig, August 1887. Ernst Keil’s Nachfolger. 



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.