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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[197]

No. 13.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Herzenskrisen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Mademoiselle in ihrem rauschenden Seidenkleide trippelte neben Alfred her, das Herz voll Zorn über diese spießbürgerlichen Ansichten. Er ging langsam, den Hut in der Hand, als sei es ihm zu heiß, ohne zu sprechen, nur hier und da einen „Guten Abend!“ erwiedernd, der ihm von einer Bank vor den Hausthüren her zugerufen wurde. Als sie an dem Eckhause der Wasserstraße vorüber kamen, an der Apotheke zum „Goldenen Elefanten“, trat eine große lichte Gestalt heraus auf die Straße, und in dem hellen Schein, der durch die Fenster strahlte, erkannte Adler den Besuch seiner Mutter, Fräulein Selma. Sie stand, ohne ihn zu bemerken, und sah glücklich lächelnd durch die Scheiben zurück, hinter denen ein zierlicher junger Herr mit schwarzem Schnurrbärtchen beschäftigt war, eine Flasche Medicin zu pfropfen und mit buntem Papier zu verbinden. Dann ging sie eilig in der Richtung seines Hauses fort.

„Gute Nacht – mille remerciments, Doktor!“ sagte Mademoiselle vor der Pforte des Meerfeldt’schen Grundstückes. „Vergessen Sie uns Einsame nicht!“

„Schlafen Sie wohl, Mademoiselle; ich werde meine Pflicht als Hausarzt gewissenhaft erfüllen.“

Als er zurückkam, schritt er mit einem ruhigen „Guten Abend!“ an der Laube vorbei, aus der jetzt Fräulein Selma’s helles Kleid leuchtete.

„Alfred!“ rief die Mutter.

„Ich bitte um meine Lampe,“ scholl es aus der Hausthür zurück, „ich habe zu arbeiten.“

Dettchen brachte eilig das Verlangte, ließ die Vorhänge herab und entfernte sich, auf den Fußspitzen gehend. Er saß dann an seinem Schreibtisch vor einem angefangenen Berichte über die Beschaffenheit des Trinkwassers hiesiger Stadt, den Bau einer Wasserleitung betreffend; aber er hielt die Feder in der Hand, ohne sie einzutauchen.

Sie ging nicht zurück zu den mutterlosen Kindern, sie hatte nicht einmal die Absicht dazu gehabt! Sie folgte Hortense als Gesellschafterin, als Freundin in das vornehme Leben des reichen Hauses.

Wie würde es gehen zu Woltersdorf? – Da war sie schon wieder, die Sorge um sie! – Was ging sie ihn noch an? Und hastig tauchte er die Feder in das große Porcellantintenfaß und schrieb:

„In dem Wasser des Rathhausbrunnens zum Beispiel entdeckte ich bei der gestrigen Untersuchung eine erhebliche Menge salpetriger Säure –“

Es war zwei Uhr Morgens, als er einen Strich darunter machte, um sich zur Ruhe zu begeben.




Acht Tage waren vergangen, da hielt Lucie einen Brief in der Hand, auf den Hortense mit ihren riesigen Buchstaben die Adresse geschrieben.

Hermine Spies.

[198]  „Meine Luz!

Bitte, packe umgehend Deine nöthigsten Sachen und komme. Wir sind bereits seit zwei Tagen auf Woltersdorf: ich hielt es nicht mehr aus in Frankfurt zwischen den mir doch sehr fremden Menschen, die mich wie ein Meerwunder begafften und von einem Diner zum andern zerrten. Der einzige Lichtstrahl ist seine Mutter. Dafür erfreut er sich einer jung verheiratheten Schwester, die mich durch ihre Neugier aus einer Aufregung in die andere trieb. Sie wich nicht von meiner Seite und hätte am liebsten gesehen, ich führte meine Vergangenheit in photographischen Aufnahmen bei mir.

‚Wem siehst Du ähnlich, Hortense, Deinem Vater oder Deiner Mutter?‘

‚Wo lebt Dein Papa jetzt?‘

‚War er auf der Hochzeit?‘

‚Was hattest Du für ein Brautkleid?‘

‚Nicht wahr, Dein Vater war Officier?‘

Weber hatte natürlich so viel zu thun – er war ja fast während eines Jahres auf unseren Spuren – nach der langen Trennung seiner Mama zu berichten, wie es ihm ergangen, daß er meine Situation nicht bemerkte. Da erklärte ich am vierten Abend unseres Dortseins, ich wollte fort.

‚Wohin?‘

‚Es ist mir gleich, nur fort.‘

‚Dann nach Hause,‘ sagte er. – Ich glaube, er hatte Lust, die Sache etwas übelzunehmen, ich beachtete es aber gar nicht. So kamen wir denn hier an.

Woltersdorf ist so nett, wie ich es noch in der Erinnerung hatte; am meisten freute ich mich, als mir der Goldfuchs und die ‚Hella‘, die einen Tag vor uns mit Gerd eingetroffen waren, entgegen wieherten; mein erster Gang war in den Stall. – Dein Zimmer habe ich heute früh ausgesucht, vor den Fenstern plätschert ein Springbrunnen, eine steinerne Nymphengesellschaft lagert um denselben her im Schatten alter Linden; es ist Rokoko, echt Rokoko. Komme bald, Luz! Deine Sachen laß durch Minna verpacken, sie mögen mit meinen Kisten und Kasten hergeschickt werden. Telegraphire, mit welchem Zuge Du kommst, ich hole Dich von

der Haltestelle ab.
Deine Hortense.“ 

Lucie stand bereits am andern Morgen reisefertig vor Mademoiselle, die kleine Dame hatte Kopfschmerzen und war zum Weinen aufgelegt.

„Grüßen Sie mir Hortense, Lucie, vergessen Sie nicht zu schreiben! Denken Sie, daß wir hier leben wie in einer Gruft, der Baron und ich, und daß Madame und Monsieur die Verpflichtung haben, uns zu besuchen. Leben Sie wohl! Ich begleitete Sie gern zum Bahnhof, aber ich fürchte, meine Nerven halten es nicht aus.“

Sie küßte des Mädchens Stirn und wandte sich schluchzend ab. Lucie ging, um dem Baron Adieu zu sagen.

Als sie die Thür öffnete, erblickte sie Doktor Adler beim Glase Wein mit dem alten Herrn.

„Ah, Sie kommen, Abschied zu nehmen!“ rief er. Lucie trug eine kleine Reisetasche am Riemen über der Schulter und einen leichten Mantel über dem Arme. Und er streckte ihr die Hand hin. „Leben Sie wohl, liebes Kind, alles Glück für Schloß Woltersdorf und seine Bewohner!“

Sie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. „Adieu!“ stammelte sie, und ihre Hand aus der des Barons befreiend, wendete sie sich rasch um und schritt der Thür zu. Sie hörte, wie Adler den Stuhl wieder heran schob, von dem er aufgestanden, und in einem unterbrochenen Gespräche fortfahrend zu dem alten Herrn sagte: „Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, Herr Baron“ –. Es klang völlig ruhig. Die unbewegte tiefe Stimme tönte ihr noch in den Ohren, als sie, schon meilenweit entfernt von Hohenberg, sich dem Ziele ihrer Reise näherte.

Es war gegen Abend, als sie anlangte auf der kleinen Haltestelle, die mitten im freien Felde lag. Auf dem kiesbestreuten Platze vor dem hölzernen, vorn offenen Gebäude stand Hortense in staubgrauem Leinenkleide, hinter ihr ein Diener. Sie spähte zu den ersten Wagen hinüber und merkte es nicht, daß am Ende des Zuges ein junges Mädchen ausstieg und zu ihr eilte.

„Hortense!“ rief es neben ihr, und die Beiden hielten sich in den Armen, als seien sie jahrelang getrennt gewesen.

„Wie geht es Dir?“

„Und Dir?“

„Und bist Du gern gekommen, Luz?“

„O, so gern!“

Sie saßen dann in dem eleganten Landauer und fuhren in raschem Trabe durch den duftigen dämmernden Sommerabend der neuen Heimath zu.

„Entschuldige, daß Weber Dich nicht begrüßte; er wollte kommen – ich weiß nicht, wo er geblieben, er hat sich mit solchem Eifer auf die Wirthschaft gestürzt –“

„O bitte, Hortense!“ Und Lucie sah in das schöne Gesicht der jungen Frau, über dem ein müder Zug lag. „Wie freue ich mich auf Deine Heimath!“ sagte sie, Hortense’s Hand fassend.

„Wir sind gleich da, dort sieht schon das Dach über den Bäumen hervor.“

Sie fuhren jetzt hinter dem Dorfe herum und bogen in eine dunkle Lindenallee, am Ende schimmerte es licht. In dem letzten rosigen Tagesscheine sah Lucie weite Rasenplätze, prachtvolle Baumgruppen, die sich in Wasserflächen spiegelten, und altersgraue Sandsteinfiguren. Sie befanden sich im Park. Nun lag vor ihnen ein weißes Schlößchen, steinernes Blumengerank und eben solche Arabesken umschlangen Thüren und Fenster, verschnörkelt, kraus und unregelmäßig, und doch unendlich reizvoll lag diese Laune einer lustigen heiteren Zeit inmitten der ernsten grünen Umgebung. Blau und weiß flatterte eine Fahne im Abendwind und blau und weiß war das Zelt auf dem Rasenplatz und das Schutzdach über der Auffahrt – Hortense’s Lieblingsfarben.

Vor dem weit geöffneten Portale hielt der Wagen, der Diener half den Damen beim Aussteigen, ein Mädchen in weißem Häubchen und blendend weißer Schürze sprang herzu und nahm das leichte Reisegepäck Luciens in Empfang.

„Willkommen!“ sagte Hortense noch einmal und küßte sie auf den Mund. „Jetzt ist mir schon ganz traut und heimlich, nun Du da bist.“

Sie faßte Lucie an der Hand, und so stiegen sie die weißen, mit blauem Teppich belegten Marmorstufen hinauf. Ueberall Stuckverzierungen, neben ihnen, über ihnen, und Deckengemälde in zarten Farben, und überall wiederholte sich an Wanddekorationen und Malereien ein Schmetterling, bald weiß, bald vergoldet, bald in matter blauer Farbe, um eine Rose flatternd.

„Allerliebst!“ sagte Lucie bewundernd, „was bedeutet dieser Schmetterling?“

„Der Erbauer dieses Schlosses hieß bei Hofe ‚le papillon‘,“ erklärte Hortense; „die Herrschaften hatten einen Orden gestiftet – das sind nun annähernd hundertundsechzig Jahre her – der hieß ‚des Hermites de bonne humeur‘, sie trugen Pilgerkleider von braunem Taffet, blumenbekränzte Hüte und rosenroth bebänderte Stäbe. Geistreich und lebenslustig, amüsirten sie sich wie die Götter. Das Ordenszeichen war eine Schleife von weißem Band mit der Devise: ‚Vive la joie!‘ Sie gaben sich lauter neckische unsinnige Namen, der liebenswürdige Graf R. hieß also der ‚Schmetterling‘ und hat den lustigen Eremiten die brillantesten Feste hier gegeben. Du kannst dieses harmlose Emblem an allen Zimmerdecken, auf allen Bildern und Möbeln wiederfinden. Bitte, Lucie, hierher.“

Sie waren durch ein kleines Entrée geschritten, und Hortense öffnete linker Hand eine weißlackirte Thür. „Möge es Dir gefallen!“

„O Hortense, wie schön!“ sagte Lucie.

Sie standen auf einem spiegelglatten Parkett; weißer, mit Rosenbouquetts bedruckter baumwollener Stoff bekleidete die Wände, das Himmelbett, die Polsterstühle. Ein Marmorkamin mit Spiegel, verschnörkelte weißlackirte Möbel, unter der Decke eine rosa Ampel und durch die Fenster die rosige Beleuchtung des Abends – es war wie ein Märchen.

Hortense setzte sich in eins der kleinen Sesselchen. „Mach’ es Dir bequem,“ sagte sie und nahm den Hut ab, „ich warte auf Dich, dann können wir speisen. – Ist Herr Weber daheim?“ fragte sie das Mädchen, das Luciens Sachen eben brachte.

„Der Herr ist noch nicht zurück!“

„Thut nichts – wir wollen in einer Viertelstunde essen; bestellen Sie es unten!“

Lucie machte eilig ihren Anzug ein wenig zurecht, bürstete den Reisestaub ab und ordnete die blonden Haare. „Mir ist’s, [199] als passe ich gar nicht in diese bunte Pracht,“ sprach sie und sah traurig lächelnd auf ihr schwarzes Kleid herunter.

„Wie sagtest Du?“ fragte Hortense, die an etwas Anderes gedacht hatte. Und ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie hinzu: „Komm, Lucie, mich hungert.“

Gehorsam folgte das Mädchen. Sie war ganz verwirrt von der üppigen koketten Einrichtung dieser Räume. Hortense’s Salon und Boudoir waren mit blau und weiß gewirkter Seide dekorirt, altes Meißner Porcellan, wunderliche Uhren standen umher, an denen wieder der Schmetterling sein Wesen trieb. Dazu spiegelblanke Parquetts, an den Decken Schäferscenen à la Watteau. Dem Eßsaal und dem daranstoßenden Zimmer des Hausherrn hatte man mit dunklen Farben einen mehr soliden Anstrich gegeben. In Letzterem bekleideten die Wände alte kostbare Gobelins, Jagdscenen darstellend, den Boden deckte ein einfacher grüner Teppich, in welchen der Fuß wie in schwellendes Moos versank. Das in vergoldeter Stuckguirlande eingefaßte Deckengemälde, gegen welches der Schein der Hängelampe strahlte, zeigte die Göttin Diana, welche den Hirsch verfolgte. Möbel aus dunklem Holze, grün bezogene Schränke, hinter deren Glasscheiben prachtvolle Gewehre sichtbar wurden, und auf grüner Tuchplatte des offnen Schreibtisches die Photographie einer alten Dame mit silberweißem Scheitel.

„Wie schön habt Ihr es,“ sagte Luceie, als sie wieder in dem kleinen Boudoir Hortense’s standen, „ich werde mich gar nicht an diese Herrlichkeit gewöhnen können.“

Hortense sah ungeduldig nach der Uhr, die auf dem Kamin tickte, sie wies auf nahezu Acht.

„Wenn er nicht bald kommt –“ sagte sie.

„O, laß uns warten, erzähle mir von Dir, Hortense.“

„Was ist da zu erzählen, Luz!“ erwiederte die junge Frau, „ich schrieb Dir ja schon.“

„Ich dachte Dich heiterer zu finden.“

„O, ich wüßte nicht – bin ich es nicht? Ich fühle mich ganz zufrieden, ich habe es ja so gewollt.“ Sie stand mit dem Rücken gegen das Fenster, Lucie konnte ihr Gesicht in der tiefen Dämmerung nicht erkennen.

Durch das anstoßende Zimmer kamen rasche Schritte; im nächsten Augenblick trat der Hausherr ein. „Ich bitte tausend Mal um Entschuldigung,“ sagte er zu Hortense herübereilend, „aber warum hast Du nicht noch ein kleines Weilchen gewartet? Ich war zwei Minuten nach der verabredeten Zeit auf der Haltestelle; am Ende der Chaussée verschwand eben Dein Wagen, und da ich das Pferd leichtsinnigerweise bereits zurückgeschickt hatte, so mußte ich zu Fuße gehen. Ist Fräulein Walter eingetroffen?“

Sie wies zu Lucie hinüber. „Dort! Und wir wollen essen.“

Er begrüßte das junge Mädchen und bot dann Hortense den Arm. Sie saßen bald darauf an dem runden Tisch im Speisezimmer. Lucie mußte berichten, wie es dem Baron ergehe und wie er die Trennung ertragen; Hortense sagte kaum ein Wort. Als die Rede auf Woltersdorf kam und schließlich auf seine Umgebung, bemerkte Weber: „Wir müssen auch gelegentlich unsere Besuche machen, Hortense, ich habe bis jetzt in allen Familien verkehrt.“

„Ich liebe keine große Gesellschaften Waldemar,“ erwiederte die junge Frau, „bitte, verschone mich damit!“

„Ich glaube, das kann ich nicht, liebes Kind.“

„Aber was gehen mich diese Menschen an? Ich will nicht, Waldemar.“

„Wenn Du nicht willst, Hortense,“ und ein leichtes Roth färbte ihm die Stirn, „ist die Sache entschieden, ich kann Dich nicht mit Gewalt in den Wagen heben und werde es ertragen müssen, daß mein Haus eine Art Einsiedelei wird.“

„Das ist das Allerbeste!“ erklärte Hortense und klingelte nach dem zweiten Gang.

„Ich fürchte nur, Dir wird diese Einsamkeit am allerersten lästig, es ist öde auf dem Lande ohne die guten Freunde und getreuen Nachbarn.“

„Oede? Ich habe ja Lucie, mein Klavier, meine Malerei und die Pferde.“

Er lachte leise, während er Wein eingoß. Lucie verstand ihn, es war kein lustiges Lachen; Hortense hatte Alles aufgezählt, was sie besaß – von ihm war keine Rede.

„Nous verrons,“ sprach er ruhig, ich halte es aus, denn ich habe Dich, Hortense, und wenn ich sehe, daß Du Dich wohl fühlst in Deinem Hause, so werde ich den Umgang nicht vermissen. Also, meine Damen: der wieder auferstandene Orden des Hermites de bonne humeur! Möchte uns die gute Laune eben so treu bleiben wie denen, die hier vor uns gelebt haben!“

Er trank, indem er über das Glas hinweg die schöne Frau anschaute, die keine Miene verzog bei dem Scherz.

In diesem Augenblick erschien hinter dem Diener eine kleine starke Frau, das freundliche Gesicht von weißer Haube umrahmt, eine große weiße Schürze um die Hüfte und ein gewichtiges Schlüsselbund an der Seite.

„Bitte viel tausendmal um Verzeihung,“ begann sie nach einem altmodigen Knix, „bringe nur der Gnädigen das Wirthschaftsbuch.“

Sie legte ein Buch neben Hortense’s Teller und trat zurück. „Wollen es die gnädige Frau später nachrechnen? Und dann möchte ich bemerken. daß die Milch abgeschlagen hat; die Frau hat überall nur den Marktpreis bekommen in der Stadt.“

Hortense rührte das Buch nicht an. Waldemar nahm es und blätterte darin.

„Es wird ja stimmen,“ sagte die junge Frau ungemüthlich; „ich verstehe davon nichts.“

Da schlangen sich zwei Arme um ihren Hals. „Laß mich das übernehmen, Hortense, bitte! bitte! Es ist so schwer für mich, unthätig zu sein.“

„Aber wozu denn? Ich traue der Frau Rein vollständig.“

Die Alte knixte wieder. Viele Ehre, gnädige Frau, aber verzeihen Sie, man muß der Herrschaft Rechnung legen können, es gehört sich so. Ich war zehn Jahre bei der Gräfin Hagen und die Frau Gräfin haben jede Woche ihr ‚In Ordnung‘ unter mein Buch geschrieben.“

„Bitte, bitte, Hortense!“ wiederholte Lucie. „Nicht wahr, Frau Rein, wir werden schon fertig mit einander?“

„Warum denn nicht, wenn die Herrschaft befiehlt, daß ich mich an Sie zu wenden habe?“

Hortense schob Lucie das Buch hin: „Da, wenn Du es willst!“

„Belieben die gnädige Frau den Küchenzettel für morgen?“

Hortense zeigte auf Lucie. „Hier, Frau Rein.“

„O, wir werden das später immer in meinem Zimmer überlegen, Frau Rein,“ sagte das Mädchen, dem zum ersten Male heute froh um Herz wurde. „Bestimmen Sie nochmals, von morgen ab sollen Sie mich pünktlich in meinen Pflichten finden.“

„Sehr wohl!“ erwiederte die Frau und ging hinaus. Waldemar hatte kein Wort gesprochen, er saß mit ernster Miene vor seinem Teller und streute Zucker über einige Erdbeeren.

„Ist Dir Derartiges wirklich so unangenehm, Hortense?“ fragte er.

„Ich verstehe es nicht,“ erwiederte sie, indem sie aufstand.

Man wünschte sich „gesegnete Mahlzeit!“

„Hortense,“ bat er, „singe ein Lied, ich glaube, Du hast den Blüthner’schen Flügel drüben noch gar nicht aufgeschlagen.“

„Ich will es versuchen,“ erwiederte sie, „komm, Lucie.“

Die Fenster des ziemlich großen Salons standen offen; jetzt lugte der Mond herein und streifte die Bilder auf der rothseidenen Tapete, und die in die Wände eingelassenen Spiegel, deren blumige geschnörkelte Rahmen Amoretten krönten.

„Kein Licht!“ sagte Hortense und winkte dem Diener, der mit zwei Lampen eintrat.

Lucie setzte sich still an das offene Fenster, wo Weber geblieben, das konnte sie nicht entdecken, vielleicht im Schatten der seidenen Vorhänge auf einem der kleinen Sofas. Hortense saß vor dem Flügel inmitten des dämmernden Raumes.

„Was soll ich singen?“ sprach sie, während ein Notturno von Chopin unter ihren Fingern erklang. Sie wandte dabei den Kopf zu Lucie.

„Was Du willst.“

Bald darauf hallte ihre wunderbar weiche Stimme durch den Raum. Sie begann ein Schubert’sches Lied und brach wieder ab. Dann eines von Brahms, es ging eben so, es war, als quelle ihr etwas im Halse empor. Sie stockte einige Male. „Ich will ein Lied singen, wie es sich für Leute vom Orden der guten Laune paßt,“ sagte sie und begann.

„Ein Bauer hatt’ ein Taubenhaus –“

[200] Auch das wurde nicht fertig gesungen. „Erlaubt, daß ich nur spiele,“ sagte sie, und ein altes Menuett erklang, so leise und zierlich, wie von einer Spieluhr aus alter Zeit.

Lucie träumte in den Garten hinaus. Der Spingbrunnen rauschte und die Mondstrahlen lagen auf den Rasenflächen, auf denen man einst vielleicht nach jenen Klängen getanzt hatte. Vor ihren Augen schimmerte es wie bauschende Gewänder und flatternde Schleifen, es schwebte und drehte und verbeugte sich.

„Hör’ auf Hortense,“ rief sie neckend, „Du beschwörst Geister! Ich denke, die ganze lustige Gesellschaft von dazumal muß wieder lebendig werden bei diesen Klängen. Wie schade, daß Du nicht singst!“

„Ich kann nicht,“ sagte sie, „mir sind alle die sentimentalen Liebeslieder so unsympathisch,“ und sie schloß geräuschlos den Flügel und kam zu Lucie herüber. „Verzeihe, Luz!“

„O, ich! Aber Dein Mann hätte Dich gewiß gern gehört?“

„Ein andermal! Ein andermal!“ erwiederte sie ungeduldig; „es singt sich so schlecht auf Kommando, man muß aufgelegt sein.“

Aus dem äußersten Winkel des Saales kamen jetzt Schritte und entfernten sich durch eine der Thüren.

„Du hast ihn verletzt!“ sprach Lucie.

„O, Gott bewahre!“ erwiederte Hortense. „Er sieht nach, ob etwa drüben die Knechte mit Licht auf den Heuboden steigen oder so etwas Aehnliches, obgleich dazu der Inspektor vorhanden ist. Nur keine unnöthigen Formalitäten und Rücksichtnahmen bei der Aussicht, sein ganzes Leben mit einander verbringen zu müssen. Du weißt ja, Luz, heucheln kann ich nicht. Ich möchte Dich aber nicht mehr ermüden, Schatz; willst Du schlafen?“

„Ja,“ sagte das Mädchen, „ich bin müde.“

„Komm, ich bringe Dich hinüber.“ – Sie blieb dann noch eine Weile bei ihr sitzen, während Lucie sich vor dem Spiegel die Haare aufflocht.“

„Kannst Du Dir vorstellen, Luz,“ sagte sie endlich, „daß er die begehrteste Partie war in der ganzen Umgegend?“

„Dein Mann? O ja, das glaube ich,“ klang es überzeugungsvoll.

„O, ich meine nicht seines Besitzes wegen! Es soll Frauen geben, die sogar etwas wie Leidenschaft für ihn empfunden haben.“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie es verneinen, und sah Lucie dabei fragend an.

„Er ist ein stattlicher, ritterlicher Mann – warum nicht, Hortense?“

„Du glaubst es?“ Sie schwieg ein Weilchen und wickelte ein blaues Band um ihre Finger, an Lucie vorüberblickend. „Gute Nacht, Luz, schlafe schön!“ Sie küßte das Mädchen auf den Mund und ging hinaus.

Lucie stand noch am Fenster und sah auf den Wasserstrahl der Fontäne, der Silberfunken im Mondlicht warf. – Gott sei Dank, sie war nicht ganz unnütz, sie würde Arbeit haben; Arbeit – das Einzige, was sie hinwegtragen konnte über Leid und Sehnsucht, das Einzige, was ihr das Hiersein weniger drückend machte; das Einzige, womit sie Hortense Dankbarkeit erweisen konnte für die Zuflucht, die sie ihr bot. Nichts würde ihr zu schwer, zu viel werden für sie, nichts! Wenn sie nur auch helfen könnte, daß Hortense glücklich würde – es sah nicht aus danach, trotz alles Glanzes und Schimmers.

Lucie hielt Wort. Früh stand sie auf und ging in die Wirthschaftsräume hinunter, und wenn Hortense an den Frühstückstisch trat, so sah sie ein freundliches Gesicht und fand einen frischen Blumenstrauß neben ihrem Teller. Keine Frage über wirthschaftliche Gegenstände kam zu den Ohren der jungen Frau; es ging Alles wie am Schnürchen; die Dienerschaft war musterhaft unter Luciens Aufsicht, ein richtiger Musterhaushalt. – Frau Rein wurde krank, Hortense erfuhr es erst, als Weber besorgt das Mädchen fragte, ob ihr die Arbeit nicht zu viel werde? Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„Niemals!“ sagte sie, und ihre Augen suchten Hortense, „ich fühle mich befriedigter, als seit langer Zeit. Ich bin an Arbeit gewöhnt.“

Sie hatte auch stets Zeit für die junge Frau. Sie ging im Park mit ihr spazieren, sie las ihr vor und machte Besorgungen in der Stadt mit ihr und für sie, sie half gewissenhaft Hortense das Leben ertragen und das war nicht leicht, es gehörte Geduld dazu. Die junge Frau war nie launenhafter gewesen als jetzt: bald still, bald von einer ungewohnten Heiterkeit. Mitunter spielte sie halbe Tage lang Klavier, an anderen rührte sie keine Taste an, auch auf das Bitten des Gatten nicht. Sie schlief einmal bis in den Mittag hinein, und das andere Mal erschreckte sie Lucie in aller Morgenfrühe, die eben aus dem Garten kam mit frisch geschnittenen Blumen für Hortense’s Boudoir. Sie ritt stundenlang allein spazieren, ohne Lucie oder ihren Mann zu benachrichtigen, und lag dann müde und abgespannt auf ihrem Sofa.

Herr Weber ließ sie gewähren. Er fand sich anscheinend mit Ruhe in diese wechselvollen Stimmungen, kein Widerspruch, keine Kaprice brachte ihn außer Fassung, gleichmäßig artig und freundlich verkehrte er mit ihr. Aber er bat sie nun nicht mehr, mit ihm auszufahren; sie hatte es öfters abgelehnt, er erzählte ihr schon nach einigen Tagen nie mehr von den Geschehnissen in Haus und Hof, er hatte keine andere Antwort darauf erhalteu als ein: „So?“ oder „Ach!“ Es blieb ihm nichts übrig, als in Hortense’s Abwesenheit das Wirthschaftliche mit Lucie zu besprechen.

Und das Haus lag da wie vergessen, kein Wagen bog mehr durch das weit geöffnete schmiedeeiserne Thor, dessen vergoldete Spitzen auf dem dunkelgrünen Hintergrund der Bäume blitzten, kein fremder Blick bewunderte das Empfangszimmer mit seiner blauseidenen koketten Einrichtung. Es waren wunderliche Wochen, die mit der Augusthitze über Woltersdorf dahinzogen, gewitterhaft schwül wie in der Natur war die Stimmung der Menschen, aber ein Sturm, der da draußen die Wolken zertheilt, der neue frische Luft von den Bergen herabweht, blieb für die Gemüther aus. Ein Tag schlich wie der andere hin, die „gute Laune“, die einst hier ihr Scepter geschwungen, schien sich mit in das Gewölbe am Ende des Parkes geflüchtet zu haben, das über dem Grabe des lustigen Grafen „Papillon“ erbaut war. In lateinischer Sprache stand über der Pforte zu lesen: „Omnes una manet nox!“ – „Auf Alle harret ein und dieselbe Nacht.“

Ja, dieselbe Nacht! Aber wie war der Tag?

Hortense saß anfänglich stundenlang in Luciens Zimmer; es war da so traut und gemüthlich. Das Mädchen hatte sich ein Plätzchen zum Nähen eingerichtet, auf dem Tische lagen stets einige Bände, die sie just las, daneben das Wirthschaftsbuch und eine Schiefertafel zur Berechnung. In den Vasen des Kamins dufteten frische Rosen, die Silhouette der verstorbenen Mutter und eine kleine verblichene Photographie Mathildens hingen über dem Bette, verdeckt von den rosageblümten Vorhängen wie ein heiliges Geheimniß. Dort war Hortense ruhig und beobachtete, wie das Mädchen rechnete oder nähte.

„Warum bist Du so still?“ fragte diese oft, und Hortense hatte irgend eine nichtssagende Antwort. Mit feinem Taktgefühl schwieg Lucie, sie suchte nur so viel wie möglich die junge Frau zu erheitern.

„Du solltest doch Verkehr suchen, Hortense,“ sagte sie eines Tages, „Du brauchst Zerstreuung, und ebenso Dein Mann.“

„Ich bin ja bereit, nach Ostende zu gehen mit ihm – er will nicht.“

„Er war so lange von der Heimath entfernt, Hortense.“

„Du hast doch für Alles, was er thut, eine Entschuldigung, Luz; schade, Du würdest viel besser für –“ Sie schwieg und biß sich auf die Lippen.

Das Mädchen hob die Wimper und sah sie verwundert an. „Ich verstehe Dich nicht!“ sagte sie. „Bitte, sprich deutlicher, Hortense.“

Die junge Frau umarmte die Freundin und küßte sie. „Vergieb mir, Luz, ich bin halb verdreht.“

„Und warum bist Du böse auf ihn?“

„Ich bin es ja gar nicht,“ stotterte Hortense.

„Fräulein!“ rief Frau Rein, die eben wieder ihre Pflichten, soweit es die Kräfte gestatteten, übernommen hatte, und schob sich durch die Thür, „der Herr möchte Sie einen Augenblick sprechen; er wartet im Saal.“

„Verzeih, Hortense, es ist wahrscheinlich wegen –“

Die junge Frau winkte mit der Hand. „Es ist ja gleichgültig, weßwegen. Ich werde Dich hier erwarten.“

Lucie ging; sie fand ihn am Fenster, lesend. Als sie eintrat, wandte er sich um.

„Verstehen Sie sich auf Handschriften?“ fragte er. „Bitte, haben Sie die Güte, Fräulein Lucie, vier Augen sehen mehr als

[201]

Im Kaffeehause nach der Redeschlacht.
Originalzeichnung von Fried. Stahl.

[202] zwei, urtheilen Sie, ob ich mich täusche, wenn ich annehme, daß diese beiden Schriftstücke von ein und derselben Hand geschrieben sind?“

Er hatte ein kleines Tischchen zum Fenster gerückt und legte nun eine Postkarte und einen Zeitungsabschnitt, auf dessen weißem Rand einige Zeilen geschrieben waren, neben einander und reichte Lucie eine Lupe.

Das Mädchen beugte den blonden Kopf darüber. „Ich kann aber nichts dafür, wenn ich die Worte dabei lese,“ sprach sie.

,Darum bitte ich sogar, auch das Gedruckte. Vielleicht erinnern Sie sich, daß ich, im Begriff mit Hortense nach dem Standesamt zu fahren, einen expressen Brief bekam. Diese Zeitungsnotiz war in ihm enthalten. Lesen Sie!“

Es war der Ausschnitt einer französischen Zeitung und enthielt den Bericht eines Skandals in Baden-Baden, dessen Held Herr von Löwen war. Letzterer habe den Grafen S. gefordert, weil derselbe ihn beim falschen Spiel ertappt zu haben behauptete; der Geforderte habe aber die Genugthuung verweigert, da es unter seiner Würde sei, sich mit ihm zu schlagen, und besagter Herr von Löwen sei sodann noch an demselben Tage spurlos verschwunden. Man vermuthe, er treibe sich in Belgien umher; hoffentlich gelinge es der Polizei, seiner habhaft zu werden.

Am Rande standen folgende Worte geschrieben: „Wunderbar, daß ein Mitglied der hochehrenwerthen Familie Weber, die sonst so wählerisch ist, sich mit der Tochter dieses mauvais sujet verheirathet! Schreiber dieses sah die junge Dame, in Begleitung des Herrn Papa, vor einigen Jahren in Baden-Baden herumabenteuern.“

Lucie war roth erglüht. „Abscheulich!“ sprach sie.

„Bitte, vergleichen Sie die Schriftzüge! Die Karte an und für sich ist nicht von Bedeutung, auch nicht an mich gerichtet, sondern an einen mir befreundeten Herrn, der sie gelegentlich von dem mir längst Verdächtigen erhalten hat und mir borgte, behufs Feststellung der Thatsache.“

„Es ist kein Zweifel,“ rief das Mädchen, „dieselben Formen, dieselben Uebergänge und breit aus einander gezogenen Buchstaben.“

„Das meine ich auch, ich danke Ihnen, Fräulein Lucie.“

„Wer ist der Schreiber?“ fragte sie unwillkürlich.

Einer, der vor zwei Jahren einen Korb von meiner Schwester davontrug, eine erbärmliche Rache! Er lebt in unserer nächsten Nähe, das heißt, er war seit einem halben Jahre im Auslande und ist erst vor einigen Tagen zurückgekehrt. Und nun soll –“

„Was wollen Sie thun?“ unterbrach sie.

„Ihn züchtigen!“

„Wie aber?“

„Das ‚Wie?‘ ist meine Sache, Lucie! Bitte dringend, daß Hortense vor der Hand nichts davon erfährt.“

Das Mädchen war bleich geworden. „O, immer dieser Vater!“ stammelte sie.

„Lassen Sie den unglücklichen Mann. Er liegt schwer erkrankt in einem belgischen Hospital.“

„Sie wissen?“

„Ich weiß Alles, ich kenne seine Vergangenheit, besser vielleicht, als selbst die Tochter, und nicht erst seit der letzten Zeit.“

„Ahnt das Hortense?“

Er faltete die Zettel zusammen und legte sie in seine Brieftasche. „Hortense? Sie hat den Namen ihres Vaters nie erwähnt mir gegenüber, und ich verlange nicht, daß die Tochter seine Anklägerin werde.“

„Wie schwer hat sie gelitten um seinetwillen! Ich bitte Sie, beurtheilen Sie aus diesem Grunde Manches milder bei ihr,“ sagte Lucie. Sie wußte selbst nicht, wie ihr diese Entschuldigung auf die Lippen kam. Verlegen senkte sie den Kopf.

„Ich habe kein Recht über sie zu klagen, Lucie,“ sprach er. „Hortense hat nie geheuchelt, daß sie mich liebe, ich kann weiter nichts thun als warten, warten in Geduld, ob nicht doch einmal ihr Herz sich wendet.“

Er hatte die letzten Worte leise gesprochen; nun schwiegen sie Beide.

„Seien Sie mein guter Anwalt,“ sagte er endlich, sich zusammennehmend; „Hortense liebt Sie – und, Fräulein Lucie: Diskretion!“

Er schüttelte ihr die Hand. Niedergeschlagen kam Lucie zurück und traf die alte Frau noch mit Hortense plaudernd.

„Ja, so war’s, gnädige Frau,“ sprach sie, ohne sich stören zu lassen, „halbtodt und erstarrt brachten sie ihn. Seine Frau Mutter und die jüngste Schwester, die damals noch nicht verheirathet war, kamen gleich zur Pflege her. Ich erzähle eben, Fräulein“ wandte sie sich an Lucie, „wie unser Herr einen Mann aus dem Fluß gezogen beim Eisgang. Er ertrank beinah, aber nachher hat der Kaiser ihm die Rettungsmedaille geschickt, das ist der schönste Orden, sagte meine Gräfin immer, den kriegt nur der, der sein Leben gewagt für einen Anderen. Doch was sprach ich denn – ja richtig, das wollte ich nur sagen: es war ein lustiges Leben, als der Herr wieder gesund wurde. Die Damen blieben noch ein paar Wochen hier, drüben im Saal haben sie getanzt und drunten im Garten beim Mondenschein. Jetzt ist’s auch gar zu trübselig, alle meine schönen Konserven in der Speisekammer und dem Herrn seine feinen Weine liegen umsonst da. So war’s noch nie auf Woltersdorf, selbst nicht, als der Herr ganz allein wirthschaftete.“

Die junge Frau drehte eine Rose zwischen den Fingern, auf ihrem Gesicht lag eine zarte Röthe. Sie sah Lucie an, als frage sie: „Was wollte er von Dir?“

„Dein Mann – er will –“

Sie stockte und schwieg, es fiel ihr nichts ein.

„Was geht das mich an!“ unterbrach sie Hortense kurz und erhob sich. „Auf Wiedersehen bei Tische!“ Damit verließ sie das Zimmer.

Lucie blieb traurig zurück. Wollte es denn niemals Tag werden zwischen den beiden Menschen? Nein, Hortense liebte ihn nicht, würde ihn nie lieben. Er hoffte umsonst. Aber sie wollte noch einmal mit ihr sprechen, wollte ihr sagen, daß sie Unrecht thue gegen ein Herz, das ihr so treu ergeben. Ja, sie wollte sein Anwalt sein und der ihre, sie mußten glücklich werden, diese Zwei.




Am Tage darauf, es war an einem Sonntag, ging Lucie in die Kirche. Als sie die Allee durchschritt, gesellte sich Weber zu ihr, der aus dem Gewächshause kam. Er erkundigte sich nach Hortense, das Mädchen hatte sie noch nicht gesehen.

„Steht sie nicht dort am Fenster?“ fragte er, sich nach dem Hause umschauend. Auch Lucie wandte sich, aber sie erblickte nichts als die Vorhänge. Ruhig plaudernd gingen sie weiter. Am Ausgange des Parkes blieb er stehen; er wollte zurück, um Hortense beim Frühstück Gesellschaft zu leisten. „Beten Sie für uns mit,“ sagte er scherzend, aber seine Miene war bekümmert.

„Ja, von Herzen!“ erwiederte sie warm.

Er wandte sich rasch und schritt auf Umwegen zurück. Als er im Hause nach Hortense fragte, erhielt er den Bescheid, die gnädige Frau sei vor wenigen Minuten ausgeritten. Er zuckte die Schultern und sah in den Regen hinaus. Lucie kehrte nach ein paar Stunden aus der Kirche zurück, die Essenszeit rückte heran. Hortense war immer noch nicht da. Endlich ritt sie auf den Hof, Lucie kam ihr ängstlich auf der Treppe entgegen.

„Mein Gott, Hortense, in diesem Wetter!“

Die junge Frau lachte, aber sie schüttelte sich dabei vor Frost. „Ich werde gleich zu Tische kommen, bitte, wartet nicht auf mich.“

„Ich will Dir doch helfen.“

„Ich danke,“ klang es zurück. Sie zog eine lange nasse Spur auf dem blauen Teppich und verschwand hinter einer Thür.

Lucie harrte allein im Eßzimmer; Weber schritt in der Nebenstube auf und ab, dann ließen sich Stimmen dort innen vernehmen: „Wie konntest Du bei diesem Wetter ausreiten, Hortense!“

„Es machte mir Vergnügen.“

„Ein schönes Vergnügen!“ sagte er, „Du wirst krank werden.“

„Sei nicht böse!“ klang es wider Erwarten sanft.

„Ich bin nicht böse, nur besorgt.“

„Ich danke Dir, aber komm zu Tische,“ bat sie und öffnete die Thür des Speisezimmers. Sie hatte auch jetzt noch ein Lächeln um den Mund. „Können wir essen?“ fragte sie Lucie.

„Gewiß, wir haben ja nur auf Dich gewartet.“

„Ich habe einen Brief von Mademoiselle,“ sagte Hortense ganz beiläufig; „Großpapa ist vor einigen Tagen wieder ohnmächtig geworden.“

Man sprach bedauerlich darüber. Weber äußerte, er wolle an Adler schreiben deßhalb.

[203] „Bitte, thue es!“ sagte Hortense. Es war wieder der ungewöhnlich weiche Tonfall.

Der Mittag ging stiller vorüber als sonst, Hortense’s Widerspruch fehlte. Lucie hatte wie immer tausend Aufmerksamkeiten für sie, aber keine einzige wurde beachtet. Als man sich erhob, kam das Mädchen ihr nach: „Liebe, gute Hortense, ist Dir wieder warm? Leg’ Dich etwas; darf ich Dir vorlesen?“

Sie wies Alles zurück. Betrübt suchte das Mädchen ihr Zimmer auf, setzte sich vor den Nähtisch und arbeitete an einer Decke für Hortense’s Geburtstag. Es war todtenstill um sie her; draußen plätscherte einförmig der Regen hernieder, im Park war kein lebendes Wesen zu sehen. Die Arbeit sank ihr in den Schoß; sie legte den Kopf zurück und dachte, nicht an die Vergangenheit, damit war sie fertig, der Faden zerrissen. Sie dachte an die Zukunft; sie sah sich hier in demselben Zimmer sitzen, das Haar gebleicht, die Stirn gefurcht, die Rosenbouquette um sie her verblaßt – alt geworden in Arbeit, in Sorge für Hortense und ihr Haus!

Die Welt würde weiter rollen, in Sturm und Kampf, in Leidenschaft und Glück, sie würde kein Hauch davon treffen in ihrem ewig gleichen Tageslauf. Sie blickte empor, in dem kleinen Spiegel, der dort auf dem Tische stand, sah sie blondes Haar schimmern. Leise strich sie über ihren Scheitel, wie ewig lange mochte es noch dauern, ehe es grau geworden!

Drunten rollten jetzt Räder über den Kies, Lachen und Sprechen scholl befremdend hinauf. Was mochte das Ungewohnte bedeuten? Von ihren Fenstern aus konnte sie nichts erspähen; der Mittelbau sprang hier etwas vor. Nun war das Knirschen des Wagens verstummt, er hielt vor dem Portal. Vermuthlich Besuch; er würde bald wieder heimwärts lenken; Hortense empfing ja Niemand. Als neulich die alte Frau von B. sich bei ihr melden ließ mit dem Bemerken, sie habe die verstorbene Mutter gekannt, mußte Herr Weber die Dame allein empfangen und Hortense mit „Kopfweh“ entschuldigen.

Es war wieder still, Lucie nahm die Arbeit aufs Neue empor und nähte die bunte Seide in das Linnen.

„Fräulein!“ rief Frau Rein in die Thür, „die Herrschaft läßt bitten, es ist Besuch gekommen.“ Die alte Frau hatte ein dunkelrothes verärgertes Gesicht. „Eine schöne Gesellschaft! Sie kamen in Herrn Rostau’s Equipage, drei B…er Officiere: scheinen vorher gut dinirt zu haben, heiße Köpfe haben sie und lärmen wie die Spatzen, wenn’s Tag werden will. Und die gnädige Frau – als ich die Herren anmeldete, ich war gerade im Flur – antwortete: ‚Sehr angenehm!‘ Ich denke, mich rührt der Schlag! Sie müßten nur dem Herrn sein Gesicht sehen, Fräulein; er sieht aus, als nähme er sie am liebsten sämmtlich am Kragen und setzte sie an die Luft. Dem Herrn scheint’s auch aus anderen Gründen nicht recht zu sein; er saß in seiner Stube mit dem Herrn Hauptmann von Röder, der vor einer halben Stunde gekommen ist, sie wollten wahrscheinlich über etwas Wichtiges reden; denn als ich ihm die Gäste meldete, hatten sie Papiere vor sich.“

Hortense – Besuch angenommen?

Lucie schüttelte den Kopf wie ungläubig. „Wer ist Herr Rostau?“

„Jenseit A. hat er ein Rittergut, Fräulein,“ berichtete die alte Frau, während Lucie vor dem Spiegel stand und ihr schwarzes Trauerkleid etwas durch einen Jetschmuck verzierte, „Ichelsleben heißt es. Er hat sich einmal viel zu schaffen gemacht hier, als Frau Weber mit ihrer jüngsten Tochter bei unserem Herrn zum Besuch war; na, man sagt, das Fräulein hätte ihn nicht gewollt. Verdenken konnte man es ihr nicht. Seitdem hat er sich nicht wieder blicken lassen. Ich will nichts weiter sagen; aber ich meine, der Herr sieht ihn lieber gehen als kommen.“

Lucie erschrak, sie dachte an das Billett; sollte er –? Sie wäre am liebsten nicht hinunter gegangen.

Im Entrée vor dem sogenannten Empfangszimmer trat ihr Weber entgegen.

„Thun Sie mir den Gefallen, Fräulein Lucie, gehen Sie zu Hortense. Sie ist bei der Toilette, ich ließe sie dringend bitten, nicht herüber zu kommen; die Herren sind mehr oder weniger angeheitert.“

Er sah finster aus und sprach hastig.

Lucie wandte sich um, da rief er hinter ihr her: „Kommen Sie, es ist zu spät, sie ist bereits von der anderen Seite eingetreten.“

Das Sprechen und Lachen nebenan war plötzlich verstummt; man hörte Stühle rücken und die Stimme der jungen Frau.

„Gehen Sie rasch hinein, Lucie,“ flüsterte Weber.

Im nächsten Augenblick war sie drinnen; hinter ihr der Hausherr. Hortense stand an einem Sessel, sie hatte soeben ihre Gäste begrüßt. Sie sah wunderbar gut aus in dem einfachen dunkelblauen Kleide aus weichem Seidenstoff, den hohen Kragen schloß eine kleine Brillantbroche in Hufeisenform; das blauschwarze Haar schmiegte sich schlicht an den zierlichen Kopf, und die Augen schimmerten so dunkel wie die Farbe ihres Kleides.

Weber stellte die Herren Lucien vor, Hortense hatte sich bereits als Hausfrau zu erkennen gegeben. Die Gäste waren drei junge Lieutenants und ein Hauptmann, welcher der einzige Ruhige unter ihnen zu sein schien. Und neben Hortense im Fauteuil, sich ihr ganz zuwendend, saß, oder lag vielmehr, ein Herr in sandfarbenem Civil neuester Sommermode; er trug sein hellblondes spärliches Haar kunstreich frisirt, sein Teint spielte genau in der Farbe des Anzuges, und der kräftige Schnurrbart stand in zwei kunstvoll gewichsten Spitzen zu beiden Seiten über das magere Antlitz hinaus. Es lag etwas herausfordernd Unverschämtes in diesem Gesicht, in der ganzen Art und Weise wie er sich benahm. Als er sich vor Lucie verbeugte, ließ er das Monocle fallen, um es sofort wieder in das Auge zu werfen und Hortense anzustarren.

Befremdet glitt der Blick der jungen Frau über ihn hin, sie machte eine halbe Wendung und sprach mit dem Hauptmann, der auf der andern Seite saß.

Lucie hatte zwischen Herrn Weber und einem kleinen zwanzigjährigen Lieutenant ihren Platz gefunden, dem das Leben, seinem strahlenden Gesichte nach zu schließen, noch göttlich vorkam. Er gab sich die größte Mühe, den Unterhaltenden zu spielen.

„Famose Idee von Rostau, brachte diese Fahrt hierher nach Tische aufs Tapet, Regentage sind so gräßlich langweilig, Sommertheater fängt erst um halb acht Uhr an. Dieses Woltersdorf ist eine Perle; schade, daß die Herrschaften so –“

Der Diener trat mit Kaffee ein.

Lucie blieb ihrem Nachbar die Antwort schuldig; sie blickte nur auf Hortense, die bald roth, bald blaß wurde, es war, als ob Herr Rostau etwas darin suchte, sich in ihrer Gegenwart so ungenirt wie möglich zu benehmen.

„Rostau“ rief des Hausherrn Stimme laut, „nehmen Sie Ihr Glas aus den Augen, es belästigt meine Frau.“

Mit einer Gesichtsverzerrung fiel das Monocle. „Seit wann denn?“ fragte er, nachlässig mit der Schnur spielend; „ich erinnere mich doch, daß Frau von Löwen durch alle Arten von Gläsern angesehen worden ist! Hat die Einsamkeit Sie so – schüchtern gemacht, Gnädigste?“

Er hatte nur halblaut gesprochen. Weber, der wie gefoltert dort drüben saß, verstand es nicht.

In Hortense’s Augen blitzte es auf. „Ich habe nie bemerkt, daß ich mehr angesehen worden bin, als Andere, und eben so wenig haftet Ihre Persönlichkeit in meiner Erinnerung.“

Rostau lachte. „Ich bin auch keineswegs so eingebildet, das Letztere anzunehmen; Sie werden jedoch verzeihlich finden, wenn man Gedächtniß für Ihre Persönlichkeit haben muß, gnädige Frau.“

Hortense zuckte unmerklich die Achseln.

„Ich hatte einmal die Ehre in Baden-Baden; wenn ich nicht irre, waren Sie in Begleitung Ihres Herrn Vaters!“

Hortense’s bleiches Gesicht überzog eine dunkle Röthe. „Es ist möglich, ich erinnere mich nicht.“

„Ich hatte damals den Vorzug, Ihrem Herrn Vater eine kleine Gefälligkeit erweisen zu dürfen, er versprach mir gewissenhaft, eines Tages zu schreiben,“ hier lachte er spöttisch. „Darf ich mich erkundigen, meine Gnädigste, wie befindet sich Herr von Löwen, wo lebt er?“

Die junge Frau stand plötzlich auf.

„Herr Hauptmann,“ sprach sie, „darf ich Ihnen das Bild zeigen, von dem wir eben sprachen? Es hängt in meinem Zimmer.“

Sie schritt der Thür zu, gefolgt von dem Officier, der sich zwar auf kein Bild zu besinnen wußte, die Sachlage jedoch völlig begriff.

„Lucie,“ bat Weber halblaut, folgen Sie Hortense.“ Und er heftete seine Augen groß auf Rostau, der, eigenthümlich [204] lächelnd und das Glas im Auge, der jungen Frau nachschaute. Es mochte wohl etwas Besonderes in dem Blick des Hausherrn liegen; das Lächeln auf Rostau’s Gesicht verschwand; er rückte sich etwas höher in seinem Stuhle und begann wieder mit der Schnur des Monocle zu spielen.

„Weber, was macht Ihre famose Kegelbahn?“ fragte einer der Officiere, „wie wär’s mit einem Partiechen?“

„Ich bin gern bereit, meine Herren, warten Sie nur einen Augenblick; wenn ich nicht irre, ist Herr Rostau im Begriff aufzubrechen. Ich möchte ihn nur noch in seinem Wagen sehen, dann –“

„Allerdings deutlich!“ sagte Rostau lachend und wurde um eine Schattirung fahler.

„Es freut mich, daß Sie verstanden haben,“ erwiederte Weber, und dem Diener, der eben eintrat, zurufend: „Herr Rostau wünscht seinen Wagen!“ wandte er sich an die völlig verdutzten Officiere: „Es wird mir eine Ehre sein, die Herren mit meinem Geschirr nach E. zu fahren, wie es mir stets eine große Freude sein wird, Sie zu sehen wenn Sie – ohne diesen Herrn mein Haus besuchen.“

Eine unangenehme Pause trat ein, die bestürzten Gesichter schauten Weber fragend an.

„Es ist hier nicht der Ort, meine Herren, zu näheren Auseinandersetzungen; ich muß Sie auf später vertrösten.“

„Der Ansicht bin ich auch,“ schnarrte Rostau, die Handschuhe mit Seelenruhe zuknöpfend. „Ich denke, Sie werden meinem Sekundanten Aufklärung geben, mein Herr.“

„Mit größtem Vergnügen!“

„Auf Wiedersehen!“ Im nächsten Augenblick war Rostau verschwunden.

„Er hat stark getrunken, Herr Weber,“ entschuldigte ihn einer der Officiere, während ein zweiter Rostau nacheilte.

„Er ist ein Verleumder! Ein Unverschämter!“ erwiederte Weber.

„Es war allerdings sein Benehmen der gnädigen Frau gegenüber etwas unbegreiflich; ich saß wie auf Kohlen,“ sprach der Andere. „Verzeihen Sie, bester Herr Weber, daß wir – es war eine tolle Laune von uns.“

„Bitte sehr! Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ Er klingelte und hieß die Kegelbahn zum Spiel bereit machen. Dann schritt er hinüber in das kleine lauschige Boudoir Hortense’s. „Schieben Sie Kegel, Röder? Wir sind eben im Begriffe, hinunter zu gehen.“

Der Hauptmann empfahl sich den Damen und folgte dem Hausherrn.

„Darf ich mich Ihnen zur Verfügung stellen, Weber?“ fragte er und nahm die Cigarre, die ihm dieser präsentirte.

„Ich wollte Sie darum bitten.“

„Wie wurde es?“

„Ich warf ihn einfach hinaus.“

„Unverschämter Bursche!“ murmelte der Hauptmann. „Denken Sie, Weber, Ihre Frau Gemahlin glaubte, daß ich mit Rostau gekommen sei –. Ich habe sie dabei gelassen; es wird ihr weniger auffallend sein; sie darf keinesfalls eine Ahnung haben. Wie?“

„Durchaus nicht!“ rief Weber. „Es ist doch merkwürdig, Röder, daß heute, wo ich mit Ihnen überlegte, wie ich den Gentleman am besten fassen könnte, er hier angegondelt kommt!“

„Also Pistolen, Weber?“

„Selbstverständlich! Alles Uebrige überlasse ich Ihnen. – Lieutenant von Weißkirchen ist mit ihm gefahren,“ bemerkte Weber und blickte, mit dem Hauptmann über den nassen Kies des Gartens kommend, zu der eleganten Kegelbahn hinüber, wo nur zwei Officiere standen, leise das Geschehene besprechend. Bald rollten die Kugeln über die glatte Bahn, und die Stimme des kleinen Pferdeburschen, der als Kegeljunge fungirte, rief laut die Anzahl der Gefallenen.

(Fortsetzung folgt.)




Der Gehirnschlag und seine Folgen.
Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.

Als „Gehirnschlag“ bezeichnet man seit alter Zeit jenen krankhaften Vorgang, durch welchen der wunderbare Apparat unseres edelsten Organes, von dem alle Seelenthätigkeit, jegliches Wahrnehmen und Denken, Vorstellen und Ueberlegen, Wollen und Empfinden, die willkürliche und unwillkürliche Bewegung beherrscht wird, mit einem Male ganz plötzlich vernichtet oder mindestens in seinem feinen Getriebe wesentlich gestört wird. In der That spielt sich dieser Vorgang zuweilen so unerwartet und so rasch ab, als ob die betreffende Person von einem Schlage getroffen würde. Scheinbar vollkommen wohl sich befindend, inmitten seiner gewohnten Beschäftigung, stürzt das Individuum, einen Schrei ausstoßend oder auch nur tief seufzend, zusammen und ist, ehe man ihm noch die geringste Hilfeleistung zu bieten vermag, todt. Zuweilen ist der Ausgang kein ganz so furchtbarer. Der plötzlich Zusammengestürzte ist nicht todt, sondern nur bewußtlos, und nach kürzerer oder längerer Zeit qualvoller Erwartung für die nächste Umgebung bekundet er Zeichen wiederkehrenden Bewußtseins – aber welche Veränderung ist während dieser Stunden oder Tage eingetreten! Die Gedanken sind unklar und verwirrt, die Zunge ist schwerfällig, die Sprache undeutlich, das Gesicht schief verzogen, die eine Körperhälfte gelähmt; Arm und Bein dieser Seite versagen den Dienst. Der bis vor dem Anfalle blühend aussehende Mann, dessen Körperkraft vielleicht allgemein beneidet, dessen scharfer Geist und sprühender Witz vielfach bewundert wurde, ist nun nach jeder Richtung gebrochen, hilflos, elend, ein bemitleidenswerthes Beispiel für die Hinfälligkeit der menschlichen Maschine.

Was hat die plötzliche Wandlung zu Wege gebracht? Ein kleines Blutgefäß des Gehirns oder seiner Häute ist geborsten; ein Bluterguß hat stattgefunden, und der Blutherd wirkt durch seinen Druck vernichtend oder störend auf die betroffenen Hirntheile … Die Forschung der Physiologen, unterstützt von den höchst wichtigen Experimenten am lebenden Thiere, hat nun nachgewiesen, daß nicht alle Hirnstellen gleiche Bedeutung und gleichen Werth für die Gehirnfunktion haben, und darum hängt von der Oertlichkeit des Blutherdes die Art der Störung ab, die er in seinem Gefolge mit sich bringt. Es ist jetzt sichergestellt, daß Verletzungen bestimmter Theile des Gehirnes ganz bestimmte charakteristische Störungen hervorrufen.

Wenn man niedere Wirbelthiere ihres Großhirnes beraubt, so büßen dieselben die Fähigkeit ein, willkürliche und solche unwillkürliche Bewegungen vorzunehmen, welche eine Folge von Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen sind, vermögen aber jene Bewegungen zu vollziehen, deren Mechanismus von den niederen Hirntheilen und dem Rückenmarke ausgelöst wird, wie Gehen, Springen, Fliegen, Putzen der Federn etc. Ein Frosch, dem man das Großhirn herausgenommen hat, bleibt in stoischer unstörbarer Ruhe auf einem Flecke sitzen; nichts kann ihn aus dieser Ruhe herausbringen, kein Haschen mit der Hand, kein lautes Geräusch, kein Schwirren von Insekten, die sich dicht an ihn heranwagen. Nur wenn man ihn faßt, schlägt, sticht, macht der großhirnlose Frosch passende abwehrende Bewegungen, kriecht oder springt davon, um jedoch bald wieder seine Ruhestellung einzunehmen. Eine Taube, welche des Großhirnes beraubt wurde, steht gleichfalls in unverrückt ruhiger Haltung auf ihrem Platze, den Kopf zwischen den Flügeln eingezogen, und läßt sich aus dieser Ruhe weder durch die sie bedrohende Hand bringen, noch durch die nahende Gefahr in Gestalt eines Hundes oder einer Katze, aber auch nicht durch vorgeworfene Erbsen hinweglocken. Schlägt man eine solche Taube, so macht sie Gehbewegungen; wirft man sie hoch in die Luft, so fliegt sie schräg geradeaus.

Auch bei niederen Säugethieren, wie Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten, ist es mittelst ähnlicher Versuche durch Entfernung des Großhirnes gelungen, den Nachweis zu liefern, daß dieses letztere der Sitz aller Seelenthätigkeiten ist. Höhere Säugethiere vertragen nicht den Eingriff der vollkommenen Beraubung des Großhirnes, und die Versuche an ihnen mußten sich auf Entfernung einzelner Theile des Gehirnes beschränken. Da zeigte es sich nun, daß die Entfernung eines gewissen Hirntheils stets Störung eines bestimmten Sinnes zur Folge hat. Wird ein bestimmter Abschnitt an beiden Hälften der Großhirnrinde des Hundes, welche man die Sehsphäre nennt, entfernt, so erblindet [205] das Thier vollkommen auf beiden Augen, während es im Vollbesitze aller anderen Sinne bleibt. Der so verstümmelte Hund hört, riecht, schmeckt und fühlt wie ein gesunder Hund, macht alle Bewegungen normal, hat auch sonst von seiner Intelligenz nichts eingebüßt; nur den Gesichtssinn hat er vollständig verloren, obgleich die Augen sich wie gewöhnlich bewegen, die Pupillen sich verengen und erweitern. Eben so wie sich in diesem Falle erweist, daß die Lichtempfindungen und Gesichtswahrnehmungen an die Sehsphären der Großhirnrinde gebunden sind, so läßt sich durch Entfernung einer bestimmten Gehirnpartie an beiden Hirnhälften eines Hundes erzielen, daß dieser auf beiden Ohren vollkommen taub wird (wozu sich nach einigen Wochen noch Taubstummheit einfindet), während seine übrigen Sinne normal funktioniren. Die betreffenden Stellen des Gehirnes, von denen demnach die Schallempfindungen und Gehörswahrnehmungen abhängig sind, bezeichnet man als Hörsphären. Und wiederum andere Theile der Großhirnrinde bekunden sich als Gefühlssphären, von denen die Gefühlswahrnehmungen und Gefühlsvorstellungen ausgehen. Werden diese Theile verletzt, so werden je nach der Größe der Hirnverletzung Störungen der Wahrnehmung von Druck, des Tastgefühles und der Temperaturempfindung an mehr oder minder verbreiteten Körperstellen beobachtet.

Interessant gestalten sich die Störungen der Sinnesorgane, wenn gewisse Theile in den hinteren Theilen der Hirnhemisphären (nicht die Seh- und Gehörsphären selbst) bei Versuchsthieren zerstört werden. In solcher Weise verletzte Hunde sehen und hören zwar noch, aber sie haben das Verständniß für das Gesehene und Gehörte eingebüßt. Neugierig um sich glotzend, wissen sie nichts mit dem Gesehenen anzufangen; sie beachten nicht die ihnen gereichte Fleischschüssel, fürchten nicht die ihnen drohend vorgehaltene Peitsche und freuen sich nicht am Anblicke ihres ihnen sonst willkommenen Herrn. Auf jedes Geräusch die Ohren spitzend und jeden Ruf wahrnehmend, wissen sie nicht mehr, was dieser bedeutet, und folgen auch nicht dem Pfiffe, der sie früher zu raschem Sprunge antrieb. Man bezeichnet diese Störungen, bei denen die Erinnerungsbilder des Gesehenen und Gehörten verloren gegangen sind, als Seelenblindheit und Seelentaubheit.

An bestimmte engumgrenzte Bezirke der beiden Großhirnrinden ist auch das dem Menschen als höchst organisirten Wesen eigenthümliche Vermögen gebunden, seinen Gedanken und Vorstellungen durch die Sprache Ausdruck zu verleihen. Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns an jenen Stellen haben darum, auch wenn der Sprachapparat des Menschen vollkommen normal ist, die Folge, daß der Betroffene, der ganz wohl im Stande ist, Vorstellungen zu empfangen und geistig mit einander ordnungsgemäß in Verbindung zu bringen, doch nicht vermag, seinen Gedanken das entsprechende äußere Zeichen zu verleihen. Die richtige Sprache ist ihm verloren gegangen, und er vermag entweder die Worte überhaupt nicht deutlich und nach ihrem Wortlaute auszusprechen, oder es fehlt ihm das einer bestimmten Vorstellung entsprechende Wort, und er bringt ein anderes statt des richtigen hervor. Mit solcher Sprachstörung, die in der Erkrankung des Gehirns ihren Grund hat, ist zuweilen auch das Unvermögen verbunden, die Begriffe durch die Schriftzeichen oder durch Mienen, Zeichen und Gebärden auszudrücken, sowie Worte zu verstehen, wie sie gesprochen werden, oder zu lesen, wie sie in Schriftzügen vor Augen sind.

Im Gehirne befinden sich auch die Centren für die mannigfachen Apparate der Willkürbewegungen des Körpers, für die Erhaltung und Beherrschung des Körpergleichgewichtes, für die Regulirung der Athembewegungen, für die Anpassung der Herzthätigkeit und der Blutgefäßspannung an die wechselvollen Bedürfnisse des Organismus.

Begreiflich ist darum aus dem eben flüchtig Erörterten, daß eine Hirnblutung (Gehirnschlag) je nach der Stelle des Gehirnes, an welcher sie eintritt, eben so auch nach der Ausdehnung des Blutergusses, mehr oder minder bedrohliche Folge-Erscheinungen verursacht. Eine ausgedehnte Blutung, durch welche viel Hirnsubstanz zertrümmert wurde, oder ein Bluterguß in Gehirnpartien, welche für Athmung und Herzbewegung besondere Bedeutung haben, führt rasches tödliches Ende herbei. Je tiefer die Bewußtlosigkeit des Individuums unmittelbar nach dem Schlaganfalle ist und je länger sie anhält, je unregelmäßiger sich Herzschlag und Athmung gestaltet, um so mehr Grund ist vorhanden, für das Leben des Leidenden zu fürchten.

Geringer, aber doch immer ernst genug, sind die Gefahren, wenn der Bluterguß im Gehirne nur ein ganz kleiner und auf verhältnißmäßig minder bedeutungsvolle Hirnabschnitte beschränkt ist. In diesem Falle kann es zur allmählichen Vernarbung im Gehirne und zur langsamen Wiederherstellung des Kranken, ja sogar zur völligen Genesung kommen. Wenn der Kranke das Bewußtsein wieder erlangt und der Sturm bedrohlicher Erscheinungen sich gelegt hat, so zeigt sich als auffälligste Störung die Lähmung mehrfacher willkürlicher Muskeln. Der Druck des im Gehirne ausgetretenen Blutes, die Unterbrechung der Nervenbahnen und die Zertrümmerung der nervösen Elemente durch das ergossene Blut bringen solche Lähmung bestimmter Muskelgruppen zu Stande. Die gelähmten Muskeln leisten den Impulsen der Willkür nicht mehr oder nur sehr unvollkommen Folge. Die Lähmung betrifft zumeist nur die eine Körperhälfte und zwar in gekreuzter Richtung mit der Hirnblutung. Wenn diese in der rechten Gehirnhälfte stattgefunden hat, so ist auf der linken Seite des Körpers die Lähmung ausgeprägt, der linke Arm, das linke Bein, die linke Gesichtshälfte betroffen. Im Gesichte ist die hierdurch verursachte Entstellung eine auffällige: die Gesichtszüge haben durch Verstreichen der Nasenlippefalte, Herabhängen des Mundwinkels, Verziehen der Stirnfalten einen fremdartigen Ausdruck erhalten. Dabei ist die Zunge schwer beweglich; der Mund kann nicht zum Pfeifen gespitzt werden, das Sprechen ist schwierig, zuweilen sogar das Vermögen, für Vorstellungen die gebräuchlichen Worte zu finden, beeinträchtigt.

Diese Lähmungserscheinungen können dauernd bleiben oder sie nehmen bei günstigem Verlaufe des Krankheitsprocesses allmählich ab. Zuerst bessert sich gewöhnlich die Schwerfälligkeit der Zunge, die Beeinträchtigung des Sprachvermögens; dann wird fortschreitend das gelähmte Bein wieder nach und nach gebrauchsfähig; später tritt auch die willkürliche Beweglichkeit der krankhaft veränderten Gesichtshälfte ein, am längsten dauert die Lähmung des Armes. Mit der Zeit gleichen sich bei so glücklicher Heilung des Blutergusses im Gehirn so ziemlich alle dadurch hervorgerufenen Störungen aus, und nur eine gewisse Schwerfälligkeit in den körperlichen und geistigen Leistungen des Individuums bleibt zeitlebens zurück. In letzterer Beziehung erweist sich namentlich das Erinnerungsvermögen wesentlich geschwächt; neue Eindrücke haften schwer im Gedächtnisse, und der vom „Schlage“ Betroffene weiß sich viel besser auf die Ereignisse aus längstvergangener Zeit zu erinnern, als auf die Erlebnisse von heute und gestern. Die psychische Veränderung giebt sich ferner durch leichte Reizbarkeit, mürrisches Wesen, wechselvolle Launenhaftigkeit, trübe Stimmung, zuweilen auch durch geradezu kindisches Wesen und Schwachsinn kund. Nur allzu oft wird aber das Bild nach kürzerem oder längerem Bestande – zuweilen ist dem Kranken eine Ruhepause von zehn und sogar zwanzig Jahren gegönnt – durch Wiederholung des Schlaganfalles auf bedrohliche Art verändert, denn wenn es Manchem auch glückt, selbst mehreren wiederholten Anfällen zu widerstehen und sie zu überwinden, so erlischt doch zumeist in solchem Kampfe das immer schwächer flackernde Lebenslicht.

Der Gehirnschlag tritt höchst selten im jugendlichen Alter ein, auch nicht oft in den kräftigsten Lebensjahren, sondern am häufigsten in der Epoche, wo es mit uns stetig und unaufhaltsam abwärts geht, vom fünfzigsten Jahre an. In diesem Alter fangen zumeist die Veränderungen in den Wandungen der Blutgefäße an, wodurch diese von ihrer Elasticität und Weichheit verlieren, hart, starr und brüchig werden. Treten nun Verhältnisse ein, welche in dauernder Weise oder plötzlich sehr heftig den Blutdruck in den Gefäßen bedeutend steigern, einen mächtigen Blutandrang verursachen, so vermögen die brüchig gewordenen kleinen Gefäße diesem Andrange nicht zu widerstehen: es kommt zum Risse der Gefäßwand und zum Blutaustritte ins Gehirn. Solche ursächlichen Verhältnisse sind oft in erhöhter und gesteigerter Herzthätigkeit gelegen, wie diese in Verbindung mit Blutstockungen im Unterleibe bei hochgradig fettleibigen und blutreichen Personen, bei Wohllebern und Schlemmern häufig vorkommt. Seit alter Zeit gilt darum bei Aerzten und Laien eine gewisse gedrungene Körperfigur mit breiter Brust und Schultern, kurzem Halse, hervortretendem starken Bauche, geröthetem Gesichte als besonders geneigt zum Schlagflusse. In der That zeigt die Erfahrung, daß [206] Personen, welche ein üppiges, schwelgerisches Leben führen, sich durch unmäßige Zufuhr von Speisen und Getränken mit Fett belasten, durch den Genuß spirituöser und erregender Flüssigkeiten die Herzthätigkeit häufig im Uebermaße anregen, Personen, bei denen der Puls voll und kräftig schlägt, die Schlagadern sichtbar pulsiren, das Gesicht heftig geröthet ist, die Augen lebhaft glänzen und über die Augenhöhle hervorgewölbt erscheinen, das Herz bei Bewegung oder Erregung sichtbar klopft, das Gefühl von Druck auf der Brust herrscht, bei geistigen Anstrengungen, Gemüthserregungen oder nach reichlicher Mahlzeit und heftiger Bewegung leicht Kopfschmerz, Flimmern vor den Augen, Sausen vor den Ohren, Schwindel, Athemnoth, das Gefühl von Ameisenkriechen in den Gliedern eintritt – daß solche Personen es vorzugsweise sind, über deren Haupte das Damoklesschwert des Schlagflusses schwebt.

Wie häufig stark fettleibige Personen von diesem Unfalle betroffen werden, ist daraus ersichtlich, daß ich in den Leichenbefunden von 37 hochgradig Fettleibigen nicht weniger denn zwölf Mal Gehirnschlag als Todesursache verzeichnen konnte. Damit soll aber nicht geleugnet werden, daß auch schlanke, magere und zarte Personen einer Hirnblutung unterworfen sein können. Männer werden im Allgemeinen weitaus häufiger als Frauen von Hirnblutungen betroffen – es wird sogar von Manchen behauptet, daß statistisch unter zehn Schlaganfällen nur einer auf eine Frau komme. Der Grund liegt wohl darin, daß zu viel essen und zu stark trinken meistens eine männliche Eigenschaft, wogegen Mäßigkeit in dieser Beziehung vorzugsweise eine weibliche Tugend ist.

Eine große Rolle spielt bei der Geneigtheit zu Schlaganfällen die Erblichkeit, und es ist eine ziemlich häufige Erscheinung, daß in manchen Familien die männlichen Nachkommen in einem bestimmten Alter vom Gehirnschlage betroffen werden. Auch die Berufsarten sind in dieser Beziehung nicht ohne Einfluß. Personen, welche aus geschäftlichen Rücksichten viel alkoholhaltige Getränke genießen oder in Bezug auf Diät sehr unregelmäßig leben müssen, sind zu Blutandrang gegen das Gehirn eben so geneigt, wie anderseits Männer von anhaltender und angestrengter geistiger Thätigkeit, die ungewöhnlich viel mit dem Kopfe arbeiten müssen, oder Individuen, die in ihrer Beschäftigung großen, nervösen Anstrengungen, mächtigen Erschütterungen der ganzen Blutcirkulation ausgesetzt sind. Eine plötzliche Steigerung der ohnedies bei derartigen Leuten erhöhten Blutgefäßspannung durch eine heftige, leidenschaftliche Erregung, durch einen bedeutenden Exceß im Essen und Trinken oder durch ungewöhnliche Muskelanstrengung, wie bei starkem Lachen, Schreien, Niesen, führt dann mit einem Male ganz unerwartet zum Eintritte der eigentlich schon lange drohenden Katastrophe, zur Berstung eines Blutgefäßes im Gehirn. Das unter starkem Drucke stehende Blut ergießt sich in die weiche Hirnmasse und bringt durch die örtliche Verletzung des Gehirns sowie durch die Erschütterung auch der entfernteren Hirntheile jenen Sturm von Erscheinungen hervor, welche oben geschildert wurden.

Wie ist nun dem Eintritte dieses verhängnißvollen Ereignisses vorzubeugen? Diese Frage mag sich wohl mancher Leser stellen und ihre Beantwortung ist thatsächlich nicht bloß für den Arzt, sondern auch für jeden Gebildeten von Wichtigkeit; denn die Krankheiten zu heilen, kann nur die Sache des ärztlichen Studiums sein; die Kunst aber, ihnen vorzubeugen, soll, soweit es möglich, Gemeingut aller Gebildeten, des gesammten Volkes werden. Die Verhütung des Gehirnschlages besteht in der Bekämpfung seiner Ursachen, und da läßt sich wohl sagen, daß, wenn auch nicht in allen Fällen, doch in manchen dem Eintritte der Hirnblutung vorgebeugt werden kann, indem man die Entwickelung von Blutüberfüllung des Gehirns, von Blutandrang gegen dieses edle Organ, von Blutstauung im Schädel verhütet. Es gelingt dies namentlich bei vollblütigen, fettreichen Personen durch eine strenge Regelung der Diät, welche den Körper von dem Ballaste überflüssigen Fettes befreit, die Thätigkeit des träge gewordenen Darmes lebhafter anregt, das zu reichliche oder stockende Blut in geeigneter Weise verwerthet und so eine Herabminderung des Blutdruckes in den Hirngefäßen erzielt. Solche Personen müssen eine zu reichliche Ernährung des Körpers meiden, den Genuß alkoholhaltiger Getränke unterlassen, die Muskeln in geeigneter Uebung halten, hinreichend lange sich in freier Luft ergehen und für regelmäßige Leibesöffnung Sorge tragen. Wenn wir so häufig zu beobachten Gelegenheit haben, wie derartige zu Gehirnschlag geneigte Individuen, welche die mannigfaltigsten Zeichen abnorm verstärkter Herzthätigkeit bieten, über häufige Athembeschwerden klagen, sehr leicht an Kopfschmerz, Schwindel, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen etc. leiden, durch Angewöhnung einer mäßigen gemischten Kost, durch strenge Regelung der Ernährungs- und Lebensverhältnisse, durch systematische Anwendung leicht abführender Mittel alle jene mannigfachen belästigenden Erscheinungen verlieren: so sind wir wohl berechtigt anzunehmen, daß durch jenes Verfahren auch die Vorbeugung eines Gehirnschlages erzielt worden ist, indem die Blutüberfüllung und Blutstauung im Schädel siegreich bekämpft wurde. Darum haben auch „ableitende“ Brunnenkuren (in Marienbad, Kissingen, Homburg etc.) einen altbegründeten, wohlverdienten Ruf als Vorbeugungsmittel bei Personen, deren konstitutionelle Anlage das Eintreten eines Schlagflusses befürchten läßt, oder bei vom Schlage Betroffenen, wo die Wiederholung dieses bedrohlichen Ereignisses verhütet werden soll. In den Kurorten ist es so auch am leichtesten durchführbar, daß Schlemmer und Wohlleber, welche anderwärts gegen die Regelung ihrer Lebensweise hartnäckigen Widerstand leisten, sich zur diätetischen Buße auf einige Wochen herbeilassen.

Ist ein Hirnschlag eingetreten und liegt der Kranke, von demselben betroffen, bewußtlos mit geröthetem Gesichte da, so muß, bevor der Arzt zur Stelle ist, ein sehr vorsichtiges Verfahren eingeleitet werden, um nicht durch zu viel Geschäftigkeit mehr Schaden zu veranlassen, als Nutzen gebracht werden kann. Der Kranke muß bequem mit erhöhtem Oberkörper, den Kopf durch ein Kissen höher gestützt, gelagert, sein Anzug von allen beengenden Kleidungsstücken, wie Kravatte, Leibgürtel etc. befreit werden. Um das Bewußtsein zu wecken, die Thätigkeit der Athmungsorgane zu beleben, kann das Gesicht des Kranken mit kaltem Wasser bespritzt und ein Hautreiz durch Legen von Senfteig auf die Waden, durch Reiben und Bürsten der Füße ausgeübt werden. Auf den Kopf kann man kalte Ueberschläge oder eine mit Eis gefüllte Blase legen. Ob kräftigere Reizmittel anzuwenden sind, ob eine stärkere Ableitung auf den Darm vorzunehmen oder ob selbst eine Blutentziehung mittelst Schröpfköpfen, Blutegel und Aderlaß angezeigt erscheint: dies zu entscheiden, ist Sache des Arztes, welcher die Verhältnisse des Einzelfalles genau erwägen und beachten muß. Zuweilen bleibt die Anwendung aller erdenklichen mannigfachen Mittel ohne jede günstige Wirkung, und wiederum in manchen Fällen erholen sich die Kranken auch ohne viele eingreifende Hilfeleistungen so ziemlich von selbst. Der ärztlichen Entscheidung muß auch anheimgestellt werden, was zu geschehen hat, um den Folgen des Schlaganfalles, den eintretenden Lähmungserscheinungen zu begegnen, die Wiederholung des Schlages zu verhüten. Der Arzt muß den Zeitpunkt bestimmen, der geeignet erscheint, auf die gelähmten Nervenbahnen und Muskeln einzuwirken, eben so ob es zweckmäßig ist, dies durch Warmbäder oder Kaltwasserkur, durch Massage oder Anwendung von Elektricität oder durch eine Kombination dieser Heilmethoden zu erzielen, endlich, wann und wo der Kranke durch den Gebrauch von ableitenden Mineralwässern den Naturheilungsvorgang unterstützen soll.




Die Klaque.

Studie zur Naturgeschichte des theatralischen „Handwerks“.
Von Otto Felsing.

Man sitzt im Theater. Das Lustspiel, welches gerade zum ersten Male gegeben wird, erweist sich als ziemlich schal und öde. Der Hauptdarsteller ist ein hölzerner Gesell, der sich offenbar im Salonrock sehr unbehaglich fühlt und die zwar banalen, aber immerhin leicht flüssigen Worte des Autors herunterbrüllt, als tragire er den Bombast eines Ritterstiefeldramas von Anno dazumal; sein Gegenpart, die sinnige, schüchterne Jungfrau, ist von einer Sentimentalität, die geradezu zum Davonlaufen reizt; [207] der Komiker ist so witzlos wie nur möglich; die Leute, welche neben Einem sitzen langweilen sich ganz augenscheinlich oder ärgern sich auch wohl, je nach Temperament … und nichts desto weniger erdröhnt das Theater, selbst bei den mattesten Aktschlüssen, von Beifall, der bombasticus furiosus wird für seine schauspielerischen Schandthaten durch mehrfachen Applaus bei offener Scene belohnt und verbeugt sich auch mit gewinnendem Lächeln trotz des Zischens, das von anderer Seite ertönt, die Sentimentale rührt einen Theil der Anwesenden zu Thränen, und der trockene Komiker erzielt wahre Lachsalven! Der unbefangene Zuschauer, der nicht oft Gelegenheit hat, das Theater zu besuchen, greift sich an den Kopf und zweifelt einen Augenblick daran, ob er wacht oder nicht etwa in das Land der Träume entführt ist, wo bekanntlich die logische Folge von Ursache und Wirkung aufgehoben ist. Nein, möchte man ihm da zurufen, nein, mein lieber unbefangener Zuschauer, der du Europens übertünchte Theatererfolge nicht kennst, du wachst vollkommen! Was du da erlebt hast, kannst du in schwacher oder drastischer Form fast bei jeder großstädtischen „Première“ wieder erleben, und das nicht nur in Europa … du hast eben die Klaque bei ihrer Arbeit gesehen, das ist die ganze Lösung des Räthsels, welches dich so in Verwirrung und Erstaunen setzt!

Wer öfter ins Theater geht und dann sein Augenmerk nicht nur den Vorgängen auf der Bühne zuwendet, sondern auch das Publikum ein wenig in den Kreis seiner Betrachtungen zieht, der kommt leicht dahinter, was es mit der Klaque auf sich hat, und gewinnt mit der Zeit ganz interessante Einblicke in die Art und Weise ihrer Thätigkeit. Zunächst lernt er die Unterscheidung zwischen der gelegentlichen und der berufsmäßigen Klaque kennen und dann deren beide Unterabtheilungen, die positive und die negative Klaque.

Die gelegentliche Klaque ist die harmloseste, trotzdem sie die häufigste ist. Der von ihr ausgehende Beifall ist entweder Familien- oder Freundesapplaus und vermag keinen Erfolg zu schaffen, höchstens der schon vorhandenen freundlichen Stimmung ein wenig nachzuhelfen. Nur dann „drückt“ der Familienapplaus ein Stück „durch“, wenn es einen „sehr verwandten“ Dichter zum Autor aufweist und dieser Vettern und Basen bis in das zehnte Glied aufgeboten hat. Das ist dann der „Familienerfolg“, der weniger in der Großstadt als in Provinzstädten zu gedeihen pflegt. In die Gattung des Familienapplauses gehört auch die „Handarbeit“ der „Theatermutter“, die sich nicht rührt, wenn der „erste Held und Liebhaber“ noch so glänzend gespielt hat, aber mit wahrer Vehemenz klatscht, wenn die Scene, welche ihre „Tochter“ vor die Koulissen führt, auch nur den geringsten Vorwand zum Applaudiren bietet.

Mit dem Freundschaftsapplause verhält es sich ähnlich. Er gilt entweder einem Autor von weit reichender persönlicher Bekanntschaft oder einer hübschen Schauspielerin, die da weiß, „wie es gemacht wird“, und nicht nur von der Bühne herab zum Publikum in Beziehungen tritt. Bemerkenswerth ist dabei, daß es fast stets nur Schauspielerinnen, selten männliche Akteurs sind, bei denen ein Freundschaftsapplaus zu konstatiren ist.

Himmelweit von diesem gelegentlichen Applause verschieden ist der berufsmäßige, der von der „Klaque“ besorgt wird. Das ist ein Geschäft wie jedes andere und sogar meist ein recht einträgliches. Die Klaque dient am häufigsten den Bühnenkünstlern, weit seltener den Theaterdirektoren und naturgemäß am seltensten den Autoren. Sie ist organisirt, untersteht einem „Chef“, einem Unternehmer, der seine Klaqueure engagirt und Vereinbarungen mit dem Theaterdirektor, den Autoren oder den einzelnen Bühnenmitgliedern trifft. Eine ganze Reihe von Theatern steht in dauernder Verbindung mit einem solchen „Chef“ und zahlt ihm regelmäßige Gage. Das ist z. B. bei den meisten Pariser Theatern, aber auch anderwärts wie z. B. in Wien der Fall. Die Existenz dieser Leute ist den Theaterhabitués wohl bekannt, das große Publikum erfährt von ihr erst, wenn sie beendet ist, denn nach dem Tode des Ehrenmannes kann man seinen Nekrolog in den Zeitungen lesen, dann heißt es z. B.:

„Das Theater an der Wien hat einen schweren Verlust erlitten: Herr Joseph König, der Chef der Klaque dieser Bühne, ist am Mittwoch gestorben. Der Verblichene hat dreißig lange Jahre dem Verbande des Theaters angehört und von demselben auch in den schweren Tagen der Noth seine ‚Hand‘ nicht abgezogen. Für eine Monatsgage von dreißig Gulden lieferte er die sogenannten freundlichen Erfolge, während er sich die Hervorrufe einzelner Mitglieder von diesen separat bezahlen ließ. Er war ein braver Mann und hatte ein Alter von 67 Jahren erreicht. Den Erfolg der jüngsten Millöcker’schen Operette, der nicht Erfolg von seinem Erfolge war, überlebte er nicht lange.“

Sehen wir uns die Thätigkeit der Klaque einmal näher an. Sie beginnt natürlich mit der Regelung der Finanzfrage, indem sich der Chef der Klaque ein paar Tage vor der „Première“ zu dem Autor begiebt oder vor dem Auftreten eines „Gastes mit unterlegtem Kontrakte“ diesem oder dieser seinen Besuch macht. Ist die Firma der Klaque eine „feine“, so vollzieht sich das Geschäft in ganz chevaleresker Form. In Wien z. B. existirt ein Chef der Klaque, der von solcher Noblesse ist, daß er sogar peinlich berührt wird, wenn man in seiner Gegenwart von Geld überhaupt nur spricht. Er pflegt in einem solchen Falle zu sagen: „Mein Fräulein, ich kam nur, um mir das Vergnügen Ihrer persönlichen Bekanntschaft zu verschaffen. Daß Sie sich mit uns in geschäftliche Verbindung setzen, ist ja selbstverständlich, denn es ist hier Usus, aber ich persönlich habe mit Vereinbarungen irgend welcher Art nichts zu thun. Das ist Sache meines Associés, der sich morgen die Ehre geben wird, Sie aufzusuchen.“ In der That erscheint dann am nächsten Tage ein weit weniger nobel aussehendes Individuum, welches das Feilschen und Handeln gründlich versteht und sogar, wenn etwa die Höhe seiner Forderung erschreckt und die „Klientin“ dann lieber ganz auf die Hilfe der Klaque verzichten will, nicht mehr von den Vorzügen des positiven, sondern von den Nachtheilen des negativen Klaquirens spricht, nicht mehr Erfolge in Aussicht stellt, sondern mit – „auszischen lassen“ droht. Das hilft fast immer, und wenn nicht, so haben nur Die den Schaden, welche sich nicht zu einer Einigung mit der Klaque herbeiließen.

Anch in Berlin, wo das Vorhandensein einer Klaque so oft abgeleugnet wird, giebt es eine solche Doppelfirma für Erfolge, die freilich zu den Theatern als solchen keine Beziehungen hat, sondern nur mit den einzelnen Mitgliedern und den Autoren in Geschäftsverbindung steht.

Herr S., der eine Chef derselben, erschien vor nicht gar langer Zeit am Tage vor der Aufführung eines neuen Stückes im königlichen Schauspielhause in der Wohnung des Autors und verlangte nicht nur ein ziemlich hoch beziffertes Honorar, sondern auch eine Anzahl von Freibilletts für „seine Leute“. Als der Dichter den Mann energisch abwies und ihm bemerkte, daß er es vorziehe, seine Erfolge ohne Hilfstruppen aus „Handwerker“kreisen zu erringen, lächelte Herr S. höhnisch und sprach, mit dem Rande seines Cylinderhutes im Takte auf seine Kniescheibe klopfend, die denkwürdigen Worte:

„Probiren Sie es, Herr Doktor; aber nehmen Sie sich auch recht hübsch in Acht, daß Sie nicht durchrasseln!“

Und in der That, der Antor „rasselte durch“, sogar mit „Pauken und Trompeten“. Ohne die negative Thätigkeit der Klaque wäre es vermuthlich zu einem Resultate gekommen, das man „kaum einen Achtungserfolg“ hätte nennen müssen; mit der Klaque hätten die Blätter ein halbes Dutzend Hervorrufe bei sehr freundlichem Gesammterfolge verzeichnen können, gegen die Klaque gab es eine „totale Niederlage“.

Die von der Klaque gegen Pränumerandozahlung verabreichten Erfolge sind natürlich nicht billig. Eingeweihte versichern, daß ein von ihr gelieferter „rauschender Erfolg“ mit 10 bis 12 Hervorrufen nicht unter 300 Mark zu haben ist, ganz abgesehen von den Freibilletts, die zum Theil an die „Leute“ vertheilt, zum Theil aber auch verkauft werden und dann eine ganz hübsche Nebeneinnahme des „Chefs“ bilden. Verhandelt derselbe aber nicht mit Autoren, sondern mit Bühnenkünstlern, so läßt er sich auf die Verabfolgung von Gesammtsuccessen meist nicht ein, sondern verlangt Honorirung von Einzelleistungen laut Tarif. Bei der erwähnten Berliner Firma kostet z. B. ein Applaus bei offener Scene 10 Mark, ein Hervorruf das Doppelte. Dementsprechend ist auch die „Lachsalve“ und die „tief gehende Rührung“ auf dem Preiskourant der Klaque angesetzt.

Sind die Geldangelegenheiten zur Befriedigung des Chefs erledigt, hat der Autor bezahlt und die Freibilletts geliefert oder

[208]

Blick auf Nizza.
Originalzeichnung von H. Nestel.

[209]

Mentone vom Kap Martin aus gesehen.
Originalzeichnung von H. Nestel.

[210] doch versprochen, so geht es an das Studium der Novität; der Chef schreibt sich die Stellen heraus, wo der Beifall kommen muß, entweder aus den Reihen des Publikums oder denen der Klaque, und übt seine Leute direkt darauf ein. In Paris geht er mit ihnen sogar auf die Generalprobe, giebt ihnen die Stichworte an, bei denen sie zu klatschen, zu lachen oder zu weinen haben, und tritt dann am Abend der Eröffnung als einer der Ersten in den Zuschauerraum, wo er sich so postirt, daß er von jedem seiner „Mitarbeiter“ gesehen werden kann. Sie sitzen natürlich nicht in einem Haufen zusammen, sondern sind überallhin vertheilt, besteht doch in der Geschicklichkeit der Vertheilung einer der Hauptvorzüge eines guten Klaquechefs. Die „Ritter vom Kronleuchter“ sitzen oben auf der letzten Galerie, ihnen liegt zumeist das „wiehernde Gelächter“ und der namentlich bei Kraftstellen zu verzapfende „frenetische Beifall“ ob. Leute, die über etwas bessere Röcke und womöglich gar über etwas intelligentere Gesichter verfügen, haben vereinzelt ihren Platz in den verschiedenen Rängen und im Parkett.

Der Vorhang geht in die Höhe; sie rüsten sich, in Aktion zu treten. Der erste Akt, für den auf Grund der Lektüre des „Buches“ ein „Mittelapplaus“, „halblaute Bravos“ und zum Aktschluß ein „Beifallssturm“ vorgemerkt sind, läßt aber das ziemlich kritische Premièrepublikum dermaßen kalt, daß sich der Vorhang ohne den geringsten Beifall senkt und der Chef der Klaque es nicht wagt, seine Truppen ins Feuer zu führen, um nicht eine Opposition heraufzubeschwören, die vielleicht von den verhängnißvollsten Folgen sein könnte. Er muß daher bei allen vorgemerkten Stellen „abwinken“. Mit Blitzesschnelle erfaßt er in solchem Augenblicke die „riskante“ Stimmung der Zuschauer, eine unauffällige Bewegung der Hand nach der Kravatte oder ein eben so unauffälliges Streichen des Schnurrbartes – und es herrscht auf den Sitzen der Klaque eine solche marmorstarre Regungslosigkeit, als hätte der Autor niemals einen viel bedeutenden Händedruck mit dem Klaquechef gewechselt.

Der zweite Akt hebt sehr kühl an; aber da kommt eine Scene, die rührend wirken soll und in der That eines gewissen Eindrucks auf das Publikum nicht verfehlt. Da spielt der „Chef“, wie tief in Gedanken verloren, mit der Uhrkette – und auf einmal hört man, wie sich ganz oben, wo das naive Publikum zu sitzen pftegt, Jemand leise schnaubt; das Schnauben wird ansteckend, von rechts und links und mitten aus dem Parkett heraus vernimmt man es, und siehe da, es übt seine Wirkung auch auf die nicht beeinflußten Zuschauer, die „weich werden“ und ebenfalls ihre Taschentücher hervorziehen; es ertönt ein Applaus, den die Hände der Klaque nicht hervorrufen, sondern nur verstärken. Die Scene hat „eingeschlagen“, der Erfolg beginnt. Kurz darauf wagt es der Chef nach einem Monologe des Helden, der nicht gerade kalt, aber auch nicht besonders warm aufgenommen wurde, einen kleinen „Lockbeifall“ loszulassen; derselbe wird von einem Theil der Zuschauer „aufgenommen“, und nun geht es mit sich steigernder Schnelligkeit und Zuverlässigkeit von Applaus zu Applaus, von Lachsturm zu Lachsturm, und es wäre kaum noch nöthig, daß der kleine Herr da mit den wasserblauen Augen und semmelblonden Haaren im zweiten Rang eben so wie der andere Herr mit dem schwarzen Oberkellner-Kotelettenbarte jedesmal vor Vergnügen in wahrhaft konvulsivische Zuckungen gerathen, sobald der Komiker einen Witz gemacht hat – es geht jetzt auch schon ohne Nachhilfe. Der garantirte Gesammterfolg ist da und der Chef nickt am nächsten Tage im Kaffeehaus dem Autor von Weitem mit einem Lächeln zu, das da sagen will: „Sehen Sie wohl, Doktorchen, wir verstehen den Rummel!“

Das war ein Beispiel der positiven Arbeit der Klaque. Ihre negative Thätigkeit übt sie weit weniger häufig aus.

Freilich, will ein Autor nicht „blechen“, hat ein Sänger, der sich auf seines Basses Grundgewalt oder den Goldglanz seines hohen C verläßt, den Herrn Chef mit Nichtachtung behandelt, anstatt ihm zu schmeicheln, so lechzt die Klaque nach Rache und beweist jedem, auf den sie es abgesehen hat, daß das Register der Bezeigungen ihres Mißfallens mindestens eben so reichhaltig ist wie das ihrer Beifallsarten. Sie zischt nicht bloß, nein, sie schlägt plötzlich ein höhnisches Gelächter auf, welches die ganze Stimmung im Hause niederreißt, sie verhustet die feinsten Dialogpointen und niest so nachhaltig in die pathetischsten Stellen hinein, daß man glauben sollte, es habe da oben jemand ein paar Loth Schnupftabak ausgeschüttet und dieser thue nach unten hin seine Wirkung. Aber nicht genug damit: die Klaque provocirt kleine Ruhestörungen auf der Galerie, deren sich das Publikum durch energisches Zischen und „Ruhe!“-rufen erwehrt – die Stimmung ist aber hin. Es verspricht sich ein Schauspieler, die Klaque jubelt laut auf – die Stimmung ist hin, ist unwiederbringlich verloren. Wehe dem, der es mit der Klaque verdirbt!

Indeß, wie gesagt, die negative Thätigkeit der Klaque ist verhältnißmäßig selten, zuweilen ist sie Sache derjenigen, welche die gelegentlichen Freundschafts- und Familienapplause fabriciren. Will ein Schauspieler seinen „lieben theuren Kollegen X“ auszischen lassen, weil X ihm die Glanzrolle des jüngst zur Austheilung gelangten neuen Stückes weggeschnappt hat, so bedient er sich seiner Freunde dazu. Er kann sich dann darauf verlassen, daß sein theurer Freund und Kollege prompt niedergezischt und ihm seine beste Scene „verulkt“ wird, während zwischendurch für den Urheber dieser negativen Huldigungen „wahre Beifallsstürme“ entfesselt werden. Manchmal allerdings wird dieses kombinirte Geschäft auch von der berufsmäßigen Klaque ausgeübt. Wir selbst haben einen solchen Fall im Londoner Lyceum-Theater erlebt, als Henry Irving den Macbeth gab. Da saß neben uns auf einem Fauteuil ein sehr robustes Individuum, das ganz ungenirt seine Abendzeitung las, wenn nicht gerade Macbeth oder Banquo auf der Scene war. In diesen beiden Fällen steckte der Mann freilich seine Zeitung ein oder legte sie sich, wenn er wußte, daß der Auftritt nur ein kurzer sein würde, quer über die Kniee, applaudirte dann mit seinen gewaltigen Patschen – Handschuhnummer mindestens 91/2 – wie wahnsinnig, wenn der Herr Direktor Irving spielte, und grunzte, murmelte, hohnlachte und zischte, wenn Banquo redete. Sollte vielleicht der Herr Direktor einen kleinen Spahn mit dem Darsteller des Banquo gehabt und ihm haben beweisen wollen, daß das „Publikum“ von seiner Vortrefflichkeit nicht gerade felsenfest überzeugt sei?

So ungenirt wie in diesem Falle, so sich in ihrer ganzen Schamlosigkeit auch dem Auge des Unbefangensten enthüllend, tritt freilich die Klaque unseres Wissens sonst nirgend auf; aber vorhanden ist sie in allen Großstädten, so entrüstet auch zuweilen gegen diese Behauptung protestirt wird, und überall arbeitet sie mehr oder minder geschickt mit denselben Mitteln und nach denselben Grundsätzen.

Nützt sie nun denen wirklich etwas, die sich ihrer bedienen? Leider ja, wenn auch nur zeitweise und nicht auf die Dauer. Es sind allerdings nur Scheinerfolge, die sich mit solchem gefälschten Applause, mit solcher für 20 Mark vorausbestellten „tief gehenden Rührung“ und mit Lachsalven à 10 Mark erzielen lassen.

Aber im Theater, in dieser Welt des Scheines thun auch solche Scheinerfolge ihre Schuldigkeit, wenn sie nur hinterher unter Benutzung der Reklametrommel gehörig „fruktificirt“ werden. Es hilft daher auch nichts, wenn das Publikum zuweilen gegen das Klaque-Unwesen energisch Front macht und die Herren von der breitgeschlagenen Hand niederzischt, wo es kann; es ist vergebens, wenn, von echt künstlerischem Impulse getrieben, Bühnenleiter, wie im September vorigen Jahres z. B. die Direktion des Wiener Burg- und des Hofoperntheaters die Mitglieder in einem Cirkularreskript vor der Verwendung der Klaque, „welche sich in letzter Zeit im k. k. Hofoperntheater unliebsam hervorthat“, eindringlich warnt. Es nützt das gar nichts, denn die Klaque ist ein geschäftlicher Faktor, und da leider Gottes heut zu Tage sowohl die meisten unserer Bühnenschriftsteller wie unserer Bühnenkünstler, von den Direktoren ganz zu schweigen, Geschäftsleute sind, welche schallende Erfolge haben wollen, um sie in klingende umzuwechseln, so wird die Klaque nach wie vor ihr „Handwerk“ ausüben, und der Beifall, den man mit Recht die „Nahrung des Künstlers“ genannt hat, wird auch fernerhin wie jedes andere Nahrungsmittel verfälscht werden.




[211]

Strand bei Nervi. 

Der Karneval der Riviera und sein Ausgang.

Von Anton Freiherrn v. Perfall.
Genua, 26. Februar 1887.     

Nachdem der grimme Winter des Jahres 1887 auf einige Wochen selbst über die ewig blühende Riviera sein dürres Scepter geschwungen, lachte in der Faschingswoche die Sonne so freundlich, so frühlingsmächtig über der ligurischen Küste, als habe sie den mürrischen Gesellen nur auf kurze Zeit zum Karneval eingeladen, theils um dem verwöhnten Völkchen wieder etwas Neues zu bieten, theils um ihre eigenen Reize wieder begehrlicher zu machen. Es galt ja, heute das heitere Fest zu feiern ihres geliebten sanftumstrahlten Kindes, des blühenden Nizza.

Wie ein Zauberwort tönt’s von Marseille bis Genua, ja bis ins blasirte, freudenmatte Paris: „Carnaval de Nice!“ und Zug auf Zug bringt neue Gäste. Arm und reich: das Fischermädchen vom Strande, die stolze unnabbare Lady, der Gesunde und der Kranke, Alles läßt sich in diesen Strudel ziehen. Und heute um zwei Uhr wird ja die lieblichste der Schlachten, „la bataille des fleurs“, die Blumenschlacht, geschlagen; wer möchte da fehlen, sich nicht auch in diesen duftigen Geschoßregen stürzen? Und die von Kampfeslust erhitzten Gesichtchen, die feurigen Blicke!

Es war denn auch ein Bienenschwarm, der sich brausend über die Ponts des Anges, die Rue des Anglais herabwälzte.

Voilà des bouquets, voilà des bouquets!“ tönte es an allen Ecken und Enden; Körbe, Wagen voll wurden zum Verkaufe ausgeboten. Betäubender Blumenduft lag jetzt schon über der ganzen Stadt. Die Tribünen für die Zuschauer füllten sich mit elegantem Publicum; Diener trugen Waschkörbe voll Bouquette aller Größen und stellten sie vor ihre Herrschaften. Alles rüstete sich zum Kampfe. An Munition fehlte es nicht. Selbst die Noth drängte sich heute aus ihren Winkeln in diesen allgemeinen Duft und Glanz und schmückte ihre Lumpen wie zum Hohne mit Veilchen. Auf den Balkonen, an den Fenstern der stolzen Paläste, den glänzenden Hotels der Rue des Anglais, der Place Massena drängte sich die elegante Welt in kostbarer Toilette, ebenfalls mit Munition reichlich versehen.

Ein buntes Gewirr greller Farben: die Trikolore an allen Ecken und Enden, bunte Dominos, Harlekins, Pierrots, die excentrischsten Toiletten, die je übermüthige Phantasie ersonnen, dazwischen die grellrothen Mützen der Küstenbewohner, die schreienden Uniformen des französischen Militärs, darüber azurner Himmel, daneben tiefblaues Meer, in das die mächtigen Palmenwedel der Rue des Anglais mit ihrem kräftigen Grün hineinragten, Freude, Lebenslust, Frühling allüberall!

Endlich ertönt die Musik, die Köpfe recken sich, Alles ist bereit – „voilà des bouquets!“ schüren die Verkäufer die Kampfeslust. Weit unten in der Rue des Anglais erhebt sich goldig erglänzender Staub; helles Getöse, dunkle Punkte schwirren massenweise durch die Luft. Die Schlacht hat begonnen – noch ist es nur Tirailleurfeuer; die Massen haben sich noch nicht begegnet.

Der Wagenzug nähert sich den ersten Tribünen. Jetzt ist die Luft von Blumengarben erfüllt, blau, weiß, gelb, roth schwirren Tausende der duftigen Geschosse von den Tribünen, aus den Fenstern berab, aus dem das Trottoir füllenden Publikum, und energisch wird das Feuer aus den Wagen erwiedert.

An manchen Stellen ist das Bombardement so arg, daß die besiegten Insassen des Wagens, erstickend, erblindend unter den von allen Seiten sie überschüttenden Blüthen, um Gnade bitten und einen Parlamentär mit einem Bouquett auf die Tribünen schicken.

Die Wagen fahren um die Place Massena in die Rue des Anglais und vertheilen sich dann in den Straßen. Unterdeß sinkt der Abend herab über Stadt und Meer, ein kühler Frühlingsabend. In den Kaffeehäusern sammelt es sich wie Staare im Schilfe; hier und da fliegt noch ein Bouquett in den Schoß einer Schönen, einzelne Karossen, angefüllt mit jungem Volke, das den Spaß nicht genug bekommen kann, fahren noch in den Straßen umher. Ihre Insassen bieten den Vorübergehenden Bouquette und Sträuße an, die mit einem leichten Scherz entgegen genommen und gleich darauf wieder verfeuert werden.

Es ist Nacht, von allen Seiten ertönt Tanzmusik und Festeslärm. Das Nachtfest im Palmengarten des Opernhauses ist heute das [212] Rendez-vous der ersten Gesellschaft, in die sich in karnevalistischer Freiheit die ganze Demimonde Nizzas, das heißt zu dieser Jahreszeit die Demimonde von Paris, zu mischen pflegt. – Neben der vornehmen Weltdame in unnachahmlich geschmackvoller Toilette die Pariser Cocotte in ihrer auffälligen Tracht – neben dem Glücksritter und Abenteurer die ersten Namen Europas. Doch das sollte ja heute nur ein Vorspiel sein zu der morgigen großen Redoute, dem großen Bacchanal von Nizza.

 Partie aus San Remo.
Straße in San Remo. 

Ein herrlicher Morgen und Nizza siegestrunken – Nike! Die Narrheit ist schon wach in allen Straßen und wirbelt in tausend Gestalten, in tausend Farben durch einander. Fuhrwerke aller Art, mit farbigen Teppichen und Guirlanden behangen, durcheilen die Stadt, sich für die Schlacht anbietend. Säcke voll der Confetti, kleiner Kalkkügelchen, werden feilgeboten, dazu leichte Drahtmasken zum Schutze des Gesichtes. Herren und Damen, Alles ist vermummt in dicht schließende Dominos, oder in Ermangelung eines solchen kehrt man seinen Ueberzieher um, trägt ihn dicht zugeknöpft mit dem Futter nach außen, drückt den Hut tief in das von der Maske geschützte Gesicht und erwartet nun getrost jeden Angriff. Ganz Nizza ist so gerüstet, hoch und niedrig; heute gilt nichts – nicht Rang, nicht Alter, nicht Armuth, nicht Reichthum; über Alle schwingt Prinz Karneval sein Narrenscepter. Um zwei Uhr beginnt der Zug. Die Waffe ist heute eine andere, weniger liebenswürdige, daher auch die Armirung der Truppen eine dem angemessene. Den Zug eröffnet eine Schar Reiter in geschmackvollem Phantasiekostüm aus weißer Seide; ihre unbedeckten Gesichter verlangen Schonung, nur hier und da wird eine Hand voll gegen sie geschleudert; auch hinterlassen die „Bonbons“ auf ihrer weißen Kleidung keine Spuren – das reizt die Menge nicht.

Große Brückenwagen mit Burgen und Tempeln, mit Zelten und phantastischen Dekorationen in allen Farben nahen sich in endlosem Zuge; ihre Insassen, Herren und Damen in reichen, der Farbe und Art der Wagen angemessenen Trachten, überschütten die Fußgänger mit den prasselnden Confetti und werden ihrerseits von den Fenstern und Balkons arg mitgenommen; auch unter der Menge selbst pflanzt sich das Bombardement fort; die Kunst besteht darin, dem Gegner die volle Ladung in die Maske zu geben.

Der Muthwille, die tolle Laune wächst ins Unendliche, Masken umschwärmen die Wagen. Das Menschengewoge, das Spiel der Farben im grellen Sonnenschein mitten in dieser lieblichen Landschaft spottet jeder Beschreibung.

Mit ihrer ganzen Majestät umgürtet, sank die Sonne in das dunkelnde Meer, langsam, erhaben, und ihre letzten Strahlen küßten das liebe ausgelassene Kind. „Gute Nacht, treib’s nicht zu toll – auf Wiedersehen!“ Immer tiefer sank der feurige Ball – noch ein rothes Pünktchen, wie die Flamme des Leuchtthurms. Auf Wiedersehen! Sie ahnte wohl selbst nicht, die Gute, Segenspendende, wie das werden sollte, das Wiedersehen!

Die eigentliche Schlacht ist zu Ende, und man erblickt die Kehrseite des Karnevals. Korybantenscharen durchziehen die Straßen beim betäubenden Klange von Pfeifen, Trommeln und anderen Instrumenten. Die heitere Lust, das rosenbekränzte, liebliche Kind ist verschwunden; die Sitte ist gewichen; wüste Leidenschaft schwingt jetzt das flammende Scepter.

Em unsagbares Sehnen erfaßt mich, diesem Hexenkessel zu entrinnen, der einen so brodelnden, schmutzigen Gischt aufwirft.

Aber wohin? Heute Abend sollte ja erst dem Feste die Krone aufgesetzt werden. Ich konnte nicht mehr; der Kopf schmerzte. Ich drängte [213] mich zur Bahn; um neun Uhr ging der Zug nach San Remo, meinem Aufenthaltsorte. Ich athmete auf in dem leeren Wartesaal; das Personal sah mich erstaunt an; heute Abend nach San Remo – aus Nizza? Unglaublich! Ich war natürlich allein im Koupé; mir war Einsamkeit so süß. Fort ging’s den Strand entlang in der herrlichen sternenvollen Nacht, an Monte Carlo vorbei, dessen Marmorpaläste aus dem Dunkel der Oliven und Palmen hervorleuchteten. Ueberall Stille – Nizza hat heute Alles verschlungen. Stille herrscht auch in Mentone, wo das Meer einen Doppelbusen bildet, Stille herrscht jetzt auf dem weiten Strande, auf welchem sonst ein buntes Treiben fluthet, in welchem die Söhne und Töchter Albions überwiegen. So durcheilen wir diese Küste, welche wie eine kostbare Perlenkette sich von Nizza bis Spezia erstreckt. Die herrlichen Juwele Nizza, Monaco, Monte Carlo, Mentone liegen schon hinter uns; bei Ventimiglia erreichen wir die französische Grenze, und nun beginnt die italienische Riviera ihre Reize zu entfalten: San Remo, Savona, Pegli, das vielbesuchte Nervi und Spezia reihen sich wie kostbare Edelsteine um den strahlenden Krondiamanten Genua.

Ausgabe von Briefen im Freien. 
 Die ersten Augenblicke nach dem Erdbeben.

San Remo! Ich stieg aus; da war’s lebendiger; die Fluth des Karnevals warf auch hierher ihre Wogen, wenn auch nicht so stürmisch wie in Nizza. Masken riefen mir verbrauchte Späße zu. Tanzmusik, Guitarrenklänge ertönten aus allen Lokalen. Es waren ja nur noch wenige Stunden, dann – carne vale!

Ich schlief unruhig. Das Geprassel der Confetti, die feurigen Blicke, der Blumenduft verwoben sich im Traume zu unzähligen Bildern – doch schlief ich. Plötzlich erwachte ich. Bin ich noch im Zuge? Ich blicke aufwärts, greife um mich im fahlen Dämmerschein: das ist ein Zimmer, ein Bett, und doch bewegt sich, rasselt, klirrt, schwingt sich Alles, ich selbst, das Bett! Mit einem Sprunge bin ich heraus. Unterirdischer Donner rollt. Das Haus stürzt ein. Ischia – die Namen meiner Lieben zu Hause: das Alles zuckt blitzartig durch mein Gehirn. Ich öffne die Thür und stelle mich unter die Füllung. Vom Plafond fallen schwere Kalkstücke auf das eben verlassene Bett. Seltsam! Ich fange trotz Allem zu – zählen an; zähle bis 84; dann hört die Bewegung auf, und ich wundere mich, daß das Haus noch steht.

Madonna! Madonna bellissima! Santa madre!“ tont es in dem finsteren Gange, weiße Gestalten mit zerwühltem Haare stürzen aus den Thüren, einige verhüllen ihre Blöße mit irgend einem bunten Maskenstück von gestern. Viele denken gar nicht daran; ein Herr hält sorgsam die Stiefel in seiner Hand; eine Dame läßt sich nur mit Gewalt abhalten, im Hemde barfuß auf die Straße zu eilen. „Terra mota! Tremblement de terre! – Erdbeben! retten Sie! Hilfe! Meine Kinder! Wird es wiederkommen?“ stöhnt es durch einander.

Neues unterirdisches Getöse ist die Antwort. Das Haus bebt wie von Fiebern geschüttelt. Kalk löst sich von der Decke und fällt, Alles in Staub hüllend, zu Boden; ein stürzender Wandspiegel läßt mit seinem klirrenden polternden Getöse die Verwirrung ins Unendliche wachsen. Alles stürzt die Treppe hinab, die bleichen, angstverzerrten Züge tragen noch die Spuren der durchschwärmten Nacht, ich denke trotz allem an das Bacchanal in Nizza; vielleicht war er dort noch schlimmer, der Aktschluß des „Propheten“!

Alles eilt dem Meere zu. Auf der Promenade bietet sich ein eigenthümliches Schauspiel. Das ganze elegante Publikum der gegenüberliegenden Hôtels d’Angleterre, Royal hat sich hierher geflüchtet. Mütter mit ungeordnetem Haar, nothdürftig bekleidet, ziehen auf der Steinbrüstung ihre nackten, frierenden Kinder an; schwer Kranke werden herbeigeschleppt; überall stehen erregte Gruppen. Aus den Handbewegungen kann man den Inhalt des Gespräches errathen, jeder erzählt, welche Empfindung er gehabt, jeder fürchtet, hofft, macht Pläne. Der Gefahr entfliehen, wohin? Noch waren keine Nachrichten da, wie weit das Erdbeben sich erstreckte. Der Bahnhof, das Telegraphenamt waren belagert; das sonst bis zur Peinlichkeit elegante Publikum machte jetzt ungekämmt, halb angezogen, alle sonst sorgsam geheimgehaltenen Schwächen verrathend, einen trotz des Ernstes der Lage komischen Eindruck. Da kamen die ersten Depeschen: in Nizza, Mentone, Porto Maurizio, Bordighera, Diano Marina noch schlimmer; die ganze Küste bebte. Man war eingeschlossen.

Plötzlich in dem allgemeinen Drängen, grollte es zum vierten Male unter den Füßen; es war, als käme der Donner vom Meere her; wie eine Schar Staare, auf die ein Schuß abgefeuert wurde, stob Alles schreiend auseinander. Man stand auf einem Vulkan; nur Flucht konnte retten, so dachte Alles. Hochbepackte Hôtelwagen rollten herbei, um 10 Uhr mußte der Zug von Nizza nach Genua kommen. Fort um jeden Preis! Der Schalter wurde gestürmt. Der Zug kam lange nicht; endlich um 11 Uhr keuchte er heran, überfüllt von Flüchtigen aus Mentone und Nizza; man drängte sich ohne Billette in die Wagen, das Personal war machtlos; an Gepäck dachte Niemand mehr! Eine Dame in vollstem Negligé klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an eine Thürklinke des schon abgehenden Zuges. Hunderte sahen ihm händeringend, alle Fassung verlierend nach. Der Untergang der ganzen Riviera war schon zur fixen Idee geworden.

Es war ein freudiger, sonniger Tag, nicht das geringste Anzeichen in der Natur von den gewaltigen Kämpfen in dem Innern der Erde. Das Meer warf mit majestätischem Gleichmuth seine Wellen an den Strand. Mit dem Sonnenlichte zog wieder Fassung ein in die geängstigten Herzen. Aber entsetzliche Post traf ein von allen Seiten. In Bajardo hatte die Kirche Hunderte begraben; Bussana, zwei Stunden entfernt, war nicht mehr. Auch in der Altstadt gab es Todte und Verwundete.

Ein furchtbarer Aschermittwoch war hereingebrochen über die Riviera, ein Carne vale für Hunderte in der vollsten Bedeutung des Wortes.

Nach Bussana! Ich wollte einmal dem Entsetzen, der Teufelei der Natur ins Antlitz schauen. Ein herrlicher Weg führte mich die Küste des Meeres entlang. Die gelben Felsen zur Linken, die wogenzerfressenen Klippen, das blaue, leise sich kräuselnde Meer mit einigen Seglern, die wie weiße Vögel in das milde Blau des Himmels hineinragten – eine idyllische Landschaft – voll Friede! Heuchlerin, Urfeindin Natur, mit der wir ringen von der Geburt bis zum Grab, in uns, außer uns – ich glaube dir nichts mehr, ich fahre ja zu deinen Opfern, Sirene! – Der Weg biegt rechts ab durch Olivenhaine. Bald erblicke ich burgengleich auf bewaldeten Anhöhen zwei Orte, der rechtsliegende ist Bussana; es ist schwer zu erkennen, welches von den Dörfern das verwüstete ist; hier zu Lande gleicht ja jedes Dorf einer Brandstätte, die altersgrauen Mauern, die ein Gebäude zu bilden scheinen, erheben sich malerisch aus dem Graugrün der Oliven; aber Zeichen des Unheils kommen mir schon auf halbem Wege entgegen. Zwei mit allem möglichen Hausrath belastete Esel traben die staubige Straße herab. „Von Bussana?“ frage ich den Treiber. Er nickt stumpf mit dem grauen, verwitterten Kopf. Ich will ihn nicht weiter fragen; das Unglück haßt die Neugierde. Ein altes Mütterchen treibt eine Kuh herab, wohl das Einzige, was ihr geblieben. Jetzt naht ein ganzer Zug. Männer, Frauen, Kinder, voran das leibhaftige Modell zu Kaulbach’s „Dorothea“. Eine hohe kräftige Gestalt, mit anmuthiger Bewegung einen schweren Bündel auf dem Kopf haltend; der braune, fein modellirte Arm hebt sich in tadelloser Linie vom blauen Himmel ab. Bitterer Trotz ruht in dem dunklen Antlitz; mich rührt er mehr als alle Thränen. Stumpfsinnig folgten die Anderen, schwer bepackt, ich hörte keine Klage, keine Bitte. Eine solche Nacht mag wohl Alles ertödten.

Villa Cipollino in Mentone.0 Nach einer Photographie.

Vor dem engen burgartigen Thore des Dorfes lagerten Soldaten, den Eintritt verwehrend, ihre Kameraden drinnen vollzogen das Rettungswerk. Nebenan unter den Oliven das Lager der Bewohner. Mit grellen Lumpen malerisch drapirte Gestalten, Frauen, Männer, nackte Kinder, stehen, hocken umher, stumpfsinnig, apathisch, ermattet von all den Schrecken auf die armseligen Betten und Matratzen hingesunken. Neben dem Wege, an eine zerfallene Mauer gelehnt, liegt eine Frau, ihr Gesicht ist mit einem nassen, blutigen Tuch bedeckt, schwer wogt die Brust; Kinder umringen sie laut jammernd: o madre, madre! Ein junger Officier kniet neben ihr und spricht ihr Trost zu; ich frage ihn nach dem Befinden der Armen.

„Vorbei,“ sagt mir seine Geste. „Und die Todten, die Verwundeten?“ „Hier oben,“ er deutete auf die Osteria oben auf einem Felsen.

„Wie viel?“

[214] „Hundertfünfzig bis jetzt!“

Ein Glöckchen ertönt; ein Priester mit dem Sakrament geht den schmalen Steig aufwärts zur Osteria; ich folge ihm. Unten in der Stube ist der Verbandsplatz. Karbolluft weht entgegen. Aechzen, Stöhnen, laute Gebete; blutgetränkte Verbände um verstümmelte Glieder, schmerzverzerrte Züge überall; zwei Soldaten schleppen eben einen Körper nach oben; da oben ist’s still, und der gehört wohl auch zu den Stillen. Ich werfe nur einen Blick in den Raum; er ist erfüllt von Opfern dieser Nacht: ein mitleidiges Tuch bedeckt das Grauenhafte.

Neben der Osteria steht eine kleine Kapelle; dort knieen sie in dichten Scharen vor dem Bilde der Schmerzensreichen; sie muß sie verstehen mit den Schwertern in der Brust. Von dem Dorfe her schmettern die Trompetensignale der Soldaten.

Bussana ist ein Trümmerhaufen; nur der schlanke weiße Kirchthurm ragt unversehrt empor. Die weißen Häuser sind in der Mitte gespalten; die armseligen Wohnungen liegen offen jedem Blick; dort steht ein zerwühltes Bett, ein Tisch mit Geschirr am Rande des Abgrundes; bunte Bilder hängen noch an den rissigen Wänden. Balken, Mauern, Dächer ragen in wirrem Durcheinander in die Luft; hier und da steigt eine Staubwolke in die Höhe von einer nachstürzenden Mauer. Gestern um diese Zeit flogen die Confetti zu Nizza – erschütternder Kontrast!

Voll von dem Eindruck, voll bitterer Philosophie kehre ich zurück; vielleicht ereilt San Remo heute Nacht dasselbe Schicksal.

Es dunkelte schon, als ich nach San Remo zurückkam; es war unterdeß zum Feldlager geworden. In allen Gärten der Villas und Hôtels, in den öffentlichen Anlagen unter den Palmen waren Baracken und Zelte aufgeschlagen, um die Nacht hier zuzubringen; auf den freien Plätzen brannten Feuer, um die sich Alles drängte. Gepäcksstücke, Koffer, Reisetaschen lagen überall umher. Unten am Meere waren die Fischerboote ans Land gezogen, mit Plaids, Tüchern, Segeln bedeckt, aus denen es transparentartig durchleuchtete. Die verwöhnteste Lady schien heute mit Allem zufrieden zu sein; die Wagen waren schon längst alle in Beschlag genommen. Die Häuser und Hôtels, sonst um diese Zeit hell erleuchtet, lagen dunkel, düster. Ich traf einige Landsleute, und wir beschlossen, wenigstens bis Mitternacht den allgemeinen Jammer, die Beklommenheit beim bayerischen Bier zu vergessen. Es gelang uns auch eine Zeit lang; als aber der Zeiger schon über 12 hinausrückte und sich immer mehr der verhängnißvollen Stunde von gestern näherte, verstummte das Gespräch; wir waren die Letzten im Bade. Auf der Promenade am Ufer des Meeres wollten wir Obdachlosen die Nacht verbringen; im Falle einer Katastrophe war man hier unbedingt am sichersten. Man hätte beim Anblick der Gestalten, die sich hier bewegten, glauben können, der Karneval beginne von Neuem. Damen und Herren in weiße Bettdecken gehüllt, in farbige Teppiche, um sich vor dem kalten Seewind zu schützen; auf den Bänken, im Dunkel unkenntliche Massen, Berge von Tüchern, Pelzen, unter denen sich hier und da durch eine plötzliche Bewegung lebende Wesen verriethen. Ich war nicht so gut ausgerüstet, die Kälte war empfindlich – und dabei der Gedanke, daß unzählige schwer Leidende, die sonst das Zimmer nicht verlassen konnten, eine ganze Nacht derselben ausgesetzt waren! – Ich ging den Molo auf und ab und hatte Muße zu philosophiren beim einförmigen Rauschen des Meeres, dem Sternengeflimmer über mir, dem wankenden Boden unter mir. Man erwartete mit Sicherheit gegen Morgen einen weiteren Stoß, der bei den beschädigten Gebäuden verhängnißvoll werden mußte. Der Gedanke war schon zur Manie geworden; man wartete auf seine Erfüllung; man war fast enttäuscht, daß sie nicht kam.

Gegen 4 Uhr, ich hatte mich eben ermüdet auf eine Bank gesetzt, pochte es gegen meine Sohlen, wie ein ferner Gruß aus räthselhaften Tiefen; ich hatte mich nicht getäuscht; ängstliche Bewegung wurde vernehmbar ringsumher. „Jetzt kommt’s,“ dachte man. Ich sah Leute, die sich an den Bänken festhielten in ängstlicher Einfalt. Es kam aber nicht. Ein kalter Wind wehte von Sonnenaufgang her. Das Firmament erbleichte im Ost und nahm die Farbe der Milchstraße an. Dann legte sich ein dunkelrother Rand über die noch schwarze See; allmählich schien sich derselbe von innen zu erhitzen, zu erglühen; plötzlich schien er ein Feuerbrand, in dem die zitternden Kontouren des Meeres auf- und abwallten. Die Nacht versank im Westen, mit ihr die Qual; Alles athmete auf, erstarrt von der nächtlichen Kälte.

Mein Entschluß stand fest. Der Anblick in Bussana, die durchwachte Nacht, die allgemeine Unruhe, die Besorgniß der Angehörigen zu Hause bei der Nachricht – da war keine Freude mehr zu hoffen an diesen lieblichen Gestaden. Mit dem ersten Zuge fort von dieser gleißnerischen, palmengeschmückten Küste zu meinen theueren, wenn auch schneebedeckten deutschen Tannen! Da steckt doch noch mehr Beständigkeit darinnen. Ich eilte in das Hôtel, betrachtete mit scheuen Blicken die geborstene Wand in meinem Zimmer, packte in Eile meine Sachen – und hinunter auf den Bahnhof. Aber diese Idee hatte ganz San Remo; der Bahnhof war fast zu klein, Alle zu fassen. Der Zug war noch nicht zum Stehen gebracht, und schon drängte Alles an die Koupés. Die Spuren der durchwachten Nacht lagen auf allen Gesichtern; alle Eitelkeit, alle Gefallsucht war vergessen. So unmöglich es schien, der Zug verschlang doch Alles; nur die armen Bewohner von San Remo standen noch niedergeschlagen auf dem Perron und blickten rathlos ihren entschwindenden Hoffnungen nach. La saison est morte! 10000 Fremde verlassen an diesem Tage die Riviera.

Arme Riviera! Vor 14 Tagen fuhr ich entzückt durch die blühende Landschaft und pries die glücklich, die hier geboren werden, und heute gleicht sie einem Lande, das eben ein barbarischer Feind verlassen. An allen Stationen sah man Lager im Freien, düstere Gesichter und hörte noch düsterere Nachrichten. Dieser Aschermittwoch kostet der Riviera mehr als tausend Menschenleben. An manchen Stellen, wie in Porto Maurizio, Noli, hingen geborstene Mauern über die Schienen, daß der Zug nur langsam mit größter Vorsicht vorbeifuhr, um nicht durch die Erschütterung den Einsturz herbeizurufen. Die Tunnels, die Brücken waren unsicher; überall drohte ein Unglück, und Alle athmeten auf, als der Zug in den Bahnhof zu Genua einfuhr. Ich hatte genug des Südens und strebte über die Alpen der Heimath zu. Diese massigen schneebedeckten Berge wirkten jetzt ordentlich beruhigend, nachdem sich Tage lang meine Phantasie in den Feuer- und Lavaschlünden unbekannter Tiefen ergangen. Aber lange noch wird in meiner Erinnerung nachtönen der gewaltige Schlußaccord des Karnevals der Riviera!

Lager am Strande.0 Nach Photographien und Skizzen gezeichnet von A. Lewin.

[215]

Blätter und Blüthen.

Hermine Spies. (Mit Portrait S. 197.) Die neue erfreuliche Geschmacksrichtung, welche nicht mehr die Kehlfertigkeit als den richtigen Maßstab der Gesangskunst ansieht, fördert als köstlichsten Schatz das wie Dornröschen in langem Schlafe befangene deutsche Lied zu Tage. Eine wahrhaft Auserwählte, ein Liederapostel in weiblicher Gestalt ist die Künstlerin, deren Bild wir unsern Lesern vorführen. Hermine Spies ist als Liedersängerin heute ein Liebling des deutschen Koncertpublikums. Sie wurde als Tochter des Hüttendirektors auf Löhnberger Hütte bei Weilburg an der Lahn geboren. Kaum zwei Jahre alt verlor sie die zärtlich sorgende Mutter. An deren Stelle waltete nicht „die Fremde liebeleer“, sondern eine das Kind sorgsam behütende Tante, Schwester der Mutter, eine musikalisch hoch begabte Dame, welche früh schon das Talent des Kindes entdeckte. Im Hause des Vaters wurde viel und gut musicirt. So entwickelte sich der musikalische Sinn des Kindes sicher und in bester Richtung, und nachdem Hermine 14 Jahre alt aus dem Stillleben der Heimath in das Bernhardt’sche Institut in Wiesbaden versetzt worden war, konnte sie als gut vorbereitete Gesangsschülerin in die wohlbekannte Freudenberg’sche Musikschule eintreten. Es ist bemerkenswerth, daß die jetzt so berühmte Altsängerin damals mit ihrem hellen lieblichen – Sopran das Wohlgefallen ihrer Lehrer erregte. Erst allmählich vollzog sich die Umwandlung des Timbres, der in seiner späteren Art nicht wenig die früheren Lehrer in Erstaunen gesetzt haben mag.

Zwei Jahre studirte sie dann bei Professor Sieber in Berlin „italienische Gesangsmethode“, die jedenfalls das Gute hatte, der Künstlerin zu dem bei ihrem machtvollen Organ doppelt bewundernswerthen leichten Ansatz zu verhelfen. Meister Stockhausen empfing die so wohlvorbereitete Schülerin mit Freuden. In seiner Schule entwickelte sie alle jene Vorzüge, welche wir heute als die anziehenden Eigenthümlichkeiten ihres Talentes am meisten bewundern: die Innigkeit und Tiefe der Auffassung, das ursprüngliche Feuer und die hinreißende Begeisterung in der Darstellung. Noch als Schülerin erprobte Hermine Spies zuerst ihre Leistungsfähigkeit in einer kleinen Altpartie auf dem Musikfeste zu Mannheim im Mai 1881, aber erst das Berliner Debut im Februar 1883 und die ersten Leipziger Erfolge im April desselben Jahres eröffneten ihr die Ruhmeslaufbahn. Wer vermöchte diese in den zahllosen Koncertreisen zu schildern, die sie im Herbst 1886 auch zum ersten Male nach der südlichen Musikmetropole Wien führten. Ueberall führte ihr Auftreten zum glänzenden Siege. Hermine Spies ist eine der seltenen Künstlerinnen, denen gegenüber die Bewunderung zugleich die Sympathie des Herzens bedeutet; nicht die Sinne reizt ihre idealen Zielen zugewendete Kunst, nein, das Gefühlsleben in allen seinen Stimmungen beherrscht die Künstlerin, erfreuend, tröstend, erhebend. So steht, wie großartig ihre Leistungen im Oratorium sein mögen, ihre Kunst im Liede am höchsten. Doch ihr Repertoire umfaßt die musikalische Litteratur alles Großen und Schönen von der alten bis auf unsere Zeit; in beiden hat sie Lieblinge, dort Händel, hier Brahms. Ihre Vielseitigkeit ist im Uebrigen staunenswerth, und aus Freundesmund kann man das begeisterte Lob hören, daß Fräulein Spies ein ebenso liebenswerthes und geistesfrisches Mädchen ist.

Im Kaffeehause nach der Redeschlacht. (Mit Illustration S. 201.) Es giebt kaum eine andächtigere Gemeinde, als die der Zeitungsleser nach großen Tagesereignissen, wozu ja auch die parlamentarischen Redeschlachten gehören. Unser Bild zeigt uns ein solches, in die Lektüre der Zeitungen vertieftes Kaffeehauspublikum, auf welches der Lichtwer’sche Vers zu passen scheint:

„Wenn sie nicht reden, hören, fühlen
Noch sehn: was thun sie denn?“

Sie „spielen“ nicht wie die Helden der Lichtwer’schen Fabel; aber sie lesen Zeitungen. Soeben sind die Septennatsreden Bismarck’s und Moltke’s in den Blättern erschienen – kein Wunder, daß alle Gäste in die Lektüre vergraben sind, selbst der Droschkenkutscher draußen auf seinem Bock. Es ist offenbar das Café Schiller, welches die Zeichnung uns vorführt: das Interieur ist ein kleiner Theil des im reichen Zopfstil gehaltenen Cafés, und draußen auf dem Gendarmenmarkt sehen wir ja das Schauspielhaus. Die Gesichter der Leser, die man sieht, lassen den Gesichtsausdruck der anderen errathen, die hinter den Blättern verschwinden – es herrscht eine krampfhafte Spannung. An solchem Tage spielen nur die politischen Zeitungen eine Rolle. Die illustrirten Wochenblätter bleiben unberührt auf den Tischen liegen. †     

Vermißen-Liste. (Fortsetzung aus Nr. 46 des Jahrganges 1886).

82) Der Sattler August Hermann Vesterling, geb. 14. Mai 1852, verließ Mitte der siebziger Jahre Deutschland, um nach London zu gehen. Dort hat er bis 1877 in der Henriettenstreet – London W – gewohnt und war, wie aus einem Briefe entnommen werden kann, verheirathet. Seit jenem Jahre fehlt jede Nachricht von ihm. Er soll stets den Wunsch gehegt haben, nach Brasilien auszuwandern; es ist daher möglich, daß er dorthin sich begeben hat. Seine vier Geschwister bitten dringend um ein Lebenszeichen von ihm.

83) Seit 1881 hat der Barbier Karl Wilh. Paul Posemann, geb. 6. Mai 1853 in Kottbus, seinen Eltern keine Nachricht mehr gegeben; er hielt sich zuletzt in Glauchau auf.

84) Der Tischlergesell Theodor Ludw. Joachim Krohn, geb. 1828 in Bendtwisch bei Rostock, schiffte sich 1856 von Hamburg nach Südaustralien ein und ist seitdem verschollen.

85) Oskar Albert Ullrich, vormals Handlungskommis, geb. den 29. Februar 1860 in Dresden, ist seit 3. Nov. 1879 aus dem elterlichen Hause in Dresden spurlos verschwunden und wird von seinen Angehörigen dringend gebeten, Nachricht von sich zu geben.

86) Der Schlosser und Mechaniker Paul Alfred Messerschmidt, geb. 15. August 1847 in Berlin, verließ 1874 seinen Wohnort Erfurt und ist seitdem spurlos verschwunden.

87) Im Jahre 1882 schrieb der Barbier Herm. Robert Buttenberg, geb. 13. Mai 1854 in Wolferode bei Eisleben, an seine Eltern aus Adelaide in Australien, daß er weiter reisen wolle, ohne anzugeben, wohin. Seitdem hat er keine Nachricht mehr gegeben.

88) Franz Ketelhut, Bäckergesell, geboren 24. December 1865 in Bockowin, Kreis Lauenburg in Pommern, reiste am 8. August 1882 von Hamburg nach London und ist seitdem spurlos verschollen.

89) Konst. Herm. Jos. Oskar von Dorsch, nannte sich öfters auch Josef oder Oskar von Dorsten, geb. 17. Oktober 1856 in Merkstein bei Herzogenrath, war als Matrose in den siebziger Jahren auf dem Schiffe „Paul Emil“, Rheder Sartori in Kiel, und gab zum letzten Male Nachricht aus Worms 1877. Seine Schwester bittet ihn dringend um ein Lebenszeichen; die Eltern sind inzwischen gestorben.

90) Der Fleischer Oswald Wienhold, geb. 22. Mai 1846 in Glauchau, soll sich 1878 in Joplin in Amerika aufgehalten haben und ist seitdem verschollen.

91) Johann Baptist Schöpf, in Reuth bei Stadt Kemnath in Bayern am 23. Juni 1830 geboren, war Schmelztiegelfabrikant in Schönau bei Chemnitz, verreiste angeblich in Geschäften 1881 und ist seitdem spurlos verschwunden.

92) Martin August Friedrich Hermann Spohr, geb. 3. April 1846 in Wolfenbüttel, arbeitete bis 1878 an der neuen Wasserleitung in Salzburg als Bauleiter, machte dann in Holzminden sein Examen als Maurermeister und ging 1879 wieder nach Oesterreich, und zwar zunächst nach Salzburg, dann nach Wien. Seine Adresse am letzteren Orte lautete nach seiner Angabe vom 13. Februar 1879: Neu-Rudolfsheim, Buchgasse Nr. 8 I. Stock, Thür 12. Briefe, welche seine Mutter unter dieser Adresse an ihn schrieb, kamen jedoch mit dem Vermerk: „Adressat ist abgereist nach Ungarn“ als unbestellbar zurück, und von dem Sohne erhielt die alte tiefbekümmerte Mutter kein Lebenszeichen mehr.

93) Eine arme, durch schwere Schicksalsschläge tief gebeugte Wittwe sucht ihren 1877 nach Brasilien ausgewanderten Sohn, der seit 1879 keine Nachricht mehr von sich gegeben hat. Er heißt Adolf Heinrichs, ist am 29. April 1849 geboren, war Schlosser und schrieb seinen letzten Brief aus Pelotas in der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul.

94) Der Schiffszimmermann Bernhard Karl Ludwig Grabbert, geb. 18. März 1856 in Schwerin in Mecklbg., ging 1876 von Hamburg aus auf größere Seereisen und diente seit 1878 auf mehreren englischen Schiffen als Koch, Zimmermann oder Dolmetsch, meist unter dem Namen Charles Brown, gewöhnlich Charley genannt. Seit dem genannten Jahre fehlt jede Nachricht von ihm selber. 1883 soll er sich als Steward von Southampton nach Liverpool begeben haben. Seine seit 19 Jahren schwer darniederliegende Mutter bittet dringend um Nachricht über ihren Sohn.

95) Theodor Koenen (Kuhnen), gebürtig vom Niederrhein (Preußen), hat im Jahre 1853 seine Heimath als 21jähriger Mann verlassen und ist wahrscheinlich als Matrose in See gegangen. Die Verwandten sind ohne jede Nachricht geblieben.

96) Im Mai 1883 schrieb Peter Heinrich Rose (irrthümlich öfter Christian Kose genannt) aus Birmingham zum letzten Male an seine Mutter. Er war Tischler und ist am 11. Januar 1855 in Zerbst in Anhalt geboren.

97) Clamor Ernst Emil Karl Müldner (auch Mulden geschrieben), schleswig-holsteinischer Lieutenant a. D., geb. 17. November 1830, wanderte 1853 aus und gab seine letzten Nachrichten 1871 aus Brisbane in Queensland (Australien).

98) Karl Selhofer, geb. 22. September 1853 in Bern, war in den siebziger Jahren Oberkellner im „Russischen Hof“ in Frankfurt a. M., dann von 1879 bis Juni 1883 Oberkellner im „Charing-Croß-Hotel“ in London und hat nach dieser Zeit nicht wieder an seine Mutter geschrieben, die ihn dringend um Nachricht bittet.

99) Max Bruno Tietze, geb. 8. März 1859 in Zittau in Sachsen, schrieb zum letzten Male am 19. December 1880 von Düsseldorf aus an seine alte kranke Mutter und ist seitdem verschollen.

100) Der Tapezierer Rudolf Emil Hektor Vogel, geb. 8. November 1840 in Substowo bei Sampolno in Russisch-Polen, lebte seit 1878 mit seiner Familie in Berlin. Am 20. November 1882 früh verließ er in gewohnter Weise und im Arbeitsanzug seine Wohnung und ist seitdem spurlos verschwunden.

Ein Ausbruch des Aetna. Unser Mitarbeiter August Schneegans, deutscher Konsul in Messina, unsern Lesern durch die jüngst veröffentlichte Erzählung „Speranza“ wohlbekannt, hat unter dem Titel: „Bilder aus Siciliens Natur, Geschichte und Leben“ eine überaus lebendige, nach allen Seiten hin möglichst erschöpfende Schilderung der Insel gegeben: selbst die Beziehungen deutscher Dichter zu derselben fehlen nicht, wie die Abschnitte: „Goethe in Messina“ und „Schiller’s sicilianische Dichtungen“ beweisen.

Die Darstellung des letzten Ausbruches, durch den der sicilianische Feuerberg die Anwohner in Schrecken setzte, gehört zu den Glanzstellen des Werkes. Am 18. Mai 1886 hatten die Mitglieder der deutschen und schweizer Kolonie in Messina einen Ausflug auf die von Nordwesten die Stadt umkränzenden Pelorischen Berge unternommen. Es lag nämlich ein deutsches Kriegsschiff im Hafen, und den Officieren der kaiserlichen Marine galt dieses Bergfest. „Als wir den höchsten Gipfel, auf dem sich eine unvergleichliche Rundsicht über die Meerstraße von Messina, das Tyrrhenische Meer und die Liparischen Inseln eröffnet, erreicht hatten, und ich unsern Gästen weit im Süden die über die wildzerrissenen Felskrater der sicilischen Berge herabblickende schneebedeckte Pyramide des Aetna zeigte, siehe da, welch wunderbar unerklärliches Schauspiel bot sich unsern Blicken dar! Aus seinem Gipfel stieg plötzlich eine immer höher und höher zum Himmel emporstrebende Rauchsäule; nicht die weißen wolkenähnlichen Aetnadämpfe waren es, die so leicht und ruhig dem [216] Krater entquellen und wie lichte Schaumwellen um seinen Rand sich hinlegen; schwarz, dickqualmend schoß es empor, gerade in die Höhe, immer weiter, immer weiter, daß das Auge staunend und fragend auf dem seltenen Naturschauspiel haften blieb. Hoch oben endlich vertheilte sich die Rauchsäule nach allen Seiten in die Runde, pinienförmig, wie ein ungeheurer Wolkenschirm. Das war der Ausbruch! Der Hauptkrater des Aetna spaltete sich plötzlich mit ungeheurem Getöse und schleuderte Rauch, Asche, glühende Steine in die Luft. Bei Beginn der Nacht hörte die Thätigkeit plötzlich wieder auf; kein Rauchwölkchen zeigte sich; eine schwüle Stille lagerte über dem Berg. Die Bevölkerung eilte in die Kirchen; die Kranken wurden auf die Straße getragen; winselnd und heulend liefen die Hunde umher; zitternd mit zur Erde gesenktem Kopf blieben Pferde, Maulthiere, Esel wie gebannt auf dem Flecke stehen, wo ihr Führer sie verlassen hatte. Da plötzlich, spät in der Nacht, kam das angstvoll Erwartete; begleitet von gewaltig dröhnendem, unterirdischem Donner erfolgte ein Erdstoß; alle Mauern wankten; zugleich blitzte ein jäher Feuerschein auf – das war Lava.“

Ein neuer Krater hatte sich aufgethan, oder vielmehr eine Kraterkette; sieben Oeffnungen hatte die Gewalt der ausbrechenden, die Erdkruste zerberstenden Dämpfe in die Flanke des Berges gerissen, sieben lavaspeiende, kettenförmig von Nordnordost nach Südsüdwest an einander gereihte Auswurfstrichter, die mit Donnergetöse sich Luft machten durch die alte Lava und durch das derselben als Basis dienende quarzige Urgestein hindurch. Später flossen meist diese Krater in einander, und als Schneegans am fünften Tage nach dem Ausbruche den Aetna besuchte, da ragte der neugebildete Kegel wie eine Pyramide von flüssigem Golde in den schwarzen Nachthimmel hinein, fast durchsichtig, möchte man glauben, mit gluthrothen Adern durchwebt.

„Auf dem Krater steigt eine Feuersäule auf, die ungeheure Felsmassen emporschleudert, bald gerade in die Höhe, bald sie in Garben rings umher streuend. Von Minute zu Minute hört man im Innern des Kegels ein ungeheures Getöse, ein Heulen, Dröhnen, Zischen, als sollte der ganze Berg aus einander bersten, und aus dem Krater schießt es golden blitzend hervor, von riesigen glühenden Felsblöcken … Nun quillt es über den Rand des Kegels, die rothe Lava überschäumt den Krater und schießt wie ein Strom aus lauter Diamanten und Rubinen an den steilen Wänden herab.“

Eben so lebendig sind die Schilderungen des Lavafeldes, der langsam heranrückenden Lava. Doch Schneegans vergißt nicht über der farbenreichen Darstellung der Vorgänge des Naturlebens auch über die eigenthümlichen Volkssitten zu berichten. An allen Straßen der Dorfschaften, die sich den Berg heraufziehen, stehen die Kirchen offen; brennende Kerzen umflimmern den Altar, auf den Stufen liegen und knieen betende Männer und Frauen. Dann nahen die Heiligen; geleitet von einigen im großen Kirchenornat voranschreitenden und von Chorknaben in weißer Tunika bedienten Priestern, tragen Männer von Nicolosi die Bilder der Heiligen um ihren Stadtbann herum; auf hohem Gerüst, von den Kirchenfahnen umfluthet, stehen die Bilder; hinter ihnen folgt die betende Menge, die Mützen in der Hand. Dann aber erscheint der mit zwei weißen Rossen bespannte erzbischöfliche Wagen; drei Priester sitzen darin; in ihren Händen ruht der Schleier der heiligen Agathe. Und Alles fällt auf die Kniee und lautlose Stille lagert sich über der Menge, und im Donnern des tobenden Berges und im Wiederschein des flammenden Feuers geht die wunderthätige Reliquie weiter.

Diesmal that dieselbe ihre Schuldigkeit: die allmählich nur noch stoßweise arbeitende Gewalt des Ausbruchs erlahmte; die Lava floß langsamer und erstarrte gänzlich nach einigen Tagen.

So ist in den anziehenden Reisebildern von Schneegans die Naturschilderung mit dem Sittenbild aus dem Volksleben aufs glücklichste verwebt.

Aus Friedrich Hebbel’s Tagebüchern. Einer unserer geistreichsten Dichter, der aber nie volksthümlich geworden, obschon seine Dramen „Judith“ und „Maria Magdalena“ über sehr viele Bühnen gegangen sind, Friedrich Hebbel, hat Tagebücher hinterlassen, welche neuerdings einer seiner Freunde, Felix Bamberg, herausgegeben; sie werfen manches neue Licht auf den Gang seines Lebens und Strebens, auf seine geistige Entwickelung; vor allem aber enthalten sie einen reichen Schatz von Gedanken, Sentenzen, geflügelten Worten, worunter manches Absonderliche von jener eigenartigen, oft befremdlich kühnen Bildlichkeit ist, in welche der Dichter seine Gedanken einzukleiden pflegte. Manches ist überhaupt auf die Spitze gestellt, anderes dagegen ist sinnvoll und von großer geistiger Tragweite. Wir wollen unsern Lesern einige Kleinodien aus diesem Reliquienschrein eines hochbegabten Dichters nicht vorenthalten:

Das Unglück macht den längsten Weg mit einem Schritt.

Lorbeerkronen entführt der Zephyr; Dornenkronen sitzen selbst im Sturme fest.

Die Geliebte küssen, wenn sie gezürnt, und noch halb lacht, halb weint, heißt Kirschen pflücken, wenn es geregnet hat.

Der Mensch kann nachsichtiger gegen Andere, als gegen sich selbst sein; denn gegen Jene hat er die Pflicht der Billigkeit zu üben, nicht aber gegen sich.

Klage nicht zu sehr über einen kleinen Schmerz; das Schicksal könnte ihn durch einen größeren heilen.

Man kann einen Stein wohl in die Luft werfen, aber er bekommt darum keine Flügel.

Würdige Keinen des Hasses, den du nicht auch der Liebe würdigen könntest.

Daß der Mensch, der die Wahrheit so flieht, den Spiegel erfunden hat, ist die größte historische Merkwürdigkeit.

Der Jüngling fordert vom Tag, daß er etwas bringt; der Mann ist zufrieden, wenn er nur nichts nimmt.

Auf dem Tisch Klavier spielen und in der Gesellschaft Geist entwickeln sollen, ist das Nämliche.

Das Stammbuch der Feinde trägt der Student im Gesicht.

Allerlei Kurzweil.
Schach.
Von Fritz Hofmann in München.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.
Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 116.
Weiß: Schwarz: Weiß: Schwarz:
1. D f 2 – c 2 K b 5 – c 4 1. c 5 – c 4
2. K c 1 – d 2 K c 4 – d 5 (b 5) 2. D c 2 – a 4 † K b 5 – c 5 ! A)
3. D c 2 – e 4 (a 4) † beliebig. 3. L c 8 – b 7 ! beliebig.
4. L L setzt matt. 4. D setzt matt.

A) Auf 2. … K b 5 – b 6 folgt 3. L c 3 – d 4 † nebst 4. D a 4 – d 7 matt. – Zieht Schwarz 1. … K c 6 so folgt 2. D e 4 † etc. Sonstige Varianten werden mit 2. D a 4 † oder D b 3 † erledigt. Der Versuch 1. D d 2 ! scheitert an T g 6 ! (2. D d 7 †, K c 4 !!) Gegen 1. L d 7 † schützt nur K b 6 !, 2. L a 5 †, K b 7 ! Sehr gute Konstruktion!

Schach-Briefkasten.

P. M. in O. Ihr Problemversuch ist recht niedlich, für unser Blatt aber leider nicht geeignet.

Auflösung des Räthsels auf S. 164: „Bremse.“

Auflösung der Damespiel-Aufgabe auf S. 164.
1. g 3 – f 4 1. e 5 – g 3
2. h 4 – g 5 2. h 6 – f 4
3. f 2 – h 4 3. d 4 – f 2
4. c 1 – c 7 4. d 8 – b 6
5. b 4 – h 6 gewinnt.

Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

R. B. in Stettin. Der Holzschnitt „Reine auf den Lofoten“ hat Ihren Beifall gefunden; wir können betreffs desselben Ihnen mittheilen, daß der Steiermärkische Kunstverein in Graz dieses Bild als großen Farbendruck 80 : 53 Cm. im vorigen Jahre als Vereinsprämie ausgegeben hat, und daß man dasselbe um 6 Mark (3 Fl.) erhalten kann nebst einer Aktie des Vereins, durch welche man noch an der Verlosung von Kunstwerken Antheil hat. Für das laufende Jahr giebt der Steiermärkische Kunstverein eine gleich große Landschaft als Prämie: „Abend am Mondsee“, ein farbenwarmes Bild nach dem Original von A. Chwala in Wien.

M. R. in S. Sie möchten gerne für die Fastenzeit und ihre Tanzentbehrungen ein Gesellschaftsspiel, bei dem man tüchtig lachen kann. Dies letztere bringt wohl die liebe Jugend unter allen Umstanden fertig, doch können wir Ihnen in „Verlegenheit und Aushilfe“ ein Spiel empfehlen, das schon oft eine stürmische Heiterkeit entfesselt hat. Natürlich müssen die Theilnehmer gute Laune und ein paar muntere Einfälle mitbringen, das Uebrige fügt dann der Zufall. Die Gesellschaft setzt sich im Kreis, dann sagt Jeder leise seinem Nachbar ins rechte Ohr eine „Verlegenheit“. „Was würden Sie thun, wenn Sie sich in diesem oder jenem Fall befänden?“ Vom andern Nachbar erfolgt darauf ins linke eine beliebige Aushilfe: ich würde dies und das thun. Der Spielordner beginnt einem der Mitspieler seine eigene, vorhin von rechts erhaltene Frage vorzulegen; dieser muß darauf seine von links erhaltene Antwort geben und bei einem Anderen weiterfragen. Auch hier erfolgt eine Antwort, es wird weiter gefragt und so fort, bis alle Mitspielenden fertig sind. Es kommen dabei komisch unpassende Dinge heraus, wie: „Was würden Sie thun, wenn Sie Alexander den Großen wieder aufleben lassen könnten?“ – „Ich würde ihm fünfzehn Pfennig Trinkgeld geben“ – manchmal aber noch viel komischer passende, wie in einem befreundeten Kreise: „Was würden Sie thun, wenn Sie ein Lama im zoologischen Garten anspuckte?“ – „Ich würde mir einen Stellvertreter suchen,“ oder: „Was würden Sie thun, wenn Sie von der Inquisition zum Scheiterhaufen verurtheilt wären?“ – „Ich würde mir kalte Umschläge machen.“

Probiren Sie’s nun auch mit Ihren jungen Freunden, Sie werden gewiß vielen Spaß an diesem sehr amüsanten Spiele haben!

M. Müller in Hamburg. Sie haben Recht; vergleichen Sie gefl. Jahrgang 1884, S. 648.

Sophie Sch… in Unterw… Dankend abgelehnt.


Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 197. – Der Gehirnschlag und seine Folgen. Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad. S. 204. – Die Klaque. Studie zur Naturgeschichte des theatralischen „Handwerks“. Von Otto Felsing. S. 206. – Der Karneval der Riviera und sein Ausgang. Von Anton Freiherrn v. Perfall. S. 211. Mit Illustrationen auf S. 208, 209, 211, 212, 213 und 214. – Blätter und Blüthen: Hermine Spies. S. 215. Mit Portrait S. 197. – Im Kaffeehause nach der Redeschlacht. S. 215. Mit Illustration S. 201. – Vermißten-Liste. S. 215. – Ein Ausbruch des Aetna. S. 215. – Aus Friedrich Hebbel’s Tagebüchern. S. 216. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 216. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 116. S. 216. – Schach-Briefkasten. S. 216. – Auflösung des Räthsels auf S. 164. S. 216. – Auflösung der Damespiel-Aufgabe auf S. 164. S. 216. – Kleiner Briefkasten. S. 216.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.