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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[437]

No. 27.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.

In seinen guten Tagen habe ich Georg Büchner nicht gekannt; die lagen in den Jahren 1856 bis 1860. Damals war er, wie ich später erfahren habe, ein sehr beliebter Mann in Shanghai, wo er unter dem Namen „Der lange Holländer“ ging. Aber er war kein richtiger Holländer. Er war ein Deutscher – aus Bremen, wenn ich nicht irre. – Das thut übrigens nichts zur Sache. – Ich machte seine Bekanntschaft im Jahre 1862 in Japan. Ich führte damals als Kapitän die „Aurora Belisle“ und hatte Aussicht, längere Zeit auf der Linie Yokohama-Shanghai-Hongkong zu bleiben. Am Tage vor meiner Abreise von Yokohama, als ich beim Frühstück saß, wurde mir vom Steuermann gemeldet, es sei ein Mann an Bord gekommen, der mich zu sprechen wünsche.

„Was für ein Mann?“

„Sieht aus wie ein Zwischendeckpassagier.“

„Da wird er wenig Platz finden. – Nun, lassen Sie ihn nur herunterkommen.“ Bald darauf hörte ich einen schweren, bedächtigen Tritt, und dann kam ein Mann herein, der sich tief bücken mußte, um durch die Kajütenthür treten zu können. An der Schwelle blieb er stehen und sagte höflich. „Guten Morgen, Kapitän.“

„Guten Morgen, mein Herr,“ antwortete ich. „Was steht zu Ihren Diensten?“

Es war nämlich etwas in seiner Gesichtsbildung, Stimme und Haltung, was mich nöthigte, ihn wie einen Gentleman zu behandeln. Sein Alter war schwer zu bestimmen, konnte aber nicht mehr als etwa fünfunddreißig Jahre betragen. Er war auffallend groß und schwer, trug kurzgeschnittenes, blondes Haar und einen ebenfalls kurzgeschnittenen, hellen Vollbart. Seine Gesichtsfarbe war gebräunt. Dazu hatte er eine ganz weiße Stirn. Daß der Mann trank, glaubte ich beim ersten Blick zu erkennen an dem finstern Aussehen und an dem schweren Zug um den Mund, der Gewohnheitstrinkern eigen ist. Seine Kleider saßen gut, waren aber etwas abgetragen und zu warm für die heiße Jahreszeit: die Kleider eines heruntergekommenen Mannes. Ueberhaupt war sein ganzes Wesen das eines Menschen, der bessere Tage gesehen hat; und seine Augen, die wie die eines

Hundstage.0 Nach dem Oelgemälde von S. Eggert.

[438] eingeschüchterten Hundes bittend und traurig an mir vorbei in die Welt hinaussahen, hatten einen Ausdruck, der mich mitleidig stimmte. – „Nehmen Sie Platz,“ sagte ich.

Er setzte sich ganz langsam, wobei er sich mit der Hand auf den Sitz stützte und die Lippen eigenthümlich zusammenkniff. „Was steht zu Befehl?“ wiederholte ich.

„Können Sie mich mit nach Shanghai nehmen?“ fragte er.

„Man könnte schon Unterkommen für Sie finden, aber eine Kajüte habe ich nicht für Sie. – Wir sind nicht auf Passagiere eingerichtet.“

„Ich mache keine Ansprüche. Geben Sie mir irgend einen Platz, wo ich unterkriechen kann. Mehr brauche ich nicht.“

„Sehr wohl,“ sagte ich, „dann können Sie heute Abend oder morgen früh an Bord kommen. Wir segeln mit der Ebbe, um 11 Uhr. – Ich berechne für die Ueberfahrt vierzig Dollars, die Sie gefälligst bei meinen Agenten, Millner & Co., einzahlen wollen.“

„Das ist nicht theuer,“ meinte er, „aber …“ und er stockte.

Ich sah alsbald, was kommen würde. – „Wie ist Ihr werther Name?“ fragte ich. „Ich werde mit Herrn Millner sprechen. Wenn der nichts dagegen einwendet, so können Sie meinetwegen freie Passage haben.“

Er wurde dunkelroth, blickte zur Erde und antwortete verlegen: „Ach nein, Kapitän, Sie irren sich. Ich möchte Sie nur bitten, mir bis Shanghai Kredit zu geben. Ich hatte meine Ausgaben falsch berechnet und besitze hier nicht genug baares Geld, um die Ueberfahrt zu bezahlen. Gleich nach meiner Ankunft in Shanghai werde ich Alles berichtigen.“ Und dabei schlug er die Augen in die Höhe und sah mich zum ersten Male gerade an: jammervoll und elend, aber mit einem Blicke, der mir volles Vertrauen zu dem Manne einflößte. – Ich war in China und Japan niemals mit einem anständigen Menschen zusammengetroffen, der sich wegen vierzig Dollars in Verlegenheit befunden hätte; aber weßhalb sollte das in Yokohama nicht gerade so gut vorkommen, wie in London und Liverpool? – Und dann: es gefiel mir, dem Mann einen kleinen Dienst zu erweisen; sein Blick hatte es mir angethan, ein Blick so traurig und nachdenklich, wie ich ihn nie gesehen hatte.

„Nun gut,“ sagte ich, „wir werden uns schon verständigen, Herr … wie nannten Sie sich?“

„Büchner, Georg Büchner ist mein Name,“ antwortete er so leise, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Darauf wartete er eine kleine Weile, und dann setzte er augenscheinlich erleichtert hinzu: „Gestatten Sie, daß ich heute Abend an Bord komme?“

„Nach Ihrem Belieben, Herr Büchner,“ erwiederte ich und reichte ihm die Hand, die er aber kaum berührte.

„Vielen Dank, Kapitän“ sagte er und entfernte sich langsam und schwerfällig, wie er gekommen war.

„Ein kurioser Passagier!“ sagte ich mir, und da ich während des Gesprächs das Frühstück beendet hatte, ließ ich mein Boot fertig machen und fuhr ans Land, um mit Millner & Co. eine letzte Rücksprache zu nehmen. Nachdem das Geschäftliche in Ordnung gebracht war, fragte ich James Millner, ob er einen Georg Büchner kenne.

„Den langen Holländer?“

„Lang genug ist er, um den Namen zu verdienen.“

„Ja, den kenne ich … was ist mit ihm los?“

„Das möchte ich eben wissen.“

„Das ist eine endlose Geschichte. Mich wundert nur, daß Sie dieselbe nicht kennen. Es ist doch genug davon gesprochen worden.“

„Wann war das?“

„Vor zwei Jahren.“

„Das erklärt, weßhalb ich nichts davon gehört habe. – Vor zwei Jahren war ich in London.“

Richtig! – Nun, Büchner hat vor Gericht gestanden – des Diebstahls angeklagt, aber man konnte ihm nichts beweisen.“

„Halloh!“ sagte ich, „das müssen Sie mir erzählen.“ – Denn der Gedanke, mit Jemand zu fahren, der nur aus Mangel an Beweisen eines von ihm begangenen Diebstahls nicht hatte überführt werden können, war mir doch etwas unbehaglich.

James Millner hatte gerade viel zu thun. Er vertröstete mich auf den Abend, ich speiste bei ihm, und als wir nach dem Essen auf der Veranda saßen und die jungen Leute sich entfernt hatten, kam ich wieder auf die Geschichte zurück. Millner erzählte sie mir mit vielen Einzelheiten, die mir im Gedächtniß geblieben sind, weil ich von dem Tage an den „langen Holländer“ nie mehr ganz aus den Augen verloren habe. Mit der Zeit habe ich denn auch alle Lücken in Millner’s Erzählung ausfüllen können, theils aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, theils aus den Mittheilungen Anderer über Büchner’s Schicksale. Das Alles hat sich nach und nach in meinem Geiste zu einer einzigen, vollständigen Geschichte verschmolzen, und die will ich Ihnen nun erzählen.


1.

Büchner nahm seit einer Reihe von Jahren die Stellung des Kassirers bei Rawlston & Co. in Shanghai ein. Er stand daselbst in hohem Ansehen, und man sprach davon, er werde Edith Rawlston, die Schwester seines Principals, heirathen und sodann Mitglied des alten und vornehmen Hauses werden, dem er vorläufig noch als erster Angestellter diente.

Edith war ein bildhübsches Mädchen und eine reguläre Flirt (Kokette), die sich damals die Aufgabe gestellt zu haben schien, den jungen Männern von Shanghai im Allgemeinen, ganz besonders aber dem langen Holländer und Herrn Francis Morrisson das Leben möglichst schwer zu machen. Francis Morrisson galt für die beste Partie in Shanghai. Er war ein liebenswürdiger, heiterer junger Mann von gutem Aussehen und vortrefflichen Manieren, dazu war er sehr reich und infolge aller dieser Eigenschaften von Müttern und heirathsfähigen Töchtern stark verwöhnt. Daß er in Edith verliebt war, konnte Jedermann sehen, der mit den Beiden zusammentraf, und wenn er trotzdem noch nicht um die Hand des jungen Mädchens angehalten hatte, so war dies nur dadurch zu erklären, daß Edith ihm bisher wenig oder gar keine Ermuthigung gegeben hatte. – Dagegen beschäftigte sie sich viel mit dem langen Holländer.

Hübschen Mädchen wird es leicht gemacht, witzig und geistreich zu sein. Wenn eine Häßliche sich so benommen hätte, wie Edith es häufig that, so würde man ihr den Rücken gekehrt haben; aber Fräulein Rawlston war Aller Liebling und galt für witzig und klug. Der schwerfällige Büchner hatte oftmals von ihren Launen und Unarten zu leiden; er ertrug jedoch Alles, was von ihr kam, mit unendlicher Langmuth, so daß sie schließlich die Geduld verlor und ihn eines Abends gewissermaßen nöthigte, ihr endlich in Worten die Liebeserklärung zu machen, die sie seit Monaten in seinen Augen gelesen hatte. Nachdem er gesprochen, wie sie es erwartet, hatte sie ihm herzhaft die Hand gedrückt und gesagt: „Das wäre nun in Ordnung, Georg, von heute ab sollen Sie nur noch Freude an mir haben!“

Dies hatte sich eines Abends zu später Stunde, sagen wir an einem Dienstage, ereignet. Als der lange Holländer sich am nächsten Morgen bei James Rawlston anmelden ließ, erwartete dieser, Büchner werde um die Hand seiner Schwester bei ihm anhalten, denn Edith, die von ihrem Bruder verzogen wurde und in ihm einen treuen Verbündeten erblickte, war bereits zu früher Stunde in seinem Zimmer gewesen, um ihm zu sagen, sie habe sich mit Georg Büchner verlobt. Rawlston ging dem Eintretenden mit freundlichem Gesichte und ausgestreckten Händen entgegen, denn er wollte dem schüchternen Menschen eine förmliche Erklärung erleichkern, aber zwei Schritt vor ihm blieb er stehen. „Was ist Ihnen zugestoßen, Mann? – Wie sehen Sie aus? – Was giebt’s?“

„Ein Unglück, Herr Rawlston.“

„Nun, was? Schnell!“

„Wir sind heute Nacht bestohlen worden.“

„Was ist gestohlen worden?“

„Die zehntausend Dollars, die gestern Abend von Ki-tschong eingezahlt worden sind.“

Niemand verliert gern zehntausend Dollars, auch wenn er das Zehnfache entbehren könnte, und der Amerikaner machte bei der Mittheilung des Verlustes nicht gerade ein vergnügtes Gesicht. Er stülpte sich aber, ohne ein Wort zu sagen, den Hut auf den Kopf und folgte Büchner zur Kasse, um den Schaden bei Lichte zu besehen.

Das feine Schloß des eisernen Schrankes, in dem das Geld aufbewahrt gewesen war, zeigte keine Spur von gewaltsamer Oeffnung. Die Thüren und Fenster waren unversehrt. Der herbeigerufene Hausdiener, dessen Pflicht es war, sie am Morgen zu öffnen und am Abend zu schließen, hatte nichts Außergewöhnliches bemerkt. James Rawlston drehte nachdenklich die Spitzen seines langen Schnurrbartes und ließ sich von Büchner noch einmal zusammenhängend erzählen, was mit dem verschwundenen Gelde in Verbindung stand.

[439] Am Dienstag Nachmittag um fünf Uhr, als Büchner gerade zum Essen gehen wollte und seine sämmtlichen Genossen das Komptoir bereits verlassen hatten, war ein chinesischer Kaufmann, der mit dem Hause Rawlston & Co. in regem Geschäftsverkehr stand, in das Kassenzimmer getreten, um noch eine Einzahlung von zehntausend Dollars in Barren zu machen. Der Comprador (chinesischer Kassirer) war gerufen worden, hatte das Gold geprüft und gewogen und es, nachdem er es richtig befunden, in den eisernen Schrank gelegt, wo es bis zum nächsten Morgen aufbewahrt bleiben sollte, um sodann in üblicher Weise zur Bank geschafft zu werden. – Büchner hatte darauf einen Empfangschein ausgestellt, den Schrank geschlossen und sich schleunigst entfernt, um nicht zu spät zum Essen zu kommen.

„Hm!“ sagte Rawlston, „sind Sie sicher, den Schrank zugeworfen und abgeschlossen zu haben?“

„Ganz sicher!“

„Und sind Sie sicher, den Schlüssel mitgenommen zu haben?“

„Ebenfalls ganz sicher! Er steckt an demselben Bund wie andere Schlüssel, die ich noch gestern Abend in meiner Wohnung benutzt habe.“

„Und heute früh?“

„Die Kasse war wie gewöhnlich verschlossen, und ich öffnete sie ohne Schwierigkeit.“

Rawlston setzte sich nieder, gähnte gezwungen und sagte: „Alles wäre demnach in schönster Ordnung: die Schlüssel, das Schloß, die Thüren, die Fenster. – Aber das Geld ist fort! Das ist nicht in Ordnung.“

Darauf wandte er sich an den Comprador und den chinesischen Diener, welche stumme und ernste Zeugen dieser Vorgänge gewesen waren, und sagte. „Ihr könnt jetzt gehen.“ Und als er mit Büchner allein war, fuhr er fort: „Nun, und welchen Vers machen Sie sich auf die Geschichte?“

„Ich zerbreche mir den Kopf darüber.“

Unterdessen waren auch die anderen Angestellten des Hauses angekommen: ihrer sechs an der Zahl. Sie unterhielten sich kopfschüttelnd über den geheimnißvollen Vorfall, und weder der Eine noch der Andere war in der Lage, eine Vermuthung über den Urheber des Diebstahls auszusprechen. Man ging die Namen sämmtlicher Hausbewohner durch, aber hielt sich bei keinem länger als eine Sekunde auf. im ganzen „Hong“ (unter dieser Bezeichnung versteht man alle zu ein und demselben Grundstück gehörigen Baulichkeiten) wohnten nur erprobte, zuverlässige Menschen, auf die kaum ein Verdacht fallen konnte, am wenigsten befand sich darunter Jemand, dem man die nöthige Diebesgeschicklichkeit hätte zutrauen können, in das verschlossene Komptoir zu gelangen und dort die feste Kasse zu öffnen, ohne bemerkbare Spuren des Einbruchs zu hinterlassen.

„Ja, Herr Büchner,“ sagte endlich James Rawlston, „dann machen Sie nur bei der Polizei Anzeige von der Geschichte und gehen Sie lieber selbst auf das Amt und bitten Sie, man möchte die Untersuchung möglichst beschleunigen. – Morgen wird das Gold schon eingeschmolzen sein.“

Büchner, der sich die Sache sehr zu Herzen zu nehmen schien, rief nach seinem „Chair“ (Tragstuhl) und begab sich geraden Weges auf die Polizei. Nach einer halben Stunde kehrte er in Begleitung des ersten Inspektors, eines bewährten alten Londoner Beamten, zurück, der den Geldschrank und alle Eingänge zum Komptoir zunächst aufmerksam untersuchte, und sodann sämmtliche Bewohner des Hauses, die chinesischen Diener sowohl wie die Angestellten des Geschäfts, einem kurzen Verhör unterwarf, wobei er sich flüchtige Notizen machte. An Alle richtete er dieselbe Frage: wo sie seit Dienstag Abend fünf Uhr bis Mittwoch früh acht Uhr gewesen seien, und die darauf bezüglichen Antworten schrieb er auf einem besonderen Bogen nieder. Er machte das geschäftsmäßig und schnell ab, aber es wohnten im „Hong“ mit den Dienern an dreißig Personen, und es dauerte wohl vier Stunden, bis die Untersuchung beendet war. Dann unterhielt sich der Inspektor noch längere Zeit im Geheimen mit Herrn Rawlston, und darauf entfernte er sich.

Die nächsten Tage brachten noch mancherlei Unannehmlichkeiten für die Bewohner des Rawlston’schen Hauses. Einer nach dem Anderen wurde vor den Untersuchungsrichter gerufen, um Beweise dafür anzuführen, daß er die bewußte Nacht vom Dienstag auf Mittwoch in der That so verbracht, wie er in dem ersten Verhör ausgesagt hatte. Büchner konnte bei jener Gelegenheit nicht mehr und nicht weniger zu seiner Entlastung anführen als seine Genossen: er hatte bei einem Freunde, und zwar in Gesellschaft von James und Edith Rawlston zu Mittag gespeist, und er war am Abend nach seiner Heimkehr, noch eine Stunde etwa, im Garten des Hauses mit Fräulein Rawlston spazieren gegangen. Unmittelbar nachdem er diese verlassen, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen, wo er angab, bis zum nächsten Morgen verblieben zu sein. Zeugen für diese letztere Aussage konnte er nicht aufrufen. Er hatte die Gewohnheit, sich ohne Hilfe eines Dieners auszukleiden, und er schlief allein in seinem Zimmer. Seine Kollegen befanden sich übrigens in dieser Beziehung ganz in derselben Lage wie er. Die beiden Chinesen, die während der Nacht im Hofe Wache gehalten hatten, und zwar in Begleitung eines bösartigen Hundes, der jeden Fremden, der sich in den Hong gewagt hätte, angefallen haben würde – die beiden Wächter erklärten, zu keiner Stunde der Nacht ein verdächtiges Geräusch oder eine verdächtige Bewegung bemerkt zu haben. Das Resultat der Untersuchung war, daß der Diebstahl, aller Wahrscheinlichkeit nach, zwischen fünf und sieben Uhr Abends oder sieben und acht Uhr Morgens, also am hellen Tage, unmittelbar vor dem Beschließen oder nach dem Oeffnen des Komptoirs durch den Hausdiener, aber während der Abwesenheit der Angestellten, welche die Schreibstube zwischen fünf und sechs Uhr Abends verließen und zwischen acht und neun Uhr Morgens wieder betraten – ausgeführt worden sei. Der Dieb war augenscheinlich im Besitz eines Schlüssels zur Kasse und somit in der Lage gewesen, dieselbe schnell und geräuschlos zu öffnen. Er hatte dabei nicht zu fürchten brauchen, daß man ihn von außen beobachten werde, denn da man sich im Hochsommer befand, so waren die Jalousien während des ganzen Tages nicht aufgezogen worden.

Büchner hatte während der Untersuchungszeit Edith Rawlston häufig gesehen, aber kaum gewagt, ihre freundlichen Blicke zu erwiedern; auch die Unterredung mit dem Bruder hatte noch nicht stattgefunden. James Rawlston zeigte üble Laune und schien es zu vermeiden, mit Büchner allein zu sein. Dieser aber war zu schüchtern, um seinen zukünftigen Schwager unter solchen Umständen um Gehör in seiner Herzensangelegenheit zu bitten.

Am fünften Tage nach dem Diebstahl kam Rawlston eines Nachmittags mit sorgenschwerem Gesichte auf das Zimmer seiner Schwester, um ihr nach einer kurzen Einleitung verlegen, aber doch klar verständlich zu sagen, der Polizei-Inspektor sei der festen Ueberzeugung, Büchner und nur Büchner allein könnte die zehntausend Dollars gestohlen haben.

Edith wurde bleich, ihre großen Augen öffneten sich weit und starrten finster und stumm auf den Ueberbringer dieser schlimmen Post.

„Wiederhole das noch einmal!“ sagte sie endlich langsam.

„Der Inspektor ist der Ansicht, Büchner habe den Diebstahl verübt. Er ist der Letzte, den man im Kassenzimmer gesehen hat. Er besaß den Schlüssel zum Geldschrank. Dreißig Pfund Gold nehmen keinen großen Platz ein und können schnell bei Seite geschafft werden. Der Diebstahl ist sofort erklärt, sobald man annimmt, Büchner habe ihn verübt, in jedem anderen Falle ist er unerklärlich.“

„Du solltest Dich schämen!“ sagte Edith leise.

James blickte verwundert auf seine Schwester.

„Du solltest Dich schämen!“ wiederholte diese langsam mit gepreßter Stimme. „Verlaß mein Zimmer, ich mag Dich nicht mehr sehen!“

„Aber, Edith, hast Du den Verstand verloren? Was fällt Dir ein?“

„Ich habe den Verstand nicht verloren, weil ich mir klar mache, wie klein und erbärmlich Du bist.“

„Ich muß Dich bitten, Dich zu mäßigen oder …“

„Nun, oder was?“

Sie hatte bis dahin mit verhaltenem Grimm gesprochen, anscheinend ruhig; jetzt loderten Jugend und Leidenschaft in ihr auf.

„Nun so vollende doch: oder … was?“

„Oder,“ sagte James Rawlston zornig, „ich packe Dich auf den nächsten Dampfer und schicke Dich nach Hause.“

„Wie einen Ballen Seide oder eine Kiste Thee! … Nein, mein Lieber! Du kennst mich noch nicht, gerade wie ich Dich noch nicht kannte. Jetzt kenne ich Dich – und Du wirst mich kennen lernen. Ich kann Dir die Thür nicht weisen, ich

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Schuldverschreibung.
Nach dem Oelgemälde von F. Brütt.

[441] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [442] bin in Deinem Hause … aber … sieh mich genau an …“ Sie stand vor ihm, kerzengerade, die Augen in Feuer, die kleinen weißen Zähne zusammengepreßt, ein Bild der Entrüstung … „Sieh mich genau an! … So hast Du Deine Schwester zum letzten Male gesehen!“

Die Heftigkeit des jungen Mädchens wirkte beruhigend auf den reiferen Mann. „Ich bitte Dich, Edith, sei vernünftig, höre mich an!“

„Ich will kein Wort mehr von Dir hören!“

Sie irrte unstät im Zimmer umher. Sie hatte sich einen Hut aufgesetzt und näherte sich der Thür. Er stellte sich entschlossen davor.

„Wo willst Du hin?“ fragte er kalt.

Sie antwortete nicht und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Als sie sah, daß ihr dies nicht gelingen werde, trat sie einen Schritt zurück und sagte mit bebender Stimme:

„Höre, was ich Dir sage: wenn Du mir den Weg nicht sofort frei giebst … sofort! … so wahr mir Gott helfe! … ich stürze mich aus dem Fenster!“

Sie hätte gethan, wie sie drohte; er fühlte es und trat bei Seite. Sie sprang an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und gleich darauf hörte er ihren eilenden, leichten Schritt auf der Treppe.

(Fortsetzung folgt.)




Ueber chronische Katarrhe der Athmungswege.

Von Dr. M. A. Fritsche, Specialarzt in Berlin.
Der chronische Rachenkatarrh und sein Einfluß auf die Stimme.

Aber mein Kehlkopf ist doch ganz gesund, ich bin ja nicht heiser, Herr Doktor,“ äußerte kürzlich eine Dame in meiner Sprechstunde, als ich ihr erklärte, ihr Kehlkopf müsse behandelt werden.

„Ja, sehen Sie, meine Gnädige,“ erwiederte ich, „Sie vertreten da eine ziemlich verbreitete, aber irrige Anschauung, daß nämlich Heiserkeit und Kehlkopfleiden völlig gleiche Begriffe seien. Dem ist aber nicht so; man kann wohl sagen, bei Heiserkeit ist ein Kehlkopfleiden zugegen, aber nicht das Umgekehrte. Es würde mich übrigens zu weit führen, wollte ich Ihnen jetzt die Sache näher aus einander setzen; bitte, lesen Sie einmal in den nächsten Wochen aufmerksam die ‚Gartenlaube‘; Sie werden darin etwas über dies interessante Thema vorfinden.“

Und so will ich denn die Erfüllung meines Versprechens nicht länger hinausschieben.

Wenn ein Rachenkatarrh nicht zur Ausheilung gelangt, sondern in den chronischen Zustand übergeht, eben so, wenn vielfache Rückfälle eines akuten Rachenkatarrhs stattfinden, so bilden sich an der hinteren Rachenwand kleine, rothe Knötchen von rundlicher oder ovaler Form, sogenannte Granulationen, meist von Hanfkorn- bis Linsengröße, die aber unter Umständen bis kirschkerngroß und darüber werden können. Wenn sie zahlreich auftreten, vereinigen sie sich, fließen zusammen und bilden dann unregelmäßige Wülste und Kämme, die der Rachenschleimhaut ein sehr buntes Aussehen verleihen. Der Rachenkatarrh wird in diesem Stadium als granulöser oder granulärer bezeichnet. Diese Knötchen entstehen durch Zellenwucherungen um die meist mikroskopisch kleinen Drüschen der Rachenschleimhaut und deren Ausführungsgänge, die auf solche Weise erst dem bloßen Auge sichtbar werden. Sie erweisen sich insofern als ganz besonders störend und nachtheilig, als sie einen fortwährenden Druck und Reiz auf die zahlreichen Nervenverzweigungen des Rachens ausüben und dieser stäte Reiz auf sogenanntem reflektorischen[1] Wege einen höchst schädlichen, hemmenden Einfluß auf die Kehlkopfnerven und damit auf die Stimme hervorbringt. Als Ausdruck dieses stäten Nervenreizes zeigen sich die verschiedensten abnormen Gefühle: wie Brennen, Stechen, Drücken, Prickeln, Kratzen, Wundsein im Halse, mitunter auch das Gefühl, als ob ein fremder Körper (Kloß) im Halse steckte. In vielen Fällen, wo Patienten sich wegen einer angeblich verschluckten Gräte oder eines Knochenstückchens, das ihnen noch im Halse stecke, untersuchen lassen, finden sich jene granulösen Wucherungen, welche die abnorme Empfindung, das Granulationsgefühl, wie wir es bezeichnen, hervorrufen.

Wir wollen hier den Verlauf eines granulösen Rachenkatarrhs in seinen Einwirkungen auf die Gesang- resp. Sprechstimme einmal einer nähern Betrachtung unterwerfen. Man kann wohl sagen, daß eine jegliche Stimme unter dem Einfluß des granulösen Rachenkatarrhs leidet; Personen, die ihre Stimme nur für die Anforderungen des Alltagslebens gebrauchen, werden weniger davon gewahr, weil sie nicht genau darauf achten und sich über ihre Heiserkeit oder das Versagen ihrer Stimme nicht sonderlich den Kopf zerbrechen. Erst wenn es mit dem Sprechen gar nicht mehr gehen will und der Kehlkopf selbst schon angegriffen ist, stellen sie sich zur Behandlung ein. Anders verhält es sich mit den Stimmen der Sänger und Sängerinnen. Anfänglich markirt sich die nervöse Erkrankung des Kehlkopfs, denn als solche ist die Stimmstörung aufzufassen, wenig. Die Stimme spricht weniger leicht an, ermüdet leichter als früher, oder sie umflort und belegt sich bei anhaltendem Singen, und es erfordert größere Anstrengung von Seiten des Sängers, um denselben Stärkegrad hervorzubringen. Zuerst leiden die Obertöne beim Sopran und Tenor in besonders fühlbarer Weise; sie sprechen anfangs schwieriger an, werden allmählich immer dünner und unkräftiger, trotz vermehrter Anstrengung, so daß sie nicht mehr gehalten werden können, und gehen schließlich ganz verloren. Weiterhin zeigt sich der Uebergang von der Brust- zur Kopfstimme oder zum Falsett erschwert; er wird holperig und rauh und gelingt nur mit immer größerer Anstrengung; ja es kann in veralteten Fällen sich an dieser Stelle ein förmliches Loch in der Tonfolge bilden: die Töne versagen und können weder mit Brust- noch mit Kopfstimme mehr genommen werden. Auch nach der Tiefe hin büßt die Stimme ein; in schweren Fällen bleiben nur einzelne Töne übrig, die so schwach und matt klingen, daß sie musikalisch nicht mehr verwerthbar sind. Dies ist in den Grundzügen das allgemeine Bild, von dem sich in einzelnen Fällen Abweichungen ergeben. Mitunter kündigt sich die Erkrankung anfänglich durch zusammenschnürende Empfindungen im Halse nach kurzem Singen an. In andern Fällen zeigt sich Neigung zu leichtem Tremuliren, besonders das sogenannte nervöse Tremolo bei getragenen Tönen; noch andere Sänger detoniren bei solchen Stellen leicht, ohne es selbst zu merken. Mitunter spricht die Stimme mezzoforte ganz leicht an, im piano aber wird sie hauchend und versagt, während beim forte-singen starker Hustenreiz und Kitzel im Kehlkopf auftreten. All dies sind nervöse Erscheinungen, unter denen sich die Kehlkopferkrankung offenbaren kann. Bei der Untersuchung mit dem Kehlkopfspiegel ist allerdings wenig davon zu entdecken. Das Aussehen der Kehlkopfschleimhaut und besonders der Stimmbänder zeigt meist keinerlei Abweichung von der Norm, und nur das geübte Auge vermag aus den etwas trägen, matten Bewegungen der Stimmbänder beim Schluß der Stimmritze behufs Tonbildung auf die nervöse Schwäche derselben zu schließen.

Fragen wir nun nach der Entstehung des granulösen Rachenkatarrhs, so müssen wir in erster Linie sich häufig wiederholende Erkältungen beschuldigen; ferner üben sehr heiße und sehr kalte Speisen und Getränke, namentlich in rascher Aufeinanderfolge, endlich chemische und mechanische Reize, welche die Rachenschleimhaut treffen, einen begünstigenden Einfluß. Dahin gehören: starkes Rauchen, staubige Luft, starke Spirituosen, scharf gewürzte oder sehr saure Speisen u. dergl. m. Auch die Möglichkeit einer Vererbung kann in gewissem Sinne nicht von der Hand gewiesen werden. Ungesunde Säftemischung wie skrophulöse Anlage bieten einen günstigen Boden für die Entstehung des Leidens.

Meist erst nach jahrelanger Dauer des granulösen Rachenkatarrhs geht die Erkrankung allmählich auf die Kehlkopfschleimhaut über. Zuerst wird die Schleimhaut der hinteren Kehlkopfwand angegriffen; nach und nach werden auch die Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen. Jede noch so leichte Erkältung wirft sich dann auf den Kehlkopf, indem sie immer und immer wieder Belegtheit der [443] Stimme, starkes Räuspern, ja Hustenreiz, selbst völlige Heiserkeit hervorruft und vorübergehend die Möglichkeit zu singen beeinträchtigt. Allmählich geht auch die katarrhalische Erkrankung des Kehlkopfs in den chronischen Zustand über, und es bilden sich bleibende, Störungen aus: die Stimme ist andauernd rauh und belegt trotz Räusperns und Krächzens; meist besteht starker Schleimauswurf; das Singen ist überhaupt unmöglich; die Sprache klingt dumpf und raüh und wird bei längerem Gebrauch des Organs völlig heiser und unverständlich. Die Engländer haben für diesen Zuständ, der bei den Geistlichen und Lehrern besonders oft beobachtet wird, den bezeichnenden Ausdruck: clergyman’s oder teacher’s sore throat, Prediger- oder Lehrerhalsweh.

Dieser Kehlkopfkatarrh kann nun auf die eine oder die andere Weise, durch entsprechende Behandlung, Klimawechsel u. s. w. zur Besserung oder gar Heilung gelangen; nichts desto weniger bleiben an den Stimmbändern häufig Störungen zurück, die sich mit dem Verschwinden des Katarrhs nicht gleichzeitig verlieren. Wir bezeichnen dieselben als sogenannte Atonie der Stimmbänder, zu deutsch Stimmbandschwäche.

Dieselbe kommt dadurch zu Stande, daß sich in Folge des Katarrhs häufige wässerige Durchtränkungen der Muskelfasern der Stimmbänder und schließlich Verfettungen in denselben bilden, wodurch die Muskelfasern zuerst in ihrer Fähigkeit, sich zusammenzuziehen und die Stimmbänder zu spannen, beeinträchtigt werden, um allmählich ihrem gänzlichen Verfall entgegen zu gehen. Von dieser sogenannten fettigen Entartung werden zuerst die Randfasern der Stimmbänder, als die am leichtesten zugänglichen, betroffen und damit geht der Schmelz der Stimme, vornehmlich das duftige Piano, für immer verloren.

In weiter vorgeschrittenen Fällen vermögen die Stimmbänder keinen Ton mehr zu halten; eine störende Neigung zum Detoniren macht sich immer mehr geltend, weil die erkrankten Muskelfasern nicht mehr dauernd den gleichen Spannungsgrad hervorzubringen vermögen, und aus dem nämlichen Grunde tritt ein allmählich immer mehr zunehmender Hang zum Tremuliren, verursacht durch den steten Spannungswechsel der Stimmbänder unter dem andrängenden Luftstrom, hervor. Der Sänger macht schließlich immer größere Anstrengungen, um der zunehmenden Schwäche zum Trotz noch einen sangbaren Ton von gleicher Kraft, wie früher, hervorzubringen, und kann hierbei durch eine Ueberanstrengung oder gar Zerreißung der nur zum Theil noch gesunden Fasern die Stimme gänzlich und für immer einbüßen. Der Kehlkopf hat und ist dann „ausgesungen“.

Wir haben Fälle gesehen, bei denen die Stimmbänder, in Folge der verzweifelten Anstrengungen der unglücklichen Patienten chronisch entzündet, ein Aussehen wie rohes Fleisch zeigten. Mit diesen wunden, entzündlich geschwollenen Stimmbändern vermochten sie noch ein paar, allerdings rauhe und gepreßte Töne hervorzubringen, so daß dadurch noch der Schein einer Stimme vorgetäuscht wurde; erst nach Beseitigung der Entzündung, zeigten die abgeschwollenen Stimmbänder das Bild hochgradiger Lähmung und die weitklaffende Stimmritze hatte für immer aufgehört, als Sangeskehle zu existiren.

Und hier können wir nicht umhin, einer Unsitte Erwähnung zu thun, die leider noch heut zu Tage bei vielen Sängern üblich ist und der von Seiten der Lehrer noch immer nicht genügend gesteuert wird. Wir meinen die üble Gewohnheit, während eines schweren Halskatarrhs die Stimme nicht ruhen zu lassen oder wenigstens zu schonen, sondern, wie der technische Ausdruck lautet, „den Katarrh durchzusingen“. Es ist die größte Thorheit, die ein Sänger begehen gegen sein Organ begehen kann, und wir können nur um so eindringlicher davor warnen, als wir während einer vierzehnjährigen Praxis, leider eine erschreckend große Anzahl von Kehlköpfen gesehen haben, bei denen sich aüf diesem Wege in kürzester Zeit die oben geschilderte Stimmbandschwäche entwickelt hatte.

Wir pflegen als erste Bedingung zu einer erfolgreichen Kur das Aussetzen des Singens für einige Zeit zu beanspruchen und gestatten erst nach völliger Beseitigung des Katarrhs und erfolgter Kräftigung der Nerven durch entsprechende elektrische Maßnahmen eine vorsichtige Wiederaufnahme der Gesangsstudien. Nur bei völliger Schonung und Ruhe des Organs kann man von einer geeigneten Behandlung die Wiederherstellung desselben in seiner früheren Schönheit und Stärke erwarten. Ja, man beobachtet nicht selten, daß die Stimme an Umfang und Kraft noch erheblich zunimmt.

Eine zweckmäßige Behandlung hat aber hauptsächlich zwei Gesichtspunkte zu verfolgen: zuerst die Beseitigung der eigentlichen verderblichen Ursache, des granulösen Katarrhs, dann aber die elektrische Kräftigung der vorhandenen Stimmmittel. Eine leichte Besserung des granulösen Katarrhs erzielt man wohl durch Touchirungen; eine radikale Beseitigung allerdings, nur durch galvanokaustische Operation, das heißt durch Wegätzen aller kleinen Wucherungen und Knötchen auf gavanokaustischem Wege. Mit einem feinen Platinaknöpfchen, das durch den galvanischen Strom erhitzt wird, werden sämmtliche Wucherungen im Rachen betupft, eine nach vorhergehender Einpinselung der Schleimhaut mit Cocaïnlösung absolut schmerzlose Operation, die allerdings, besonders bei reizbarer Rachenschleimhaut, eine gewisse Uebung und Geschicklichkeit von Seiten des Operateurs erfordert. Die geätzten Wucherungen schrumpfen zusammen und werden durch den Heilungsproceß theils abgestoßen, theils aufgesogen, so daß die Rachenschleimhaut nachher schön glatt und eben erscheint.

Erst nach Erzielung dieses Resultats verspricht die elektrische Behandlung des Kehlkopfes einen sicheren und dauernden Erfolg. Man kann dieselbe in verschiedener Weise durchführen; wir haben von der galvanischen Massage, verbunden mit der inneren Elektrisirung, die besten Resultate gesehen. Es ist nicht der Zweck dieses Aufsatzes, sich über unsere Behandlungsmethode des Weiteren zu verbreiten; erwähnen wollen wir nur, daß man auf diesem Wege den Kehlkopf nicht nur vollkommen wieder zu kräftigen, sondern die noch vorhandenen Stimmmittel zu ihrer denkbar glänzendsten Entfaltung zu bringen vermag.

So wollen wir diese Zeilen mit dem Wunsche schließen, daß sie auch ihrerseits dazu beitragen möchten, das schönste aller musikalischen Instrumente, die menschliche Gesangstimme, vor dem Ruin durch den schlimmsten ihrer Feinde, den chronischen Rachenkatarrh, mehr und mehr zu bewahren: dann ist ihr Zweck erreicht.




     Blühende Dornen.

Am Wege steht ein Strauch,
Dem Dornen nur beschieden,
Weßhalb er in der Welt
Verlassen und gemieden.

Des Vogels Fittig eilt,
An ihm vorbei zu schweifen,
Damit die Aeste nicht
Den Glanz der Federn streifen.

Es rauscht an ihm dahin
So kalt des Baches Welle;
Zum Ort der Ruhe wählt
Kein Wand’rer diese Stelle.

So steht er lange Zeit,
Von Trauer übergossen;
Da ist ihm über Nacht
Ein Blüthenmeer entsprossen.

Noch mahnt des Winters Spur
An Welken und Verblühen,
Indeß schon hell an ihm
Des Lenzes Herzen glühen.

Was giebt’s, das seiner Pracht,
Dem Schmelz der Blüthen gleiche?
Ein König, steht er da
Im großen Schöpfungsreiche.

Es strömt sein Wohlgeruch
Empor gleich Opferdüften;
Der Lerche Morgenpsalm
Erklingt ihm aus den Lüften.

So ist der Dornenstrauch
Zuerst bestimmt auf Erden,
Im weiten Frühlingsdom
Altar des Herrn zu werden.

 Karl Schäfer.




[444]

Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen.0 Von R. Artaria.


VII. 1.
Neustadt den 1. Februar. 

Nein, liebste Marie, da bist Du doch im Irrthum! Ich fühle mich gar nicht „unbehaglich in diesem Krähwinkel“; im Gegentheil, es ist mir manchmal ganz verdächtig, wie leicht ich mich im Ganzen einlebe und was für Stiefelsohlen und Kommissionenkörbe ich bereits natürlich finde. Daß ich manchmal sehr gern bei Euch wäre, ist gewiß, aber jedes Ding hat seine zwei Seiten, und hier lerne ich Etwas kennen, wovon man in der großen Stadt keinen Begriff hat: eine gewisse schöne Stille und Gemüthlichkeit, die mir wohlthut. In S. hetzt man doch sein Leben eigentlich auf eine unglaubliche Weise herunter! Was preßten wir zu Hause Alles in einen Tag hinein: Schlittschuhlaufen, Besuche, Theaterproben, schließlich noch eine Gesellschaft; wie rannten wir nach Hause, um dazwischen noch Toilette zu ändern, wie müde und abgespannt waren wir am Ende des Karnevals! Und wenn man gar die arme Mama ansah mit ihrer stehenden Sorgenfalte über unsere endlos aufzugarnirenden Röcke und ihrer Aengstlichkeit, ob wir hier „freundlich“ und dort „zurückhaltend“ genug waren, dann hätte man denken sollen, das Vergnügen sei doch die schwerste Arbeit von allen.

Hier aber, wo höchstens alle acht Tage etwas vorfällt, was auf diesen Titel von fern Anspruch erheben kann, hier geht man in sich und bekommt „Stimmung“ und fängt sogar an, den „Wilhelm Meister“ zu lesen, und fühlt dabei, daß man trotz aller Bildung herzlich unwissend ist. Aber das soll Alles noch kommen, Zeit habe ich jetzt und viele stille Stunden in meinem lieben, hübschen Zimmerchen, wo Sonnenlicht und Hyacinthenduft vom Fenster her strömen und nur das leise Uhrticken die Stille unterbricht. Dann und wann auch hallt ein gedämpfter Schall von der Küche her, wo Rike abspült.

Um sechs Uhr kommt Hugo nach Hause; dann lesen wir oder es wird Musik gemacht, wenn Brandt mit der Violine erscheint. Ich sage Dir, diesen Unheimlichen mache ich zahm! Früher imponirte er mir ungeheuer mit seinem spöttischen Lächeln und den kalten grauen Augen; aber jetzt hier in den einfachen Verhältnissen und gerade im Gegensatze zu Hugo’s energischer Tüchtigkeit kommt er mir so albern vor mit seinen Affektationen, daß ich manchmal die Geduld verliere und ihm tüchtig den Kopf wasche. Merkwürdigerweise verträgt er das sehr gut. „Sie sind eine Natur!“ seufzt er dann mit apathischer Resignation, und Klara, das gute Kind, die auch oft Abends dabei sitzt, sieht ihn dann mitleidsvoll aus ihren schönen Augen an wegen der vielen hohen und unverstandenen Schmerzen, die er unter seinem braunen Sammtkittel herum trägt. Denn von diesem läßt er nicht; er ist für ihn ein Ueberbleibsel aus den schönen müßigen Residenzzeiten, wo er ein Bischen Wissenschaft und sehr viel Atelierklatsch betrieb und sich stets zu den Künstlern hielt. Nun freilich hat ihn die „gemeine Noth des Lebens“ zwischen ihren Zangen; aber im Sammtrock erträgt sie sich doch offenbar etwas leichter. Und außerdem stechen seine blonden Kraushaare auch so hübsch dagegen ab!

„Klara,“ sagte ich neulich, „mache mir nur keine solche Dummheit und verliebe Dich in diesen Menschen.“

„O, Frau Assessor, wo denken Sie hin? Wie könnte ich auf einen so bedeutenden und geistreichen Herrn Anspruch machen!“

Der „hohe Stern der Herrlichkeit“, natürlich. Anders thun wir’s einmal nicht. Aber ich will die Augen offen halten. – Das Verhältniß zu diesem guten, unschuldigen Kind ist mir übrigens eine Herzensfreude. Nicht daß sie Dir den geringsten Eintrag thäte, meine herzliebste Marie, Du bist und bleibst die Erste, aber ich habe das Gefühl, hier einer Seele etwas nützen zu können. Und wenn man noch so glücklich zu Zweien ist, man spürt gleich eine Erhöhung des Behagens, wenn noch ein Paar dazu kommt und es mitgenießt! Das angebotene „Du“ hat Klara fast mit Entsetzen abgelehnt, „sie würde nie so keck sein“: aber zu ihr müsse ich es sagen, und so duzt denn jetzt meine zwanzigjährige Frauenwürde ihre achtzehnjährige Unerfahrenheit.

Ich war wiederholt bei ihr draußen in der großen Sägemühle, die stattlich und malerisch im Erlengrund liegt, und sah mir dabei ihre und Gustelchen’s Anstalten an. Das Letztere fand ich bemüht, einen Rehrücken in die unabgezogene Haut zu spicken, während vom Morgen her noch die schmutzigen Stiefel überall in der Küche herumstanden.

„Sie theilt sich die Arbeit am liebsten selbst ein!“ meinte Klara. Ich machte ihnen darauf hin Beiden den Standpunkt klar und freute mich, wie sachverständig das klang; dann wirkten wir zusammen, um den Rehrücken zu Schick zu bringen; darüber versäumte ich mich etwas und – ja, dann war der Gebieter ungnädig, als ich bei vollkommener Dunkelheit erst heim kam.

Das ist auch so ein Punkt! Erinnerst Du Dich noch, wie Fräulein Sendtner im Institut immer einen weisen Mann citirte, der gesagt haben soll: Alle Erfolge meines Lebens verdanke ich dem Umstand, daß ich immer eine Viertelstunde früher fertig war als nöthig. Das war zwar entschieden aufgeschnitten von dem Weisen; denn das kann Niemand; aber manchmal fällt mir doch jetzt das Wort ein, weil, unter uns gesagt, das der einzige Punkt ist, über den wir manchmal, Hugo und ich, schon fast Verdruß bekommen haben. Lieber Gott! Man hat eben dann und wann noch Etwas zu thun im Moment, wo ausgegangen werden soll. So ein Mann, der nur den Rock zu wechseln und den Hut aufzusetzen braucht, hat ja keinen Begriff, was Einem Alles vorkommen kann. Ein Stich an der Rockdraperie losgegangen, ein paar Schuhknöpfe, die eben dann abbrechen, wenn man’s am eiligsten hat – oder die Handschuhe sind fort, die eben noch da lagen, und man kann sie nicht finden, während der Mann vor der Thür herum wüthet, „er stehe nun bereits eine halbe Stunde da und noch sei kein Fortkommen.“ (Es ist nämlich erstaunlich, wie sie in solchen Fällen übertreiben, Hugo auch, obgleich er sonst so wahrhaft ist.)

Das Aergste aber, der Gegenstand, vor dem ich einen wahren abergläubischen Schrecken habe, als sei es ein heimtückischer Kobold, der sich mit Absicht versteckt, das ist mein Schlüsselbund; er hat mir schon schreckliche Viertelstunden bereitet. Ganz ohne solche geht es bei Andern auch nicht ab, das weiß ich; der alte Professor Michaelis z. B. pflegt auf eine Erkundigung nach seiner Frau ironisch lächelnd zu antworten: „Meine Frau ist wohl und sucht Schlüssel!“ Aber damit kann man sich nicht trösten. Frau Michaelis ist ja beinahe unzurechnungsfähig vor Zerstreutheit, mit der will ich mich nicht vergleichen lassen!

Neulich, am Sonntag, war es schrecklich! Die Schwiegermama erwartete uns zu Tisch, und sie ist ja von einer Pünktlichkeit, die etwas Unnatürliches hat. Alles geht bei ihr am Schnürchen: sie selbst, die alte Lene, der asthmatische Mops, der genau die Plätze kennt, wohin er darf und wohin nicht, die alte Kuckucksuhr, auf deren genauen Zeigerstand die Gäste einzutreten haben. Nun, an jenem Morgen hatte ich mich etwas versäumt – ich bin nun einmal keine Pedantennatur – und kam erst gegen Zwölf zum Anziehen. Da fand sich, wie immer, wenn es pressirt, noch allerhand: eine frische Krause war einzunähen, ein Nestel riß im Zuschnüren, und mit alle diesem Hin- und Herrennen war es plötzlich dreiviertel Eins. Hugo kam im Paletot mit den Handschuhen herein und sagte ungeduldig: „Bist Du denn noch nicht fertig, Emmy? Es ist die höchste Zeit.“ Nun, so Etwas muß man Einem ja nur sagen, der bereits in Aufregung ist; ich rief also heftig. „Verschone mich nur mit Drängen; das ist mir unausstehlich; ich bin ja so gleich fertig!“ und lief ins Schlafzimmer zurück, Hut und Mantel zu holen. „Bringe den Pultschlüssel mit!“ rief er mir nach, „ich muß noch Geld haben.“

Im Schlafzimmer waren alle Schubladen herausgezogen, aber kein Schlüssel daran. Zehn Minuten vorher hatte ich damit aufgeschlossen, das wußte ich, und nun war er weg. Ich rannte ins Eßzimmer – nichts! an den Weißzeugschrank in der Garderobe – nichts! in die Küche: „Rike, helfen Sie suchen, mein Schlüsselbund fehlt,“ zurück in den Salon: „Hugo, nur einen Augenblick, mein Schlüsselbund –“ Nun aber brach es los, der Mann wurde ordentlich wild, darüber kam ich natürlich ganz außer mir und fing an, mit fliegenden Händen Alles umzuwühlen, und inzwischen rückte der Uhrzeiger immer vorwärts und jetzt schlug es Eins. „Hugo,“ sagte ich flehend, „laß uns gehen! Deine Mutter ist sonst zu schrecklich böse, und ich suche heute Abend in Ruhe, wenn ich heimkomme.“

„Nicht einen Schritt,“ erwiederte er mit unheimlicher Ruhe und setzte sich rittlings auf den Stuhl. „Unser ganzes Geld liegt in dem Pult; wir gehen nicht eher, bis der Schlüssel da ist. Zu spät ist es nun bereits ohnedies.“

Mir brach der Angstschweiß aus; ich fing wieder die Wanderung durch die Zimmer an, suchte im Blumentisch, hinter den Fensterkissen, im Staubtuchkörbchen, im Kohlenkasten, im Bücherschrank; Hugo legte mit verbissenem Grimme den Paletot ab und zog die Handschuhe aus. Rike blieb schadenfroh in ihrer Küche; ich irrte zuletzt nur noch rathlos herum, kam dabei auch wieder in die dunkle Garderobe, da, plötzlich – ein Klirren auf dem Boden – ich bückte mich und fühlte den Schlüsselbund unter der schmutzigen Küchenwäsche, die ich vorhin noch aufheben wollte!

„Hugo, Hugo, da ist er!“ rief ich ganz glücklich, aber er war und blieb verstimmt, sagte nur noch: „Es ist jetzt gerade eine halbe Stunde zu spät!“ und redete unterwegs kein Wort. An der Gangthür schrie Lene: „Aber nein, so zu spät zu kommen, mein ganzer Pudding ist verdorben!“ Nun, das Uebrige kannst Du Dir jetzt selbst ausmalen – den Blick, der mich drinnen empfing, und die eiskalte Antwort auf meine gestammelte Entschuldigung: „ich bin das schon gewohnt, liebe Emmy, Rücksichten erwartet man von der heutigen Jugend nicht!“ Alles, was ich in den letzten Wochen allenfalls gewonnen, war jetzt mit einem Male wieder hin, ich fühlte mich moralisch abgethan und beugte mein schuldbeladenes Haupt auf die durch langes Stehen hartgewordenen Suppenklöße. Die Stimmung blieb tragisch, trotzdem das Essen nicht einmal so sehr verdorben war, umsonst suchte der gutmüthige alte Reutter mit seinen schrecklichsten Anekdoten Heiterkeit zu verbreiten; umsonst büßte ich dann den langen Nachmittag am Whisttisch, nachdem ein Versuch, mit Hugo zum Spaziergang zu entrinnen, schmählich mißglückt war. Ich war eigentlich am allerwüthendsten auf ihn, daß er mich so vollkommen im Stiche ließ. Weißt Du was? In gewisser Beziehung sind die Männer auch feige – wir fürchten die Spinnen und sie die Scenen! Das schreibe ich hier ganz im Allgemeinen, ich kann auch meine psychologischen Momente haben. so gut wie Frau v. Kolotschine, die mit Vorliebe das Verhältniß von Mann und Weib diskutirt.

O Gott, dabei fällt mir ein: ich muß sie ja in drei Tagen hier zum Abendessen haben, sie und noch vierzehn Andere! Ich fürchte mich entsetzlich, bis das vorbei ist. Wärst Du doch hier, daß wir mit einander berathen könnten!




[445]

Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Seit dem großen Brande von 1842, welcher halb Hamburg in Asche legte, hat die alte Hansestadt keine Feuersbrunst von der Ausdehnung und Gefährlichkeit derjenigen am Tage nach Pfingsten 1887 erlebt. Nach mehreren Millionen Mark beziffert sich der Verlust, und doch dürfen die Hamburger von „Glück im Unglück“ reden in so fern, als die herrschende Windrichtung den Gluthstrom nach der verhältnißmäßig günstigsten Seite, nach Nordwest trieb. Der „Hübener Quai“, dessen Schuppen 18 A zuerst aufflammte, hat bedenkliche Nachbarschaften: die städtische Gasfabrik mit kolossalen Kohlenlagern (einen ihrer Gasometer erblickt man im Hintergrunde unseres Bildes), den Petroleumhafen, den Holzhafen, den Segelschiffhafen, endlich die übrigen Quais (Sandthor-, Kaiser-, Dalmann-, Strandquai) nebst einer Reihe neuer Freihafenspeicher, bereits mit Waaren bis zum Giebel gefüllt; jeder nicht aus Südosten kommende scharfe Luftzug hätte unermeßlichen Schaden anrichten können.

Um 91/4 Uhr Abends entstand das Feuer wahrscheinlich durch Selbstentzündung von Baumwolle in Ballen, die aus dem englischen Dampfer „Annie“ entladen worden waren. Mit fast unglaublicher Schnelligkeit brausten die Flammen den Schuppen entlang, sie überholten sogar die Wächter, welche nach der Feuermeldestelle am andern Ende desselben liefen, und ehe die Dampfspritzen anlangen konnten, standen auch die Schuppen 18 B und 19 in voller Gluth. Ganz Hamburg war von dem rothen Wiederschein erhellt; zu vielen Tausenden strömte man nach der Brandstelle. Die gesammte Feuerwehr, Land- und Hafenspritzen, erschien schnell und arbeitete mit größter Anstrengung; doch konnte eine weitere Ausbreitung des Brandes nicht verhindert werden; eine Reihe der am Quai liegenden Fahrzeuge ward von den Flammen ergriffen und gänzlich oder theilweise zerstört. Diesen Moment hat der Zeichner unseres Bildes aufgefaßt. Etwa in der Mitte des Bildes brennen die größeren Dampfer „Gladiator“ aus Liverpool, „City of Dortmund“ aus Dublin, „Progreß“ aus Goole und „Federacion“ aus Südamerika; „Professor Woermann“ aus Hamburg (rechts im Vordergrunde) brannte nur in der Takelage und erlitt nur geringe Beschädigung am Deck. Außerdem hat die Gluth bereits einen Oberländer Kahn und noch mehrere kleinere Fahrzeuge entzündet, desgleichen eine Anzahl beladener Eisenbahnwaggons, die an der Landseite des Quais auf Entladung harrten. Aber schon eilen die kleinen Schleppdampfer herbei, deren Maschinen durch einfache Ausschaltung die Umwandlung des Fahrzeugs in eine Hafenspritze ermöglichen. Diese gewandten Zwerge, deren schnelles Hin- und Herschießen zwischen den Seekolossen wohl schon von manchem Besucher des Hamburger Hafens mit Interesse beobachtet worden ist, machen sich hier in doppelter Beziehung nützlich; ein Theil derselben bekämpft das entfesselte Element direkt, ein anderer Theil spannt sich vor die brennenden „Schuten“ (lange flache Fahrzeuge für den Waarenverkehr in Hamburgs Kanälen) und bugsirt dieselben auf den offenen Strom hinaus; dort läßt man sie treiben und bohrt sie dann durch Anrennen seitlings in den Grund. Auf diese Weise hat unter Anderem der Schlepper „Jan“ eine mit Genever in Kisten beladene Schute, aus der die blauen Flammen mächtig emporschlugen, förmlich mitten durchgeschnitten, so daß sie in zwei Hälften getheilt in die Tiefe sank.

Der Hafenbrand in Hamburg am 31. Mai.
Originalzeichnung von P. Duyffcke.

Zu furchtbarer Breite von Hunderten von Metern wächst die Gluth; es brennen außer der Baumwolle noch Oelkuchen, Reisabfall, Stabholz, 500 Fässer edlen spanischen Weines, ferner Kaufmannsgut aller Art. Flugfeuer entzündet das Tauwerk zahlreicher Schiffe im ganzen Hafen. Doch schon sind die Seeleute überall in emsigster Thätigkeit; alle Pumpen und Spritzen arbeiten mit Macht, Wasserströme dahin lenkend, wo es zu glimmen beginnt.

Die ungeheure Menschenmenge, welche am User und auf den Dächern dem grausig schönen Schauspiel zusieht, erblickt auch noch ein Kunstfeuerwerk: das Gebäude an der Quaispitze, ungefähr in der Mitte unseres Bildes, ein Lootsen-Diensthas, enthielt auf dem Boden einen Vorrath von Leuchtkugeln und dergleichen zu Lootsensignalen, welche beim Explodiren eine bunte Feuergarbe hoch in die Luft sprühen ließen.

Bis 5 Uhr Morgens dauerte der Kampf, dann erst war der Sieg sicher. Leider ist nicht nur der Verlust an Werthen zu beklagen. Eine oberelbische Schute der österreichischen Nordwestgesellschaft loderte so schnell auf, daß der Schiffer Sperling nebst Haushälterin und einem neunjährigen Knaben über Bord springen mußten; der Mann ward gerettet, aber erst am Morgen trieb die Fluth die Leichen der Frau und des Kindes in den Hafen zurück. Aus einem der brennenden Dampfer mußten 16 Matrosen halbnackt, wie sie aus den Kojen kamen, über Bord springen; man fischte sie rechtzeitig auf, desgleichen den Ingenieur Mc Lagh von der „City of Dortmund“, dessen Kleider bereits brannten und der schwere Brandwunden am ganzen Körper erlitt, ganz eben so einen oberelbischen Schiffer Meyer. Bei der sehr gefährlichen Löscharbeit erfolgten noch zahlreiche mehr oder minder bedeutende Verletzungen, da die Feuerwehrmänner mit den Seeleuten in aufopferndem Heldenmuth wetteiferten.

Der Schaden an Gebäuden, Schiffen und Waaren beziffert sich, wie erwähnt, nach manchen Millionen Mark. Es dürften noch zahlreiche Processe hierüber geführt werden, da die Frage, ob und welche Feuer-, Transport- oder Seeversicherungsgesellschaften in Mitleidenschaft zu ziehen sind, zu Meinungsverschiedenheiten mancherlei Anlaß bietet.




[446]
Magdalena.
Von Arnold Kasten.
(Fortsetzung.)
2.

Zwei Tage waren seit dem Balle bei Felsing verflossen; dem beharrlichen Regen folgte nun jene erste Frühlingssonne, die mit blauem Himmel und schwellender Knospenfülle wie eine süße Verheißung in das Menschengemüth hereinleuchtet und alles ausgestandene Winterleid vergessen läßt. Allenthalben in den Gärten rührte sich frisches Leben; auch in dem Garten des Hochberg’schen Palais waren die Arbeiter eifrig beschäftigt, das trockene Laub der Alleen auf Haufen zu rechen, Gebüsche und Rasen in Ordnung zu bringen. Von dem schwarzen Grund der Beete leuchteten die kleinen gelben und weißen Krokus, und die glänzenden, harzigen Kastanienknospen schwollen zusehends unter der plötzlichen Wärme der Sonnenstrahlen. Es war einer jener lieblichen Nachmittage, wo die Jugend sich mit Herumschwärmen im Freien nicht genug thun kann und eben so wenig an nachfolgende Kälte oder gar Schneefall glauben mag, wie an den baldigen Niedergang der Sonne, die doch dem Horizont schon so nahe steht.

Einstweilen glänzten ihre Strahlen noch hell über den breiten Kieswegen und dem Geschwisterpaar Hans und Gabriele, das sich schon geraume Zeit spielend und laufend darin umhertrieb. Der Garten zog sich weit nach rückwärts mit Rasenpartien und Kastatanienalleen, bis ihn ein Gitterthor an der vorüberführenden Chaussee abschloß. Im Sommer, wenn die weißen Marmorvasen aus dunklem Grün leuchteten, der Springbrunnen leise plätscherte und die in großen Kübeln den Rasenplatz umgebenden Orangenbäume ihren Duft weithin ausströmte, war dieser Garten ein herrlicher Aufenthalt. Keines der umliegenden Herrschaftshäuser besaß einen ähnlich großen; überall hatte die neue Zeit den kostbaren Baugrund mehr und mehr beschnitten. Graf Hochberg aber, obgleich er den Sommer niemals in der Stadt zubrachte, hielt Etwas darauf, so lange er anwesend war, seinen Morgengang bis zu demselben kleinen Pavillon ausdehnen zu können, in welchem sein Ururältervater im Jahre 1720 dem Prinzen Eugen den Kaffee serviren ließ. „Es muß ja nicht Alles zu Gelde gemacht werden,“ pflegte er scherzend, mit einem leisen Anflug von Hochmuth zu erwidern, wenn man ihm den Kapitalwerth des Grundstücks vorstellte.

Auf der Freitreppe dieses kleinen, zopfigen Pavillons stand der junge Hauslehrer, Doktor Richard Reiter, und betrachtete durch die blattleeren Kastanienzweige den Rasenplatz und die junge Komtesse, welche sich dort einer ungewohnten, aber offenbar höchst vergnüglichen Thätigkeit hingab. Sie hatte sich Latten und Stangen geholt und war eben im Begriff, mit Hilfe des Gärtners mitten auf dem Rasen Etwas zu errichten, was eine entfernte Aehnlichkeit mit einer zukünftigen Laube besaß. Vier Stangen waren eingerammt, die Querleisten wurden eben befestigt; der Bruder Hans sollte Nägel reichen und versah dieses Geschäft äußerst faul und widerwillig, der Gärtner Friedrich stützte nach Leibeskräften den schwanken Bau, und Gabriele schlug mit Feuereifer Nägel ein. Ihr blaues Jäckchen mit den blanken Metallknöpfen hatte sie einer nebenstehenden Flora über den Arm geworfen, und nun stand sie im halbkurzen Kleid, das die zierlichen Stiefelchen sehen ließ, auf einer Bank, behende den Arm hebend und scharfe Schläge führend. Das Mündchen hatte sie ernsthaft zusammengezogen, die Augen so nahe auf das Ziel gerichtet, daß sie ein klein wenig schielten – ein entzückend kindlicher Ausdruck, wie sich der junge Beobachter im Stillen sagte, lag noch über der bereits jungfräulichen Form dieser schlanken Gestalt ausgegossen.

Er stand völlig verloren in der Wonne einer Betrachtung, die er sich während der Unterrichtsstunden niemals erlaubt haben würde. Es waren deren nicht viele, die Gabriele noch mit dem Bruder theilte, aber während derselben hütete Richard Reiter sorgfältig Blick und Ton, seine Worte klangen ernsthaft und gemessen, oft sogar leise tadelnd, wenn der flüchtige Blondkopf tausend nicht zur Sache gehörige Fragen stellte, in der Naturgeschichte bei Gelegenheit der Eisbären auf einen ganz weißen King Charles zu sprechen kam, den sie sich zum nächsten Geburtstage wünschte, oder im Geschichtsaufsatz über Alexander’s Zug nach Indien den großen König unmittelbar von Arbela nach dem Fünfstromlande springen ließ und die Lücke nur durch die Bemerkung ausfüllte: Alexander müsse doch ein reizender Mensch gewesen sein.

„Ich könnte mich gar nicht für ihn interessiren, wenn ich mir ihn nicht so vorstellte,“ war ihre hartnäckige Antwort auf Doktor Reiter’s Ermahnungen zu größerer Objektivität, und er mußte im Stillen über den Instinkt einer so glücklichen Natur lächeln. „Ein liebenswürdiges Kind,“ dachte er bei solchen Gelegenheiten, und bis heute war es ihm nie eingefallen, darüber nachzudenken, was ihm eigentlich den Aufenthalt hier im Hause so lieb machte und die Geduld mit dem wenig begabten, aber um so ungezogeneren Hans verlieh. Heute aber stand es auf einmal klar vor seiner Seele: das liebliche Geschöpfchen dort mit den lachenden Augen und dem sonnigen Goldhaar gehörte bereits zu seinem Leben, wie das Tageslicht und der Lufthauch, deren sich ja auch Niemand bewußt ist … daß er dies aber heute erst merkte!

Das Lächeln verschwand von den Lippen des jungen Mannes; sein Blick wurde düster, und mit augenblicklichem Entschluß unterdrückte er das heiße Wallen, das ihm vom Herzen zum Kopf steigen wollte. „Dies muß schweigend getödtet werden,“ sprach er leise vor sich hin, „wir wollen nicht die alte abgedroschene Geschichte vom Hofmeister und der jungen Schülerin neu aufführen. Welche Armseligkeit – ein argloses junges Herz kirre machen – nein, tausendmal nein, ich wäre es nicht im Stande. Und wohin sollte es führen … der verdorbene Theologe und absichtslose Zoologe und die reiche schöne Gräfin Hochberg! Ein solcher Unsinn ist selbst für Jemand zu arg, der schon auf eine so respektable Anzahl von dummen Streichen zurücksieht, wie ich. Kopf in die Höhe, Zähne zusammengebissen, verliebter Thor, damit Niemand merke, welche Schwachheit Dich soeben angewandelt hat!“

„Friedrich,“ hörte er jetzt die junge Gräfin zum Gärtner sagen, als die Hand mit dem schweren Hammer ein wenig ruhte; „ich hätte nicht gedacht, daß es mit dem Nägeleinschlagen so famos ginge.“

„Freilich,“ erwiederte der Mann, der sich gerade auf der andern Seite bemühte, einen besonders krumm gerathenen wieder zurecht zu biegen, „die gnädige Komtesse können arbeiten wie Unsereins.“

Hans ließ ein spöttisches Lachen ertönen. Er kam sich mit seinen dreizehn Jahren bereits sehr vornehm und wichtig vor, und die Beschäftigung seiner Schwester in Gesellschaft des Gärtners erschien ihm nichts weniger als standesgemäß. Ueberdies fing die Sache an, ihn zu langweilen.

„Du, Gabi,“ spöttelte er, „es ist doch schade, daß Du nicht als Taglöhnerkind auf die Welt gekommen bist. Dann könntest Du den ganzen Tag graben und scheuern und dergleichen feine Geschäfte thun.“

Gabriele warf ihm einen entrüsteten Blick zu, doch sagte sie möglichst ruhig:

„Du bist ein einfältiger Junge, Hans.“ Dann, sich zum Gärtner wendend, fuhr sie mit dem freundlichsten Ausdruck fort: „Nun, Friedrich, die Stangen hätten wir jetzt, und auch die Querleisten. Aber das Dach!“ fuhr sie kleinlauter fort, „wo nehmen wir das Dach her? Das dauert ja wohl länger?“

„Länger dauert das allerdings,“ bestätigte Friedrich, dem offenbar nicht wohl bei der Sache war, wenn er auch dem allgemeinen Liebling Nichts abzuschlagen vermochte. „Die gehobelten Bretter werden auch recht stark weiß glänzen. Brauchen denn die gnädige Gräfin die Laube so nothwendig?“

„Sehen Sie, Friedrich, das verstehen Sie nicht,“ versetzte Gabriele mit großer Bestimmtheit, „die Laube müssen wir unbedingt haben, weil wir einen Sitz im Freien brauchen, wo uns Herr Doktor Reiter an Blumen und Käfern und solchen Dingen Naturgeschichte lehren kann und wo man auf einen einfachen Holztisch Wassergläser und Behälter mit Thieren setzt. In der Stube droben mit den polirten Möbeln geht das Alles nicht so gut: das hat er neulich selbst gesagt, als er meinte, in dem [447] großen Garten sollten irgendwo ein paar einfache Bänke und ein fester Holztisch stehen. Sehen Sie vielleicht einen solchen Tisch?“ Und sie streifte mit mißbilligenden Blicken die breiten geschweiften Bänke unter den Kastanien sowie die halbrunde marmorne Sitzgelegenheit um das Springbrunnenbassin. Einen Tisch sah Friedrich nun wohl nicht, aber er schüttelte dennoch den Kopf.

„Wenn nur der Herr Graf nicht recht böse werden, wenn sie herunter kommen“ wagte er neuerdings einzuwenden.

„Ja,“ schrie Hans schadenfroh, „das wird Papa gewiß. Ihr habt ja den ganzen Rasen verdorben, und dann sage ich auch, Gabi, daß Du die ganze Geschichte angegeben hast. Und ich sage ihm auch noch, daß Du heute bei Rothenburgs abgesagt hast, um das Ding da aufzubauen und dem lieben Herrn Doktor damit eine Freude zu machen …“

Hier fühlte der kleine Unhold einen festen Griff an seiner Schulter, und die gebietende Stimme, welcher er, wenn auch äußerst ungern zu folgen pflegte, sagte in scharfem Tone: „Das läßt Du bleiben, wenn Du nicht als ein elender Feigling angesehen sein willst!“

Hans warf seinem Lehrer einen bösen Blick zu und rannte dann ins Haus. Indem er sich nun zu dem tief erröthenden Mädchen wandte, sagte Doktor Reiter ruhig und unbefangen: „Es ist sehr freundlich von Ihnen, Komtesse Gabriele, den Gedanken, den ich neulich einmal flüchtig aussprach, gleich ins Leben setzen zu wollen. Aber ich glaube auch, die angefangene Laube kann hier nicht stehen bleiben.“

,O,“ rief Gabriele mit aufgeworfenen Lippen, „und warum nicht?“

„Weil der Grundeigentümer nicht gefragt wurde,“ entgegnete scherzend der junge Mann, „und weil die marmornen Tanten hier wirklich entsetzt scheinen über solchen Frevel. Wollen wir nicht rasch die Stangen und Latten abnehmen? Vielleicht erlangen wir die Erlaubniß, sie am untern Gartenende wieder aufzurichten oder wenigstens einen Tisch unter den Kastanien …“

Gabriele hatte Hammer und Nägel bei Seite gelegt und sah unverwandt in die hellen braunen Augen des Redners, die so freundlich zu blicken verstanden; sie folgte dann seinen Bewegungen, als er gewandt und kräftig zugriff und in wenigen Augenblicken ihr Werk von einer Stunde zerstörte. Als aber Friedrich sich offenbar sehr erleichtert mit der Last entfernte, zuckte die kleine Gräfin die Achseln, nahm der Flora ihr Jäckchen ab und sagte, indem sie sich zum Gehen wandte und dem großen Strohhut einen entschlossenen Ruck gab.

„Wissen Sie auch, daß Sie ein rechter Pedant sind?“

„Nein, das wußte ich bis heute nicht,“ entgegnete er heiter; „woraus ziehen Sie denn diesen plötzlichen Schluß?“

„Aus Ihrer Unzufriedenheit, daß ich da mit Friedrich herum hantirte!“

„Sie täuschen sich völlig, Komtesse; ich freute mich im Gegentheil Ihrer Freundlichkeit gegen den Mann und seiner verklärten Miene. Meine Furcht war wirklich nur, daß der Herr Graf ärgerlich werden könne –“

„Ach, der Papa,“ lachte der junge Leichtsinn, „der ist nicht halb so gefährlich wie Sie. Und neulich –“ sie stellte sich entschlossen quer über den Weg, „warum durfte ich da nicht mit, als Sie bei dem herrlichen Wind mit Hans im Segelboot fuhren, und warum wollen Sie nie mit uns ausreiten und sehen allemal unzufrieden aus, wenn ich mir Othello satteln lasse? Solche Dinge sind ja wohl ganz unweiblich, wie?“

Doktor Reiter machte ein erstauntes Gesicht. Ein Gelehrter braucht immer einige Momente, um sich in einem unvorhergesehenen Platzregen weiblicher Vorwürfe, und kämen sie aus einem sechzehnjährigen Munde, einigermaßen zurechtzufinden.

Seine kleine Gegnerin bemerkte dies mit vieler Genugthuung. „Ja, ja, leugnen Sie nur nicht!“ beharrte sie. „Mademoiselle Renard sagte mir gestern und noch dazu französisch in ihrer langweiligen Konversationsstunde, daß der Herr Doktor sich so geäußert hätte.“

Diesem blitzte eine Erleuchtung auf. Bis dahin hatte er die kleine schwarzgelbe Französin und ihre angelegentlichen Blicke kaum bemerkt. „Ach so,“ sagte er gedehnt, „nun, Mademoiselle Renard hat sich da keiner großen historischen Treue beflissen. Ich nannte Ihre Spazierritte nicht unweiblich, sondern bedenklich, weil ich neulich sah, zu welch’ rasendem Galopp Sie Ihren Othello spornten, und ich nehme keinen Anstand, Ihnen selbst zu sagen, daß ich es unvernünftig finde, sich einer solchen Gefahr auszusetzen!“

„Also doch unvernünftig! Nun,“ der Schelm blitzte bereits wieder lebhaft aus den blauen Augen, „Sie müssen da eben etwas Nachsicht haben mit der Jugend. Die meisten Leute sind in ihren jüngeren Jahren noch nicht so sehr vernünftig, wie sie es später werden können. Das bitte ich Sie ergebenst zu bedenken, Herr Doktor – Brückenreiter!“

Und mit lautem Lachen glücklich über den gelungenen Kernschuß, lief das übermüthige Mädchen davon und war bald im Hause verschwunden.

Der Doktor blieb in sprachlosem Erstaunen zurück. Woher in aller Welt hatte sie diesen ihm selbst verklungenen Spitznamen seiner Studentenzeit erfahren? Er konnte nicht einmal zu einer Vermuthung darüber kommen, kehrte endlich um und schritt langsam die Allee hinunter, ganz in Gedanken verloren. Wo war denn nun die Vernunft, die er sich vorhin noch so feierlich angelobt? Verflogen und zerschmolzen unter dem Blick der hellen Augen, dem Klang ihres fröhlichen Lachens! Konnte man denn eine solche Schwachheit für möglich halten? Und nun … nach dieser Erfahrung – was weiter? Eine feste Stimme in dem ehrlichen Herzen sprach. „Fortgehen!“ Aber sie mußte es mehrmals sagen, bis sie gehört wurde, und auch dann folgte heftiges Widerstreben. War es denn wirklich Pflicht, sich von hier zu lösen, das liebgewordene Haus aufzugeben und den ahnungslosen Menschen auch noch falsche Gründe vorzuspiegeln? „Ja, es muß sein,“ wiederholte die unerbittliche Stimme, „du könntest dem Grafen nicht mehr in die Augen sehen. Lächerlich – oder schlecht! Eins so schlimm wie das Andere. Entschließe dich schnell, es ist nicht anders …“

Mitten in diese Ueberlegungen klang ein eiliger Schritt, und aufblickend sah der junge Mann einen der Lakaien, der ihm eine Visitenkarte überbrachte. „Der Herr wartet oben.“

„Emil Felsing!“ Doktor Reiter wandte sich eilends um, und mit ein paar Sprüngen eilte er die Treppe hinauf in sein Zimmer.

„Emil, Du! Wie freue ich mich, Dich zu sehen, alter Junge!“

„Nun, die Freude hast Du Dir ziemlich lange zu versagen gewußt,“ erwiederte etwas ironisch der junge Felsing, „was fällt Dir denn ein, Mensch, hier als Veilchen im Verborgenen zu blühen und kein Lebenszeichen zu geben? Daß ich hier in der Stadt bin, hast Du doch sicher gewußt!“

„Ja, das wußte ich,“ erwiederte Reiter, indem er den Freund zum Sitzen nöthigte, mit einer leichten Verlegenheit.

„Nun, – und?“

„Und – Du kannst Dir das vermuthlich nicht vorstellen – mein Leben ist hier ein so ganz anderes, als es meine Freunde von früher kennen, ich muß so angestrengt arbeiten, um im Gleichgewicht zu bleiben, daß ich nicht über meinen engen Kreis hinausblicken darf. Ich hatte wohl immer vor, Dich einmal aufzusuchen, es kam aber nicht dazu. Meine gegenwärtige Stellung legt mir eine gewisse Reserve auf. Du wirst mich verstehen –“

„Nein, das verstehe ich wirklich nicht,“ sagte Emil und streckte sich im Schaukelstuhl aus. „Und Dir hätte ich so etwas am allerletzten zugetraut! Was ist das für eine Kleinlichkeit! Weil Du im Augenblick die wenig imposante Stellung eines Hauslehrers bekleidest, fühlst Du Dich im Gemüthe bedrückt und vermeidest alte Freunde? Laß Dir sagen, daß das Einem komisch vorkommt, der vor Jahresfrist in Amerika mit einem Manne zusammen wohnte, welcher erst Schreiner gewesen war, dann später Staatssekretär wurde – allerdings noch später wieder einmal Versicherungsagent, und der jedes Stadium seiner Laufbahn mit der vollkommensten Gemüthsruhe ausfüllte. Von diesen Leuten könnt ihr empfindlichen Kategorie-Menschen noch viel lernen!“

Richard’s Stirn hatte sich geröthet. „Du hältst mich wohl nicht im Ernste für einen solchen Einfaltspinsel,“ sagte er rasch; „wenn ich mich der Stellung hier im Hause schämte, würde ich sie nicht angenommen haben. Etwas halb zu thun, war niemals meine Sache.“

„Das weiß ich, mein Alter,“ versetzte Emil gemüthlich. „Heidelberg kann davon erzählen.“

„Nur wußte ich damals noch nicht,“ ergänzte Richard, „wie die Freiheit des Menschen vom Gelde abhängt, das ich so freigebig verthat und so gründlich verachtete. Die Konsequenz davon ist meine heutige Hauslehrerstelle. Ich beklage mich nicht darüber; [448] aber Du wirst begreifen, daß es nicht Lebensziel für mich sein kann, einen albernen Jungen zu unterrichten, der ebenso gut wild aufwachsen könnte, und …“ Er hielt inne, wie von der plötzlichen Erinnerung an etwas ganz Anderes ergriffen, fuhr dann aber in ruhigerem Tone fort:

„Für einen Zoologen giebt es kaum eine andere, als die akademische Karriere, für sie habe ich Neigung und Fähigkeit, ich mußte mich also einrichten, um Fühlung mit der Universität zu behalten, ohne die kostspieligen Privatdocentenjahre zu leben. Das konnte ich hier. Der Graf ist ein ebenso gescheiter wie vortrefflicher Mensch –“

„Er hat mir vorgestern den angenehmsten Eindruck gemacht,“ sagte Emil, „auch die Gräfin.“

,Sie ist eine vorzügliche Frau,“ erwiederte Richard lebhaft; „ich bin Beiden großen Dank schuldig und bemühe mich, ihn an dem Jungen abzutragen, dessen Fassungsgabe meine Geduld oft auf harte Proben stellt. Der Graf, der meine Situation vollkommen versteht, giebt mir ein reichliches Gehalt und beansprucht nur meine halbe Zeit, so daß ich jeden Nachmittag bis spät am Abend draußen im physiologischen Institut zubringe und dort eine Arbeit mache, die schwierig und zeitraubend ist, aber, wie ich sicher hoffe, meinen Namen bekannt machen wird. Du siehst also, meine Zeit ist besetzt, ich darf nicht rechts noch links sehen. Um diesen Weg gehen zu können, habe ich ein anderes Anerbieten ausgeschlagen, das viel verlockender aussah als die Stelle eines gräflich Hochberg’schen Hauslehrers. Ich sollte Sammler für ein großartiges Aquarium werden, das sie in Petersburg errichten wollen, hätte meinen Wohnsitz etwa an der Riviera oder in der Nähe von Venedig nehmen können mit einer eigenen Wohnung dicht an der Küste, und dafür lag mir nur die Verpflichtung ob, die Herren Russen mit immer neuen Meeresschaustücken zu versehen. Natürlich wäre mir daneben reichlich Muße zu eigenen Arbeiten geblieben, ich zog aber den Aufenthalt hier vor, die Möglichkeit, selbst noch mehr zu lernen, und den Anschluß an unsern genialen Zoologen Volkmann, dessen Umgang und Beistand für mich geradezu unschätzbar sind.“

Emil drückte dem Freunde kräftig die Hand. „Du bist noch der alte Prachtkerl: die Augen fest aufs Ziel und vorwärts! Einer solchen Arbeit fehlt der Erfolg nicht. Noch ein paar Jahre und Du stehst an einer tüchtigen Stelle, während ich, der es leider nicht nöthig hat, Felsing’scher Haussohn bleibe, geborenes Mitglied der geographischen Gesellschaft, mit der Erlaubniß, alle zwei Jahre einmal eine zahme Reise nach wohlbekannten Küsten zu machen, aber ohne jede Aussicht, dorthin zu kommen, wo Neues zu finden wäre und man sich einen Namen machen könnte …“

„Und wo wäre das etwa?“ fragte Richard.

„In den Gletscherthälern des Kuen-Luen zum Beispiel oder mit einer unserer Polarexpeditionen, oder wenigstens nach Uganda zu König Mtesa, um diesen interessanten Völkerhirten aus der Nähe kennen zu lernen – aber daran ist ja kein Gedanke! Ich könnte es vielleicht durchsetzen, wenn ich alle Minen springen ließe, aber es würde ein solches Herzeleid für meinen Vater sein, daß ich nicht daran denken darf. Später einmal vielleicht – einstweilen muß ich mich an die Beförderung durch Eisenbahn und Postdampfer haltent und auf die vermittelst Hundeschlitten und Büffelkarren verzichten …“

„Erzähle mir,“ sagte Richard, sich wieder zu ihm setzend, „wo bist Du bis jetzt herumgekommen?“

„Was ist da viel zu erzählen?“ erwiederte Emil, indem er nach dem Feuerzeug griff und eine Cigarre anbrannte, „ich kam gerade weit genug, um zu sehen, daß die Welt überall ziemlich dieselbe ist. Im Atlas glotzten mich die Amazirghbauern mit denselben Gesichtern an, wie unsere Hansjörgel hier, in Algier klagten mir die Händler über die Noth ihrer Kunstindustrie im Gedränge mit der Pforzheimer Konkurrenz; die Palmen sind dort struppiger als die unsern in den Gewächshäusern, und der Himmel nicht so blau, wie man ihn ausschreit. Und wie klein ist doch die Welt! Man kann auch in Afrika keine drei Schritte machen, ohne auf Bekannte zu stoßen – ich habe dort die merkwürdigsten Leute in den merkwürdigsten Situationen wiedergefunden und mir dabei allerhand Vorurtheile abgewöhnt. Nun, und so weiter. Wenn Du mich besuchst, wozu Du Dich nun doch hoffentlich verstehen wirst, erzähle ich Dir mehr davon.“

„Eins mußt Du mir aber doch noch sagen: woher weißt Du denn, daß ich überhaupt hier bin?“

„Sehr einfach, durch Deine Schülerin, Komtesse Gabriele.“

„Ach so,“ lachte Richard, „nun verstehe ich auch den Brückenreiter, den sie mir vorhin an den Kopf warf.“

„Natürlich,“ erwiederte Emil ebenfalls lachend, „sie forschte so eifrig nach der Vergangenheit ihres ehrfurchtgebietenden Lehrers, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte. Uebrigens ist sie ein wirklich reizendes Geschöpf! Wie viel natürliche Anmuth in Linien und Bewegung, welch eine Frische in Gedanken und Ausdruck! Sie war mir schon lange im Park beim Spazierenreiten aufgefallen mit ihren strahlenden Kinderaugen aus allem aristokratischen Toilettenschick heraus. Die Art, wie sie im Reiten einem Gruße dankt, ist geradezu entzückend: so ein gewisses vornehmes Kopfnicken mit einem kleinen aufblitzenden Schalk um die Mundwinkel. Ich beneide Dich, Du Glückspilz, um eine solche Schülerin. Aber mir scheint, daß Dir die Augen fehlen für dieses kleine Schöpfungswunder. Dreifaches Erz um die Brust sitzest Du hinter dem Mikroskop!“

Richard wandte sich halb ab und räumte ein paar Bücher zur Seite, wie um mehr Platz auf dem Tischchen zu machen. Dabei sagte er ruhig: „Jedenfalls ist es für einen armen Teufel klüger, ins Mikroskop zu sehen, als in die blauen Augen einer jungen Gräfin, die für ihn unerreichbar ist, wie die Sterne am Himmel.“

Emil betrachtete prüfend die schlanke Gestalt seines Freundes und das jugendschöne Gesicht, welches jetzt einen so andern Ausdruck hatte, als in den frohen Studententagen. Der bräunliche Teint, die dunklen Haare waren noch dieselben; aus dem Flaum der Oberlippe aber war ein hübscher, weicher Bart geworden, der die energischen Linien des Mundes halb verdeckte. Dafür hatten sich alle andern Züge gefestigt und vertieft; sie waren nicht weniger anziehend, aber viel bedeutender geworden, und Emil fühlte heute wie ehemals den bestimmten Herzenszug, welcher der Freundschaft zu Grunde liegt, wie der Liebe … Aber in seine Bewunderung von Richard’s männlicher Schönheit mischte sich plötzlich ein anderer Gedanke: war es denn nicht nur zu wahrscheinlich, daß der kleinen Komtesse dieser interessante Lehrer gefährlich war? Solche junge Mädchen – und mit welcher Angelegentlichkeit hatte sie von ihm gesprochen! Ein Rival, auch wenn es der beste Freund ist, bleibt ein Rival …

„Richard!“ sagte er plötzlich; „es scheint mir, daß Deine schöne Schülerin etwas hellere Augen hat als ihr stoischer Lehrer. Sie sprach neulich sehr warm über Dich – und im Grunde bist auch Du in sie verliebt, gestehe es nur!“

„Was fällt Dir ein!“ fuhr Richard so entrüstet auf, daß Emil sich vollständig erleichtert fühlte. „Weder sie noch ich haben einen solchen Gedanken. Wenn hier überhaupt Jemand verliebt ist, so wirst Du es wohl sein, der für seine Bewunderung nicht genug Worte finden kann!“

Es sollte ein Pariren aus Nothwehr sein, was er sagte. Aber alles Blut schoß ihm jäh zum Herzen, als Emil seine Hand faßte und ausbrechend rief:

„Nun denn, ja, ich bin verliebt, und zwar so, daß ich seit vorgestern herumgehe wie ein verwandelter Mensch. Sie hat es mir vollständig angethan – es ist ein schrecklicher Unsinn, so für eine Sechzehnjährige zu entbrennen, aber was will ich machen? Ueberall sehe ich die blonden Haare mit den goldenen Lichtern. höre ihre Stimme, sehne mich nach ihrer Gegenwart, und wenn das nicht bald anders wird, so bleibt mir Nichts übrig, als die große Thorheit wirklich zu begehen und vor den gräflichen Papa hinzutreten, um ihre Hand zu bitten – und mir höchst wahrscheinlich einen Korb zu holen.“

„Warum?“ entgegnete Richard mit mühsamer Ruhe. „Deine Persönlichkeit und Stellung geben Dir doch alle Aussicht auf Erfolg, und wenn sie Dich liebt –“

„Wenn sie mich liebt! – Aber das ist es eben – das zu hoffen habe ich vorläufig nicht den mindesten Grund, und wie soll ich es anfangen bei dem entfernten gesellschaftlichen Verhältniß zwischen unseren beiden Häusern, um ihr näher zu treten?“

Emil durchmaß rasch das Zimmer ein paar Mal, dann blieb er vor Richard stehen und sagte: „Du allein könntest mir helfen!“

„Ich? Ich soll Dir helfen?!“ erwiederte Richard, indem er aufsprang und ans Fenster trat. Er fühlte eine bittere

[449]

Die Schmeichler.
Nach dem Oelgemälde von F. Vinea.

[450] Empfindung in sich aufsteigen: also darum der Besuch! Aber er zwang sie sofort nieder und fragte ruhig: „Wie meinst Du das?“

„Sprich ihr von mir, suche die Gräfin günstig zu stimmen und treibe ein wenig, daß sie Wort halten und kommen, um meine ,Raritätenkammer’ anzusehen, wie die Komtesse sagte. Nur muß ich es einen Tag vorher wissen; ich möchte ihnen ein kleines Fest veranstalten, welches ihrer würdig wäre – ein arabisches Fest, mit Hilfe meiner schönen Teppiche, Kostüme und Waffen.“

„Fort!“ schrie es von Neuem in Richard’s Seele, „so schnell wie möglich fort!“ Dazu sprachen seine Lippen: „Du hast Recht, das kann sehr hübsch werden, und ich glaube, Komtesse Gabriele wird daran großen Spaß haben!“

„Ich sollte es denken,“ erwiederte Emil, schon in der Erwartung glücklich. „Sie schien sich sehr für meine Sammlungen zu interessiren, war überhaupt sehr liebenswürdig gegen mich. Aber man wird so verzagt, wenn man ernsthaft hofft und fürchtet, und muß sich manchmal mit Gewalt an Dies und Jenes erinnern, was Einem ungesucht geworden ist, um Kourage zu behalten!“

Er hatte, während er das sagte, einen Ausdruck von so bescheidener Liebenswürdigkeit, daß Richard im Innersten nicht mehr an seinem Erfolge zweifelte. Und warum, wenn für ihn selbst keine Hoffnung war, sollte er nicht dem Freunde alles Glück gönnen? Es war ein harter innerer Kampf, aber er stritt ihn mit Ehren und sagte nach einer kurzen Frist, mit aller Ueberzeugung in Blick und Ton:

„Ich glaube sicher, Du wirst reussiren, Emil. Auch der Graf ist, trotz eines gewissen Standeshochmuths, doch ein gebildeter und vernünftiger Mann, und er steckt neuerdings selbst so tief in finanziellen und industriellen Unternehmungen, daß ihm der Gedanke, mit Eueren Kreisen in nähere Verbindung zu treten, kaum abstoßend sein wird.“

„Ja,“ sagte Emil leiser, indem er einen raschen Blick ringsum warf, „das hätte ich beinahe über meinen Angelegenheiten vergessen – darüber wollte ich noch mit Dir reden, ganz abgesehen von meinen eigenen Hoffnungen und Wünschen.“ Er drehte ein paar Augenblicke die Cigarre zwischen den Fingern und sagte dann: „Es kommt mir vor, als ob sich allerlei Wolken über dem Grafen zusammenzögen!“

„Wieso?“ fragte Richard erstaunt.

„Ich kann es Dir auch nicht genau sagen; nur so viel weiß ich, er macht schlechte Geschäfte, und kann auf die Länge den bisherigen Train nicht fortführen. Eckartshausen ist bereits verkauft –“

„Eckartshausen, der Lieblingsaufenthalt der Gräfin?“

Emil nickte. „In den letzten Tagen. Anderes wird, fürchte ich, nachfolgen.“

„Aber um Gotteswillen, woher weißt Du denn –“

„Durch einen Zufall,“ sagte Emil aufstehend, indem er nach seinem Paletot griff. „Höre, verkehrt hier nicht ein gewisser Treiber öfter in Geschäften mit dem Grafen?“

„Ein Galgengesicht mit devoten Bücklingen und unterthänigen Redensarten?“

„Derselbe. Ihn sollte der Graf je eher, je lieber kopfüber zum Hause hinauswerfen; ich fürchte, er wird mit diesem Rathgeber bei seinen neuen industriellen Unternehmungen die schlechtesten Erfahrungen machen; ich habe Grund, ihn für einen gewissenlosen Schurken zu halten; ja, ich vermuthe sogar, daß er es direkt auf den Ruin des Grafen abgesehen hat.“

Richard war ziemlich betreten. Er erinnerte sich, daß noch vor einigen Tagen der Graf lobend von der „Gewandtheit“ des Menschen gesprochen hatte.

„Darf ich von Deinen Worten Gebrauch machen?“ fragte er endlich.

„Aber ohne meinen Namen zu nennen,“ erwiederte Emil. „Wenn der Graf ihn erführe, müßte er doch zunächst an den Einfluß meines Vaters denken, und da dieser gar nicht betheiligt ist, steht es mir nicht zu, ihn zu kompromittiren. Aber die Sache verhält sich so. Warne den Grafen, warne ihn nachdrücklich, es ist Ursache dazu.“

Er drückte dem Freunde die Hand zum Abschied und sagte, indem er sich zum Gehen wandte:

„Ich möchte der Gräfin noch meine Aufwartung machen. Finde ich Jemand draußen, um mich zu melden?“

„Ich will gleich nachsehen,“ erwiederte Richard; „komm nur einstweilen mit hinüber.“

Dann kehrte er, während Emil dem voraneilenden Diener in den Seitenflügel folgte, nach seinem Zimmer zurück. Die neue Abhandlung, von einem bedeutenden Zoologen geschrieben, in der er heute nach Tisch eine Stunde lang mit großem Interesse gelesen, lag noch an derselben Stelle aufgeschlagen, und mechanisch setzte er sich wieder daran. Aber eine Viertelstunde um die andere verging, ohne daß er eins der engbedruckten Blätter umwandte; seine Augen hafteten an den Zeilen; aber es war ihm unmöglich, auch nur den Sinn einer einzigen zu erfassen. Vergebens versuchte er, seine Gedanken mit Gewalt auf die Lektüre zu lenken; sie kehrten augenblicklich zu ihrem Ausgangspunkt zurück und zergliederten rastlos alles heut Erlebte in selbstquälerischer Schärfe. Er wollte soweit kommen, das „natürliche Ende“, Gabrielens und Emil’s Verbindung, mit ganz ruhigen Augen anzusehen. Aber, er kam nur soweit, mit einem unwillkürlichen Aufseufzen endlich halblaut zu sagen: „Es muß sein. Ich melde mich sofort um die Stelle für das Aquarium, hoffentlich ist sie noch frei.“

Der gefaßte Entschluß hat immer eine erlösende Kraft. Ruhig und ohne weiteres Grübeln holte sich Richard Papier und Feder, und bald war seine Aufmerksamkeit vollständig von dem Schreiben in Anspruch genommen, das er mit festen Zügen begann.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

E. Marlitt †. Unsere „Gartenlaube“ hat einen tiefschmerzlichen Verlust erlitten: Eugenie John (E. Marlitt), die Schriftstellerin, die mit unserem Blatte aufs Engste verwachsen war, die seit Jahrzehnten unsere Leser durch ihr seltenes Erzählungstalent gefesselt hat, ist am 22. Juni in Arnstadt an den Folgen einer Rippenfell-Entzündung aus diesem Leben geschieden. Wie Wenige besaß sie die Lust am Fabuliren, den Reichthum der Phantasie, aus dem immer neue Geschichten und Gestalten hervorquellen – und sie selbst lebte glücklich in dieser Phantasiewelt, seitdem ein dauerndes Leiden sie von der äußern Welt mehr oder weniger abgeschlossen. Und doch – es herrschte keine mißmuthige Stimmung, keine düstere oder gar verzweifelte Weltanschauung in den Bildern, welche sie uns entrollte: es war so viel Lichtes und Anmuthendes in ihren Erzählungen, so viel Sonnenschein; niemals hat sie Grau in Grau gemalt; sie freute sich der bunten Farben des Lebens und ließ auch Andere sich daran erfreuen.

Nun ist sie dahingegangen, die Schöpferin so vieler holdseliger Mädchengestalten, die Erzählerin so wechselvoller Lebensschicksale, die unsere Leser und Leserinnen so lange Zeit in ihrem Banne gehalten, die Muse des „häuslichen Herdes“, welchen sie nie durch eine unreine Empfindung, ein unedles Wort entweihte.

Wir wissen, daß die Trauer um unsere erfolgreichste und treueste Mitarbeiterin von Allen getheilt wird, die unserem Blatte seit langen Jahren warme Anhänglichkeit bewahrt haben, und auch die Stimme derjenigen, welche ein anspruchsloses Schaffen glaubten verurtheilen zu dürfen, weil sie es mit dem Maße unberechtigter Ansprüche messen wollten, werden verstummen der Todten gegenüber, deren jetzt abgeschlossenes Wirken so bescheiden und doch in seltenem Maße einflußreich und weitreichend gewesen.

Wir werden noch ausführlicher auf das Leben und Schaffen von E. Marlitt eingehen, welche, soweit es ihre Krankheit verstattete, noch immer beeifert war, für unser Blatt zu dichten und uns ein neues Werk ihrer schöpferischen Phantasie zuzuwenden. Heute legen wir in Wehmuth und Trauer dies flüchtige Blatt mit unserem warmempfundenen Nachruf auf ihr frisches Grab – Friede ihrer Asche! Die Redaktion. 

Eine neue Schwarzwaldbahn. Durch die Eröffnung der ersten Höllenthalbahnstrecke ist nicht nur die wichtige Linie Donaueschingen-Freiburg ihrer Verwirklichung nahe gerückt, sondern vor allen Dingen der schönste Theil des Schwarzwaldes so recht dem touristischen Genuß erschlossen. Wer jemals vom Freiburger Schloßberg aus das Auge nach den ernsten Feldberghöhen wandte und langsam über die herrlichen Wälder und Matten zu seinen Füßen zurückstreifen ließ, der kennt den Reiz jenes unvergleichlichen Thales und kann ermessen, welcher Zuwachs von genußvollen Touren nun den Bewohnern in den Schoß fällt. Künftig wird man an schönen Sommertagen nach Tisch in Freiburg wegfahren, an dem hochgelegenen, waldumgebenen Titisee den Nachmittag zubringen und Abends wieder in der Stadt sein können, wenn man es nicht vorzieht, von dort aus die Wanderung weiter zu richten zum „waldigen Feldberg“, von dem der alte Hebel singt, an den man hier auf Schritt und Tritt gemahnt wird. Eine Wanderung durch die von ihm so sehr geliebten und gefeierten Thäler gehört zu den schönsten Genüssen, und es ist nur zu wünschen, daß die neue Bahn, indem sie Vielen dieselbe erleichtert, auch den umgebenden armen Gegenden zum materiellen Segen werden möge.

[451] Eisenbahnreisen der Kinder. Es ist eine wohlbekannte Thatsache, daß das Rechtsbewußtsein des Volkes, wo es gilt, auf Kosten der Gemeinschaft einen Vortheil zu erringen, mitunter auf recht schwachen Füßen steht. Gar Mancher hält sich für ehrlich und rechtschaffen, weil er es gegen den Einzelnen ist, macht sich aber kein Gewissen daraus, gelegentlich einmal den Staat zu hintergehen, z. B. durch Einschmuggelung zollpflichtiger Gegenstände, durch falsche Angaben bei der Steuereinschätzung oder durch ähnliche Handlungen.

So verhält es sich auch bei den Reisen mit Kindern. Bekanntlich zahlen auf den deutschen Bahnen Kinder unter 4 Jahren, wenn ein besonderer Platz für sie nicht beansprucht wird, kein Fahrgeld und Kinder von 4 bis 10 Jahren nur die Hälfte des gewöhnlichen Fahrgelds.

Um diese Vortheile zu erreichen, werden Kinder, welche das vierte oder zehnte Lebensjahr überschritten haben, von ihren Begleitern zuweilen für jünger ausgegeben, was bisher auch meist straflos geschehen konnte. Neuerdings haben aber verschiedene Eisenbahnen, unter Anderem die preußischen Staatsbahnen, ihr Fahrpersonal angewiesen, in allen solchen Fällen, wo Erwachsene das Alter der von ihnen mitgeführten Kinder zum Zwecke der Fahrgeldersparniß wissentlich falsch angeben, nicht allein den doppelten Fahrpreis, mindestens 6 Mark einzuziehen, sondern auch den Namen der Betreffenden festzustellen, damit nach Befinden die Einleitung des Strafverfahrens wegen Betrugs veranlaßt werden kann.

Diese schärfere Auffassung, welche auch wir unsern Lesern zur Warnung mittheilen, wird zweifellos zu einer Verringerung der Mißbräuche führen. Daß die Eisenbahnen in ihrem vollen Recht sind, wenn sie die Erfüllung der Reglementsbestimmungen mit allen Mitteln durchzusetzen suchen, läßt sich nicht bestreiten; dagegen möchten wir bei dieser Gelegenheit der Frage näher treten, ob die gegenwärtigen für die Beförderung von Kindern auf den deutschen Bahnen geltenden Bestimmungen gerecht sind. Mit Rücksicht darauf, daß in den Nachbarländern die Altersgrenzen noch enger gezogen sind – es werden z. B. in Italien und Frankreich nur Kinder bis zu 3 Jahren unentgeltlich und Kinder von 3 bis 7 Jahren zur Hälfte des Fahrpreises befördert – können die deutschen Bestimmungen immerhin als vortheilhaft betrachtet werden. Trägt man aber dem Umstande Rechnung, daß das Reisen im Laufe der Jahre zu einem wirklichen Volksbedürfnisse geworden und daß namentlich in der Ferienzeit eine Reise für schulpflichtige Kinder von nicht zu unterschätzendem Werthe ist, so wird man sich recht wohl eine noch größere Erleichterung wünschen können.

Wie oft mögen Familien genöthigt sein, wegen der heranwachsenden Jugend ihre Reisen einzuschränken oder ganz aufzugeben, und wie oft mögen Kinder, welche die Altersgrenze überschritten haben, zu Hause bleiben müssen, während jüngere Geschwister mitgenommen werden! Ganz abgesehen von der Unzufriedenheit, die hierdurch hervorgerufen werden kann, und von der mangelhaften Aussicht, unter welcher solche Kinder oft zurückgelassen werden, fällt ins Gewicht, daß der Nutzen, welchen das Reisen bringt, gerade erst in dem Alter beginnt, mit welchem die Erschwerung durch die Fahrgelderhöhung eintritt.

Ein Kind unter 10 Jahren wird selten bleibende Eindrücke von einer Reise empfangen; älteren Kindern dagegen dient eine solche als wirksamstes Bildungsmittel. Aber auch als Erholung ist eine Reise unserer von Schulsorgen gedrückten reiferen Jugend zu gönnen. Der hohe Werth der Erholungsreisen für die Entwickelung der Kinder ist unter Anderem in den sogenannten Ferienkolonien zum Ausdruck gekommen: eine Einrichtung, welche von den höchsten maßgebenden Stellen wirksam dadurch unterstützt wird, daß das Fahrgeld erheblich herabgesetzt wurde, in Preußen z. B. um zwei Drittel des gewöhnlichen Fahrgeldes für Kinder.

Es bestehen an mehreren Orten Vereine, welche sich die Aufgabe gestellt haben, für die allgemeine Ermäßigung der Eisenbahnfahrpreise Stimmung zu machen; wir schließen uns diesen Bestrebungen an, indem wir vorläufig einer Hinausschiebung der Altersgrenze für Kinder bis zum vollendeten vierzehnten Lebensjahre das Wort reden. Niemand wird behaupten, daß Kinder von 10 Jahren aufhören Kinder zu sein, oder daß ein Kind von 12 bis 14 Jahren wesentlich mehr Platz beansprucht als ein solches von 8 bis 10 Jahren. Im Verhältniß zu Erwachsenen sind Kinder von 10 bis 14 Jahren keine vollwichtigen Personen und können sehr wohl noch zum halben Fahrpreis zugelassen werden, weil bei der vorgeschlagenen Begrenzung (4 bis 14 Jahre) das Durchschnittsalter 9 Jahre beträgt und weil mit Bezug auf Gewicht und Platz zwei Kinder von 9 Jahren nicht für mehr zu rechnen sind als eine erwachsene Person. Uebrigens bezeichnet auch nach unseren bürgerlichen Einrichtungen das vierzehnte Jahr einen Lebensabschnitt, mit dessen Erreichung die Kinder selbst aufhören wollen, als solche angesehen zu werden.

Zeitungen in Südafrika. Auch der schwarze Erdtheil hat sich der Publicistik erschlossen und nicht gering ist die Zahl der Blätter, welche im Süden Afrikas erscheinen. Eine Veröffentlichung des Aachener Zeitungsmuseums giebt auf Grund einer Sammlung des deutschen Generalkonsuls Dr. Lieber, die derselbe dem Museum einschickte, genaue Auskunft über die Presse jener Gegenden. Die Sammlung besteht aus 95 Nummern: 69 Zeitungen erscheinen in der Kapkolonie, 12 in Natal, 5 in dem Oranjefreistaat und 9 in der südafrikanischen Republik. Nach Sprachen geordnet erscheinen in Südafrika 76 Zeitungen in englischer, 16 in holländischer, 2 in deutscher Sprache („Das Kapland“ in Kapstadt und „Vergißmeinnicht“ in Natal) und 1 in der Kaffernsprache. Die Mittheilungen dieser Blätter sind oft sehr originell. Ein Blatt in Transvaal, „The Barberton Herald“ („Der Herold von Barberton“) enthielt einen Aufruf an die in den Goldfeldern lebenden Deutschen zu einer Feier des neunzigsten Geburtstages des Kaisers Wilhelm. Es ward zu einem Festessen aufgefordert, welches jedenfalls das theuerste von allen Kaiserdiners der Welt war; denn das Kouvert ohne Wein oder sonstiges Getränk sollte 42 Mark kosten. Außerdem wurde in dem Aufruf vorgeschlagen, eine Anzahl verschiedener Quarze, welche sichtbares Gold enthalten, nach Deutschland zu senden, die, zu einer Pyramide verarbeitet, dem Kaiser im Namen der Deutschen in den Goldfeldern überreicht werden sollten.

Die Hundstage. (Mit Illustration S. 437.) Kein Stern strahlt so glänzend am nächtlichen Firmament wie der Sirius im Sternbilde des großen Hundes. Er ist der hellste unter allen Sternen und hat darum seit uralten Zeiten die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gelenkt. Die Forscher der Neuzeit berichten, er sei 1 069 000 Sonnenweiten von uns entfernt, so weit, daß der schnelle Lichtstrahl 16,9 Jahre braucht, bis er von ihm auf die Erde gelangt, und er sei so groß, daß aus seiner Masse etwa 14 Sonnen gleich der unsrigen geformt werden könnten. Im grauen Alterthum warteten die Aegypter ungeduldig auf sein Erscheinen; denn um jene Zeit, wo er in der Morgendämmerung zum ersten Male aus den Strahlen der Sonne emportauchte, begann auch der Segen Aegyptens, die Nilüberschwemmung. Das Wiedererscheinen des Hundssternes am östlichen Himmel bezeichnete dagegen für Griechenland die heißeste Jahreszeit, die Opora, in welcher die Früchte, namentlich Obst und Wein reiften, aber auch, wie schon Hippokrates lehrte, schlimme Gallenkrankheiten herrschten. Einen Monat, vom 23. Juli bis zum 23. August, dauerte die Opora, welche nach dem Hundssterne den Namen der Hundstage erhielt. Auch bei uns werden die Hundstage zu den heißesten des Jahres gezählt; sie waren unseren Vorfahren im Mittelalter so lästig, daß sie während derselben an vielen Orten sogar den Gottesdienst ruhen ließen. Die Gelehrten halten noch heute an der klassischen Ueberlieferung fest und verlegen die Hauptferien in diese Zeit. Im Großen und Ganzen richtet sich das Wetter nicht genau nach dem Kalender; aber heiße Tage bringt uns jeder Sommer, und ein charakteristisches Bildchen der Schweißnoth in der Hundstagshitze, wie es unsere heutige Nummer bringt, schien uns gerade geeignet, um mit ihm die „Sommersaison“ zu eröffnen. *

Ursprung der Polka. Wie das Skatspiel, das jetzt zur unbestrittenen Herrschaft gelangt ist, durchaus kein ehrwürdiges Alter besitzt, sondern erst im Jahre 1835 vom Altenburgischen aus sich in Deutschland verbreitet hat: so ist auch der beliebteste Salontanz, die Polka, ein Kind dieses Jahrhunderts, ungefähr gleichaltrig mit dem Skat; denn am Anfang der dreißiger Jahre tanzte ein junges Bauernmädchen in Elbeteinitz in Böhmen diesen selbsterfundenen Tanz und sang dazu eine passende Melodie, welche der dortige Lehrer, Joseph Neruda, niederschrieb. Bald darauf wurde der Tanz zum ersten Male in Elbeteinitz öffentlich getanzt. Um das Jahr 1835 geschah das auch in der Hauptstadt Böhmens, und wegen des in ihm vorherrschenden Halbschrittes erhielt er von dem tschechischen Worte pulka, die Hälfte, den Namen: „Polka“. Vier Jahre später wurde er durch das Musikkorps der Prager Scharfschützen in Wien verbreitet. Im Jahre 1840 tanzte ihn ein böhmischer Tanzlehrer, Raab, auf dem Odeontheater in Paris, und dort wurde er bald in allen Salons heimisch.

So ist die Polka tschechischen Ursprungs und vielleicht das Einzige, was auf dem Kulturgebiete die Deutschen den Tschechen verdanken, welche ihrerseits der deutschen Bildung, so sehr sie’s ableugnen mögen, soviel zu danken haben.

Die wachsende Bedeutung des Pumpernickels. Dem Magistrat der Stadt Osnabrück gebührt das Verdienst, das über den ganzen Erdball verbreitete Dessertbrot, welches unter dem Namen Westfälischer Pumpernickel bekannt ist, als Gebäck eingeführt zu haben. Dieses „Bonum paniculum“ wurde zuerst, vor vielen Jahrhunderten, bei Gelegenheit einer Hungersnoth in Osnabrück als Massenernährungsmittel gebacken und verbreitete sich bald über ganz Westfalen. Die Zubereitungsweise dieses Gebäcks war unverändert stets dieselbe: dies bezeugt auch das zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges erschienene berühmte Buch „Simplicius Simplicissimus“. Westfalen ist das Vaterland des Pumpernickels geblieben; denn außerdem giebt es nur noch in Moabit bei Berlin eine Fabrik, die dort seit vierzig Jahren besteht, Sökeland und Söhne, die aber auch aus Westfalen stammt. Jetzt richten nun auch Armeeverwaltungen ihr Augenmerk auf den Pumpernickel. Bei einer vorgenommenen Prüfung ergaben Hamburger Schwarzbrot 25,26%, Berliner Schwarzbrot 24,31%, Weißbrot feinster Art 20,59%, Westfälischer Pumpernickel 38,71% und Moabiter Pumpernickel 49,52% leichtlösliche Nahrungsstoffe. Es dürfte der bisher nur als Dessertbrot betrachtete Pumpernickel, welcher zur Zeit mit Benutzung von Maschinen und technischen Erfindungen hergestellt wird und mit der Schmackhaftigkeit auch vorzügliche gesundheitliche Eigenschaften verbindet, einer sich fortwährend steigernden Verwendung entgegen gehen.

Schuldverschreibung. (Mit Illustration S. 440 und 441.) Kein größerer Gegensatz, als das steinerne gefühllose Antlitz des Wucherers auf unserem Bilde, der, anscheinend in die Zeitungslektüre vertieft, den Mann in seinem Arbeitskabinet auf das Schärfste fixirt, und die schmerzergriffenen Züge des bedrängten Mannes, der in der Schuldverschreibung, die er ausstellt, offenbar sein letztes Hab und Gut dem unbarmherzigen Gläubiger verpfändet. Die weinende Frau im Hintergrunde macht jeden Kommentar überflüssig. Mit welchen Gefühlen wird der arme Mann zu Hut und Stock greifen, um den Heimweg anzutreten! Er weiß, daß er jetzt nichts mehr sein eigen nennen kann: mitleidslos aber wird der hartherzige Geschäftsmann seinen Profit einstreichen.

Ein Franzose über die deutschen Frauen. Jean Graud-Carteret, welcher bereits ein Buch über die „Karikatur in Deutschland“ veröffentlicht hat, schrieb jetzt ein Werk über „Die Frau in Deutschland“, das er allen Französinnen und seiner eigenen Gattin gewidmet hat. Sein Urtheil ist überaus günstig und die Pariser Chauvinisten werden damit wenig einverstanden sein. Den deutschen Frauen rühmt er nach, daß ihr Reich das Haus und die eigene Familie sei, daß sie gute Wirthinnen seien, an der Behaglichkeit des Hauswesens immer weiter arbeiten, im Kleinen sparen und selbst den Strickstrumpf in die Hand nehmen, daß sie ernste Gespräche führen und harmlos lachen können. Was die Mädchen betrifft, so hebt er hervor, daß sie frei mit den jungen Männern verkehren, ganz anders als in Frankreich, wo die Mädchen ja meist in den Pensionaten eingesperrt sind und in den Familien aufs Sorgfältigste behütet werden. [452] Dieser ungezwungene Verkehr habe aber gar kein Bedenken; denn die Schwärmerei der Mädchen sei durchaus unschuldiger Art, und außerdem gingen sie nicht darin auf, sondern gleichzeitig sei ihr Sinn dem Praktischen zugewendet. In der That, ein so unbefangenes und wahrheitsgemäßes Urtheil würde man vergeblich in den Schriften von Tissot, von Paul Saint-Victor und andern Autoren suchen, die über Deutschland geschrieben haben und zu dem deutschen Gretchenideal meistens böswillige Glossen zu machen lieben.

Die Schmeichler. (Mit Illustration S. 449.) In den Sitten und der Lebensweise der Spanier außerhalb der großen Städte und zumal im südlichen Theile ihres Landes hat sich seit drei Jahrhunderten wenig verändert. Eine Venta, das ist eine Trinkwirthschaft an der Landstraße, wie sie unsere Illustration nach dem Vinea’schen Bilde zeigt, ist heute noch von so primitiver Art, wie sie zur Zeit Philipp’s II. war: nicht viel besser als ein Keller über der Erde, in den die heiße Sonne keinen Zugang finden soll und in den nur durch die Thür oder ein kleines Fenster das Tageslicht gebrochen hineinfällt. Giebt’s keinen rohen Tisch, so ersetzt ein Weinfaß mit seinem Boden denselben; ein paar Schemel, ein Gestell für die mit Binsen umflochtenen langhalsigen Bauchflaschen, in die aus dem Bockbeutel der Landwein gefüllt wird, sei es rother herber, oder weißer süßer; ein großer Cantaro, ein maurisch überlieferter Wasserkrug in einer Ecke: das ist beinahe Alles, was sich da vorfindet. Hier halten die Gäste ja auch nur kurze Rast, um ein Glas zur Stärkung und Kühlung zu nehmen. Die drei Capitanos unseres Bildes haben sich denn auch nicht besonnen, als sie ihr Ritt an der Venta des alten Pietro vorüberführte, ihre Rosse vor dem niedrigen Steinhause anzubinden und dann in die Schänke zu treten. Von früher her, ehe sie mit in den sicilischen Krieg gezogen, war ihnen diese Venta wohlbekannt, hatten sie manchen Tropfen da durch die durstige Kehle gejagt.

Damals war Pietro’s Tochter noch ein junges, wildes Ding gewesen. Jetzt treffen sie dieselbe, und zwar allein, als eine verheirathete Frau wieder. Der Alte ist todt; der Mann, der sie geheirathet hat, ist auf dem Felde. Aber sie hat eine Art, den Wein zu kredenzen und mit den Leuten zu plaudern, die den drei Rittern das Wiedersehen mit ihr noch anregender macht. Der Eine namentlich hat sein Gefallen an ihr und sagt ihr in seiner Weise, in Vertraulichkeit von früher her, die angenehmsten Dinge, die er ihr sagen kann: was sie für ein sauberes Weibchen geworden, wie ihr noch immer mucha sel, viel Salz, in den schwarzen Augen sitze (eine viel gebrauchte galante, andalusische Phrase), und wie sie früher manchem jungen Kerl den Kopf verdreht habe. Dem und dem – ja, ja, sie denkt daran und lächelt bei der Erinnerung und verjüngt sich gleichsam darin in natürlicher Koketterie. Und die beiden anderen Zecher hören den Neckereien ihres Kameraden mit Vergnügen zu, beobachten mit der Theilnahme erfahrener Männer die Wirkung der Schmeichelreden auf die Wirthin und geben auch ihr Salz dazu. Inzwischen wird mit höherem Behagen eine Flasche nach der anderen geleert, und jedem Theil thut’s wohl, was er damit einnimmt. Welch einen freundlichen Blick werden die Drei von dem Weibe erhalten, wenn sie nach der heiteren Stunde in der Venta wieder auf ihre Rosse steigen! Oft kommt ja solche Gesellschaft nicht dahin und hört die Wirthin aus solchem Munde nicht so viel Schmeichelhaftes. Das hat ihr einen absonderlich guten Tag bereitet!

Aus der Schule des Lebens betitelt sich ein neues Buch von Emma Laddey, welches wir den ernster denkenden Frauen und Mädchen warm empfehlen. Eigene Lebensresultate und Ueberzeugungen wirken hier in der anmuthig fesselnden Darstellungsweise, und die unabweisbaren Aufgaben der Frau im modernen Leben sind mit den alten, tiefbegründeten Gesetzen einer edlen Weiblichkeit in vollkommenen Einklang gebracht. Es ist die wahre Emancipation, die hier durch vier charakteristische Lebensläufe gepredigt wird: die Emancipation von Denkträgheit, Engherzigkeit und Egoismus, die Gewöhnung an aufopferndes Handeln und muthvolles Entsagen. Die erste Novelle: „Bezwungen“ interessirt sehr durch die eigenartige Auffassung des vielumstrittenen Problems von künstlerischem Frauenberuf; die letzle: „Erstorben“ malt mit ergreifenden Farben das schwerste Schicksal im Frauenleben, die Untreue des geliebten Mannes. Auch „Jugendliebe“ wirkt sehr anziehend, frisch dem Leben heraus geschrieben, mit einer Fülle vortrefflich gezeichneter Situationen. Wir wünschen diesem neuen Werk der beliebten Verfasserin die weiteste Verbreitung.

Skat-Aufgabe Nr. 9.
Von K. Buhle.

Wenn sowohl in Mittelhand wie in Hinterhand auf folgende Karte:

(tr. 8.) (p. Z.) (p. 8.) (p. 7.) (c. B.) (c. 8.) (c. 7.) (car. D.) (car. 9.) (car. 7.)

ein Null ouvert bei richtigem Gegenspiel dergestalt verloren geht, daß der Spieler nicht nur auf (car. D.) sondern auch auf (tr. 8.) jedesmal den 5. Stich nehmen muß, mag nun der Gegner zur Rechten oder der Gegner zur Linken die Vorhand haben: wie müssen da die übrigen Karten vertheilt sein? Und wie ist in den 4 Fällen der Gang des Spiels?

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 8 auf S. 416:

Die Mittelhand wird Grand mit 94 Augen gewinnen, wenn die übrigen Karten so vertheilt sind: Skat: e7, r7.

Vorhand: eZ, gK, gO, g8, g7, rK, rO, r9, r8, sZ.
Hinterhand: eW, rW, eK, eO, e9, e8, gZ, rZ, sK, sO.

denn es folgt:

1) g7, gD, gZ (+21);
2) sD, sO, sZ (+24).
3) eD, e8, eZ (+21)!
4) rD, rZ, r8 (+21).
5) s9, sK, rK (−8).

und Hinterhand kann spielen, was sie will, der Spieler muß bei richtigem Spiel mindestens noch 7 Augen bekommen. Dasselbe Resultat ergiebt sich nur mit Umstellung der Stiche, wenn die Vorhand im ersten Stich anstatt g7 irgend ein anderes Blatt ihrer Karte anspielt.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

J. B. in B. Wenn Sie durchaus Neigung fühlen, sich der darstellenden Kunst zu widmen, so ist ein Alter von 19 Jahren durchaus kein Hinderniß. Es haben schon viel ältere Novizen später große Erfolge errungen. Wir glauben, daß Einzelunterricht bei guten Lehrern und Lehrerinnen förderlicher ist als ein Kursus auf Theaterschulen; doch läßt sich dies im Allgemeinen schwer entscheiden; es kommt eben auf die Lehrer und die Anstalten an. Warum die Tochter des berühmten Devrient keine höhere Stufe der Kunst erreicht hat, ist uns unbekannt. In der Regel wirken für den Erfolg auf der Bühne sehr verschiedene Faktoren zusammen und auch das Glück spielt dabei seine Rolle wie in allen menschlichen Dingen.

B. in K. Die St. Canzian-Grotte, die sich längs dem unterirdischen Lauf der Reka hinzieht und deren ausführliche Schilderung die „Gartenlaube“ S. 468, Jahrg. 1886 gebracht hat, ist nunmehr auch Touristen zugänglich gemacht worden. Der neue Weg ist am 1. Mai eröffnet worden. Die Illumination der unterirdischen Gänge und Dome machte auf die Festtheilnehmer einen überwältigenden Eindruck. Die berühmte Adelsberger Grotte wird im Laufe dieses Sommers für Touristen elektrisch beleuchtet.

Petersburg 100. Die „Weinblüthe“ gehört gegenwärtig zu den bevorzugtesten Parfums. Die Blüthe des Weinstockes duftet äußerst lieblich und ziemlich stark. Ihr Duft vermag an windstillen warmen Abenden ein an ein Weinspalier anstoßendes Zimmer zu parfumiren.

August F. in H. Die Erderschütterung, welche durch das Erdbeben an der Riviera vom 23. Februar d. J. verursacht wurde, pflanzte sich sehr weit fort. Man konnte sie bis nach Köln und Wilhelmshaven verfolgen; sie war dort allerdings so schwach, daß nur durch die feinsten Beobachtungsapparate ihr Vorhandensein bestätigt werden konnte. Köln ist in gerader Linie etwa 300 Kilometer von Wilhelmshaven entfernt; die Erschütterungswelle brauchte, um die Entfernung zurückzulegen, die Zeit von 3,4 Minuten.

A. D. in Elberfeld. Lesen Sie die Artikel „Die Elektricität im Dienst der Heilkunde“, „Gartenlaube“ 1886; S. 432 und 508.


Inhalt: Der lange Holländer. Novelle von Rudolph Lindau. S. 437. – Ueber chronische Katarrhe der Athmungswege. Von Dr. M. A. Fritsche, Specialarzt in Berlin. Der chronische Rachenkatarrh und sein Einfluß auf die Stimme. S. 442. – Blühende Dornen. Gedicht von Karl Schäfer. S. 443. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. VII. 1. S. 444. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Mit Illustration. S. 445. – Magdalena. Von Arnold Kasten (Fortsetzung). S. 446. – Blätter und Blüthen: E. Marlitt †. S. 450. – Eine neue Schwarzwaldbahn. S. 450. – Eisenbahnreisen der Kinder. S. 451. – Zeitungen in Südafrika. S. 451. – Die Hundstage. S. 451. Mit Illustration S. 437. – Ursprung der Polka. S. 451. – Die wachsende Bedeutung des Pumpernickels. S. 451. – Schuldverschreibung. S. 451. Mit Illustration S. 440 und 441. – Ein Franzose über die deutschen Frauen. S. 451. – Die Schmeichler. S. 452. Mit Illustration S. 449. – Aus der Schule des Lebens. S. 452. – Skat-Aufgabe Nr. 9. Von K. Buhle. S. 452. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 8 auf S. 416. S. 452. – Kleiner Briefkasten. S. 452.


Soeben erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Sankt Michael. Roman in zwei Bänden von E. Werner.
Elegant broschirt Mk. 7.50. Elegant gebunden Mk. 8.50.

Ein Held der Feder. Gartenlaubenblüthen.
Roman von E. Werner.
Dritte Auflage.
Eleg. brosch. Mk. 5.–. Eleg. geb. Mk. 6.–.
Von E. Werner.
Dritte Auflage.
Inhalt: „Verdächtig.“ – „Hermann“.
Eleg. brosch. Mk. 4.–. Eleg. geb. Mk. 5.–.
In Folge vielfach an uns gerichteter Wünsche haben wir uns entschlossen, diesen Roman, welcher bisher mit der Novelle „Hermann“ unter dem Titel „Gartenlaubenblüthen vereinigt war, nunmehr separat erscheinen zu lassen. In dieser neugestalteten Auflage der „Gartenlaubenblüthen“ bringen wir zum ersten Mal in Buchform die Novelle „Verdächtig“ zusammen mit der auch in den beiden ersten Auflagen enthaltenen Novelle „Hermann“.
Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Unter Nervenreflex versteht man die gewissermaßen telegraphische Uebertragung des Reizzustandes eines Nervengebietes auf ein mehr oder weniger entlegenes Nervengebiet, so sind z. B. das Augenthränen bei Reizung der Geruchsnerven, der Niesreiz bei starker Blendung, der Hustenreiz beim Bohren im äußeren Gehörgang durch Nervenreflexe bedingt.