Die Gartenlaube (1886)/Heft 34
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No. 34. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Sankt Michael.
Das war ja fürchterlich!“ sagte Hans Wehlau tiefaufseufzend, als er sich auf seinem Schlafzimmer in der Ebersburg allein sah. „Dieser Greis aus dem zehnten Jahrhundert und dieses kleine Burgfräulein, das ich für taubstumm hielt und das nun die alten Chroniken herunterbetet wie ein Staarmatz, dem man die Zunge gelöst hat, haben mich ganz wirr im Kopfe gemacht. Ich stecke auch schon vollständig im Mittelalter, aber ich komme mir doch merkwürdig exklusiv vor, seit ich Hans Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein bin.“
Damit ging er zu Bett und schlief ein und träumte, der alte Freiherr ziehe mit einer Laterne durch ganz Norddeutschland, um den Forschungstein zu suchen, und Fräulein Gerlinde flattere
[594] als Staarmatz neben ihm her und plappere unaufhörlich von Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau, und als sie den Forschungstein nicht fanden, setzten sie sich auf ihren Stammbaum und stiegen damit hoch empor, immer höher, bis in das zehnte Jahrhundert, und das sah sehr imponirend aus.
Als Hans am anderen Morgen erwachte, schien die Sonne hell durch das Fenster und seine Kleider waren wenigstens so weit getrocknet, daß er sie anlegen konnte. Es war noch früh am Tage und im Hause schien sich noch nichts zu regen; er beschloß deßhalb, sich die Ebersburg, wo er in voller Dunkelheit und im vollsten Unwetter angelangt war, jetzt bei Tageslicht zu besehen. Aus seinem Zimmer trat er sofort in den langen Gang, der sich durch ein Fenster erhellt zeigte, fand ohne besondere Mühe die steil gewundene Treppe mit den ausgetretenen Stufen und gelangte durch die Vorhalle in das Freie.
Die Ebersburg war ohne Zweifel in früherer Zeit ein starkes stattliches Bergschloß gewesen, vielleicht im Laufe der Jahrhunderte mehrmals zerstört und immer wieder aufgebaut worden, jetzt war sie nur noch eine Ruine. Der größte Theil lag in Trümmern, was von dem Mauerwerk noch stand, schien dem Zerfall nahe zu sein. Im Schloßhofe wuchs das Gras lustig empor, dazwischen hatte sich eine ganze Generation von Gesträuchen und jungen Bäumchen angesiedelt, die den Raum zu einer förmlichen Wildniß machten. Auch von der Zinne des alten Wartthurms, der noch anscheinend unversehrt stand, winkte grünes Gesträuch und zu den Fensteröffnungen flogen die Dohlen ein und aus. Dazwischen lagen verfallene Gewölbe, halb versunkene Mauern, und hier und da ragten die Ueberreste der eigentlichen Schloßräume empor.
Der einzige noch erhaltene Flügel, der von dem jetzigen Schloßherrn bewohnt wurde, hatte gleichfalls ein trostloses Ansehen. Die Ruine war in ihrer Verwilderung wenigstens malerisch, hier aber zeigte sich überall das Armselige, mühsam Zusammengeflickte, das den Verfall decken sollte und ihn nur um so krasser hervortreten ließ. Das graue zerbröckelnde Mauerwerk hatte einen grellen Kalkanstrich erhalten, die fehlenden Fenster und Thüren waren in der einfachsten Weise ersetzt und, wo die Räume nicht benutzt wurden, einfach mit Brettern verschlagen. Der prächtige alte Erker mußte sich ein ganz gewöhnliches Nothdach gefallen lassen, und die ehemals steinernen Stufen der Außentreppe, die zum Haupteingange führte, waren durch hölzerne ersetzt worden.
Hans Wehlau’s Künstlerauge war förmlich beleidigt von diesem Anblick; er wandte sich schleunigst wieder der Ruine zu, bahnte sich einen Weg durch die grüne Wildniß des Schloßhofes und gelangte endlich durch eine Maueröffnung, die wohl einst ein Pförtchen gewesen sein mochte, auf die ehemalige Burgterrasse. Hier aber wurde seinen weiteren Streifzügen ein Ziel gesetzt; denn aus dem Wartthurm, wo sich ein Stall zu befinden schien, tönte ein lustiges Meckern und gleich darauf sprang eine Ziege aus dem geöffneten Verschlage in das Freie; hinterdrein aber kam Fräulein Gerlinde, trotz der frühen Stunde schon in voller Toilette, das heißt in dem grauen Hauskleidchen von gestern, und trug in beiden Händen vorsichtig ein kleines hölzernes Milchgefäß, das bis an den Rand gefüllt war.
Das unerwartete Zusammentreffen überraschte beide Theile. Gerlinde blieb wie angewurzelt stehen, der Gast des Hauses mußte ja nun nothgedrnngen errathen, daß das Fräulein von Eberstein, das aus dem zehnten Jahrhundert stammte und eine unendliche Menge von Ahnen zählte, höchsteigenhändig die Ziege gemolken hatte, um die Milch für den Frühstückstisch zu beschaffen. Ihre sichtbare Bestürzung machte auch Hans verlegen, so daß auch er nicht das passende Wort fand, sondern sich mit einer stummen Verbeugung begnügte. Zum Glück begriff die Ziege das Peinliche der Situation und machte ihr ein Ende, indem sie in lustigem Bocksprunge gegen den Fremden anrannte und sich dann zurückkehrend so ungestüm an ihre junge Herrin schmiegte, daß das Gefäß ins Schwanken gerieth und ein Theil der Milch verschüttet wurde.
Das unterbrach in sehr glücklicher Weise die Verlegenheitspause; Hans eilte schleunigst herbei, um der jungen Dame die Milch abzunehmen, was sie sich auch gefallen ließ, aber sie sagte dabei leise wie entschuldigend:
„Muckerl freut sich so, wenn sie in das Freie kommt.“
„Gott sei Dank! Endlich etwas Anderes als mittelalterliche Chronik!“ dachte Hans, förmlich entzückt über diese Aeußerung. Er sprach seine Freude über die Lebhaftigkeit Muckerl’s aus, erkundigte sich angelegentlich nach deren Alter und Befinden und brachte dann zuvörderst seine Milch in Sicherheit, indem er sie auf einen Mauervorsprung niedersetzte, denn Muckerl betrachtete ihn mit höchst kritischen Blicken und schien sehr geneigt, den Angriff zu wiederholen, besann sich aber schließlich eines Besseren und machte sich über das saftige Gras her, welches den Boden bedeckte.
Der Blick von der Ebersburg war nur ein beschränkter, sie lag in einem ziemlich tiefen Thalkessel, und der ringsum an der Berglehne aufsteigende Wald verdeckte und raubte ihr die weitere Aussicht, aber sie lag wie eingebettet in ein grünes duftiges Waldmeer, dessen Wipfel leise im Morgenwinde schwankten und aus dem hier und da Vogelgezwitscher heraufklang.
Die Morgensonne überfluthete hell die alte Burgterrasse. Auch hier überall Verödung und Verfall, und doch überall frisches, blühendes Leben, das mitleidig die Zerstörung deckte. In der ehemaligen Ringmauer klafften breite Lücken, aber wildes Gesträuch wuchs daraus empor und bildete eine lebendige Brustwehr; der mächtige Wartthurm, in dem die Dohlen aus- und einflogen, war wie eingesponnen in einem Netze von dichtem dunkelgrünen Epheu; an die altersgrauen Trümmer ringsum schmiegte sich weiches Moos, und üppige Schlingpflanzen wucherten darüber hin. Auf jedem Stein, aus jeder Mauerspalte grünte und blühte es, und über dem Allem lag die tiefe, traumhafte Stille der ersten Morgenfrühe.
Inmitten dieser Ueberreste einer längst vergangenen Herrlichkeit stand der letzte Sprößling der Eberstein in dem grauen Aschenbrödelkleidchen, dicht an die Mauer geschmiegt. Verschwunden war die steife Haltung und das lächerliche Gebahren von gestern Abend, das junge Mädchen war offenbar befangen durch das Alleinsein mit dem fremden Gast und blickte mit dem Ausdruck eines erschrockenen Kindes zu ihm empor. Er bekam auf diese Weise zum ersten Male ihre Augen zu sehen, ein Paar schöne, braune Augen, sanft und schüchtern wie die eines Rehs, sie entsprachen vollkommen dem holden Gesichtchen.
Das Schweigen dauerte ziemlich lange. Hans war so angelegentlich beschäftigt, in die Augen zu blicken, die sich ihm endlich entschleierten, daß er darüber ganz vergaß, das Gespräch wieder aufzunehmen, und als er es schließlich doch that, geschah es in rein mechanischer Weise, er knüpfte unwillkürlich an das gestern Gehörte an.
„Ich habe vorhin einen Streifzug durch die Ebersburg unternommen,“ begann er. „Es muß einst eine stolze Veste gewesen sein, die sicher ihren Feinden zu schaffen gemacht hat, und eine Fehde zu der Zeit, wo Kunrad von Ortenau und Hildegund von Eberstein – nein, die Geschichte war ja wohl umgekehrt.“
Es war ein Unglück, daß er die Namen aussprach; sobald Fräulein Gerlinde vom Mittelalter hörte, wurde sie wieder starr und steif wie ein Holzbild; die langen Wimpern senkten sich, ebenso das Köpfchen und in dem alten Plappertone begann sie:
„Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau im Jahre des Heils –“
„Ja wohl, mein gnädiges Fräulein, ich weiß schon, ich erinnere mich jetzt ganz genau der Sache,“ fiel Hans entsetzt ein. „Ich bin durch Ihre Güte ja vollständig eingeweiht in die Chronik Ihres Hauses. Eigentlich wollte ich nur bemerken, daß der Aufenthalt auf dieser alten Bergveste doch sehr eintönig sein muß. Sie bringen Ihrem Herrn Vater sicher ein großes Opfer damit, eine junge Dame sehnt sich doch hinaus in die Welt und in das Leben.“
Gerlinde schüttelte verneinend das Haupt, und plötzlich öffnete sie den Mund und that mit der Unfehlbarkeit eines siebzigjährigen Weisen den Ausspruch:
„Die Welt und das Leben taugen gar nichts!“
„Nichts?“ fragte der junge Mann betreten. „Woher wissen Sie denn das so genau?“
„Mein Papa sagt das,“ versetzte Gerlinde mit einer Feierlichkeit, die bewies, daß die Aussprüche ihres Vaters für sie Orakel waren. „Die Welt ist immer schlechter geworden mit jedem Jahrhundert, und das jetzige steht nun vollends im Zeichen des Unterganges, denn der Adel hat gar keine Geltung mehr.“
[595] Sie hielt die Augen wieder hartnäckig gesenkt und sprach in einem Tonfall, der ihren Zuhörer auf das Lebhafteste an seinen Traum in der vergangenen Nacht erinnerte. Um seine Lippen zuckte es eigenthümlich, aber er bezwang sich und erwiderte mit vollem Ernste:
„Ja, der Adel! Aber es giebt doch auch außerdem noch einige Menschen in der Welt.“
Fräulein Gerlinde sah etwas erstaunt aus, sie schien diese Thatsache zu bezweifeln und verfiel in ein tiefes Nachdenken, als dessen Resultat sie endlich erklärte:
„Ja freilich – die Bauern.“
„Richtig! Und noch einigen anderen Menschenrassen kann man die Daseinsberechtigung nicht völlig abstreiten. Die Gelehrten zum Beispiel, die Künstler, zu denen ich auch gehöre –“
Fräulein Gerlinde öffnete die rosigen Lippen weit vor Erstaunen und wiederholte:
„Zu den Künstlern?“
„Ja so, sie hält mich auch für solch ein mittelalterliches Subjekt,“ dachte Hans, der seine Standeserhöhnug ganz vergessen hatte, laut aber fügte er hinzu:
„Gewiß, mein gnädiges Fräulein, ich beschäftige mich mit der Kunst und schmeichle mir sogar, etwas darin zu leisten.“
Die junge Dame fand diese Beschäftigung offenbar sehr unpassend. Zum Glück fiel ihr ein, daß irgend ein Eberstein sich in irgend einem Jahrhnndert mit Astrologie abgegeben hatte, und das erklärte einigermaßen den wunderlichen Geschmack des Herrn Wehlau Wehlenberg, aber sie fand sich doch veranlaßt, ihm einen Ausspruch ihres Vaters zu wiederholen:
„Mein Papa sagt, ein Mann von altem Adel dürfe der Gegenwart keine Koncessionen machen, das sei unter seiner Würde.“
„Das ist nun die Ansicht des Herrn Baron,“ sagte Hans achselzuckend. „Er scheint sich so vollständig von der Welt zurückgezogen zu haben, daß er jede Fühlung mit ihr verloren hat; seine Standesgenossen denken ganz anders in dieser Beziehung. Sehen Sie zum Beispiel die Grafen von Steinrück, ein Geschlecht, das ebenso alt ist wie das Ihrige.“
„Zweihundert Jahre jünger!“ unterbrach ihn Gerlinde entrüstet.
„Ganz recht, volle zweihundert Jahre! Ich erinnere mich, der Ahnherr wird erst in den Kreuzzügen genannt, während der Ihrige aus dem achten Jahrhundert stammt.“
„Aus dem zehnten.“
„Natürlich, aus dem zehnten! Ich habe mich nur versprochen, ich meinte selbstverständlich das zehnte Jahrhundert. Um aber wieder auf die Steinrück zu kommen, so ist Graf Michael kommandirender General; sein Sohn war, so viel ich weiß, bei der Gesandtschaft in Paris, sein Enkel ist im Staatsdienste. Sie Alle stehen mitten im lebendigen Strome der Gegenwart und würden sich schwerlich zu den Ansichten Ihres Herrn Vaters bekennen, und auch Sie werden anders darüber denken, wenn Sie erst in die Welt und das Leben eintreten.“
„Ich mag gar nicht dort eintreten,“ sagte Gerlinde leise und zaghaft. „Ich fürchte mich so davor.“
Hans lächelte, er trat einen Schritt näher und beugte sich nieder zu dem zarten Geschöpfchen; seine Stimme klang eigenthümlich weich und sanft, als spreche er zu einem Kinde.
„Das läßt sich begreifen, Sie leben ja hier so weltentrückt, so eingesponnen in eine längst versunkene Zauberwelt, wie das schlummernde Dornröschen im Märchen. Aber einmal wird doch der Tag kommen, wo die Dornenhecke gesprengt wird, wo die grünen Mauern weichen, der Tag, wo Sie erwachen aus dem Zauberschlaf, und glauben Sie mir, mein Fränlein, was Sie dann erblicken, das ist nicht mehr der Staub und Moder der Jahrhunderte, das ist das warme, goldige Sonnenlicht, das auch durch unsere Zeit fluthet, trotz aller Kämpfe und Bitternisse – Sie werden auch noch lernen hineinzuschauen!“
Gerlinde hörte schweigend zu, aber ein leises, glückliches Lächeln spielte um ihre Lippen und verrieth, daß sie das Märchen von Dornröschen kenne. Jetzt hob sie langsam die Augen empor, nur für einen Moment, und senkte sie dann schnell wieder, was ihr aus dem Antlitz des jungen Mannes entgegenleuchtete, mochte auch etwas von jenem Lichte sein, das er ihr eben verheißen – sie wurde plötzlich dunkelroth und wandte sich hastig ab.
Muckerl war jedenfalls eine sehr verständige Ziege, sie hatte bisher ruhig geweidet und nur bisweilen einen ernsthaften Blick auf die Beiden geworfen, schien aber im Ganzen zufrieden mit dem Verlauf der Unterredung. Jetzt aber mußte ihr die Sache doch bedenklich vorkommen, denn sie ließ plötzlich das Gras im Stich und lief zu ihrer jungen Herrin, an deren Seite sie sich wie ein Wächter aufpflanzte.
„Ich glaube – ich muß in das Schloß zurück,“ sagte Gerlinde kaum hörbar.
„Schon?“ fragte Hans, der es gar nicht merkte, daß das Gespräch schon eine halbe Stunde gewährt hatte.
Sie traten gemeinschaftlich den Rückweg an, wobei Hans die Milch trug, Fräulein Gerlinde an seiner Seite ging und Muckerl folgte, von Zeit zu Zeit ernsthaft mit dem Kopfe nickend. Verdächtig war und blieb ihr die Sache doch, sie konnte nicht begreifen, weßhalb die Beiden auf einmal so stumm geworden waren. –
Eine Stunde später stand der junge Wanderer am Fuße der Ebersburg. Er hatte sich von dem Freiherrn und seiner Tochter verabschiedet, ohne sein Inkognito aufzugeben, er wollte dem alten Herrn den alsdann unvermeidlichen Aerger ersparen. Was lag denn auch daran, wenn man ihn hier noch ferner für ein „mittelalterliches Subjekt“ hielt; das Abenteuer war ja zu Ende, und er betrat schwerlich jemals wieder die Ebersburg.
Sein Blick flog noch einmal hinauf zu dem grauen Gemäuer, zu der sonnigen Burgterrasse, und die so gepriesene Gegenwart, der er sich jetzt wieder zuwandte, wollte ihm auf einmal recht nüchtern erscheinen gegen den Märchentraum, der ihm dort aufgegangen war, inmitten des grünen Waldmeeres, auf den alten Trümmern, wo es ringsum blühte und duftete, und an der Seite des kleinen Dornröschens, das sich nun wieder einspann in seine Einsamkeit und weiter träumte von dem Ritter, der die Dornenhecke sprengte und es wach küßte aus seinem Zauberschlummer. Hans unterdrückte einen Seufzer, als er sich jetzt abwandte und halblaut sagte:
„Es ist doch eigentlich schade, daß ich nicht Hans Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein bin!“
In Steinrück herrschte eine äußerst rege Geselligkeit, die durch die Jagdzeit und die schönen, sonnigen Herbsttage noch mehr begünstigt wurde. Es war zwar Niemand zu längerem Aufenthalte in das Schloß geladen worden, Gerlinde von Eberstein ausgenommen, die seit einigen Tagen dort weilte, aber man empfing fast täglich Gäste und machte eben so häufig Besuche in der Umgegend. Den Mittelpunkt dieser Geselligkeit bildeten gewöhnlich Hertha und Raoul Steinrück. Man wußte ja längst, daß die Beiden für einander bestimmt waren, daß das jetzige Zusammensein ihnen nur Gelegenheit zu einer Erklärung geben sollte, die eigentlich nur noch eine bloße Form war, und als der General die Einladungen zu einer größeren Festlichkeit erließ, die den ganzen Freundes und Bekanntenkreis des gräflichen Hauses vereinigen sollte, kannte ein Jeder die Bedeutung derselben; es handelte sich um die öffentliche Verkündigung der Verlobung.
Der Abend brach bereits herein, und das ganze Schloß war von jener Unruhe erfüllt, die einem größeren Feste voranzugehen pflegt. Die Diener liefen treppauf, treppab, hier und dort wurde noch in aller Eile eine Anordnung getroffen und die Gesellschaftsräume strahlten bereits im vollsten Lichtglanz.
Die Familie, in der nur noch Hertha und Gerlinde fehlten, trat soeben in den Empfangssalon. Graf Steinrück, der die verwittwete Gräfin führte, sah ungewöhnlich heiter aus; der heutige Tag brachte ihm ja die Erfüllnng seines Lieblingswunsches; die Verlobung der beiden letzten Sprossen seines Hauses wurde auf der Stammburg gefeiert, und damit war auch der Glanz dieses Hauses gesichert, der gesammte Steinrück’sche Besitz sollte fortan in Einer Hand vereinigt sein.
Hortense, die am Arme ihres Sohnes folgte, verrieth gleichfalls eine stolze, glückliche Zufriedenheit. Sie sah in der ebenso reichen wie geschmackvollen Toilette und bei Kerzenlicht noch immer schön aus und überstrahlte weit ihre Kousine. Die zarte, blasse Frau verschwand völlig neben dieser glänzenden Erscheinung. Naoul war heiter und liebenswürdig, nur bisweilen schien eine leichte Wolke über seine Stirn zu gleiten, aber sie verschwand [596] schnell wieder, und er zeigte seiner Mutter gegenüber die zärtlichste Aufmerksamkeit.
„Wir haben die Einladungen so viel als möglich beschränkt,“ sagte Hortense, indem sie einen prüfenden Blick durch die erleuchteten Gemächer sandte, „und dennoch werden wir nur nothdürftig Raum für unsere Gäste haben. Es ist etwas Entsetzliches um diese alten Bergschlösser, die weder einen großen Festsaal noch eine Flucht zusammenhängender Zimmer besitzen; nicht einmal eine Gesellschaft kann man darin geben!“
„Dazu sind sie auch nicht erbaut,“ entgegnete der Graf ruhig. „Sie sollten ein Heim für die Familie, sollten Schutz und Wehre nach außen sein, modernen Ansprüchen genügen sie freilich nicht, am wenigsten den Deinen, Hortense, denn Du hast Steinrück nie geliebt.“
„Nun, in dem Punkte theile ich vollkommen den Geschmack der Mama,“ fiel Raoul ein. „Mich reizt hier nur die Jagd in den Bergwäldern. Das Schloß selbst, mit seinen engen, düsteren Räumen, den endlosen, hallenden Gängen und steilen, dunklen Treppen kommt mir immer wie ein Gefängniß vor. Ich athme förmlich auf, wenn ich das alte Gemäuer im Rücken habe.“
„Du scheinst ganz zu vergessen, daß dies alte Gemäuer die Wiege Deines Geschlechtes ist und Dir als solche theuer und heilig sein muß, selbst wenn es in Trümmern läge,“ sagte der General mit einiger Schärfe.
Raoul biß sich auf die Lippen bei dieser sehr deutlichen Zurechtweisung.
„Verzeih, Großpapa, ich habe gewiß die nöthige Pietät für unseren Stammsitz, aber schön kann ich ihn beim besten Willen nicht finden. Ja, wenn es das sonnige heitere Schlößchen in der Provence wäre, mit seiner paradiesischen Umgebung, seiner sagen- und liederreichen Vergangenheit, wo ich früher so oft –“
„Du meinst das Schloß der Montigny?“ unterbrach ihn Steinrück in einem Tone, der den jungen Grafen warnte, denn er verstummte. Die Mutter aber nahm statt seiner das Wort.
„Gewiß, Papa, er spricht von meiner schönen, sonnigen Heimat. Du wirst wohl begreifen, daß sie uns ebenso theuer ist, als Dir die Deinige.“
„Uns?“ fragte der General kalt. „Du sprichst Doch wohl nur von Dir, Hortense? Ich finde es natürlich, daß Du an Deinem Vaterhause hängst, Raoul aber ist ein Steinrück und hat mit der Provence nichts zu schaffen. Seine Liebe gehört selbstverständlich seinem Vaterlande.“
Die Worte hatten einen beinahe drohenden Klang.
Der Druckfehlerteufel.
Als Lucifer, der Engel des Lichts, gefallen war, schleuderte ihn der heilige Michael mit solcher Gewalt in die Luft, daß sein Körper zerschellte und seine Glieder nach allen Weltgegenden flogen. Sie erzeugten dort die Laster, welche für einzelne Völker charakteristisch sind.
Aber zugleich mit dem alten Drachen, der die Welt verführt, wurden auch alle seine Engel ausgeworfen. Denen nützte ihre zwerghafte Figur, sie gingen nicht entzwei, sondern kamen ganz auf der Erde an, wo sie behend in engere Kreise des menschlichen Lebens schlüpften. Unzählbar sind die Namen und die Elemente dieser häßlichen Kobolde. Der eine fuhr in die Destillationen: das war der Branntweinteufel. Der andere fuhr in die Spielhöllen: das war der Spielteufel. Und so entstanden die Waldteufel, die Krautteufel, die Grenzteufel, die Kriegsteufel, die Theaterteufel. Endlich fuhr auch einer in die Officinen, wo man die Bücher druckt: das war der sogenannte Druckfehlerteufel.
Letzterer ist ein seltsames Exemplar von einem Kobold; Johannes Fust mag ihn vor vierhundert Jahren zu Mainz hereingelassen haben. Sein Thron ist der Setzkasten in der Druckerei; sein Narr der Setzer, und sein Opfer der Schriftsteller. Die Sünde begeht der Setzer; den Schaden hat der Autor, dem durch den Druckfehlerteufel oft seine besten Gedanken zu nichte gemacht werden. Die Druckerei als solche kann am wenigsten dafür. Man sagt Druckfehler; man sollte sagen Satzfehler. Denn der Fehler liegt nicht im Drucken, sondern im Setzen.
Eine elementare Bekanntschaft mit der edlen Buchdruckerkunst darf ich bei meinen Lesern wohl voraussetzen. Zunächst ist ein Original da, das ist das Manuskript des Autors. Dieses Original wird vom Setzer nicht sowohl kopirt, als vielmehr in ein zweites Original verwandelt, welches abgedruckt werden kann. Der Setzer schreibt das Manuskript gleichsam noch einmal in Blei. Vor ihm steht ein Kasten, der eine Anzahl Fächer enthält: in diesen Fächern liegen (nicht in der Reihenfolge des Alphabets, sondern ihrem Verbrauch entsprechend) die Buchstaben oder Typen. Der Setzer greift in den Kasten hinein, erfaßt einen Buchstaben und setzt einen nach dem anderen in den sogenannten Winkelhaken; zwischen die Worte kommt ein kürzeres Bleistück, der sogenannte Ausschluß. So geht es fort, bis die Zeile, das heißt, die Formatbreite des Winkelhakens voll ist. Nun beginnt der Druckfehlerteufel sein Spiel.
Das Nächste ist, daß er das Auge des Setzers trübt und die Hand, welche die Signatur des Buchstabens untersucht, muthwillig irreführt. Wenn ein Buchstabe verkehrt steht (B), wenn die Letter mit dem Fuße druckt, was der Buchdrucker „Fliegenkopf“ (_) nennt, wenn sich der Ausschluß in die Höhe gezogen hat und ein „Spieß“ (■) zum Vorschein kommt, so ist das ein Geringes. Die Gefahr liegt darin, daß ein Buchstabe für den anderen gesetzt, daß ein Buchstabe weggelassen oder eingefügt wird. Bedenkt man, wie oft ein einziger Buchstabe, ein einziges Komma, ein einziger Strich den Sinn verändern kann, so wird man auch die Verheerungen errathen, welche ein unordentlicher Setzer im Satz anrichten kann. Mit Leichtigkeit verwandelt er ein „Mahnwort“ in ein „Wahnwort“, ein „Rothbuch“ in ein „Nothbuch“, eine „Flugschrift“ in eine „Fluchschrift“ und eine gesetzmäßig „deliberirende“ Versammlung in eine „delirirende“. Er läßt Polen in voller „Monarchie“ statt „Anarchie“ begriffen sein; er wittert in der „empirischen“ eine „empörerische“ Wissenschaft und die „kantische“ Philosophie ist ihm eine „komische“ Philosophie. In einer großen Schiller-Ausgabe ist das Leben der Güter höchstes „Licht“; in einer Reisebeschreibung glühen die Damen wie „Matrosen“, in einem Staatshandbuch nimmt der Adel Antheil an den „Lastern“ des Staates – ich will dem Leser das Vergnügen lassen, in den drei letzten Fällen das Richtige, es ist nur ein einziger Buchstabe zu verändern, selber zu errathen. Ja, war nicht einmal Oesterreich reich an „Paradeochsen“ statt an „Paradoxen“, „Landtag“ ein „Langtag“, die „Generalversammlung“ eine „Greuelversammlung“, die „Preßfreiheit“ eine „Freßfreiheit“ und der „Purismus“ ein „Puerismus“? – Es kommt unserem Setzer nicht darauf an, aus einem „ehelosen“ Leben ein „ehrloses“, aus einem „asthmatischen“ Zustand einen „ästhetischen“, aus der „südlichen“ Halbkugel eine „sündliche“ und aus einem „sechsstündigen“ Waffenstillstand einen „sechspfündigen“ zu machen; wie der rasende Herkules wirft er Alles über den Haufen, daß zuguterletzt der „schafsinnige Ritter Don Quixote“ und in Schiller’s Maria Stuart statt der „Armen Marie“ eine „Anne Marie“ dasteht – und das Alles, wenn den Unglückseligen der Druckfehlerteufel plagt.
Kann er dabei gerade eine recht schöne Stelle verhunzen und dem Dichter das Strahlende schwärzen, so freut sich der Teufel boshaft. Uhland begann (1815) die Widmung seiner Gedichte mit folgenden Zeilen:
„Lieder sind wir; unser Vater
Schickt uns in die weite Welt.“
Was glaubt man wohl, daß der Druckfehlerteufel that? Den zweiten Buchstaben wußte er wegzuprakticiren! – Uhland konnte, so gutmüthig er war, eine Anspielung auf diesen Streich zeitlebens nicht vertragen.
Aber, wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen, und die Wittwe Schäfer, die ein Gedicht auf ihren seligen Mann verfaßte und darin klagte:
„Ach! Schäfer liebt’ ich nur! –“
[598] aber, da das Ausrufungszeichen für ein t genommen worden war, gedruckt bekam:
„Acht Schäfer liebt’ ich nur! – “
soll mit großen Augen angesehen worden sein.
Einen Druckfehler der heitersten Art enthält ein kürzlich erschienenes französisches Werk über den Wahnsinn. Der Verfasser, ein namhafter Arzt, hatte dasselbe mit einigen längeren Citaten geschlossen und schrieb, da die Stellen ohne Anführungszeichen gesetzt worden waren, an den Rand des Bogens; pour finir, il faut guillemeter tous les alinéas, d. h. man versehe alle Abschnitte mit Anführungs- und Schlußzeichen. Und der Autor that einen tiefen Athemzug, denn das Werk war fertig. Das Buch wird schnell ausgedruckt, sofort geheftet und versandt. Der Verfasser bekommt seine Freiexemplare, aber, wie er sich beim Durchblättern die letzte Seite ansieht, weiß er nicht, ob er lachen oder ob er weinen soll. Man hatte die Randnotiz für einen Manuskriptsatz gehalten und zur Schlußzeile der gelehrten Arbeit erhoben; nicht genug, man hatte etwas Groteskes daraus gemacht. Es stand zu lesen: Pour finir, il faut guillotiner tous les aliénés, d. h. um es kurz herauszusagen, alle Geisteskranken müssen guillotinirt werden.
Schon aus diesen Beispielen wird man merken, daß sich der Druckfehlerteufel nicht damit begnügt, die Sinne des Setzers zu verwirren; er sucht ihm Leib und Seele zu verderben. Er macht den Setzer hochmüthig – das alte Laster! Wie die Schlange redet er ihm zu: bist du nicht klüger als der Autor, wissend, was gut und böse ist? Auf, liebe Seele, hilf nach, wo es nöthig ist, wir wollen’s besser machen! – Ein charakteristischer Fall dieser Art sei hier erwähnt. Albrecht schreibt über Hahnemann’s Leben und Wirken und mit Rücksicht darauf, daß er die Fürstenschule zu St. Afra in Meißen besucht hat: Hahnemann, der Afraner. Der Korrekturbogen kommt an; gesetzt ist: Hahnemann, der Afrikaner. Albrecht streicht also das ik durch und setzt sein Deleatur, das bekannte Zeichen (????.) an den Rand, welches dem Setzer andeutet, daß die betreffenden Buchstaben wegfallen sollen. Die Revision kommt an; aber die Korrektur ist nicht ausgeführt, es steht immer noch zu lesen: Hahnemann, der Afrikaner. Unwillig streicht Albrecht das ik noch einmal, und zu besserem Verständniß schreibt er: Afraner!! an den Rand. Bald darauf erhält er den Reindruck. Das Afrikaner ist nicht geändert worden. Der Autor ist außer sich: er läuft in die Druckerei, er setzt den Faktor zur Rede, er ruft Himmel und Erde zu Zeugen dieses Ungehorsams an. Der Setzer wird citirt; er schüttelt sein weises Haupt als ein Gerechter. „Aber meine Herren,“ sagt er, „ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Es heißt doch: Amerika, der Amerikaner. So muß es doch auch heißen: Afrika, der Afrikaner!“ – Man hörte den Druckfehlerteufel in einem Winkel kichern.
Auf diese Weise entstehen die willkürlichen Druckfehler, die häufiger sein dürften als die unwillkürlichen, zumal die Maschine der Hand ziemlich regelmäßig arbeitet, aber beim Lesen, vollends undeutlicher Handschriften, die Phantasie mit dem Setzer durchgeht, wie sie mit dem Universitätsbuchbinder in Jena durchging, der eine Eingabe an „Einen Hohen Illustrirten Senat“ machte. Und doch bezeichnen diese Verbesserungen noch nicht den Gipfel des setzerischen Hochmuths, denn sie erfolgen immerhin gewissermaßen in gutem Glauben; sie sind sogar zu entschuldigen, weil der Autor wirklich nicht selten Fehler macht, Fehler wie ein Schulkind, ein Wort doppelt schreibt, eine Silbe wegläßt und gegen die Rechtschreibung sündigt. Nein, seine höchsten Triumphe feiert der Druckfehlerteufel, wenn es ihm gelingt, den Setzer zu bewußten und heimtückischen Aenderungen des Textes zu verleiten. Der Mann macht sich dann seine kleinen, unerlaubten Späße. Da heißt es in der Bibel (1. Mose 3, 16) vom Weibe: „Dein Wille soll deinem Manne unterworfen sein, und er soll dein Herr sein.“ Hier hat ein Setzer, der wahrscheinlich bittere Erfahrungen mit den Töchtern Eva’s gemacht hatte, „Narr“ anstatt „Herr“ gesetzt. „Und er soll dein Narr sein.“ Leider müssen wir der Wahrheit die Ehre geben und bekennen, daß sich auch die Autoren selber jezuweilen des Frevels schuldig machen, Druckfehler zu fingiren und geflissentlich etwas Falsches in den Text zu setzen, um es am Ende des Buches berichtigen zu können – eine der feinsten Bosheiten, die das bissige Litteratenthum hervorbringt; denn ihre Spitze richtet sich fast immer gegen Persönlichkeiten. Einmal wird das Gute und das gleichsam aus Versehen gespendete Lob ostentativ zurückgenommen. So ließ der französische Sprachforscher und Lexikograph Menage le docte Morel, der gelehrte Morel, drucken, woraus er die Berichtigung machte: Statt docte lies Docteur, der Doktor Morel. Nicht jeder Doktor ist gelehrt. Er nannte Morel’s Werke des délices de l'esprit, einen geistigen Hochgenuß, und verbesserte dann: des délires de l'esprit, geistige Delirien. Das andere Mal wird das Schlimme und die Injurie gedruckt und dann bedauernd zurückgenommen. Der originelle Arzt und Schriftsteller Zimmermann wurde bekanntlich in seinen letzten Lebensjahren vielfach angegriffen. Der witzige Kästner verfolgte ihn mit Druckfehlern. Er ließ drucken: „der berühmte Windarzt Zimmermann in Hannover“ und verbesserte dann: „lies Wundarzt.“ O Litteraten, Druckfehlerteufelchen in Person!
Es ist bekannt, daß gewisse Werke durch einen merkwürdigen Druckfehler selten werden und für Büchernarren einen besonderen Werth erlangen: so die oben erwähnte Bibel mit dem „Narren“. Es ist nicht minder bekannt, daß schier kein Buch ohne Druckfehler herzustellen ist: und wenn, wie das bei schwierigem Satze vorkommt, zwanzig Korrekturen gelesen, wenn, wie bei Logarithmentafeln, die aufgefundenen Druckfehler je mit zwanzig Mark honorirt werden, irgendwo hapert es doch, ohne daß es bemerkt wird; denn es ist eine physiologische Thatsache, daß wir von einem Worte gewöhnlich nur ein paar Buchstaben wirklich sehen und lesen und den Rest zu errathen pflegen, eben deßhalb übersieht der Autor die Druckfehler bei der Korrektur. Es ist endlich nicht zu leugnen, daß viele Bücher überhaupt Druckfehler sind. Aber der Teufel, der hinter dem Allen steckt, der vielleicht an mir in diesem Augenblicke, während ich mich über ihn verbreite, selber sein Müthchen kühlt, ist wahrlich kein Druckfehler, sondern der lästigste, listigste, leider Gottes zuweilen auch lustigste Plagegeist, den der Mann von der Feder kennt.
Der Raub in der Thierwelt.
Es scheint der Kampf um jedes Dasein an die Funktionen des Lebens geknüpft zu sein“ – so sagen wir Brüder in unserem neuesten Werke „Thiere der Heimat“[1]. Wir fügen diesem Ausspruche im Hinblick auf unser gegenwärtiges Thema hinzu: der Kampf ums Dasein – in welchem die Ernährung und Erhaltung des Individuums die erste Rolle spielt – erzeugt in allen Geschöpfen der Erde in mehr und minder ausgeprägter Form ein Raubwesen. Von den Großräubern unter den Säugethieren und Vögeln bis hinab zu den Weichthieren bemerkt man diese Thatsache. Wir beschränken uns in unserer Betrachtung bloß auf die beiden erstgenannten Klassen der Thierwelt, da die Erscheinung des Raubwesens gerade hier am ausgeprägtesten auftritt.
Unsere beiden Wiesel mögen unter den Säugern den Reigen eröffnen. Sind sie doch die vielseitigsten Räuber unter den Mardern, Zwerge mit Riesenmuth, die Kämpen in der Kleinthierwelt, welche Allem, „was da kreucht und fleucht“ und schwimmt, den Krieg erklärt haben. Von unseren Großvögeln, der Gans, dem Auerwild bis hinab zum Zaunkönig und dem Goldhähnchen ist kein gefiedertes Wesen sammt seiner Brut sicher vor diesen beweglichen, feinsinnigen Ueberall und Nirgends; der Hase, das Kaninchen und der Hamster mit allen seinen kleinen und kleinsten Vettern, der Krebs und Fisch des Gewässers, der Frosch und die bissige Kreuzotter, ja der Käfer und Schmetterling in der Luft – sie Alle verfallen dem ewig wachen Raubsinne dieser vielbegabten [599] Naturen. Unter allen unseren einheimischen Raubthieren offenbart sich bei der Jagd der Wiesel am sprechendsten ein hochgespanntes Wesen, eine Hochlaunigkeit, die ebenso sehr unser Interesse als unsere Bewunderung erregen. Entdeckt sich auch in allen Räubernaturen mehr oder weniger ein heißes Temperament, so tritt dasselbe doch am entschiedensten in diesen beiden äußersten Posten unserer Kleinräuber hervor.
Doch beobachten wir diese Thiere in den Aeußerungen ihrer Lebensthätigkeit; unsere Leser mögen sich dann selbst ein Bild ableiten aus den in freier Natur den kleinen Wichten abgelauschten Scene. Da ertappen wir das kleine Wiesel oder Heermännchen sogleich im Frühjahr oder Sommer bei seiner Hauptbravour, der Mäusejagd. Schon beim Zutritt zu diesem Schlachtfelde seiner Thaten dringt aus den Löchern und Gängen der Nager ein durchdringendes Pfeifen und Piepen. Gleichzeitig rennen Mäuse bestürzt aus einer Höhle in die andere. Hinter her setzt das Heermännchen in gewandten Bogensprüngen. Es ist nicht viel größer als eine gemästete Feldmaus, aber dank seiner viel schlankeren Taille, ist es dem Verfolger ein Leichtes, den Flüchtlingen in die Erdröhren nachzuschlüpfen. Was nicht über dem Boden im Genicke gepackt wird, das erreicht das nadelspitze Gebiß des Räubers gewiß in den Röhren. Den ersten Beutestücken wird von dem nach dem Gehirne lüsternen Wiesel der Kopf zerknirscht, nachdem es den Opfern das Blut aus der zerbissenen Halsschlagader gesaugt hat. Nunmehr aber beginnt ein unbändiges Morden, das dem Unkundigen unglaublich erscheinen mag. Unser kleiner Held erhebt sich jetzt – wie sollen wir sagen? – zur Höhe begeisterter Jagdlust, zum Sport des Raubes.
Immer hastiger verfolgt und drängt das Wiesel die Mäuse, diese bloß noch würgend durch tödliche Bisse in Hals und Nacken. Es überkommt das Thierchen zuletzt eine Art Raubwahnsinn, in welchem es wie toll sich nicht allein von einer Maus auf die andere wirft, sondern auch mit hohem gellenden Pfiff wahrhaft verzweifelte Sprünge in die Luft macht. Dutzende von Mäusen fängt und würgt es auf solchen Jagden in sogenannten Mäusejahren. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie ein Heermännchen wahrhaft berauscht von solcher Todesjagd am Boden hertaumelte und unsere Gegenwart gar nicht gewahrte. Sein erfolgreiches Würgen unter den Mäusen kann mit Recht eine Großthat dieses Zwergs genannt werden. Sie wiegt alle die kleinen Unbilden auf, die das unermüdliche Thierchen unter dem jungen Hausgeflügel, den Lerchen, Ammern, Wiesen- und Steinschmätzern und anderen auf dem Boden brütenden Kleinvögeln verübt.
Noch vielseitiger in seiner Raubbethätigung als das kleine Wiesel ist dessen Vetter, das große Wiesel oder Hermelin. In ihm verkörpert sich die zum Säugethier gewordene Schlange oder die Echse. Sein ungemein geschmeidiger, schlanker Körper zwängt sich durch die unscheinbarste Ritze oder Fuge, um in einem Geflügelhause sich dem Massenmorde hinzugeben. Auch seine Kletterfähigkeit erhebt es schon theilweise in der Vielseitigkeit des Raubes über das Heermännchen, obgleich unsere beiden Marder es in der Turnerkunst weit übertreffen. Hingegen läßt es seine Verwandten ebenso weit hinter sich im Sport des Schwimmens und der Jagd im Wasser. Ein treffendes Bild eben solcher Jagd giebt eine Scene, welche wir selbst mit angesehen und die aus unserem erwähnten Werke auszüglich hier Platz finden mag.
An einem Abende, als wir dem Fischfange in einem Flüßchen der Wetterau oblagen, erschien im offenen Gewässer eifrig rudernd vom Ufer aus eine alte Wasserratte. Bald schwamm sie, halb von der Strömung getrieben, dem jenseitigen Ufer zu. Aber kaum dort am Schilfe angelangt, fuhr sie jäh mit Geräusch herum, sich eilends nach dem anderen Ufer zurückwendend. In demselben Augenblicke sprang ihr von einem Ufervorsprung ein Hermelin ins Wasser nach, durchschwamm rasch das Schilf und durcheilte mit hochgehobenem Näschen das offene Wasser, die flüchtige Ratte unter die breiten Blätter der Wasserrose verfolgend. Hier lag die Ratte unter der Oberfläche des Wassers, nur die Schnauze am Rande eines Blattes hervorstreckend. Das Wiesel war einige Meter weit über diese Stelle hinausgeschossen in dem sichtlichen Eifer, die Versteckte zu suchen. Plötzlich kehrte es um, zog einen weiten Bogen, den Windzug geschickt benutzend, der seinem witternden Näschen das Versteck der Ratte verrathen sollte. Aber kaum war ihm die Absicht gelungen, da floh auch schon die geängstete Ratte durchs Schilf, am Ufer verschwindend. Wie an einer Schnur folgte das Wiesel der Ratte vermöge seines scharfen Geruchssinnes, und nach kurzem Hin- und Herprüfen auf der Wasserfläche am Ufer [600] verschwand es in einer Höhle, in welche eben die Ratte geschlüpft war. Stille herrschte im Wasser und Schilf; doch war es uns, als sei aus dem unterirdischen Gang ein feiner quiekender Klageton gedrungen. Sofort zeigte sich an der Mündung der Röhre eine anfänglich kleine, aber immer stärker werdende Bewegung der Wasseroberfläche, welcher kleine Bläschen entstiegen und welche sich jetzt von aufgewühltem Schlamme trübte und nun kleine Wellen schlug. Darauf wälzte sich ein belebter Klumpen hervor, der sich allmählich deutlicher erkennen ließ und sich selbst als zwei in einander verwickelte Thiere darstellte, von welchen das Wiesel als Sieger oben saß und dem überwundenen Opfer im Nacken die scharfen, spitzen Zähne eingehauen hatte. In gehobener Haltung drängte es die sterbende Ratte dem Ufer zu, schleifte sie auf das feste Land und zog sie weiter längs dem Ufer hin unter eine überwölbte Stelle. Hier stillte es seinen Blutdurst und verzehrte mit vernehmlichem Krachen zermalmter Knochen die Lieblingsbissen von Kopf und Rücken.
Sehr fesselnd und charakteristisch ist das Gebalge des großen Wiesels mit dem seine Leibesgröße überragenden, plumpen, aber höchst wehrhaften und bissigen Hamster. Bei diesen Kämpfen entwickelt es einen erstaunlichen Grad von Bravour, in der es seinen hellen, spechttonartigen Kampfschrei erhebt und mit weitgeöffnetem Rachen den Unhold Hamster kreuz und quer überspringt, verschiedentlich attackirt, endlich unvermuthet überfällt und mit einer vollendeten Meisterschaft von Gewandtheit, Wucht und Ausdauer meist besiegt. Das zwar todesmuthige Heermännchen wagt wohl ebenfalls dieses Duell mit dem unflätigen Gegner, allein es unterliegt auch nicht selten den Folgen dieser übergebührlichen Anstrengungen gegen den Riesen.
In seinem Schlangenrachen, dessen Kinnladen sich über einen rechten Winkel zu öffnen vermögen, trägt das gewandte Hermelin auch die Tauben- und Hühnereier in seine Verstecke, deren Schalen noch die feinen Eingriffe der spitzen Eckzähne unter dem Vergrößerungsglase entdecken lassen. Scenisch belebt ist sein Raubmord an dem Hasen. Diesen beschleicht es entweder im Lager, oder es lauert dem Anrückenden auf dessen gewohntem Pfädchen hinter einem Verstecke auf, um dem Opfer mit einem Satze ins Genick zu springen und ihm die Halsader zu durchbeißen. Wie besessen lautklagend rennt „Lampe“ mit dem kleinen Reiter zuerst meist in weiten und dann immer enger gezogenen Bögen davon, um zu letzt mit verhallenden Lauten zusammenzustürzen. Mehrmals haben wir im Sommer solche Räubereien des Hermelins, durch das Angstgeschrei des befallenen Hasen aufmerksam geworden, entdeckt und die Richtung des Raubrittes durch die stark bewegten Halmen im Getreide verfolgt. In zwei Fällen kamen wir zu der Stelle, woselbst der Hase unter den tödlichen Bissen des Wiesels zusammengebrochen war. In dem einen Falle entsprang der Mörder bei unserer Annäherung; im zweiten Falle entdeckten wir das Wiesel auf dem Hasen am Boden, wie es mit derben Zügen das Blut aus der Halsader seines Opfers sog und im Rausche seiner Mordgier unser Nahen gar nicht bemerkte, so daß wir es mit leichter Mühe tödten konnten. Das Hermelin hat mit den Mardern die Eigenthümlichkeit gemein, daß es sich durch das Blutsaugen aus den Adern seines Raubes vollständig berauscht. Ein Taumel, mit Schlaf endend, überfällt die Räuber nicht selten schon auf dem Schauplatz oder in der Nähe desselben, so daß man ihrer mühelos habhaft werden kann.
Wenden wir uns der Betrachtung unserer beiden Marder zu, so ist vor Allem das grenzenlose Morden des Stein- oder Hausmarders hervorzuheben, dem dieser sich beim Einbruch in die Stätten des Hausgeflügels ergiebt. Der Blutrausch ist auch [601] bei ihm besonders ausgeprägt, und nicht selten liegt der Mörder schon mitten unter dem hingeschlachteten Geflügel zusammengekugelt im Schlafe.
Auch sein Verwandter, der Baum- oder Edelmarder versteht es, mit Gewandtheit und Schlauheit die Vögel des Waldes zu beschleichen, wie dies durch unsere Illustration S. 600 in lebenstreuer Weise wiedergegeben wird. Charakteristisch und von ungemeiner Lebendigkeit ist aber vor allem die Todesjagd dieses Räubers, in welcher er dem Eichhörnchen nachstellt. Wir waren Zeugen dieses oft eine halbe Stunde und länger anwährenden Jagens. Von Baum zu Baum, hier ringelförmig an Stämmen hinauf bis zu den äußersten Aesten und aufwärts in die Wipfel, über diese hinaus und an den Aesten und Stämmen wieder hinab; dort von schwindelnder Höhe in verzweifelten Sätzen oder im Stürzen abwärts von Ast zu Ast bis zur Erde flieht das geängstete Eichhörnchen, gefolgt von dem drängenden Feinde, der anfangs zwar zurückbleibt, dessen ungeheuer ausdauernde Kraft und vorzügliche Sinne ihm aber schließlich den Sieg verschaffen. Wenn auch das gejagte Thier, sichtlich ermattet, sich im Dämmer des Geästes in ein Versteck drückt, Auge oder Nase des Marders spüren es bald aus, und der Rüstige, Nimmermüde erhascht es schließlich in einem gewaltigen Satze. Wie das Eichhorn, so unterliegen auch Rehkitzchen und selbst Schmal- und Altrehe dem mörderischen „Risse“ (Bisse) des Edelmarders. Die tapferste Rehmutter kann dem vom Marder angefallenen Kitzchen nicht beistehen, denn die einzigen Waffen der alten Rehgeis sind ihre Vorderläufe, die sie auf den Feind nicht schnellen kann, ohne mit dem festeingebissenem Raubthier zugleich ihren Liebling zu treffen.
(Schluß folgt.)
In der Ausstellung zu Augsburg.
In dem Kranze freier Reichsstädte leuchtete Augsburg jahrhundertelang als einer der kostbarsten Edelsteine. Weit und breit war der Reichthum seiner stolzen Patriciergeschlechter gepriesen, um deren schöne Töchter selbst Fürsten freiten. Nach der fernen Levante und nach dem noch entlegeneren Venezuela reichten die Handelsverbindungen und Kolonialunternehmungen der rührigen Kaufherren. Die Fugger und die Welser waren ja Söhne Augsburgs. Die Kunst blühte nicht minder in den schützenden Mauern der Stadt. Berühmte Maler, Holzschneider und Buchdrucker fanden hier ein glückliches Heim, und die Goldschmiede und „Harnäschmacher“ Augsburgs zählten in ihren Reihen Meister ersten Ranges.
Die Zeiten sind anders geworden. Augsburg liegt nicht mehr an einer der wichtigsten Handelsstraßen, welche den Norden mit dem Süden verbanden. Damit ist manche Quelle des Reichthums versiegt, aber trotzdem waltet noch immer in den alterthümlichen Häusern der schaffensfreudige und rührige Geist, und Augsburg blüht und gedeiht auch heute wie nur wenige Städte unseres Vaterlandes.
„Die schwäbische Kreis- Industrie-, Gewerbe- und kunsthistorische Ausstellung“, welche seit dem 15. Mai Tausende Neugieriger nach der Augusta Vindelicorum lockt, giebt den glänzendsten Beweis dafür. Eine Ausstellung, an welcher sich nur der Kreis Schwaben mit seiner Hauptstadt Augsburg betheiligt – und welche Fülle hervorragender Leistungen finden wir hier vereinigt! Erzeugnisse der Baumwoll-Spinnerei und -Weberei fesseln unser Auge neben trefflichsten Leinwandstücken; dort reihen sich Buchdruck-Schnellpressen an einander; neben ihnen landwirthschaftliche Geräthe und Maschinen zum Brauereibetrieb, Möbel, Wagen und Reiserequisiten, Seifen, Schnupftabake und selbst Zündhölzchen! So mannigfaltig sind die Erzeugnisse eines kleinen Landkreises, dessen Bevölkerung nur eine halbe Million Einwohner zählt! Freilich ist das Land von der Natur gesegnet. Acht Flüsse und zahllose Bäche rauschen und schäumen durch seine Fluren und bieten nicht allein Feuchtigkeit den Aeckern und Wiesen, sondern vor Allem billige Arbeitskraft dem Fabrikanten. Hat man doch treffend behauptet, daß mit den Wasserkräften, die hier noch unbenutzt mit den Wellen fortrinnen, alle Fabriken Deutschlands in Betrieb gesetzt werden könnten. Die praktischen Einwohner wissen den Werth dieser Arbeitskraft zu schätzen und sie haben hier und dort ihre natürliche Wirkung noch gesteigert. Ein ganzes System von Kanälen durchzieht die Stadt Augsburg und ihre nächste Umgebung.
Unter solchen Voraussetzungen durfte sich die Stadt mit Siegesgewißheit zur Eröffnung der Ausstellung rüsten. Die große Wiese am Rande des „Rosenauberges“ wurde binnen Jahresfrist in einen Park verwandelt, aus dem reizende Boskets hervorschauen, farbenprangende Blumenbeete entgegengrüßen und in welchem die schmucken Ausstellungsgebäude mit ihren Kuppeln, Thürmen und Erkern im bunten Fahnenschmuck prangen. Selbst lauschige Ruheplätze fehlen nicht auf dem Platze. Dort in der Nähe des schmucken Kaffeehauses schimmert [602] die ruhige Wasserfläche eines Sees, auf welchem majestätisch die Schwäne einherrudern und in dessen Wassern sich die Kuppel eines von grünem Gebüsch umrankten Pavillons wiederspiegelt. Ein passender Ort zur Sammlung des Geistes und zur Klärung der gewonnenen Eindrücke! Sie drängen sich hier Jedem mächtiger auf, als in vielen anderen Ausstellungen; denn wir schauen auf diesem Plane nicht allein die Werke der hastig vorwärts strebenden Gegenwart, auch die Schätze längst vergangener Zeiten blenden unser Auge. Die kunsthistorische Abtheilung bildet ohne Zweifel die schönste Zierde und das lehrreichste Stück der Ausstellung. Aus den öffentlichen Museen und privaten Sammlungen der Stadt, ja selbst von fernher von kunstsinnigen Freunden wurden hier in großer Zahl Werke der Kunst vereinigt, die in verschiedenen Jahrhunderten unter der Hand der Bürger Augsburgs entstanden und in ihrer Gesammtheit einen wahrhaft überwältigenden Eindruck ausüben. Neben Martin Schongauer’s berühmtem Gemälde „Maria im Rosenhag“ erblicken wir das ergreifende Votivbild des hingerichteten Bürgermeisters Ulrich Schwarz von Augsburg – ein Werk Hans Holbein’s des Aelteren. Auch ein Altargemälde desselben Meisters ist gegenwärtig für einige Monate in Augsburg vereinigt, während die eine Hälfte des Bildes sich bis jetzt in Eichstädt, die andere in München befand. Seltene Miniaturen aus den letzten drei Jahrhunderten, Emailmalereien von höchstem Werth, Erzeugnisse der Plastik und des Kunstgewerbes, wie der elfenbeinerne Stab des Abtes Reginbald von St. Ulrich, die Bronzefiguren der Maria und des Johannes aus dem 11., Reliquiarien und Truhen aus dem 13. und 14. Jahrhundert, Bildschnitzereien von Syrlin, Vater und Sohn aus Ulm, endlich zahlreiche bewunderungswürdige Erzeugnisse der Goldschmiedekunst, des Holzschnittes und Kupferstichs, sowie des Buchdruckes – alle diese kostbaren Kunstwerke aus Augsburgs Glanzzeit erwecken in uns das größte Interesse und zugleich eine lebhafte Erinnerung an die frühere Blüthe deutschen Kunstgewerbes, welches heute nach langem Daniederliegen wie ein Phönix aus seiner Asche wieder aufersteht. Und doch ist das Alles nur ein Theil der vielen Schätze, die das kunstsinnige und fleißige Augsburg einst nach allen Weltgegenden versandte. In Paris befinden sich die prachtvollen Rüstungen, welche Augsburgs Waffenschmiede für die Könige Frankreichs gehämmert haben, in der Armeria del Real zu Madrid hingen die einst für Philipp II. bestimmten Wehrstücke – Kunstwerke des Desiderius Kollmann, „Kaiserlicher Majestät Harnäschmachers“ aus Augsburg. –
Ruhmreiche Vergangenheit und thatenfrohe Gegenwart – wem sie beschieden sind, der darf sich glücklich schätzen und sicheren Auges in die Zukunft blicken. Augsburg sind sie beschieden! Unter schwierigen Verhältnissen wußte die Stadt sich zu behaupten, in den Zeiten des Friedens wird sie gewiß noch kräftiger blühen und gedeihen und ein Vorbild bleiben für viele ihrer Schwestern im neuen Deutschen Reich.
Was will das werden?
Ist Papa zu Hause?“ fragte Ellinor.
„Nein, gnädiges Fräulein,“ erwiderte ich.
„Kommt er bald?“
„Ich glaube kaum; er pflegt vor drei Uhr nicht zurück zu sein.“
„Und jetzt ist es, glaube ich, erst eins. – Wie schade! Ich habe eine lange mündliche Bestellung an Papa zu machen.“
„Mit der Sie mich nicht betrauen könnten? Der Herr Oberst –“
„Ich weiß, daß Sie Papas Intimus sind. Wir wissen Alles und sterben ja fast vor Eifersucht darüber. Uebrigens sind Sie in meine Bestellung eingeschlossen, und so –“
„Aber wollen Sie denn nicht näher treten, gnädiges Fräulein?“
„Ja, darf man denn in das Heiligthum?“
Der letzte Theil der Unterredung hatte bereits auf dem Flur stattgefunden, während ich die offene Thür zum Studirzimmer in der Hand hielt. Sie schlüpfte jetzt hinein. Ich schloß die Thür hinter ihr und bot ihr einen der korbgeflochtenen Lehnsessel, die wir im Zimmer hatten. Sie nahm ihn nicht sogleich, sondern stand erst noch ein Weilchen, während ihre Blicke über die offenen Büchergestelle liefen, mit denen die Wände fast bis zur Decke hinauf besetzt waren.
„Denken Sie, ich bin noch nie in diesem Raume gewesen,“ sagte sie. „Aber wollen Sie nicht auch Platz nehmen? – Noch nicht ein einziges Mal.“
„Und doch bewohnt der Herr Oberst dies Quartier schon seit zwei Jahren.“
„Nicht als ob ich inzwischen nie hier gewesen wäre, wie Sie anzunehmen scheinen. Nur, daß mich Papa immer im Salon empfangen hat.“
„Der Salon ist leider nicht geheizt.“
Es mochte wohl recht ungeschickt herausgekommen sein – ein Lächeln glitt blitzschnell über ihre Züge. Aber auch ihr Benehmen schien mir nicht ganz frei, und das tröstete mich in etwas über die eigene tiefe Befangenheit.
„Ich trage kein Verlangen nach dem Salon,“ sagte sie; „ich habe von der Sorte gerade genug in meinem Leben. Aber nun, weßhalb ich eigentlich gekommen bin. Mit nichts Geringerem, als einer Einladung für den Papa und für Sie zu Tante Isabella auf nächsten Mittwoch Abend, also heute über acht Tage. Onkel und Tante von Nonnendorf sind nämlich in Sicht auf Logirbesuch – sie logiren stets bei uns. Auch Ulrich – wie nannten Sie ihn doch immer? es klang so komisch – ist seit gestern zurück und würde sich furchtbar freuen, Sie wiederzusehen. Uebrigens keine große Gesellschaft – zwanzig höchstens, und die Hälfte davon Familie. Papa ist nicht sehr für dergleichen, aber gerade deßhalb wäre es so reizend von ihm, wenn er mal eine Ausnahme machte. Onkel Hinrich – der Präsident, wissen Sie – kommt ebenfalls – mit einem Worte: es wäre charmant.“
„Ich werde dem Herrn Oberst die gütige Einladung getreulich ausrichten, gnädiges Fräulein.“
„Aber Sie müssen auch dafür sorgen, daß er sie annimmt!“
„Sie scherzen, gnädiges Fräulein.“
„Gar nicht; ich weiß, daß der Papa nur kommen wird, wenn Sie ihm zureden. Sie brauchen deßhalb gar nicht so ironisch zu lächeln. Sagen Sie mir lieber, daß Sie jedenfalls kommen!“
„Es wird mir eine große Ehre sein, den Herrn Oberst begleiten zu dürfen.“
„Ich möchte eine weniger gewundene Antwort.“
„Ich kann Ihnen, gnädiges Fräulein, bei allem Dank für Ihre und Ihrer Frau Tante Güte keine andere geben, bevor ich die Entschlüsse des Herrn Oberst kenne.“
„Aber Sie sind Ihr eigener Herr.“
„Ihrem Herrn Vater gegenüber nicht. Er hat das Recht zu erwarten, daß ich mich ganz seinen Wünschen füge.“
„Das heißt: Sie kommen nicht?“
„Ich habe das weder sagen wollen, gnädiges Fräulein, noch, so viel ich weiß, gesagt.“
„So muß ich mich also damit begnügen.“
Es war ein gereizter Ton gewesen, in welchem sie zuletzt gesprochen hatte; und als sie sich jetzt rasch erhob, zuckten die feinen Nasenflügel, und in den braunen Augen lag ein fast zorniger Ausdruck. Ich bemerkte es mit selbstquälerischer Freude. Es war das Beste so. Gegen ihren Zorn war ich gewappnet.
„Darf ich noch bitten, daß Sie Papa von mir grüßen?“
Ich verbeugte mich stumm; sie rauschte an mir vorüber aus dem Zimmer und dann vor mir her über den Flur nach der Außenthür, die ich ihr mit abermaliger stummer Verbeugung bereits geöffnet hatte, als ein Schritt die Treppe herauf – immer zwei Stufen auf einmal – erschallte und schon im nächsten Moment Ulrich vor uns Beiden stand.
„Sapristi, Ellinor! Und das Kind! noch gewachsen! Na, da werden wir den Jungen auch wohl noch vollends groß kriegen. Alter Junge!“
Er hatte mich umarmt und wandte sich nach der Treppe mit einem kurzen scharfen Pfiff, worauf es die Stufen in Sprüngen heraufkam und eine gewaltige Ulmer Dogge sichtbar wurde, die stehen blieb, um sich zu vergewissern, daß sie recht gehört, dann mit ein paar letzten Sätzen bei uns war und Ellinor stürmisch begrüßte.
„Bist Du toll, Melac?“ rief sie.
„Er hat Dich so lange nicht gesehen,“ sagte Ulrich lachend. „Ruhig, Melac! Aber, Kinder, so laßt uns doch hineingehen! Wir können doch nicht hier in der zugigen Thür stehen bleiben. Ist der Onkel nicht zu Hause?“
„Nein,“ sagte ich, während Ellinor schnell hinzufügte: „Und Du siehst, ich war im Begriff zu gehen.“
[603] „Das sehe ich, freilich,“ rief Ulrich; „aber das hindert doch nicht, daß Du jetzt wieder hereinkommst. Marsch, marsch! Keine Widerrede! So jung kommen wir drei nicht wieder zusammen.“
Er hatte uns vor sich her in den Korridor gedrängt, auf welchem sich zu meiner großen Beruhigung Johann bereits eingefunden hatte und Ulrich den Ueberzieher abnahm.
„Sie sehen, ich bin nicht schuld daran,“ sagte Ellinor halblaut zu mir.
„Woran nicht schuld?“ fragte Ulrich, uns in das Zimmer folgend. „Herr Gott, das sieht hier aber mit jedem Mal gelehrter aus! Woran nicht schuld, Ellinor?“
„Du mußt wissen, daß dieser Herr mich gar nicht freundlich behandelt hat,“ erwiderte Ellinor. „Ich habe bitten und betteln müssen, daß er nächsten Mittwoch zu uns kommt, und ich bin noch gar nicht sicher, daß er kommt.“
„Könnt’s ihm nicht verdenken,“ rief Ulrich. „Es wird wieder einmal schauderhaft langweilig sein. Aber kommen muß er doch, das versteht sich. Punktum!“
Er hatte sich in einen Lehnstuhl geworfen, der unter seiner Wucht krachte; sprang aber sofort wieder auf, um sich dicht vor mich zu stellen: „Bei Gott, ich glaube, das Kind ist so groß wie ich! Oder größer? Du Ellinor, sag’! mal!“
„Da müßt Ihr Euch mit den Rücken gegen einander stellen.“
„Versteht sich. Aber ehrlich, Mädchen, ehrlich!“
„Er ist mindestens einen Finger breit größer.“
„Dacht’ ich mir. Ich habe einen unfehlbaren Blick für so was. Spielt bei den Mensuren eine große Rolle. Aber ich gönne es ihm.“
„Fahre nur fort, ihn zu verwöhnen! Wir werden so schon unsere liebe Noth mit ihm haben.“
„Werden wir, Ellinor, zweifellos. Aber er verdient es auch.“
„Wodurch? daß er uns Vogtriz alle, Papa natürlich ausgenommen, behandelt, als wenn wir seine geborenen und geschworenen Feinde wären.“
Ihre Augen blitzten wieder, aber jetzt nicht vor Zorn. Die schalkhaftesten Lichter huschten über ihr Gesicht und ließen es für mich in dem alten unvergessenen Zauber erglänzen – ganz wie in den selig-unseligen Nonnendorfer Tagen. Und hatte sie in Ulrich’s Gegenwart die vornehmkühle Maske fallen lassen, ich suchte wohl weiter ruhig und gelassen zu scheinen, aber das Herz pochte mir, als habe es Eile, das vorhin Versäumte nachzuholen.
Ulrich war bei ihren letzten Worten ernsthaft geworden.
„Na Ellinor,“ sagte er, „viel Freude haben wir ihm just nicht bereitet. Ich denke noch schaudernd an das letzte Frühstück in Nonnendorf, das lange Gesicht von Mama und die Miene von Papa – als ob die große Scheune brennte! – Und gar Du, Ellinor! Ich hätte Dir bei Gott in dem Augenblick das hübsche Hälschen umdrehen mögen, als Du mit Astolf weiter spaßtest und ruhig Deine Kirschen nutschtest, während der arme Kerl für seine Marotte so ritterlich ins Feuer ging. Und nun gar hinterher ich – weißt Du denn, alter Kerl, daß wir uns nicht wieder gesehen haben seit der verfluchten Rauferei im Rathskeller? denn als wir Dich hernach für todt nach Hause trugen, da hast Du wenigstens mich nicht mehr gesehen. Und das war gut für Dich: ich stand auf dem Punkte verrückt zu werden. Ist denn Alles wieder ordentlich ausgeheilt? Es muß doch wohl. Wenigstens sagt Renten – Du Ellinor, weißt Du, daß Dein Anbeter Numero vier – oder ist es fünf – wo willst Du hin?“
„Soll ich mir hier weiter von den Herren Ungezogenheiten sagen lassen? Ich habe ihnen die Ehre meiner Gegenwart schon viel zu lange geschenkt. Meine Herren –“
Sie nickte uns zu und schritt nach der Thür, begleitet von Ulrich und mir.
„Ich habe ja Deinen Wagen nicht gesehen,“ sagte Ulrich.
„Ich bin zu Fuß gekommen – allein, und wünsche auch ebenso wieder nach Hause zu gehen.“
„Habe ich Dir meine Begleitung schon angetragen?“
„Ich wollte Dich darauf aufmerksam machen, daß es Deine Pflicht gewesen wäre. Kindskopf! es ist ja nicht mein Ernst. Ihr Beide werdet einander noch genug zu erzählen haben. Adieu!“
Sie nickte uns beiden noch einmal lächelnd zu und ging leichten Schrittes die Treppe hinab. Wir kehrten in den Flur und in das Zimmer zurück; Ulrich warf sich wieder in den krachenden Stuhl.
„Es ist gut, daß die kleine Hexe fort ist. Da kann man doch endlich ein vernünftiges Wort sprechen. Aber Kind, wie hast Du Dich verändert! Bei Gott, ich glaube, ich hätte Dich auf der Straße nicht wieder gekannt!“
Wir saßen uns gegenüber und betrachteten einander mit jenem prüfenden Blick, der die Geschichte von Jahren, die inzwischen vergangen sind, aus den alt bekannten und doch entfremdeten Zügen des Freundes zu lesen sucht. Ach, sie konnten nicht gut gewesen sein, diese Jahre, für den armen Freund, und sie hatten ihm auch äußerlich nicht gut gethan! Das war der Jünglingslöwenkopf nicht mehr, der nur in seiner Häßlichkeit so schön erschienen war; das waren nicht mehr die großen treuherzigen blauen Augen! Sie hatten jetzt einen härteren, bis zur Starrheit festen Blick, als gelte er einem Gegner aus der Mensur, und schienen mir kleiner, wie auch der Kopf – letzteres wohl, weil die frühere Löwenmähne militärisch kurz geschoren war und die Schultern so mächtig ausgeladen hatten. Die breiten unregelmäßigen rothen Striemen, die über die rechte Wange hinauf zur Schläfe und hinab bis ins Kinn liefen, waren in meinen Augen auch keine Verschönerung; und der dicke rothblonde Schnurrbart, der statt des blonden Flaums von damals die Oberlippe bedeckte, schien dem eckiger und länger gewordenen Gesicht den Ausdruck der alten kindlichen Gutmüthigkeit vollends rauben zu wollen. Nein, das war nicht länger der alte Schlagododro, und es kostete mich keine Ueberwindung, ihn jetzt, wie wir da so still einander betrachteten, im Geiste bei seinem wirklichen Namen zu nennen.
„Ich habe Dich sofort wieder erkannt,“ sagte ich, die wunderliche Pause, welche so plötzlich entstanden war, unterbrechend.
„Du hast mich inzwischen gesehen?“
„Vor acht Wochen vielleicht – an einem regnerischen Abend – Du warst nicht allein – mit einer Dame –“
„Ach!“ sagte er. „Christine Hopp?“
„Ja.“
Er hatte einen Moment an mir vorübergeblickt, faßte mich aber alsbald wieder mit dem starren Mensurblick ins Auge und sagte:
„Es ist sehr korrekt von Dir, daß Du die Sache sofort zur Sprache bringst. So etwas ist ein Stein des Anstoßes, oder kann es werden; also weg damit und Bahn frei! Also: ich danke Dir, daß Du Dich des Mädchens in so wirksamer Weise angenommen hast. Im Anfang fand ich natürlich, es sei eine unbefugte, verdammte Einmischung und so weiter und so weiter. Das hielt aber nicht lange an, und wie gesagt, ich danke Dir. Du hast mich von einer großen Last befreit. Ein solches Mädchen, das sich ernsthaft in Einen verliebt, hat wirklich sein sehr Unbequemes, und wenn sie sich nun gar in den Kopf setzt, man werde sie heirathen, ist vollends der Teufel los. Ich verstehe nicht, wie die Frauenzimmer zu dem Unsinn kommen – selbst leidlich gescheite wie Christine. Aber wer versteht denn die Frauenzimmer! Nicht wahr, Melac?“
Und er tappte dem Hunde, der neben ihm saß und mit den blaugrauen Augen zu ihm aufblinzelte, den großen Kopf.
„Im Interesse der Frauenzimmer,“ sagte ich, „wäre es zweifellos mehr, wenn sie ihre Herren Liebhaber einigermaßen verstünden und sich über den rücksichtslosen Egoismus derselben keiner Täuschung hingäben.“
„Das geht auf uns, Melac,“ bemerkte Ulrich, der Dogge das gestutzte Ohr zupfend.
„Wenigstens auf Deinen Herrn,“ sagte ich, die Dogge anredend.
„Natürlich auf Deinen Herrn,“ sagte Ulrich ebenso. „Denn schließlich bist Du doch nur ein Hundevieh, und so kann man von Dir vernünftigerweise keine Moral verlangen.“
Es kam so drollig heraus; ich mußte lächeln, wie ernsthaft mir auch zu Muthe war.
„Na,“ sagte Ulrich, „ich glaubte wahrhaftig, der Humor sei bei Dir ganz zum Teufel. Nun, da ich sehe, daß es, Gott sei Dank, [604] nicht der Fall ist, will ich einmal ausnahmsweise ganz ernsthaft sein. Die Geschichte thut mir aufrichtig leid. Christine ist kein gewöhnliches Mädchen, und mein ganzes Unrecht, so viel ich sehen kann, besteht darin, daß ich das zu spät bemerkt habe. Als ich es endlich bemerkte, habe ich gethan, was ich als ehrlicher Mensch thun mußte, und ihr ganz offen gesagt: ,Liebes Kind, das geht nicht, geht so nicht länger. Heirathen kann und will ich Dich nicht. Werde Schauspielerin, wozu Du ja Lust hast, und Du kannst es nebenbei in dem Metier weiter bringen, als ich es wahrscheinlich in meiner Laufbahn jemals bringen werde.‘ Nun ist das ja, dank Deiner Verwendung, Alles glücklich so gekommen und in schönster Ordnung. Ich sehe also nicht ein, weßhalb ich mir nun noch darüber den Kopf zerbrechen soll, von dem Herzen ganz abgesehen, das, Alles in Allem, bei der ganzen Geschichte, offen gestanden, eine ziemlich untergeordnete Rolle gespielt hat. Ich wollte nur, ich hätte das Geld, das ich nicht habe, um es dem Mädel mit vollen Händen zu geben; aber Du weißt: Vogtriz – keinen Vätersitz, und daß das heute für uns mehr als je der Fall ist. Nicht wahr?“
„Ich weiß nichts,“ erwiderte ich. „Wie könnte ich auch, da der Oberst niemals über seine Familienangelegenheiten mit mir spricht!“
„Wie er denn überhaupt für die Familie leider jemals weder Sinn noch Herz gehabt hat,“ warf Ulrich hin.
„Darf ich Dich darauf aufmerksam machen, daß ich Deinen Onkel über Alles liebe und verehre und ein tadelndes Wort schlechterdings nicht hören kann?“
„Meinetwegen,“ sagte Ulrich, „ich wollte auch gar nicht von ihm sprechen, sondern von uns Anderen, die wir noch so beschränkt sind, zu meinen, daß die Glieder einer alten Familie zusammenhalten sollen, um so mehr, wenn besagte Familie en décadence ist. Und das ist bei der unseren der schlimme Fall. Also, da Du es noch nicht weißt: der Papa hat sich denn glücklich so hineingewirthschaftet, daß die Güter schon seit zwei Jahren unter Sequester sind. Er lebt noch mit der Mama auf Nonnendorf, weil es schließlich das Billigste ist, von der kleinen, ihm von den Gläubigern zugestandenen Pension. Aber zu sagen hat er gar nichts mehr – selbstverständlich; – und Astolf, wenn er mal ans Regiment kommt – was möglicherweise so lange nicht dauert, – denn der Alte gehört zu den Leuten, die das Unglück partout nicht vertragen können, und ist in letzter Zeit höllisch klapprig geworden – wird immer noch einen gehörigen Pack Schulden abzutragen haben. So stünde die Sache ziemlich verzweifelt, wenn Tante Isabella – das heißt, sie ist, wie Du Dich erinnerst, unsere Großtante – die Schwester von Mamas Mama – Alles was von Geld in der Familie, kommt ja von der Frauenseite – von den Gransewitz – denn der längst verstorbene Gemahl der Großtante, General von Westen-Burgberg, hatte auch nur Schulden wie ein Major – also, wenn Tante Isabella mit ihrer runden Million – Notabene Thaler – nicht in Reserve wäre. Aber sehr in Reserve, verstehst Du? Das heißt, sie ist sich ihrer Machtstellung vollkommen bewußt – trotzdem sie so gut wie blind und mehr als halb taub ist – und tyrannisirt uns auf eine schauderhafte Weise, was sie ganz ungestraft darf, sintemalen die ganze Familie Vogtriz aus ihrer Tasche lebt. Ich unter anderen auch, einschließlich Melac. Ich hätte ohne sie nicht einmal studiren können, eben so wenig wie vor mir meine beiden Vettern, die Söhne von Onkel Hinrich, dem Präsidenten, der trotz seiner ehrbaren Miene ein ganz resoluter Vogtriz’scher Schuldenmacher ist und nur von der Großtante über Wasser gehalten wird. In Summa: wir kosten der alten Dame jahraus jahrein ein grimmiges Stück Geld, und ,viele Hunde sind des Hasen Tod‘, pflegt sie in ihrer eleganten Weise zu sagen, wobei sie bei ,Tod‘ ihr falsches Gebiß zusammenschnappen läßt, daß es mir jedesmal kalt über den Rücken läuft. Na, an uns wird sie darum doch nicht sterben, und Ellinor wird genug übrig behalten. Ellinor ist nämlich, während wir Anderen mit Legaten abgefunden werden, Universalerbin unter einer Bedingung. Du kannst Dir denken, welcher – die Sache war ja damals schon abgekartet: daß sie Astolf heirathe. Es ist die einzige Möglichkeit, das Gransewitz’sche Vermögen wieder zusammenzubringen und in der Vogtriz’schen Familie zu erhalten, die dadurch zu einem noch nicht dagewesenen Glanz sich aufschwingen würde, wogegen wir gewiß nichts haben können, wenn wir Uebrigen, wie gesagt, auch dabei leer ausgehen. In einer alten Familie muß man sich unterzuordnen wissen; die Hauptsache ist, daß der Stamm erhalten bleibt.“
„Warum heirathen denn die jungen Leute nicht?“ fragte ich mit gut gespielter Ruhe.
„Junge Leute ist gut, nicht wahr, alter Herr?“ sagte Ulrich, die Dogge streichelnd. „Uebrigens ganz richtig gefragt, weisester aller Thebaner. Warum heirathen sie nicht? Das fragt alle Welt. Früher hieß es: sie will keinen Sekondelieutnant. Nun ist er aber seit dem vorigen Herbst Premier. Das kann es also nicht gewesen sein. Na, Kind, Du hast ja damals auch mit dem Feuer gespielt und Dir, wie ich annehme, die schlanken Finger ein bischen verbrannt. Die Sache steht, bei Licht besehen, eigentlich noch gerade so wie damals. Ellinor weiß nicht, was sie will. Das heißt, im Grunde will sie, daß jeder Mann, der in ihre Nähe kommt, sich Knall und Fall in sie verliebe, was denn auch mit bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit geschieht und ihr den entsprechenden Spaß macht; mir nebenbei auch, der ich, Gott sei Dank, ganz unbefangen dabei sein darf und meinem lieben Astolf die Pein, die er aussteht, brüderlich gönne. Wir lieben einander nämlich mit jedem Jahre mehr, Astolf und ich. Aber das gehört nicht hierher. Es ist also zwischen den Beiden im Grunde genommen die alte Geschichte. Er – ich muß ihm das lassen – hat sich in der ganzen Sache völlig tadelfrei benommen, wie er denn in dieser und jeder anderen Beziehung der korrekteste Mensch von der Welt ist – und sie – offen gestanden, ich bezweifle und habe immer bezweifelt, ob sie überhaupt lieben kann. Alles in Allem wird es eine reizende Ehe werden. Denn heirathen müssen und werden sie sich endlich doch. Da beißt keine Maus einen Faden ab. Ruhig, Melac! es ist ja nur von einer figürlichen Maus die Rede.“
„Du erlaubst, daß ich das Alles abscheulich finde!“ sagte ich.
„Was?“
„Alles: daß da zwei Menschen, um einen Haufen Geld zusammenzubringen, verkuppelt werden sollen, die einander nicht lieben; daß sie sich verkuppeln lassen; daß Deine ganze Familie dazu Ja und Amen sagt, und, was mir natürlich am schmerzlichsten ist: Du selbst.“
„Na, na, Kind!“
„Ja, Du, der Du in meiner Erinnerung standest als ein Mensch, in dessen Herzen nur Güte, Liebe und Großmuth Platz hatten, und jetzt Ansichten aufstellst, in denen ich von dem Allem auch nicht die Spur mehr entdecken kann, wohl aber das vollständige Gegentheil.“
„Kind, Du rasest!“
„Dann segne ich meine Raserei, die mich vor Deiner kaltblütigen Vernunft bewahrt. Und weißt Du, was ich noch weiter segne? Maria’s Hochsinn, der einer gewissen ,todten Liebe‘ seinerseits ein kühles und tiefes Grab bereitet hat. Ja, mein Bester, ich habe Deinen Gruß getreulich überbracht, und Du magst es Dir selbst zuschreiben, wenn ich Dir die Antwort, die ich bekam, wie ich sie bekam, ohne freundschaftliche Umschreibungen übermittle. Und endlich: so bitter leid mir Dein Onkel thut, daß er der Liebe seines einzigen Kindes entbehren muß – ich finde es jetzt begreiflich, daß er keinen Finger rührt, ein Band wieder zu knüpfen, das heillos zerrissen ist. Ein Mädchen, wie Ellinor nach Deiner Schilderung, ist seine Tochter gar nicht. Das ist ein fremder Tropfen in seinem Blute. Das ist –“
„Beim Himmel, nun ist’s genug!“
Er war aufgesprungen, zornroth das Gesicht, blitzend die Augen, die Fäuste geballt; mit ihm die Dogge, die knurrend gegen mich die Zähne fletschte.
„Willst Du nicht lieber gleich den Hund auf mich hetzen?“ sagte ich.
Er griff der Dogge in das Halsband und begann mit großen Schritten an der einen Längsseite des Arbeitstisches auf- und abzugehen; der Hund, den er am Halsband behielt, neben ihm. Ich stürmte an der anderen Seite auf und ab, wüthend auf Ulrich, zornig über mich selbst, daß ich mich zu einer Sprache hatte hinreißen lassen, welcher jede Berechtigung fehlte, wenn der da drüben nicht mehr mein Freund war; und die, wie mir mein Gewissen weiter sagte, ihre Leidenschaft ganz wo anders hergeholt hatte, als aus der beleidigten Moral. Ich fühlte, daß es an mir sei, wieder ein erstes gutes Wort zu sprechen; aber, ehe ich das rechte finden konnte, kam er plötzlich um den Tisch herum mit ausgestreckter Hand.
[605]
[606] „Verzeihe!“ sagte er; „ich hatte vergessen, daß Du mich – im guten Sinne, versteht sich –- nicht beleidigen kannst.“
„Auch habe ich Dich nicht beleidigen wollen,“ sagte ich, seine Hand ergreifend.
„Abgemacht!“ rief er, mir die Hand in alter Weise schüttelnd, daß ich den Schmerz, den er mir in meinem kranken Arme verursachte, nicht ganz zu verbergen im Stande war.
„Armer Kerl,“ sagte er, „das ist also doch geblieben! Nach so viel Jahren! Und ich – ah! ich richte Unheil an, wohin ich komme. Und ist doch so schon genug von der Sorte in der Welt. Du kannst davon mitsprechen. Dir haben Deine lieben Eltern das gleich bei Deiner Geburt besorgt.“
„Wenn es Dir recht ist: über dies Thema kein Wort weder jetzt noch in Zukunft.“
„Schade! Ich hätte ein gut Theil darüber zu sagen. Weißt Du, daß die Herzogin gestorben ist? In Mentone – vor drei Tagen?“
„Nein, diese Welt ist für mich versunken.“
„Manchmal tauchen auch versunkene Welten wieder auf.“
Ich erwiderte auf diese Bemerkung nichts. Die unerwartete Nachricht hatte mich doch seltsam getroffen. Ich hatte die Dame ja nie gesehen, aber nur Gutes von ihr gehört und ihr trauriges Schicksal im Stillen immer aufrichtig beklagt. Der Herzog war also auch nach dieser Seite frei vor der Welt und seinem Gewissen, wie er es in seinem Handeln ja stets gewesen war. Und plötzlich fuhr mir durch den Kopf, ob Weißfisch’s Besuch mit dem Ereigniß wohl in Zusammenhang stehen möchte?
Ulrich, der an den Tisch getreten war, hatte das Manuskript des „Münzer“ dort entdeckt und hob jetzt das Heft in die Höhe, rufend:
„Ei, der Tausend! Du bist der geheimnißvolle Verfasser der famosen Tragödie, die auf dem X-Theater aufgeführt werden soll, und von der heute der „Börsenkourier“ ein solches Tamtam macht? Also wirklich unter die Poeten gegangen? Nun, es war vorauszusehen. Das sollte Dein Freund Israel gewußt haben!“
„Wie kommst Du auf den?“ fragte ich verwundert über die seltsamen Sprünge, die unser Gespräch machte, nachdem es einmal aus der Bahn geschleudert war.
„Ich las das Blatt in seinem Komptoir,“ erwiderte er. „Bin schon seit langer Zeit in Geschäftsverbindung mit ihm. Wollte, sein Vater wäre ein so ehrlicher Kerl gewesen wie er; die Nonnendorfer Aktien würden heute nicht so tief unter Pari stehen. Erzählte, mir auch gleich in der Freude seines Herzens von Deinen amerikanischen Beziehungen. Illimitirter Kredit! Wetter, wenn ich doch wenigstens einen limitirten hätte! War übrigens die Verschwiegenheit selbst. Behauptete, nicht zu wissen, wer der eigentliche Kreditgeber sei. Beruhige Dich! Ich machte ein ebenso dummes Gesicht wie er, hatte nicht die leiseste Ahnung davon, daß man von – na, Du weißt ja! – nach Berlin unter Anderem auch über New-York schreiben kann. Mein Gott, ich höre ja schon auf! Aber freilich, wenn ich nicht einmal in so zarten Andeutungen über gewisse Dinge reden darf, so wird unser Verkehr allerdings fast zur Unmöglichkeit. Und ich gebe Dich nicht auf, trotzdem wir an schlechte Behandlung nicht gewöhnt sind, – nicht wahr, Melac?– schon um Ellinor’s willen nicht. Und nun höre einmal ordentlich zu, um was ich Dich als mein alter Freund bitten will und jetzt bitten kann, nachdem Du mir für Deinen Ausfall von vorhin eine kleine Genugthuung schuldig bist – verstanden?“
Er hatte sich dicht vor mich hingestellt, mich beim Rockknopf ergriffen und fuhr in eindringlichem halblauten Tone fort:
„Was ich Dir vorhin über unsere Verhältnisse, besonders über das zwischen Astolf und Ellinor mitgetheilt, ist buchstäblich wahr. Eine glückliche Ehe wird’s nicht, aber es ist Ehrensache der Familie, daß sie zu Stande kommt, und zwar bald, oder sie kommt nicht zu Stande. Wohl aber anstatt dessen ein Skandal, nämlich der, daß, wenn der Onkel in seiner Opposition gegen die Regierung nicht einlenkt, vielleicht gar noch weiter geht, Astolf entweder selbst den Dienst quittiren muß, um Ellinor heirathen zu können, oder von der Bewerbung der Tochter eines offenbaren Revolutionärs zurückzutreten gezwungen ist. Das wäre dann wieder, da ihr Verhältniß zu Astolf in unseren Kreisen allbekannt ist, eine schauderhafte Blamage für Ellinor, in Anbetracht der Veranlassung des Bruches eine doppelte. Daß Ellinor heute selbst gekommen ist, den Onkel und Dich zur Tante einzuladen, mag Dir ein Beweis sein, wie klar sie die Situation sieht, und wie viel ihr im letzten Augenblicke daran liegt, die Sache zu einer raschen, endgültigen und glücklichen Entscheidung zu bringen. Deßhalb nun, wenn Du Ellinor einen ritterlichen und mir einen Freundschaftsdienst erweisen willst – der nebenbei auch in dem eigensten Interesse des Onkels ist, wie ich und noch andere Leute, die nicht auf den Kopf gefallen sind, es verstehen – mache, daß er zu der Gesellschaft kommt, die nur um seinethalben arrangirt ist, und in der Du gut und mit Auszeichnung aufgenommen werden wirst, ohne daß irgend Jemand Deinem Zartgefühl auch nur mit einem Hauch zu nahe tritt. Dafür übernehme ich die Bürgschaft. Wenn ich mir hinzuzufügen erlaube, daß es Dir, wie ich Dich beurtheile, nicht unlieb sein wird, die Gastfreundschaft, welche meine Eltern einst dem armen Handwerkersohn erwiesen haben, in Deiner jetzigen Lage durch einen großen der Familie geleisteten Dienst wett machen zu können, so habe ich, glaube ich, Alles gesagt, was zu sagen ist. Und nun, was gedenkst Du zu thun?“
„Ich werde den Einfluß, den ich etwa auf Deinen Onkel habe, aufbieten, ihn zu bestimmen, daß er kommt.“ .
„Und Du selbst?“
„An mir ist doch wohl nichts gelegen.“
„Im Gegentheil! So viel, daß, falls sich der Onkel nicht entschließen könnte, Du aber von seiner Seite mit freundlichen Erklärungen kämst, es vielleicht sogar genügen würde.“
„Dann werde ich jedenfalls kommen.“
„Abgemacht! Und nun verzeihe, daß wir Dich so lange belästigt haben. Komm, Melac!“
Bis zu dem späten Mittagsmahl, welches ich stets mit dem Oberst einnahm, hatte ich noch mehrere Stunden. Ich sagte dem Burschen, daß ich inzwischen Besuche abzustatten habe, und machte mich auf den Weg.
Zuerst zu Adele. Ich mußte in Erfahrung bringen, ob die außerordentliche Handlungsweise meiner Mutter auf ihre Anregung zurückzuführen sei.
Adele wußte von Nichts. Wie hätte sie zu einem solchen Schritt den Muth haben sollen, nachdem ich meinem Widerwillen dagegen einen so unzweifelhaften Ausdruck gegeben? Freilich hätte sie gewünscht, daß es so kommen möge; aber wie hätte sie nach meinen Mittheilungen hoffen dürfen, daß es so kommen werde? Nun indessen, da es gekommen, würde ich doch nicht so hartherzig und ein so ausbündiger Narr sein, die so liebevoll dargebotene Hand der Mutter und die reiche Gabe, die sie mir – gewiß nur als Abschlagszahlung künftigen Ueberschwanges mütterlicher Freigiebigkeit – bietet, zurückzuweisen. Sofort solle ich zu Herrn Israel fahren, meine Erklärung, von dem Kredit keinen Gebrauch machen zu wollen, zurücknehmen, vor Allem mir den ungelesenen Brief wiedergeben lassen!
Ich hatte mit dem lieben Wesen einen schweren Stand und verwünschte meine Thorheit, sie bei dieser Angelegenheit ins Vertrauen gezogen zu haben. Ihre einmal erregte Phantasie konnte nicht müde werden, die schönsten Schlösser zu bauen, zu denen die vollständige Aussöhnung mit meiner Mutter, welche für sie eine Thatsache war, das Fundament hergab. Den Tod der Herzogin, von dem ihr der Graf Mittheilung gemacht – sie selbst las grundsätzlich keine Zeitungen - erklärte sie für ein Ereigniß, welches Aussichten eröffne, die sie mir nicht weiter ausmalen wolle, denn wenn einer stockblind und nebenbei ein so störrischer Junge sei, so sei ihm eben nicht zu helfen. Das habe ich denn doch in der Angelegenheit mit Ellinor bewiesen. Sie wünsche zu wissen, wie eine junge Dame in ihrer Zuvorkommenheit noch weiter gehen könne, ohne dem Betreffenden demnächst um den Hals zu fallen. Nun scheine es ja ein Aufflackern von Vernunft, daß ich doch wenigstens für mich die Einladung angenommen und versprochen habe, auch dem Oberst zuzureden; aber wer könne wissen, ob dieser Funke nicht ebenso bald wieder verlöschen und der alten schwarzen Unvernunft Platz machen werde?
Ach, sie war wieder so gut, so schwesterlich, die Liebe, Holde, die da von ihrem niedrigen Mansardenfenster aus der engen, dürftigen Stube bunt schimmernde Seifenblasen in den rauhen Wintertag schickte für den geliebten Bruder, der die Kunst [607] früher auch so meisterlich verstanden hatte! Und nun schier traurig wurde, daß er sie so ganz verloren, oder doch nicht mehr üben durfte! Nein, nicht mehr, geliebte Schwester! Ja, wenn er Dich damit aus diesem dunklen Mauerschwalbennest erlösen und wieder zu der Lerche machen könnte, die singend und jubilirend über dem wogenden Aehrenfelde in den blauen Himmel steigt! Als ob der Himmel über uns nicht immer nur der Widerschein des Himmels wäre, der in uns ist – in Dir ist! Und den Dir Gott erhalte, Du Beste, Einzige!
Das betete ich aus tiefster Seele, als ich mich nun endlich doch aus ihren Armen gezogen, die mich heute gar nicht lassen wollten, um nach dem Westen der Stadt zurückzuwandern, vorerst zu ihm, dem ich in der Kunst des Seifenblasens immer „über“ gewesen war, wofür er es dann wieder in der des Rechnens so früh zur Meisterschaft und unter Anderem auch zu dem Hause gebracht, vor dem ich jetzt anlangte in einer der vornehmsten Straßen, welcher es zur vornehmsten Zier gereichte. Ein prachtvolles, in der Fassade vom Grunde bis zum Giebel aus Sandstein aufgeführtes dreistöckiges Haus in etwas überladenem Renaissancestil mit zwei mächtigen Thüren, von denen ich gleich an die richtige gerathen war: in der Seitenwand auf einer schwarzen in die Mauer eingelassenen Marmorplatte prangte mit goldenen Buchstaben die Firma: Israel, Löbinsky und Kompagnie. Der in Blau, Roth und Gold schimmernde Portier hätte mich offenbar gern von oben herab angesehen. Da ihm dies nicht wohl gelingen konnte, weil er fast um einen Kopf kleiner war als ich, mußte er sich damit begnügen, mir in möglichst nachlässigem Ton die Richtung zu bezeichnen, in der ich mich zu bewegen hatte, um schließlich zu dem Privatkomptoir des Herrn Israel zu gelangen. Durch, wie mir schien, endlose Säle, vorüber an langen Zahltischen, an denen es geschäftig zuging, und vergitterten Lauben, in welchen dunkelhaarige junge Herren, schweigsam über ihre Pulte gebeugt, kritzelten, nach manchen weiteren Anfragen bei anderen dunkelhaarigen jungen Herren, die mit Papieren in der Hand oder großen Büchern unter dem Arm an mir vorübereilten, war ich endlich zu einer Polsterthür gekommen, in welcher irgend Jemand, der mir meine Karte abgenommen, verschwand und aus der dann alsbald ein Herr heraustrat, der mir einen Augenblick prüfend ins Gesicht sah, um mich dann in seine Arme zu schließen und in das Allerheiligste hinter der Polsterthür zu ziehen.
Ich hatte vor wenigen Stunden einem alten Freunde gegenübergesessen, an welchem im Laufe weniger Jahre eine große, für mich betrübende Veränderung vorgegangen war. Dieser hatte sich nicht verändert. Ein wenig beleibter mochte er geworden sein, aber es stimmte so gut zu der langen fleischigen Nase und zu der dicken Unterlippe, die genau so verlegen zitterte, wie damals, wenn es gegen die gräulichen Piraten ging, die sich vor dem inzwischen entstandenen Kotelettbart auch nicht eben gefürchtet haben würden. Nein, das war der alte Emil äußerlich, der auch innerlich keine große Wandlungen durchgemacht haben konnte, wenigstens erzählte er mir die Geschichte seiner letzten Jahre so stockend, zögernd, mit so vielen Ehems und so vielen angefangenen Konstruktionen, die nie zu Ende kamen, als wäre er kein großer Banquier, sondern ein gehudelter Sekundaner, und ich repetirte mit ihm die Geschichte der Kreuzzüge.
Er hatte gleich nach dem Tode seines Vaters das hiesige Banquiergeschäft mit dem jungen Löbinsky, seinem jetzigen Schwager, aus einem seinem Vater von der Lieferungszeit her befreundeten Warschauer Hause, gegründet und einen großen Theil seiner Zeit verwenden müssen, die überaus verwickelten, freilich auch überaus einträglichen Geschäfte zu liquidiren, die der Vater in unserer Stadt und Provinz zurückgelassen hatte. Er könne es ja jetzt sagen, wo keine Gefahr für Leib und Leben damit verbunden sei: fast die halbe Stadt und ein nicht kleines Stück der Provinz, zum wenigsten des Regierungsbezirkes, habe der Firma J. Israel gehört. Es sei nicht wahr, was damals behauptet wurde, daß sein Vater der Schöpfer dieser Mißstände gewesen sei: er habe nur den rückgehenden Wohlstand der allmählich versandenden Hafenstadt, die lodderige Wirthschaft des längst schon tief verschuldeten Adels zu seinem Vortheil klug benutzt. Jetzt habe er – Emil – wie gesagt, sich von allen diesen provinziellen Verbindungen und Verhältnissen losgemacht, zum Theil mit nicht unerheblichem Schaden, wesentlich auf Betrieb seiner Schwester, der die Erinnerung an jene Zeit entsetzlich sei, und die ihm immer in den Ohren gelegen habe, er solle ein neues Leben anfangen.
„Nun, und das habe ich denn gethan,“ sagte Emil, mit den dicken rothen Händen (sie waren sonst um diese Zeit des Jahres stets verfroren gewesen) die runden Kniee reibend, „unser Geschäft ist ganz neu, auf wesentlich neuen Principien gegründet, deren strikte Befolgung uns Transaktionen gestattet, zu denen selbst Bleichröder keinen Muth haben würde, was gewiß etwas sagen will. Wir arbeiten an fünf und mit fünf Plätzen zugleich: mein Schwager und ich hier; mein Schwiegervater mit dem ältesten Sohne in Warschau, ein zweiter Bruder in London, ein Schwager wieder meines Schwagers in Paris, abermals ein Schwager in New-York. Die Firma lautet überall gleich: Israel, Löbinsky u. Komp., weil ich in der Lage war, in jedem der fünf Geschäfte dieselbe runde Summe anlegen zu können.“
„Sagen wir eine Million,“ warf ich scherzend ein.
Die kurzsichtigen Augen hoben sich schnell und erschrocken, als ob ich die Nachricht gebracht hätte, daß die Piraten gelandet seien.
„Woher weißt Du das?“ fragte er mit zitternder Unterlippe.
„Ich dachte mir so,“ erwiderte ich lachend.
„Du hast es in der That errathen,“ sagte er leise. „Ich hatte auch keine Ahnung, daß es so viel wäre; aber die Armeelieferungen – weißt Du! Es handelte sich ja immer um Millionen. Wir wußten wirklich nicht mehr, wohin mit dem Gelde. Vater sagte damals schon manchmal: ich glaube, sie schlagen uns alle noch einmal todt. Es wäre ja auch beinahe so weit gekommen.“
Blätter und Blüthen.
Pionierübungen vor dem Kronprinzen bei Wernsdorf. (Mit Illustration S. 605.) „Wer den Frieden erhalten will, bereite sich zum Kriege vor“ ist ein Grundsatz, welchem in vollem Umfange gerecht zu werden, die deutsche Heeresleitung in hohem Maße bemüht ist. Dankbar blickt der deutsche Bürger auf den kaiserlichen Kriegsherrn, der nicht nur selbst immer wieder von Neuem nach dem Rechten sieht, sondern auch seinen Sohn, den erlauchten Kronprinzen beauftragt, überall da zu rathen, zu bessern und zu helfen, wo es die körperlichen Anstrengungen nicht mehr erlauben, daß der greise oberste Kriegsherr es selbst vollbringe.
So richtete sich denn auch vor kurzer Zeit das fürstliche Auge auf die Leistungen der Ingenieure und Pioniere, welchen in etwaigen künftigen Kriegen sicherlich kein leichtes und geringes Maß von Thätigkeit zugemessen sein wird, sei es die Gegner im verschanzten Lager an der Landesgrenze aufzusuchen, den Weg in die feindlichen Festungen und Sperrforts vorzubereiten, sei es die eigenen Festungen daselbst zu vertheidigen, den Feind aufzuhalten, um in dieser Weise den deutschen Herd so lange zu schützen, bis die im Innern des Landes mobilisirten Armeen dem feindlichen Heere entgegen zu treten im Stande sind.
Die Herstellung und Zerstörung von Brücken, das Ueberschreiten von Strömen und Festungsgräben, eine Verhinderung des Ueberganges seitens unseres Gegners bildeten den Gegenstand der Uebungen, welche im Beisein des Kronprinzen am 16. Juli auf der Dahme bei Wernsdorf seitens des Garde-Pionier-Bataillons zur Ausführung gelangten.
Wie das beigefügte Bild zeigt, handelte es sich um einen Brückenschlag, welcher den Uebergabg eines Korps über den vorgenannten Fluß ermöglichen sollte. Zum schnellen Uebersetzen der Truppen hatte man zwei Brücken geschlagen: die eine als Pontonbrücke aus dem vorbereiteten Material unserer Brückentrains, wie solches mit ins Feld genommen wird, die andere als Pfahljochbrücke aus unvorbereitetem Material, wie dergleichen aus Wäldern, durch Abbruch von Gebäuden etc. gewonnen werden kann.
Kaum war jedoch die Avantgarde, von welcher bereits einige kleinere Abtheilungen vor dem Beginn des Baus der Brücken vermittelst Pontons auf das andere Ufer übergesetzt worden waren, auf letzterem angelangt, als sie, von stärkeren feindlichen Kräften gedrängt, wieder weichen und den Rückmarsch auf das soeben erst verlassene Terrain antreten mußte.
Jetzt galt es, dem nachdrängenden Gegner den Uebergang über die Brücken zu wehren. Die Pontonbrücke wurde schleunigst durch Ausfahren der in einzelne Glieder von zwei und vier Pontons zerlegbaren Brücke an das befreundete Ufer gebracht.
Nicht auf gleiche Weise war jedoch die gezimmerte Pfahljochbrücke zu entfernen. Eine Beseitigung derselben in ihrem ganzen Umfange durch Menschenkräfte war ein Ding der Unmöglichkeit. Hier hieß es, gewaltsamere Mittel zur Anwendung bringen. Schnell wurde die Brücke in der Nähe der beiden Ufer zur Sprengung vorbereitet und außerdem die den Brückenausgang auf der anderen Seite sichernde, bereits zuvor angelegte Mine zündfertig gemacht, um dieselbe in dem Augenblicke, in welchem [608] der Gegner die Brücke erreicht haben würde, zur Explosion bringen zu können, wodurch Tod und Verderben in die Reihen desselben geschleudert werden sollten. Jedoch wurde hierdurch nur ein kurzer Aufenthalt erzielt; der durch die Zündung hervorgerufene Eindruck wirkte nur in moralischer Beziehung und wurde von dem kampfmuthigen Gegner bald überwunden, der sich, von erneuter Schlachtenlust entbrannt, zum zweiten Male auf die Pfahljochbrücke warf, um sich endlich am andern Ufer mit dem Gegner messen zu können.
Plötzlich ein jähes Halt, ein neues furchtbares Krachen, Dröhnen und Gepolter, ein Zurückfluthen der streitbegierigen nachdrängenden Massen.
Die an den Jochen zuvor angebrachten Ladungen waren entzündet worden. Nach Abzug des durch die Explosion von Schießwolle und Pulver erzeugten Dampfes zeigten sich dem Auge zwei weitklaffende Lücken. So war auch der Uebergang über die gezimmerte Brücke zur Unmöglichkeit geworden.
Alles war vortrefflich geglückt, der Kronprinz hatte sich von Neuem überzeugt, daß er sich auf die Pioniere in jeder Weise verlassen könne.
Dankend schied der hohe Herr von der Uebungsstelle, Hochs und Hurrahs des ebenfalls von dem Schauspiele befriedigten, auf einem Dampfschiffe erschienenen Publikums freundlichst annehmend, um sich auf einem durch Pioniere geführten Boote nach der nächsten Eisenbahnstation zurückzubegeben. T.
Jugendlust. (Mit Illustration Seite 593.) Ich möchte behaupten, daß Kinder mit verborgenen Flügeln zur Welt kommen. Dieselben gelangen nie an das Licht, aber sie wachsen, und sie drängen heimlich sich zu entfalten, und es kommt doch nichts dabei heraus, als der immerwährende Drang, irgendwo zu fliegen. Stelle ein Kind hin, das soeben laufen gelernt hat, und breite die Arme aus: kommt es nicht an, als ob es auffliegen wolle wie ein flügger Vogel? Unter meinem Fenster jagt sich eine schreiende Schar: ich habe das Gefühl, als ob ihr Laufen das Produkt eines durch die Schwere in die Richtung der Horizontale gebannten Auffliegens sei. Sie springen – vergebliche Flugversuche, immer und immer wieder; das giebt eine Genugthuung: es ist doch eine Art Fliegen. Sie tanzen, sie lieben schwärmerisch den Flug auf dem Karrousel. Vor allem sie schaukeln leidenschaftlich gern. Das ist das wahre Fliegen, und das ganze Wesen fliegt mit – in die Luft, in das Unermeßliche.
Dies Gefühl bleibt der Prüfstein für die innere Jugend. Ihm genug thun, darin besteht der Reiz des Tanzens, des Fahrens und des Reitens. Eines Tages merkst du, daß dein inneres Wesen diesen Bewegungen nicht mehr folgt, und du hörst auf mit Tanzen; du fährst nur noch, weil es bequemer ist, und du reitest, weil es Pflicht ist oder um der Gesundheit willen. Du suchst nach frommen Pferden.
Die schönen Flügel – schade um sie! Wohl dem, der sie im Dienst seiner Gedanken hat, und der sie gewöhnt hat, dem Willen zu gehorchen. Er rührt sie länger als jeder Andere. Das ist die ewige Jugend des Künstlers. Nicht umsonst führt der Dichter den Pegasus im Wappen, und nicht bloß deßhalb, weil, wie ein geistreicher Mann halbwahr gesagt hat, Dichten „Pferde-Arbeit“ sei.
Victor Blüthgen.
Besuch im Felde. (Mit Illustration S. 597.) In neuerer Zeit entnimmt E. Henseler mit Vorliebe die Stoffe zu seinen Bildern dem Landleben, und er thut recht daran. Seine Begabung, die sich zuerst in jenen prächtigen Jägertypen dem größeren Publikum bemerkbar machte, weist sein künstlerisches Schaffen hauptsächlich auf dasselbe hin. Dazu kommt die, wenn auch realistische, so doch poesievolle Wiedergabe der Natur des platten Landes. In seinen sommerlichen Landschaften glauben wir jenen warmen, fruchtbringenden Hauch zu fühlen, wie er bei beginnender Ernte über die wogenden Aehrenfelder zieht; wir sehen das Zittern, das Flimmern der von den Sonnenstrahlen durchglühten Luft und freuen uns des lichtblauen Himmels, wie er auf unsere fruchtbaren, norddeutschen Ebenen niederlacht.
Im Vordergrunde steht, die Sense an die Schulter gelehnt, ein kräftiger, schlanker Bauersmann. Er trägt keine originelle Nationaltracht, durch die etwa seine Gestalt malerisch gehoben werden könnte; nüchtern und prosaisch ist auf den ersten Blick die ganze Erscheinung. Wir werden, wenn wir ihn oberflächlich betrachten, an seine scheinbar so unpoetische Heimat erinnert; aber wie dieselbe dem ihr ganzes warmes Herz entgegenbringt, der sich die Mühe nimmt, sie kennen lernen zu wollen, so gewinnt uns auch der einfache Landmann Interesse ab, wenn wir aufmerksamer sein offenes, ehrliches Gesicht betrachten, über welches ein frohes, zufriedenes Lächeln zieht, indem das Auge auf dem bausbäckigen Buben ruht, dessen Händchen ihm einen Strauß bunter Feldblumen entgegenstreckt.
Und wie der Vater den Kleinen mit väterlichem Stolze betrachtet, so blickt auch die Mutter, die ihn hinausgetragen ins Feld, mit demselben Ausdruck auf den Buben. Sie ist ein kräftiges, gesundes Bauernweib, in keiner Weise idealisirt, sondern dargestellt, wie der Himmel dem norddeutschen Landmann sein Weib beschert. Eugen Friese.
Ein neuer Wunderthäter. Die schönen Zeiten des Spiritismus, der Geisterseherei und Geisterbannerei, sind schon vorüber; der leidige Antispiritismus mit seinen aufklärenden Kunststücken hat den Geisterbeschwörern das Geschäft verdorben. Das war seine Blüthezeit, als er in den Residenzschlössern der mächtigsten Monarchen sein Wesen treiben durfte und als tüchtige Gelehrte, angesehene Männer der Wissenschaft für seine Wunder eine neue Formel fanden. Jene Blüthezeit des Spiritismus ist durch einen Mann vertreten, der vor einigen Wochen in seiner glänzenden Villa in Auteuil verstarb, durch Daniel Douglas Home, einen Schotten von Geburt, der aber schon in früher Jugend nach den Vereinigten Staaten gekommen war. Home war übrigens nicht ein bloßer Taschenspieler: er hatte eine hochgradige Nervosität und etwas Hellseherisches in seinem Wesen; im Tischrücken und Geisterklopfen, im Schreiben auf eine unter dem Tisch befindliche Tafel, im Geisterbeschwören hatte er sich bald zum Matador unter den Gläubigen in den Vereinigten Staaten emporgeschwungen. Sein Ruhm war über den atlantischen Ocean gedrungen, und wie unsere Schauspieler und Sänger nach Amerika ziehen, um ihren glänzenden Namen dort zu verwerthen, so begab sich Home im Jahre 1855 in die Alte Welt, wo ihm die Gunst der Mächtigen bald die Wege bahnte. Im Windsorschlosse gab er seine Vorstellungen mit noch größeren Erfolgen.
Napoleon III. und besonders die Kaiserin Eugenie waren von dem Wundermanne sehr erbaut. Auch im Vatikan fand er Zutritt, aber er wurde aus Rom ausgewiesen und wanderte nach der Newa, wo Kaiser Alexander II. ihm seine Gunst zuwandte und ihm werthvolle Geschenke machte. In Petersburg gelang es ihm, Herz und Hand einer reichen Russin zu gewinnen. Auf diesem Gebiete der Schatzgräberei und Goldmacherei bewährte sich seine Kunst am meisten; denn nach dem Tode seiner reichen Frau bannte er eine englische Wittwe, Jane Lyon, so in seinen Zauberkreis, daß sie ihm bedeutende Summen schenkte: er hatte den Geist ihres Gatten heraufbeschworen, der solche Mildthätigkeit von ihr verlangte. Später aber wurde sie eine Ungläubige und es reute sie, dem Geiste ihres Gatten gehorsam gewesen zu sein: sie klagte gegen Home, daß er sie um 60 000 Pfund Sterling betrogen habe, und da in den Paragraphen der Gesetzbücher die Geister keine Rolle spielen und die Justiz sich nicht um Befehle aus dem Jenseits kümmert, wurde Home verurtheilt, indem der Richter diese Gelegenheit benutzte, die Künste des Wundermanns als Gaukeleien und Betrügereien zu bezeichnen. Dieser tröstete sich indeß über den verlorenen Proceß, indem er abermals eine reiche Russin heirathete und sich dann in Auteuil ein friedliches Heim gründete, wo er nur gelegentlich einmal vor seinen vertrauten Freunden Proben seiner Kunst ablegte.
Inzwischen traten andere Geisterbanner in die Lücke ein, die er freigelassen, aber mit geringerem Glück; denn es begannen die Entlarvungen, und zuletzt behaupteten die magischen Taschenspieler das Feld, welche die Geheimnisse ihrer Kunst dem Publikum preisgaben und so den Kredit der Geisterseher gänzlich untergruben. †
Papst Leo XIII. als Dichter. Daß der gegenwärtige Papst ein talentvoller Poet ist: das ist für viele Kreise gewiß etwas Neues, während in Italien seine lateinischen und italienischen Gedichte längst hochgeschätzt sind und ihm sogar den Beinamen eines neuen Dante verschafft haben. Die Hauptausgabe seiner Gedichte ist in einem mit Goldminiaturen verzierten Prachtbande erschienen; viele derselben sind mehrfach aus dem Lateinischen in das Italienische übersetzt worden; seine beiden Hymnen „St. Constantinus“ und „St. Herkulanus“ sind in Italien populär: das Märtyrerthum der beiden Heiligen wird in einer energischen, man möchte sagen unerbittlichen Dichtweise geschildert, die sich freilich nicht in Detailmalerei gefällt, sondern nur die opfermuthige Gesinnung feiert. Beide Märtyrer verlachen die gottlosen Gebräuche der Heiden, die machtlosen Blitze des Jupiter und Quirinus, alle grausam über sie verhängten Strafen, Eisen, Feuer und kochendes Wasser; dann aber ruft der Papst ihre Hilfe, ihren Schutz an, um das heilige Schiff der Kirche sicher durch die Stürme zu lenken. Ernst, streng und feierlich ist die Muse Leo’s. Nur flüchtig gedenkt er einer frohen Jugend, eines ersten Lebensfrühlings. Vor der dämonischen Lust der irdischen Liebe warnt er die Verirrten; zur Madonna wendet er sich, zur mütterlichen Madonna, die aber nicht den lieblichen Zug der Raphael’schen hat, sondern etwas Herbes und Matronenhaftes. Weihevoll sind diese Dichtungen des Papstes; sie kümmern sich nur um das Seelenheil; alles Weltliche ist ihnen fremd und fern oder der Rüge und Verdammniß werth. Und doch giebt es eine Erfindung der Neuzeit, der er seine warme Theilnahme zuwendet, die er in wohltönenden Versen feiert. Es ist dies – die Photographie, die er eine Nebenbuhlerin des Apelles nennt, da kein Künstler ein schöneres Bild der Natur zu malen vermöge. Diese Vorliebe des Papstes für die photographische Kunst wird ihm warme Sympathien bei den zahlreichen Meistern und Jüngern derselben erwerben; doch die Portraitmaler werden damit wenig einverstanden sein. Gerade ihre Kunst hat ja einen Triumph gefeiert in dem ausgezeichneten Bilde Leo’s XIII., welches Meister Lenbach auf die Leinwand gezaubert. †
Weiß: | Schwarz: | Weiß: | Schwarz: |
1. T g 8 – c 8 | g 5 – g 4! | 1. … | b 6 – b5! |
2. D g 2 – a 8! | S h 2 – f 3 | 2. D g 2 – c 6†! | d7 –c 6: |
3. T c 8 – c 6† | d 7 – c 6: | 3. T c 8 – d 8† | K d 6 – c 7 (e 7) |
4. D a 8 – d 8 matt. | 4. L c 3 – a 5 (f 6) matt. |
Sonstiges leicht ersichtlich. Auf 1. … S g 4 (S f 3) folgt 2. D : S . –
Diese Aufgabe beruht auf Zugzwangs-Benutzung. Der Zug 1. … g 5 – g 4 ermöglicht die Fortsetzung mit 2. D a 8 und nachfolgendem Thurmopfer, welches sonst durch S g 4!! (3. T c 6 † K c 7!!) widerlegt würde. – Andererseits giebt 1. … b 6 – b 5 das Feld a 5 für den Läufer frei, so daß jetzt ein glänzendes Damenopfer folgen kann.
Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 593. – Der Druckfehlerteufel. Von Rudolf Kleinpaul. S. 596. – Der Raub in der Thierwelt. Charakterdarstellungen von Adolf und Karl Müller. I. S. 598. Mit Illustrationen S. 599 und 600. – In der Ausstellung zu Augsburg. Mit Illustrationen S. 601. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 602. – Blätter und Blüthen: Pionierübungen vor dem Kronprinzen bei Wernsdorf. S. 607. Mit Illustration S. 605. – Jugendlust. Von Victor Blüthgen. S. 608. Mit Illustration S. 593. – Besuch im Felde. Von Eugen Friese. S. 608. Mit Illustration S. 597. – Ein neuer Wunderthäter – Papst Leo XIII. als Dichter. – Auflösung der Schachaufgabe auf S. 536. S. 608.