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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[789]

No. 48.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Am nächsten Morgen langte Jörg mit schwerbeladener Kraxe zu Hause an. Die Leute im Finkenhofe glaubten natürlich, daß der Bauer bei grauendem Tage die Alm verlassen hätte – während droben die Emmerenz meinte, der Bauer könnte wohl noch vor der „ärgsten Finstern“ den Finkenhof erreicht haben.

In emsiger Arbeit verbrachte Enzi den Tag, während Dori jodelnd hoch droben im Gestein bei seinen Schafen hockte. Als der Abend kam, fachte die Dirne die auf dem Herde glimmenden Kohlen zu hellem Feuer an und schüttete Mehl zum Schmarren in die Pfanne. Da hörte sie Schritte. „Dori?“ rief sie – keine Antwort folgte, aber die Schritte kamen näher. Jetzt erkannte sie diesen festen, gleichmäßig raschen Gang, und eine jähe Röthe flog über ihre Wangen.

Gidi erschien unter der Thür. „Grüß’ Dich Gott, Sennerin! Is verlaubt, daß man zukehrt in Deiner Hütten?“ sprach er die Dirne an, die keinen Blick von ihrer Pfanne verwandte.

„Warum net? ’s Bankl is leer – und is g’macht zum Rasten. Und – grüß’ Dich Gott auch.“

„No ja, niedersetzen kann ich mich ja a bißl,“ meinte Gidi, während er die Büchse an die Holzwand lehnte und dann der Bank zuschritt, „aber – weißt – weg’m Rasten, da hätt’ ich mich g’rad net daher verirren müssen. Sind ja draußen Stein’ und Stöck’ g’nug um anander, wo man sich draufsetzen kann – ja, recht kommod auch noch.“

„No, weßwegen hast Dich denn nachher daher ver … verirrt?“ lautete die bissige Antwort.

Gidi stützte die Arme auf die Kniee, drehte die Daumen und begann mit den Füßen zu trommeln. „Ja mein – weißt – ich hab’ mir halt ’denkt, a jeder Handel, der ang’redt worden is und hat sich verfahren, muß ausg’redt werden auch wieder, und drum hab’ ich mir ’denkt, was wir Zwei mit anander haben, därfet doch auch net verlaufen wie ’s Hornberger Schießen.“

„Wie wir Zwei mit anander haben?“ wiederholte Emmerenz erstaunten Tones, und dabei rührte und rührte sie, daß der eiserne Löffel nur so klapperte in der Pfanne. „Ja, was haben denn wir Zwei mit anander?“

Erste Liebe.0 Nach dem Oelgemälde von Eugen Klimsch.

[790] Gidi nickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann plötzlich richtete er sich auf und henkte die Daumen in die Hosenträger ein. „Du heut’ is fein g’rad a Jahr’, daß wir zeei uns zum ersten Mal g’sehen haben.“

„Was D’sagst! Na – hast Du aber a G’mirk!“ fuhr Enzi mit gezwungenem Lachen auf.

„Ja, g’rad a Jahr!“ plauderte Gidi ruhig weiter, während ein leises Lächeln um seine bärtigen Lippen zuckte. „Und – Du – selb’gs Mal hab’ ich Dir fein g’schaut, wie ich so ’rein bin in Dein’ Hütten und hab’ Dich so dastehen sehen – ja – – gleich hast mir g’fallen!“

Hastig wandte Enzi das dunkel geröthete Gesicht dem Jäger zu. Ihre Augen schossen Blicke wie brennende Pfeile, und in ihrer Rechten schwang sie gleich einem Schwerte den eisernen Schmarrenlöffel. „Du – föppeln laß ich mich fein net!“

„Föppeln? Ah na! Ich will ja nix als wie verzählen –“

„Ich hab’ kein’ b’sondere Freud’ an G’schichten,“ brummte die Dirne und machte sich wieder mit ihrer Pfanne zu schaffen. „Aber no – wenn meinst, es müßt’ sein – meinetwegen – aber gelt, mach’s net wie’s Testament, das anfangt mit der Erschaffung der Welt!“

„No, wär’ net amal so z’wider, so an Anfang – denn g’rad wie der Adam hab’ ich selbigs Mal g’meint, der Herrgott hätt’ mir mein’ Eva g’schickt. Ja – so viel hast mir g’fallen! Und da bin ich halt nachher dag’wesen Tag für Tag. Und gar net z’wider is Dir’s g’wesen! Gern hast mit mir ’plauscht – und wann ich ’runterg’stiegen bin übers G’wänd und hab’ mich ang’meldt mit ei’m Juhschrei, da hast mir zug’jodelt – ja g’rad sakrisch!“

„Ah geh’!“ klang es mit spitzigem Kichern über Enzi’s Lippen.

„Ja, g’rad sakrisch! Und natürlich, wie’s halt so weiter ’gangen is, da hab’ ich mir ’denkt. da brauch’ ich ja gar net z’reden, das gibt sich ja ganz schon von selber, denn das hab’ ich bald g’merkt, wie gut als D’mir worden bist mit der Zeit – ja, arg gut!“

Enzi stieß das Holzscheit, das sie von der Erde gehoben, in die Kohlen, daß eine knisternde Funkengarbe hoch aufsprühte über die Pfanne, und unter hellem Gelächter stammelte sie: „Jetzt, das is mir ’was Neu’s – ah, ah, ah!“

„Was? Das hast Du gar net g’wußt?“ frug Gidi mit gemächlichen Worten, während er die Dirne mit einem zwinkerndem Vlicke streifte. „No – nachher sag’ ich Dir’s halt jetzt – ja, und – wer weiß, vielleicht könnten wir schon lang mit anander hausen, wenn –“

„Wenn ich mögen hätt’ – wenn ich mögen hätt’!“ unterbrach die Dirne mit zorniger Stimme die ruhigen Worte des Jägers. „Denn das wirst mir doch zugeben, daß ich bei so ’was g’fragt hätt’ werden müssen auch!“

„Schau, Enzi,“ sprach Gidi nach einer Weile mit ernst bewegten Worten weiter, „ich hab’ a gut’s Auskommen, das für zwei reichet – und für mehr auch noch! Aber natürlich – prassen kann man net dabei, ’s Hausen und Sparen muß man ordentlich verstehen – und – wenn man z’frieden sein will, muß halt auch die richtige Lieb’ dabei sein, wo aushalt’ für Leben und Sterben. Hab’ allweil g’meint, es wachst sich so ’was noch aus bei Dir – aber – der letzte Sonntag hat mir d’ Augen aufg’macht. Das is nix, Enzi, das bißl Gernhaben, das ’leicht hinter Dei’m Trotzen noch stecken mag! Das is z’ wenig für achthundert Mark im Jahr, wo d’ Lieb’ an jeden Pfennig strecken muß. Und mehrer is net da bei Dir, das hab’ ich g’merkt am letzten Sonntag – denn – weißt – die Spöttlerei den ganzen Winter über, die hätt’ nix bedeut’t – aber – aber daß D’ mich. am letzten Sonntag vor alle Leut’ beleidigen hast können bis in d’ Seel’ ’nein, daß D’ sagen hast können: an mir mußt Schand’ und Spott derleben und daß Du’s g’rad vor demselbigen hast sagen können, der mir der Z’widerste is im ganzen Thal, schau, Enzi, da draus hab’ ich dersehen müssen, daß ich Dir so viel net werth bin, als ich Dir werth sein müßt’, wenn – wenn wir z’samm’ stehn sollten fürs Leben – und – und daß nix G’rechts mit uns zwei nimmer werden kann. No – arg g’nug is mir’s, das kannst glauben, aber ich werd’s schon verdrucken in mir drin mit der Zeit, und – – Dir liegt ja nix dran! Oder is ’leicht net a so?“

„Was fragst denn noch –“ stieß Enzi, ohne sich zu rühren, zwischen den geschlossenen Zähnen hervor, „was fragst denn noch, wenn Du’s eh so g’wiß schon weißt?“

„Ja, ja!“ nickte Gidi zögernden Wortes vor sich hin. „Und – was ich noch hab’ sagen wollen – schlecht mußt net denken von mir wegen dem, was am Sonntag darnach noch g’schehen is. Ich bin Keiner, der Streit und Händel sucht – aber – wenn man so gach im Augenblick sein’ ganze hoffende Freud’ verliert, da muß ja der Mensch wild werden. Natürlich – was hätt’ ich mit Dir denn machen sollen? Bist ja a Deandl! So hab’ ich halt den andern packt – aweil auf Abzahlung, bis ich mit ihm ans letzte Rechnen komm’ – er lauft mir schon amal wo überzwerch, wo er net hing’hört. Jetzt hat er mich derweil verklagt beim G’richt – wegen Körperverletzung. Aber so g’scheit bin ich dengerst in der ganzen Wuth noch g’wesen, daß ich kein Tröpfl Blut verschuldt hab’ an ihm – da wird’s halt nachher ‚grober Unfug‘ heißen, hat der Didididi g’sagt – und da werden s’mich halt einsperren a paar a drei Tag’ oder strafen um a dreißig a vierzig Mark. No – das sind halt nachher die Kurkosten für die einbilderische Krankheit, von der mich am letzten Sonntag kurirt hast. Und wenn ich’s g’nau anschau’, bin ich eigentlich noch ganz billig – –“ Gidi unterbrach sich, während er die Nase schnuppernd in die Höhe hob. „Enzi – gieb acht – Dein’ Schmarren brennt an!“

Die Dirne fuhr auf, als hätte dieses Wort sie aus tiefen Gedanken geweckt, verstanden mußte sie es aber doch wohl haben, das war der Antwort zu entnehmen, die sie dem Jäger gab: „Du mußt ihn ja net essen – es ist ja mein Schmarren, der anbrennt!“ Dennoch griff sie mit hastiger Hand nach dem Pfannenstiele, schüttelte und rüttelte daran und begann mit dem eisernen Löffel ein Kratzen, Stochern und Schaufeln, daß es nur so klapperte und rasselte.

Schweigend sah Gidi der Dirne eine Weile zu, dann fuhr er seufzend mit der Hand nach dem Halse, als wäre ihm plötzlich der Hemdkragen zu enge geworden, und sagte. „No also – da wär’ ja nachher jetzt unser Handel ausg’redt in aller Ordnung – ich weiß, wie ich dran bin, und – und Du hast von heut’ an Dein’ gute Ruh’ vor mir. Der Berg is weit – und a jeder Weg, wo ich eheder g’meint hab’, er laßt sich net besser gehn als g’rad vorbei an Deiner Hütten, laßt sich anders machen auch. Meine Schuh’ drucken Dir kaum neehr a Nagelspur in Dein’ Hüttenboden. Und wenn mich g’rad amal brauchen thätst – man weiß ja net, was einer Semmerim auf der Alm zustehn kann, wo s’ a paar gute Arm’ vonnöthen hat – ja – weißt ja, wo’s Jagdhäusl steht – – da müßt’ mir’s dengerst sagen lassen, oder müßt’ mich selber holen.“

„Du – gelt – da laß Dich aber’s Warten net verdrießen!“ klang es mit eineen ingrimmigen Lachen voen Herde her.

Gidi zuckte die Achseln und schnitt eine bedenkliche Grimasse. „No – man kann net wissen – weißt – b’schreien sollst g’rad auch nix! Und – – b’hüt Dich Gott somit!“ Er sah noch, wie Enzi zum Gegengruße langsaen mit dem Kopfe nickte, dann rückte er den Hut, warf die Büchse über die Schulter und schritt der Thüre zu. Auf der Schwelle blieb er wie angewurzelt stehen, lauernde Spannung lag in den Blicken, mit denen seine Augen an der Dirne hingen. Eine stumme Weile verstrich, Enzi aber rührte sich nicht, sie hatte nur Augen für die dampfende Pfanne. Wieder zuckte Gidi die Schultern, hob, mit den Fingern schnippend, die Hand zur Stirne. „B’hüt’ Dich Gott!“ klang es noch einmal kurz und scharf von seinen Lippen, und mit eineen langen, hastigen Schritte trat er ins Freie.

Jetzt fuhr die Dirne auf, mit eineen scheuen Blicke kehrte sie das Gesicht der Thüre zu, und als sie die Schwelle leer sah, schrak sie erblassend zusamenen. „Gidi!“ huschte es mit zitterndem Rufe von ihrem Munde, und dabei streckte sie die Arme, als bedürfte sie einer Stütze.

Dem feinen Ohre des Jägers war dieser Ruf nicht entgangen. Wie ein Wetterleuchten der Freude flog es über sein Gesicht – und dennoch verhielt er den Fuß nicht. „Bua – sei g’scheit – sei g’scheit!“ murmelte er durch die geschlossenen Zähne, dann drückte er die Augen zu, krampfte die Hand noch fester um den Lauf der Büchse und beschleunigte seine Schritte.

*  *  *

[791] Tag um Tag verging. Ein böser Geist schien auf der Bründlalm sein Unwesen zu treiben. Gleich in der ersten Woche hatte sich zu Enzi’s Kummer eine der beiden Ziegen, die der Bauer nachgeschickt, verstiegen oder erstürzt, und trotz des eifrigen Suchens war nicht Haar noch Knochen von dem Thiere mehr zu finden. Dann waren in kurzer Zeit von Döri’s kleiner Herde zwei Lämmer verschwunden; sie mußten während der Nacht von den Mutterthieren weggestohlen worden sein. Das aber waren Dinge, wie sie auf jeder Alm geschehen können, und Dori hätte darüber schwerlich so viel von seiner guten Laune verloren, wenn ihm nicht ein anderer Umstand schwer zu Gemüth gegangen wäre. Lange vor der Auffahrt schon hatte Enzi dem Burschen versprochen, ihm für diesen Sommer das Geschäft des Abtragens zu überlassen. Als aber am ersten Samstage die mit Käslaiben und Butterballen beladene Kraxe bereit stand und Dori sich schon zum Abtragen anschickte, erschien der Finkenbauer plötzlich in der Bründlhütte; der sprach zu Enzi von Verfettung und Blutstockungen, die sich bei ihm seit einiger Zeit verspüren ließen; und da es hiergegen kein besseres Mittel gäbe, als andauernde, ermüdende Bewegung, hätte er sich entschlossen, in diesem Sommer den wöchentlichen Almgewinn auf den eigenen Schultern ins Thal zu fördern. Und in der Folge erschien er auch pünktlich an jedem Samstage in der Bründlhütte, um sich bei Beginn der Dämmerung mit der schwer beladenen Kraxe auf den Weg zu machen. Da war nun freilich mit einem Male die ganze stille Hoffnung zerstört, welche Dori beim Abschied von Veverl auf diese Samstage gesetzt hatte. Sein einziger Trost war jetzt der Jäger, der doch manchmal ins Dorf hinunter kam; so oft er im Bergwald oder hoch oben auf den steinigen Hängen mit ihm zusammentraf, wußte er mit Fragen nach Veverl’s Aussehen und Befinden zu keinem Ende zu kommen. Als ihn der Jäger einmal wegen dieser g’spaßigen Neugier mit scherzenden Worten aufzog, meinte Dori mit einem hilflos verlegenen Lächeln: „Weißt, ich hab’ mich halt soviel an das liebe Deandl g’wöhnt – ja – mir is jetzt g’rad z’ Muth, wie ei’m Hundl, wo sein’ Herrn verloren hat.“

Geschickt verstand es Gidi, bei solchen Zusammenkünften die Rede auf Emmerenz zu bringen, und immer erhielt er dabei von Dori den gleichen Bescheid, wenn auch stets in anderen Worten.

„Ich weiß net, was mit der Sennerin is! Ich kenn’ s’ gar nimmer – und schier zum verwundern is, wie sich die verwandelt hat,“ erzählte Dori eines Tages. „Ganz z’sammgehn thut s’ – a ganz an anders G’sicht hat s’ kriegt. Ich sag Dir’s, Jaager, wirst es sehen, bei der kocht sich a Krankheit aus, a schwere Krankheit!“ Wenn Gidi solche Worte hörte, kam ein merkwürdiges Zwinkern über seine Lider, und ein leises Schmunzeln spielte um seine Lippen, obwohl er doch sonst immer mit einem Gesicht umherging, welches das Lachen verlernt zu haben schien. Schwere Sorgen mußten ihn drücken. Tag und Nacht war er auf den Füßen, denn Dori begegnete ihm zu den verschiedensten Stunden, und häufig an Plätzen, wo er den Jäger mit keinem Gedanken vermuthet hätte; oft tauchte er plötzlich vor dem Burschen aus einem Latschenbusche oder hinter einem Felsblock auf. Und wenn dann die Beiden Seite an Seite saßen, verriethen Gidi’s Mienen und Bewegungen ein unablässiges Spähen und Lauschen. Zu dutzendmalen hörte Dori von ihm die Frage: „Hast Niemand net g’sehn? hast Niemand net ’troffen?“ Immer war ein Kopfschütteln die einzige Antwort, die der Bursche zu geben wußte – und da hörte er einmal den Jäger mit erregten Worten sagen: „Ich kenn’ mich nimmer aus – ich weiß nimmer, was das is! Allbot find’ ich Trittspuren, bald da, bald dort, und nie net sieh ich an Menschen, und nie net hör’ ich ein’! Oft, wenn ich in der Früh an Platzln komm’, wo ich am Abend noch g’wesen bin, is in der Nacht wer drüber ’gangen. Und wenn ich die Fährten nachsuch’ – keine führt ins Thal! Und diemal hören s’ auf, wie wann der Kerl fortg’stiegen wär’ in die Bäum’ oder verschwunden in der Luft.“

Mit offenem Munde hörte Dori diese Worte, an, meinte dann, das wären „g’spaßige Sachen“ und sprach mit zögerndem Flüstern von mancherlei Spuk und Geistertreiben. „Gieb acht, Gidi, gieb acht,“ zischelte er dem Jäger ins Ohr, „da is ’was net richtig – daheroben is ja g’rad der Platz zu so ’was – weißt ja, was g’schehen is da in der Näh’, wo alleweil noch kein Marterl steht.“ Dabei winkte er mit der Hand hinüber nach dem Höllbachgraben.

„Ah was, Dummheiten!“ fuhr Gidi ärgerlich auf.

Und von diesem Tage an unterließ er es, zu Dori von den Sorgen zu sprechen, die jene räthselhaften Trittspuren ihm bereiteten.


Die Tage begannen schon wieder kürzer, die Nächte kühler zu werden. Der Bergwald dehnte sich in dunklem Grün, die Almenrosen hatten ausgeblüht, doch auf den windumwehten Schroffen und Gehängen spannte jetzt die lieblichste aller Hochlandsblumen ihre schneeigen Sterne in stiller, keuscher Schönheit über das ärmlich kümmernde Höhengras.

Wenn der Sommer scheiden will mit seinen Rosen und Schwalben, wenn der nahende Herbst den Bergen die ersten kalten Stürme einherschickt über Gletscher und ewigen Schnee, während man drunten im geschützten Thale den Nahenden noch kaum verspürt – das ist die Zeit der Edelweißblüthe.

Da war es in der zweiten Augustwoche, als Dori eines grauenden Morgens aus der niederen, dachförmigen Reisighütte kroch, welche er sich hoch oben im Gestein errichtet hatte, um der auf den Lahnern weidenden Schafherde auch zur Nachtzeit nahe sein zu können. Von der Kälte, die er während des Schlafes gelitten, waren ihm die Glieder so steif geworden, daß es ihn Mühe kostete, durch das wirre Latschengezweig nach der Stelle zu gelangen, von welcher er die Glocke des Widders und die Schellen der Mutterthiere hörte. Mit hellem Zungenschlag und blökendem Rufe lockte er die Thiere. Am hurtigsten folgten die Lämmer seinem Locken, und er überzählte sie, während sie ihm unter lustigen Sprüngen näher kamen. Sieben zählte er – das achte fehlte. „Jesses na! Es wird doch net schon wieder –“ stammelte er erschrocken und machte sich auf die Suche.

Der Mittag kam, und Dori hatte das Lamm nicht gefunden – dafür aber in der Nähe des Weideplatzes auf feuchtem Sande die frische Fährte eines genagelten Männerschuhes.

Nun eilte er zur Sennhütte hinunter, um der Emmerenz zu berichten, was vorgefallen. Obwohl die Beiden nichts Anderes dachten, als daß das Lamm gestohlen worden wäre – vielleicht von Einem, der längst wieder über der nahen Grenze drüben in sicherem Verstecke saß – verbrachten sie doch den ganzen Nachmittag mit Suchen und Suchen. Sie hatten sich getrennt, und Dori suchte gegen den Höllbachgraben zu, dabei gerieth er in die Nähe der Jagdhütte und sah, wie Gidi gerade das Häuschen verließ. Er rief den Jäger an und eilte auf ihn zu.

„Was sagst – jetzt geht mir schon wieder a Lampl ab.“

„Seit wann?“ fuhr Gidi auf.

„Seit heut’ in der Nacht.“

Gidi that einen leisen, gedehnten Pfiff. „Jetzt da schau – jetzt is das a Schafdieb g’wesen! Und ich hab’ mir schon ’denkt – Weißt, heut in der Nacht bin ich droben g’sessen unter der Höllenleithen, weil ich g’meint hab’, ich müßt’ doch amal draufkommen, was denn das allweil für a Treiben is im Berg umander. No – und wie ich so sitz’ – um a zwei ’rum in der Früh kann’s g’wesen sein – da hör’ ich auf amal Steiner gehn, auf a vier-, fünfhundert Schritt’ von mir. Z’erst hab’ ich g’meint, es is a Gams lebendig – wie ich aber auf amal an Bergstock g’hört hab’, nachher hab’ ich mir ’denkt: holla! Mondlichten is freilich gewesen, aber wenn’s amal über hundert Schritt ’naus geht, da derkennst ja nix inehr – und der Kukuk hat mir eingeben müssen, daß ich mein’ Hund daheim hab’ lassen in der Hütten! A Zeitlang hab’ ich Dir g’lust – und wie ich g’hört hab’, daß ’s gegen den Höllbachsteig ’nunter geht, da bin ich Dir aber auf, oben ’rüber über’n Höllbach, bergab bis auf’n Steig und wieder in d’Höh’ bis zur selbigen Lichten im Altholz – Du kennst es ja! da, hab’ ich mir ’denkt, muß er mir g’rad in d’ Hand’ laufen. Und richtig – keine fünf Minuten bin ich Dir noch g’sessen, da hab’ ich ihn schon daher rasseln hören. Und jetzt steht er da vor mir auf a fufz’g a sechz’g Schritt. An Mordsbart hat er g’habt und lange Haar’ wie a städtischer Maler – und auf’m Buckel droben hat er was ’tragen – ja g’schworen hätt’ sich, es is a Gamsjahrling g’wesen. ,Halt Lump!‘ fahr’ ich auf und bin mit der Büchsen auch schon im G’sicht. Aber natürlich – so auf’s G’rath’wohl schießen kannst dengerst auch net – und ich b’sinn’ mich noch kaum, is er mit ei’m Satz schon drunten g’wesen über’m Steig’. Ich aber hint’nach unter die Bäum’, bergab, bergauf, übers G’steinet und durch [792] d’Latschen, am Höllbachgraben in d’Höh’, nach der hohen Platten zu – a paar mal hab’ ich ihn auf an Wischer dersehen – aber natürlich – in die Latschen is er mir wieder unter’gangen – und ehvor ich mich noch ’nauswind’ auf die offene Platten, hör’ ich Dir auf amal kein Schritt mehr und kein Tritt. Tag is ’worden, und nix hab’ ich g’hört, nix hab’ ich g’sehen! Verschwunden is er g’wesen, wie wann ihn der Teufel g’holt hätt’ auf ein’ Sitz!“

Dori riß Mund und Augen auf zu dieser Geschichte, eine Weile noch redeten sie darüber hin und her, bis Gidi sagte: „No – weil ich jetzt nur weiß, daß ’s a Schafdieb g’wesen is, da geh’ ich doch a bißl leichter ins Thal.“

„Was? gehst heim?“

„Ja, morgen muß ich ins Stadt ’nein, da hab’ ich G’richtsverhandlung weg’m Leithner Valtl.“

„Was d’sagst! Aber da könnst mir an G’fallen derweisen, wann an recht an schönen Gruß –“ Dori stockte und fuhr verlegen fort: „und wann mei’m Bauern Nachricht geben möchst von wegen der G’schicht’ mit dem Lampl?“

„Ja – so! Will’s ihm schon z’wissen thun – und will ihm auch sagen lassen, daß Du kein’ Schuld dran hast. Aber mußt halt fleißig weiter wachen, weißt! Ja – somit b’hüt’ Dich Gott! Und – sei nur z’frieden – ’s Veverl grüß’ ich Dir auch!“

Dori stand wortlos und blickte lange dem Jäger nach. Endlich richtete er sich seufzend auf, eilte dem Höllbachgraben zu und überschritt die Schlucht auf dem schwankenden Baume.

Als er den Steig erreichte, hörte er plötzlich aus der Tiefe das Geräusch leichter Tritte. Er lugte durch die Bäume und Büsche, gewahrte den Schimmer eines lichten Gewandstückes, und jetzt – jetzt stieß er einen gellenden Juhschrei aus, und mit den stammelnden, halberstickten Rufen. „Veverl, Veverl, Veverl!“ stürzte er über Hals und Kopf den Steig hinunter. Unter der Wucht des schwer zu hemmenden Laufes brach er vor dem erschrockenen Mädchen fast in die Kniee. Der Bergstock kollerte ihm aus den Händen, und der Hut flog ihm vom Kopfe.

„Aber Dori, na, na, um Gotteswillen,“ stotterte Veverl, „was kommst denn jetzt gar so daherg’rennt?“

„Veverl, Veverl!“ schluchzte und jauchzte der Bursche, und die hellen Thränen rannen ihm über die Wangen, während er sich aufrichtete mit zitternden Knieen und sich emporzog an den Händen des Mädchens.

Mit scheu verwunderten Augen blickte Veverl in Dori’s Gesicht, und eine dunkle Röthe erschien auf ihren Wangen. Sie sprach kein Wort, von den Lippen des Burschen aber sprudelte Frage um Frage.

„Ja wie geht’s Dir denn? Wie is Dir’s denn alleweil g’wesen die ganze Zeit? Wie kommst denn auf amal da’rauf? Und ganz allein bist ’gangen? Hast denn ’s Steigl richtig g’funden? Bist denn auch schön langsam g’stiegen? Bist gar net müd – han? Schau – magst Dich net a bißl niedersetzen? Da schau, da is Dir g’rad a so a schönes Platzl, a ganz a kommods – da schau – geh – komm’, setz’ Dich a bißl nieder und ruh’ Dich aus!“ Dabei sprang er einem kleinem Mooshügel zu, der zu Füßen einer riesigen Fichte lag, scharrte und kratzte die dürren Reiser aus dem weichen, dunklen Moose und klatschte die Stelle platt mit beiden Händen, und zog das Mädchen an einer Rockfalte dem so sauber bereiteten Ruheplätzchen zu. „So, so! Gelt – da is gut sitzen? Ja – jetzt laß Dir’s nur wohl sein!“ Zu Veverl’s Füßen kauerte er sich nieder ins Moos und starrte mit seligen Augen zu dem Gesichte des Mädchens empor. „Aber jetzt – jetzt, Veverl,“ fuhr er nach einer stummen Weile auf, „jetzt sag’ mir nur g’rad, wie kommst denn amal daher? Ja hat Dich denn der Bauer gehn lassen?“

„Der Jörgenvetter is gar net daheim, der is um Mittag schon fort, a G’schäft hat er wo draußen in einer von die Ortschaften – und morgen am Abend erst kommt er z’ruck. Und bei der Bäuerin hab’ ich’s schon verbettelt, daß ich fort hab’ dürfen – no – vielleicht hat s’ ihr auch a bißl denken können, was ich haben möcht’ von der Alm. Weißt – übermorgen is ihr Namenstag. Und da hätt’ ich halt gern a paar Kranzln g’macht und an recht an schönen Buschen. So hab’ ich mir denkt, ich will mir um a bißl an Almrausch schauen und um an Edelweiß.“

„Almrausch? O mein, Veverl,“ jammerte Dori, „da is aus und gar. Z’höchst droben, ja, da könnt’ man noch a paar einschichtige Bleamln finden, aber ganz blaß in der Farb’ sind s’schon, und so viel müd’ schauens’ aus. Aber Edelweiß! Edelweiß g’rad g’nug; da paß auf – da brock ich Dir morgen an ganzen Arm voll.“

„Ja, Dori, ja – aber gelt ich selber möcht schon auch einbrocken, weil’s ei’m gar so viel g’freut, wenn man so a liabs Bleamln find’t.“

„Aber freilich – aber g’wiß! Weißt – ich brock’ ’s an die schlechten Platz’, und Dich führ’ ich nachher hin, wo ’s ganz kommod zum haben sind. Ja – schau – gleich da drüben kannst eine finden, wo’s a bißl licht is, am Höllbachgraben ’nauf –“

Veverl erblaßte, und ein Schauer überflog ihre Schultern. „Na, na, Dori,“ unterbrach sie den Burschen mit bebender Stimme, „da mag ich keine net – vom Höllbachgraben!“

Erschrocken blickte Dori in Veverl’s Gesicht. „Jesses, mein – ich bin aber einer!“ stammelte er. „Daß ich aber auch gar net dran denken kann – und schau – gelt – mußt mir net harb sein, weil ich – und – –“ Seine Stimme verlor sich in hilfloses Stottern, noch einmal schielte er mit ängstlichen Augen zu dem Mädchen empor, dann verstummte er.

So saßen sie schweigend, und Dori verwandte keinen Blick von den lieblichen Zügen des Mädchens.

Tiefe Stille herrschte rings umher. In den Wipfeln der Bäume hatte sich das Rauschen gelegt, die Vöglein waren verstummt, und die Dämmerung webte ihre ersten leichten Schleier durch den Wald, von welchem der letzte Strahl der Sonne längst geschieden war.

„Han, Veverl, sag’,“ frug Dori nach einer stillen Weile, „wann’s jetzt dengerst so wär’ – und der Edelweißkönig möcht sich sehen lassen vor Dir – han – thätst Dich fürchten vor ihm?“

„Ja warum denn fürchten?“ frug Veverl ganz erstaunt. „Der Edelweißkönig is ja a guter Geist, der d’ Menschen gern hat.“

„No – jetzt weißt – das is halt so a Sach’,“ erwiderte Dori zögernden Wortes, „und – vielleicht redtst bloß so, weil D’ noch nie kein’ Geist net g’sehen hast.“

„Meinst?“ klang es leise von Veverl’s Lippen.

Dori ließ die Füße sinken und spitzte die Ohren. „Ja, wie is mir denn? Wirst doch net sagen wollen, daß schon amal ein’ g’sehen hast - an Geist?“

Ein stilles, inniges Lächeln spielte um den Mund des Mädchens, das mit schwärmerischen Augen aufwärts blickte in das dunkelnde Gewirr der Aeste.

„G’sehen, Dori? Ob ich ein’ g’sehen hab’ – ich weiß net g’wiß. Oft träumt man ’was und meint, man hätt’s mit wache Augen g’sehen – und diemal sieht man was, und meint, man hätt’s bloß ’träumt. Aber – noch gar net lang is her – da – da hab’ ich ein’ g’hört, an Geist, und hab’ verspürt, daß er dag’wesen is“ – und sie flüsterte leise dem Burschen ins Ohr: „Der Hannibas’ ihre arme Seel’.“

„Ah geh! Ah geh!“ murmelte Dori, während ein Gruseln seine Schultern überflog.

Veverl nickte. „Ja – bei’m Namen hat s’ mich g’rufen, ganz stad und sanft – in derselbigen Nacht, ehvor man d’ Leich’ ’raus’bracht hat aus der Stadt – wie ich drin g’standen bin in ihrem Stübl und hab’ ihr’s Armeseelmahl aufs Fensterbrettl g’stellt – an weißen Wecken und a Schüsserl Milch. Ja – und in der Früh, wie ich nachg’schaut hab’, da war der Wecken ’gessen und d’ Milch is ’trunken g’wesen.“

Veverl sah nicht, wie Dori bis hinter die Ohren erblaßte, sie hörte nur das heisere Lachen, das von den Lippen des Burschen schütterte, und dazu die stotternden Worte. „Aber – aber – Veverl, wie kannst denn so ’was glauben! Wer da ’gessen und ’trunken hat, kann denn das net a Mensch g’wesen sein – a richtiger Mensch mit Blut und Beiner?“

Ernst schüttelte das Mädchen den Kopf. „Ah na – so ’was is gar net zum denken! Wie käm’ denn in der Nacht a Mensch ans Fenster ’nauf in obern Stock. Und – so ’was thät’ a Mensch schon gar net – denn wann sich einer am Armenseelenmahl vergreift, so hat mein Vaterl g’sagt, der muß im selbigen Jahr noch sterben.“

„Sterben – sterben – Jesus Maria!“ stammelte Dori und fuhr mit beiden Händen nach den Schläfen.

„Ja – ja was hast denn, Dori, was is Dir denn?“ frug Veverl verwundert.

[793]

Kloster Eberbach.
Originalzeichnung von Richard Püttner.

[794] Hastig schüttelte Dori den Kopf, den er tief auf die Brust senkte. „Nix – nix – gar nix! G’rad – g’rad ’denkt hab’ ich mir – wenn einer so ’was thät’, wie fürchtig das wär’ – wie fürchtig – wie fürchtig! Aber – aber ha, Veverl – sag’ um Tausendgottswillen – wann jetzt so einer gar net wissen thät’, daß das an Armeseelenmahl war, von dem er ’gessen und trunken hat?“ Und mit dem Ausdrucke flehender Angst hingen die weitoffenen Augen des Burschen an Veverl’s Lippen.

Veverl besann sich eine Weile, dann schüttelte sie langsam das Köpfchen und entschied mit allem Ernste, dessen ihr liebliches Gesichtchen fähig war: „So ’was muß man wissen!“

Dem Burschen schrumpfte der Kopf zwischen die Schultern, und sein Kinn bewegte sich, als wollten ihm die Zähne zu klappern beginnen. „O heilige Maria – jetzt is schön – jetzt is schön! Und – und so ei’m – is gar – gar nimmer z’ helfen?“

„O ja!“ nickte Veverl – und da streckte Dori die Hände, als wollte er sich an den Rock des Mädchens klammern, und sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das sich halb wie Lachen ansah halb wie Weinen. „O ja – weißt – so einer muß halt sein verfallenes Leben lösen – er muß ei’m andern Menschen ’s Leben retten, hat mein Vaterl g’sagt.“

Trostloser Jammer malte sich wieder in Dori’s Zügen. „O mein – o mein,“ stammelte er, „das is ja g’rad wie gar nix! Wie kommt denn so einer g’schwind zu so ’was – das is ja gar net zum denken!“

Veverl schien diese Worte nicht mehr zu hören. Hastig war sie aufgesprungen, und während sie die Röcke schüttelte und glättete, schmollte sie: „Na, na, schau nur grad an, wie spät als ’worden is! Geh – komm, Dori – jetzt heißt’s aber tummeln – komm, komm!“ Und hurtigen Schrittes eilte sie schon auf dem bergwärtsführenden Pfade dahin durch den dämmernden Wald.

Mühsam erhob sich Dori, und seine Füße schienen ihn kaum tragen zu wollen, als er dem Mädchen folgte.

Nach kurzer Wanderung erreichten sie eine Stelle, an welcher der Pfad eine Biegung machte, um quer über den waldigen Berghang eben fortzulaufen.

„Veverl!“ rief Dori plötzlich das Mädchen an, und als es die Schritte verhielt und ihm fragend entgegenblickte, sagte er mit stockenden Worten, ohne die Augen von der Erde zu heben: „Gelt, Veverl, mußt net harb sein, daß ich net weiter mit Dir geh! Aber von jetzt an findst den Weg ja blindlings – und – weißt – ich muß noch weit in d’ Höh’ – ich hab’ mein’ Liegerstatt da droben, wo meine Schaf’ auf der Weid’ sind.“

„Aber ja, geh’, Dori, geh! Laß Dich von mir net abhalten!“ mahnte Veverl. „Ich find’ mich schon hin zur Hütten – und – morgen in der Fruh, da kannst ja ’runter und holst mich ab zum Edelweißbrocken – gelt?“

„Ja – schon – wann – wann ich noch kommen kann!“ stieß Dori mit versagender Stimme vor sich hin, während er den Stachel des Bergstockes in die Erde wühlte.

„Weßwegen. sollst denn net kommen können! Brauchst ja bloß Deine Füß’ a bißl rühren!“ lachte Veverl und streckte dem Burschen die Hand entgegen. „Also, b’hüt Dich Gott!“

Dori drückte und schüttelte Veverl’s Hand und erwiderte ihr „B’hüt Dich Gott“ mit einer Stimme, als gälte es einen Abschied fürs Leben. Da schaute ihm Veverl verwundert und besorgt ins Gesicht; eine Frage lag ihr auf der Zunge, schon aber riß sich Dori los und stürmte, ohne sich noch einmal umzusehen, geraden Weges den steilen Hang empor.

„Was hat er denn? Was hat er denn?“ murmelte Veverl, während sie dem Burschen kopfschüttelnd nachschaute, bis er im Dickicht verschwand und seine Tritte verhallten.

Zögernden Schrittes und sinnend vor sich niederblickend, folgte sie dem Wege. Bald erreichte sie die Lichtung, auf welcher, wie Dori vor kaum einer Stunde erfahren, Gidi’s Zusammentreffen mit dem räthselhaften Schafdieb stattgefunden hatte.

Eine falbe Helle lag über dem Platze, den spärliches Buschwerk nur bedeckte, daraus sich einzelne verwitterte Felsblöcke erhoben. Veverl hatte die Lichtung überschritten und wollte schon wieder den dunklen Wald betreten, da hörte sie plötzlich einen schwirrenden Flügelschlag und dann ein kurzes Flattern. Hastig blickte sie der Richtung zu, aus welcher sie das Geräusch vernommen hatte – und ein leiser Aufschrei glitt von ihren Lippen. Auf einem der Felsblöcke sah sie einen weißen, schwarzgeschnäbelten Vogel sitzen, der wie nach eben erst vollendetem Fluge die Schwingen schloß.

„Na – na – das is ja net möglich – das kann ja net sein!“ stammelte sie, während sie zögernden Fußes um einige Schritte zurücktrat in die Lichtung und dabei mit beiden Händen nach ihrem Gesichte fuhr, als wollte sie mit Fingern fühlen, ob es denn wirklich wache, offene Augen Wären, mit denen sie zu sehen meinte, was sie doch nicht glauben konnte.

Der Vogel mußte ihre murmelnde Stimme und das Geräusch ihrer Schritte vernommen haben. Hurtig reckte und drehte er den Kopf, dann duckte er sich nieder und begann zu plappern: „do, do, Echi, a do, a do!“

„Jesses ja – o du mein lieber Herrgott!“ jubelte Veverl auf und eilte mit ausgestreckten Armen durch das Gestrüpp dem Felsblock zu. „Ja Hansei – o mein liebs Hansei – Hansei – Hansei!“

Schon war sie dem Stein so nahe, daß sie den Vogel haschen zu können meinte, da flatterte er mit zornigem Krächzen empor und flog dem Walde zu.

„O mein Gott – o mein Gott – er kennt mich nimmer!“ schluchzte Veverl unter plötzlich ausbrechenden Thränen auf, und während sie der Richtung zueilte, in welcher der Vogel zwischen den Bäumen verschwunden war, rief sie lockend und schluchzend unablässig den Namen: „Hansei – Hansei – mein liebs Hansei!“

Trotz der Dämmerung, die schon im Walde herrschte, sah sie bald hier, bald dort auf einem Aste das weiße Gefieder des Vogels schimmern; sie hörte ihn durch die Zweige flattern, und manchmal auch vernahm sie sein schnarrendes Plappern: „Do, do, gedegg, a do!“ doch immer, wenn sie ihm nahe kam, floh der Vogel mit scheuem Krächzen vor ihr der Höhe zu. Mit Weinen, Jammern, Locken und Rufen folgte sie ihm; sie achtete des Weges nicht, den sie ging, nicht der Richtung, nach welcher dieser Weg sie führte, und vernahm nicht das dumpfe Rauschen, das näher und näher klang, je weiter sie den fliehenden Vogel verfolgte. Sie kam aus dem Walde, sie wand sich durch dichtes Latschengestrüpp – und nun gelangte sie auf einen steilen, von massigem Steingeröll überlagerten Hang.

Wieder sah sie den Vogel auf einem Steinblock sitzen, wieder suchte sie ihn zu haschen, wieder floh er vor ihr – mühsam folgte sie ihm eine kurze Strecke – da plötzlich entschwand er ihren Augen, als versänke er in der Erde – einige Schritte noch that sie, dann fuhr sie erschaudernd zurück, denn ihr zu Füßen gähnte schwarze bodenlose Tiefe.

„Jesus Maria – der Höllbachgraben!“ stammelte sie und wollte von der Stelle fliehen, indeß sie mit zitternder Hand sich bekreuzte, doch schon beim ersten Schritte traf ihr Fuß auf einen locker liegenden Stein, der unter ihrem Tritte ins Rollen kam; sie wankte, versuchte im Wanken seitwärts zu springen und stürzte dabei mit dem einen Fuße beinahe bis ans Knie in eine enge, von Mooswerk überdeckte Felsenschrunde. Ein jäher stechender Schmerz durchfuhr ihren Knöchel, und stöhnend brach sie zusammen. Schwer nur gelang es ihr, den heftig schmerzenden Fuß aus der Spalte zu befreien – doch als sie sich emporzurichten und den verletzten Fuß zu gebrauchen versuchte, hatte sie ein Gefühl, als träte sie auf spitze Nadeln. Mit aller Ueberwindung verbiß sie den Schmerz, unter Marter und Mühe machte sie einige kurze Schritte, aber es wollte ihr nicht gelingen, sich aufrecht zu erhalten – und wieder sank sie nieder auf das rauhe Gestein.

Unter bitterlichem Schluchzen barg sie das Gesicht in beide Hände. Nun wußte sie, daß sie ohne fremde Hilfe keinen Schritt mehr von der Stelle käme. Unter dem Schmerze, den sie empfand, fürchtete sie, den Fuß gebrochen zu haben. Eine Stunde noch, dann mußte sich die Dämmerung zu tiefer Nacht gewandelt haben – und diese ganze, lange Nacht nun sollte sie hier verbringen, an diesem grausigen, unheimlichen Orte – denn nun erkannte sie die Stelle wohl, an welcher sie sich befand: die „hohe Platte“, auf der das Unglück mit dem Ferdl geschehen war. Bei diesem Gedanken ließ Veverl die Hände sinken, und „Dori, Dori, Dori!“ klang es mit schrillenden Rufen von ihren Lippen in die Lüfte. Sie hoffte, daß der Bursche noch so nahe’ wäre, um ihren Hilfeschrei vernehmen zu können. Wieder und wieder rief sie seinen Namen, aber zwischen Wald und Felsen verhallten ihre Rufe, ohne daß ihr Antwort kam.

Endlich verstummte sie und starrte, die Hände im Schoße gefaltet, trostlos vor sich nieder. Da plötzlich gewahrte sie zu ihren [795] Füßen auf einem kleinen, von spärlichem Grase überwachsenen Fleckchen einen weißen Schein – ein zitternder Schreck überkam sie, hastig neigte sie sich nieder, und sie hatte sich nicht getäuscht – was da im Abendwind auf hohem dünnen Stengel sachte schaukelte, war ein Edelweiß von seltener Größe.

Wohl nur die Trostlosigkeit der Lage, in welcher sich Veverl befand, mochte sie an die Hoffnung glauben lassen, die jäh und brennend in ihrem Herzen emporschoß, während sie sich von ihrem Sitze gleiten ließ und dem grasigen Fleckchen näher rückte. Wie ein Espenzweiglein bebte ihr die Hand, mit der sie die schwankende Blume brach. Ein tiefer, angstvoller Seufzer schwellte ihre Brust; dann hob sie die Blume nahe zum Gesichte, doch bei der herrschenden Dämmerung sah sie nur einen runden, weißen Schimmer vor den in Thränen schwimmenden Augen. Mit zitternden Fingern begann sie die Strahlen des Edelweißsternes zu befühlen – nannte dazu mit flüsternden Lippen Zahl um Zahl – je weiter sie zählte, desto mehr steigerte sich ihre Unruhe und Erregung – bis auf zwanzig hatte sie schon gezählt, als sie tief athmend einen Augenblick inne hielt – dann zählte sie weiter – „siebenundzwanzig, achtundzwanzig,“ stieß sie mit stockender Stimme vor sich – und da nannte sie nun keine Zahl mehr, doch wieder fühlte sie einen Strahl des Sternes – und jetzt den letzten vor den beiden Fingern, in denen sie zum Merkmal noch den ersten hielt.

„G’funden hab’ ich’s – g’funden – ’s Edelweißbleamerl!“ stammelte sie unter Zittern und Schluchzen. „Du lieber – du guter Herrgott – du willst mir helfen in meiner Noth – –“ Sie verstummte, doch nur für die Dauer eines stockenden Athemzuges, dann klangen mit leisem Raunen, jedoch in steigender Hast, von ihren Lippen die Worte:

„Edelweißkönig, ich ruf’ dich an!
Ich lieb’ dein Bleamerln, hab’ kei’m noch ’was ’than!
Dreiß’g sammetne Strahl’ am gottseinzigen Stil,
Is nimmer net z’wenig, is nimmer net z’viel!
Dein Bleaml is g’wachsen, dein Bleaml hat ’blüht,
Der Herrgott hat’s g’schaffen und du hast es b’hüt’!
Aus Näch’ oder Weiten, aus Berg oder Thal,
Dein Bleaml, das b’ruft dich von überall!
Ob z’öberst in Lüften, ob z’tiefest im Grund,
Edelweißkönig, jetzt thu’ dich kund!
Edelweißkönig, in Herrgottsnam!
Edelweißkönig, ich ruf’ dich an!“

(Fortsetzung folgt.)

Römische Cäsaren.

Von Johannes Scherr.
I.0 Tiberius.
(Fortsetzung.)
3.

Ja, der Sonnenschein im Leben des Tiberius hielt nicht lange vor. Schon zog eine dunkle Wolke nach der andern am Horizont herauf und bald war das ganze Firmament über dem Prinzen eine bleischwere Düsterniß.

Die dynastische Politik des alternden Kaisers vernichtete unbedenklich das eheliche Glück und den häuslichen Frieden seines Stiefsohns. Augustus trachtete auf alle Weise, sein Haus im Besitze des Principats zu erhalten oder, nach unserer Ausdrucksweise, seine Dynastie auf dem Throne zu befestigen. Hiergegen vermochte keinerlei andere Rücksicht aufzukommen. Nun hatte er aber keinen legitimen Sohn und also beruhten seine dynastischen Wünsche und Hoffnungen auf seiner einzigen legitimen Tochter Julia, welche seine erste Gattin Scribonia ihm geboren hatte. Die Prinzessin war schon zweimal verheiratet gewesen, erst mit des Kaisers Neffen Marcellus, dann nach dessen Ableben mit dem General und Minister Agrippa, dem Schwiegervater des Tiberius. Julia stand in ihrem achtundzwanzigsten Jahre, als Agrippa starb. Ob sie, deren begehrliches Auge noch bei Lebzeiten ihres zweiten Mannes auf den „schönen“ Tiber gefallen, oder ob, wie stark zu vermuthen steht, die Augusta Livia dem Augustus den Gedanken einer Heirat ihres Sohnes mit ihrer Stieftochter eingeblasen, muß dahingestellt bleiben. Genug, der Kaiser befahl seinem Stiefsohn, der zärtlich von diesem geliebten Vipsania den Scheidebrief zuzustellen und die Julia, welche von Tiberius verabscheut wurde, zu heiraten. Widerspruch war unmöglich und der Prinz fügte sich in das Unvermeidliche. Vipsania ward verstoßen und i. J. 10 v. Chr. hielt Tiber seine unselige Zwangshochzeit mit der Tochter seines Stiefvaters.

Um zu wissen, was das heißen wollte, muß man sich erinnern, wer und was die Julia war. Ein Weib nämlich, welches den trefflichen, ja geradezu großen Agrippa in schnödester Weise hintergangen hatte. Ja, des Augustus einzige Tochter müßte unbedingt das verrufenste Weib ihrer Zeit genannt werden, so ihr Verruf etwas später nicht durch die Aufführung ihrer gleichnamigen Tochter, der jüngeren Julia, einigermaßen hintangedrängt worden wäre. Als Frau des Agrippa hatte sie fünf Kinder geboren, die vom Augustus adoptirten Prinzen Gajus Cäsar, Lucius Cäsar und Agrippa Posthumus, sowie die Prinzessinnen Agrippina und Julia. Es schien also zur Fortpflanzung des julisch-augustischen Hauses genug Material vorhanden. Die Mutter der genannten Prinzen und Prinzessinnen kümmerte sich aber weder um diese, noch um die dynastischen Sorgen und Hoffnungen ihres Vaters. Sie lebte nur ihren Lüsten und führte ein Lasterleben, welches sogar einem so ausgesprochenen Höfling, wie der unter Tiberius dienende Stabsofficier Vellejus Paterculus, Verfasser eines Abrisses römischer Geschichte, einer war, Worte der Entrüstung entriß. Er sagt: „Des Augustus Tochter Julia, ganz und gar uneingedenk, was sie einem solchen Vater und einem solchen Gatten (Agrippa) schuldete, übersprang in ihren Ausschweifungen alle Schranken der Schamlosigkeit. Die Hoheit ihrer Stellung hat sie zum Maßstab ihrer Frechheit im Sündigen gemacht und alles für erlaubt gehalten, wonach sie verlangte.“ Etwas später hat Seneca, der Lehrer des Kaisers Nero, in einer seiner Schriften einen Auszug aus den amtlichen Untersuchungs- und Anklageakten mitgetheilt, welche nach dem Fall der Prinzessin auf Befehl ihres Vaters gegen sie aufgesetzt worden waren. Das ist eine Schandsäule, wie wohl keine zweite irgendwo für eine Frau aufgerichtet worden ist.

Dieses Weib zu ehelichen wurde Tiberius gezwungen, von seinem kaiserlichen Stiefvater gezwungen, unter Beihilfe seiner eigenen Mutter Livia, deren Ehrgeiz sich der Hoffnung, obzwar vorerst nur einer sehr nebelhaft unbestimmten Hoffnung überließ, mittels der Heirat ihres Sohnes mit der einzigen Tochter ihres Gemahls könnte die Thronnachfolge in ihr eigenes Geschlecht gebracht werden. Sueton erzählt, daß der Prinz nur mit großer Herzbeklemmung („non sine magno angore animi“) gehorsam sich erwiesen habe, und setzt hinzu: „Die erzwungene Scheidung von der Vipsania schmerzte ihn tief und lange. Als er der Verstoßenen einmal zufällig begegnete, sah er ihr mit so starren und thränenvollen Augen nach, daß man Vorsorge traf, sie ihm fortan fernzuhalten.“ Es bedarf keiner betonten Hinweisung, daß alles, was mit der Ehescheidung und der neuen Eheschließung Tibers zusammenhing, wie ein scharfer und vergifteter Stachel in eine ohnehin zur Schwermuth geneigte Menschenseele sich einbohren mußte. Der unglückliche, gerade in seinen besten und zartesten Gefühlen so roh verletzte Mann fügte sich zuvörderst, gewiß hauptsächlich um seiner Mutter willen, unter das ihm auferlegte Joch. Die übelzusammengefügte Ehe mit der Julia währte jedoch – wie etwas vorgreifend gleich hier noch gesagt werden mag – nicht lange, wenigstens thatsächlich nicht lange. Nachdem der Sohn, welchen sie ihm geboren, bald nach der Geburt gestorben, schied sich der Prinz thatsächlich von der Zuchtlosen, wennschon er es nicht wagte, diese Scheidung auch öffentlich und rechtskräftig zu machen.

Bevor es dazu gekommen, hatte den Tiberius von anderer Seite her ein schwerer Schlag getroffen. Er hatte, aus seinem dritten Feldzug in Pannonien zurückkehrend, im Herbst des Jahres 8 v. Chr. in Pavia eine Zusammenkunft mit dem Augustus und der Livia, als in die genannte Stadt die Nachricht gelangte, sein Bruder Drusus, welcher das römische Heer in Germanien befehligte, sei von einem lebensgefährlichen Unfall betroffen worden. Derselbe hatte nämlich bei einem Sturz mit dem Pferde den [796] Oberschenkel gebrochen und lag auf den Tod, welcher denn auch nach dreißigtägigem Leiden eintrat. Tiber warf sich in den Sattel, durcheilte, Tag und Nacht reitend und nur von einem Führer geleitet, die Alpenpässe, erreichte das jenseit des Rheins aufgeschlagene römische Lager und fand den zärtlich von ihm geliebten Bruder noch am Leben, aber doch schon rettungslos. Drusus hatte nur noch die Kraft, einen letzten Befehl zu geben, den Befehl, die Adler dem ankommenden Tiberius entgegenzutragen und denselben als Feldherrn zu begrüßen. Dann starb er in den Armen des Bruders, welcher den Todten in feierlichem Aufzug nach Italien und Rom geleitete, der Trauerpompa den ganzen Weg entlang zu Fuß voranschreitend („pedibus toto itinere progediens“), zum Zeichen seines Schmerzes und seiner Verehrung des Hingeschiedenen, dem er auf dem Forum die Bestattungsrede hielt.

Die Schmähsucht und der Verleumdungsklatsch sind immer Merkmale grundverderbter Zeiten. Es kann dannzumal namentlich auch kein unvorhergesehener Todesfall eintreten, ohne daß sofort von Dolch oder Gift gemunkelt würde. Die Leute sind eben geneigt, einander das Schlechteste zuzutrauen, und haben ja Grund genug dazu. So gab denn der Tod des Drusus der römischen Gesellschaft willkommene Veranlassung zu düsterem Gemunkel, welches sich jedoch erst später lautzumachen wagte. Die Müssiggänger und Müssiggängerinnen von Klatschvettern und Verleumdungsbasen, welche die Fora, die Spazierhallen, die Parke und Bäder unsicher machten, zischelten einander zu, der arme Prinz Drusus sei von Gesinnung ein entschiedener Republikaner gewesen und habe sich ernstlich mit dem Plane getragen, die römische Republik wiederherzustellen. Darum habe man ihn rasch mittels Giftes beiseite geschafft. Das wurde gierig gehört und gern geglaubt. Je abgeschmackter, desto glaubwürdiger. Die erlogene Schandthat wurde anfänglich dem Augustus zugeschrieben, später dann dem Tiberius auf sein Sündenregister gesetzt. Der ernste Tacitus hat die ganz sinnlose Verleumdung keiner Erwähnung werthgehalten.

Den erledigten Heerbefehl in Germanien übertrug Augustus i. J. 7 v. Chr. seinem Stiefsohn, welcher bis zum Jahre 5 diese schwierige Feldherrnpflicht erfüllte. So löblich, daß ihm die Ehre eines Triumphes zuerkannt, er auch zum zweiten Consulat berufen und endlich auf fünf Jahre mit der „tribunicischen Gewalt“ ausgestattet wurde. Die letztgenannte Würde war schon ein großer Schritt vorwärts zur Mitregentschaft. Kaum nun hatte ihn die Triumphatorsbiga zum Jupiterstempel auf dem Kapital emporgefahren, als er Rom schon wieder verlassen sollte, um nach dem Morgenland zu gehen und in Mesopotamien und Armenien gegen die Parther das Generalkommando zu führen. Gerade jetzt aber trat in sein Leben eine Krisis, welche ihn für lange Jahre zu einem Verbannten machte.


4.

Beweggründe der peinlichsten und traurigsten Art bestimmten ihn, ein Entsagender zu werden.

Er konnte es nicht mehr ertragen, für den Ehemann einer Julia zu gelten. Ihm mochte es vorkommen, als wiese man, wo er stand und ging, mit Fingern auf ihn, als sähe er überall das Spottlächeln und hörte das Hohnzischeln. Er fand nicht den Muth – und auch das kennzeichnet seine Stellung – seine verworfene Scheinfrau bei ihrem Vater anzuklagen, oder er mußte das seiner Mutter zu gefallen unterlassen. Aber er ertrug es nicht länger, den Schein auf sich zu laden, als billigte er den Wandel des schamlosen Weibes. Das war das eine Beschwerniß. Das ändere ergab sich aus seiner fragwürdigen, ja wohl geradezu widerwärtigen Stellung in der kaiserlichen Familie. Er war ja dazumal noch nicht der Adoptivsohn des Kaisers, sondern eben nur der Stiefsohn und darum als ein bloßer Eindringling angesehen. So ganz entschieden vonseiten der heranwachsenden Söhne der ersten Ehe seiner verhaßten Scheinfrau, welche Prinzen, wie schon erwähnt, von ihrem Großvater förmlich adoptirt waren und im Vollgefühl ihrer cäsarischen Prinzlichkeit zugleich übermüthig und neidisch auf den Stiefvater blickten.

Das alles vermochte Tiber, nicht mehr auszuhalten. Er faßte deßhalb den raschen und kühnen Entschluß, das Netz, welches ihn einengte und zu ersticken drohte, zu zerreißen. Auch seine Mutter – und das wollte viel sagen – war nicht imstande, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, obzwar sie es sicherlich nicht an den eindringlichsten Vorstellungen fehlen ließ. Ihr mußte ja, was der Sohn thun wollte, als die Vernichtung ihrer stolzesten Hoffnungen erscheinen. Tiberius blieb fest, legte alle seine Aemter und Würden nieder, verließ Rom, schiffte sich nach Griechenland ein und nahm als freiwilliger Exulant seinen Wohnsitz auf der Insel Rhodos, um, wie er sagte, daselbst wissenschaftlichen Studien und literarischen Arbeiten zu leben. Dame oder Dirne Julia ließ er selbstverständlich gern in der Hauptstadt des Reiches zurück, sehr gern, dagegen höchst ungern seinen fünfjährigen Sohn Drusus. Augustus hatte ihm verboten, den Knaben mitzunehmen – ein schwerer Wermuthstropfen mehr in den ohnehin vollen Kelch seiner Bitternisse.

Die Insel Rhodos war zu jener Zeit eine der Lieblingsstätten hellenischer Bildung und insbesondere berühmt um ihrer philosophischen und rhetorischen Lehranstalten willen. Sieben volle Jahre, vom Jahre 5 v. Chr. bis zum Jahre 2 n. Chr., von seinem 36. bis in sein 44. Lebensjahr, hat Tiberius daselbst gelebt. In der Zurückgezogenheit eines Privatmanns, allen öffentlichen Angelegenheiten durchaus fern, nur mit literarischen Fragen und philosophischen Problemen beschäftigt. Die Klätscher und Klätscherinnen in Rom die wollten freilich wissen, er hätte in dieser „verstellten Zurückgezogenheit nur über seinem Groll, seiner Heuchelei und seinen heimlichen Lüsten gebrütet“. Allein Tacitus, welcher dieses meldet, hat sich doch gedrungen gefühlt, zu sagen, daß es nur auf widerspruchsvollem Gerede beruhte („rumoribus differebant“). Sueton seinerseits bringt aus der rhodisischen Zeit des Prinzen etliche liebenswürdige Züge von ihm bei. Mit den griechischen Poeten und Gelehrten der Insel verkehrte er in anspruchsloser Weise und ahndete auch eine ihm gelegentlich zugefügte Beleidigung in mildester Art.

Vier Jahre seiner Selbverbannung waren herum, als ihm ein Schnellsegler den Beweis brachte, daß Gerechtigkeit unter Menschen doch nicht gerade immer und überall ein bloßes Wort sei, wie sie es allerdings zumeist zu sein pflegt. Die Prinzessin Julia war endlich zu Fall gekommen. Ihre Zuchtlosigkeit, verbunden mit einem unbändigen Hoch- und Uebermuth, hatte seit Tibers Entfernung jede Vor- und Rücksicht so sehr hintangesetzt, daß ihre gräuelhafte Liederlichkeit zu einem öffentlichen Aergerniß ausgeschlagen war, welches zu grell, zu schreiend, um ihrem Vater Augustus noch länger verhohlen bleiben zu können. Der Kaiser, nachdem er alles erfahren, war im höchsten Grade erschüttert und beschämt, und man kann sich leicht vorstellen, daß die Kaiserin Livia es sich nicht eben angelegen sein ließ, seinen Grimm und Groll, seine Wehmuth und seine Wuth zu schwichtigen. Augustus schämte sich dermaßen, daß er sich vierzehn Tage lang in sein Kabinett verschloß und selbst vertrautesten Höflingen keinen Zutritt verstattete. Als er erfuhr, daß Phöbe, die Lieblingszofe Julia’s, die Mitwisserin aller Sünden der Prinzessin, sich erhängt habe, schrie er klagend auf: „O, warum ist Phöbe nicht meine Tochter!“ Im ersten Zorn hatte er kraft altrömischen Vaterrechts die Sünderin eigenhändig tödten wollen. Mit Mühe davon abgebracht, ließ er der Gerechtigkeit den Lauf. Eine Untersuchung ward angeordnet und als Ergebniß derselben ein Anklagebericht an den Senat erstattet. Die Galane der Prinzessin traf Tod oder Verbannung. Sie selbst wurde als Gefangene nach der kleinen Felseninsel Pandataria – jetzt Vandotene, eine der Ponzasinseln unfern Neapel – gebracht, dort eingethürmt und in strenger Haft gehalten, mit Auferlegung von allerlei Beschwerden, auch mit gänzlicher Entziehung feiner Kost und des Weins. Erst nach Verfluß von fünf Jahren ließ der ergrimmte Vater sich bewegen, der gerichteten Tochter ein weniger armsäliges Gefängniß anzuweisen, die Stadt Rhegium. Wieder zu Gnaden angenommen hat er sie nie.

Wenn jedoch Tiberius etwa des Glaubens war, die Katastrophe der Julia müßte sofort eine günstige Wendung seines eigenen Geschickes herbeiführen, so täuschte er sich. Zwar seine Ehe mit dem verlorenen Weibe lös’te der Kaiser kraft väterlicher Gewalt, aber Tibers großmüthige briefliche Fürbitten um eine Milderung von Julia’s Strafe ließ er unbeachtet und ebenso des Stiefsohns Wunsch, jetzt nach Rom zurückkehren zu dürfen. Augustus trug es ihm nach, daß er sich selbst verbannt hatte, und außerdem lag dem Kaiser sein ältester Enkel Gajus Cäsar, welchen er sehr liebhatte, in den Ohren, daß es besser, den Stiefvater zu lassen, wo er wäre. Es bedurfte noch längerer Zeit, bis die Augusta Livia ihren Herrn Gemahl soweit herumhatte, daß ihr Sohn – im achten Jahre seines Exils – die Erlaubniß [797] erhielt, nach Italien und der Reichshauptstadt zurückzukehren, und noch dazu nur unter der ausdrücklichen Bedingung, auf alle und jede Betheiligung an den Staatsgeschäften zu verzichten und ganz und gar als Privatmann sich zu halten und zu führen.

So kehrte denn Tiberius, in sein fünfundvierzigstes Lebensjahr eingetreten, nach Rom zurück, wo die Leute ihn schon so ziemlich vergessen hatten. Nachdem er, wie der Brauch es forderte, seinen jetzt vierzehnjährigen Sohn Drusus auf dem Forum dem Volke als Volljährigen vorgestellt hatte, überließ er dem Jüngling das früher von ihm, dem Vater, bewohnte Haus des Pompejus in den Carinen und zog sich in eine in den Gärten des Mäcenas auf dem Esquilin gelegene oder, so zu sagen, verborgene Villa zurück, fest entschlossen, die ihm auferlegte Rückkehrsbedingung streng zu erfüllen. Darin beharrte er, wie es denn überhaupt als denkwürdig zu betonen ist, daß dieser Mann, welcher später den Despotismus zu einem Grauen erregenden Kunstwerke gestaltete, zu dieser Zeit keineswegs nach Macht und Herrschaft begierig schien. Ganz anders allerdings dachte hierin seine Mutter Livia, die fraglos in ihrer innersten Seelenfalte den Wunsch barg, ihren Sohn dereinst als Herrn der Welt zu sehen.

Dazu war freilich zunächst wenig oder gar keine Aussicht. Allein binnen kurzem gestalteten sich die Verhältnisse im augustischen Hause so, daß der geheime Gedanke der Augusta als kein so hoffnungsloser mehr erschien. (Schluß folgt.)


Vor fünfzig Jahren.

Zur Erinnerung an die Gründung der ersten deutschen Eisenbahn.
Von Hugo Marggraff.

Die feierliche Eröffnung der Ludwigs-Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth am 7. December 1835.
Nach einem gleichzeitigen Stiche von Wießner.

Es gehörte gewiß ein größerer Scharfsinn dazu, mittelst Dampf- und Spinnmaschinen aus einem Pfund Baumwolle einen 882 000 Fuß langen Faden zu produciren, als der Dampfkraft ein Niveau mitten durch Europa zu bahnen“ – so schrieb einst der in engster Beziehung zu dem Werden des deutschen Eisenbahnwesens stehende Nürnberger Bürger Johannes Scharrer. Viel Wahrheit liegt in diesen wenigen Worten! Die Geschichte der Dampfmaschine kennt drei scharf geschiedene Perioden, als deren Mittelpunkte Savary und Newcomen, welche (um d. J. 1705) die Dampfmaschine mit senkrechter, hebender Bewegung erfanden, James Watt, welcher (um 1782) derselben die drehende Bewegung ertheilte, und Robert Fulton, welcher (1807) deren fortschaffende Bewegung auf Schiffe übertrug, gelten können. Aber merkwürdig: die heute untrennbaren Gedanken der eisernen Spurbahn, der Dampfmaschine und der Lokomotive schritten Menschenalter hindurch unfruchtbar neben einander her, ohne sich zu vereinigen. Erst im Jahre 1829, als der Schienenweg zwischen Liverpool und Manchester der Vollendung nahte, war es einem der verdienstvollsten Männer unseres Jahrhunderts, dem erfolgreichsten Pionier des geflügelten Rades: Georg Stephenson beschieden, durch die Erfindung der Lokomotive in praktisch brauchbarer Gestalt, d. h. als Schnellläufer, die Dampfkraft dem Verkehr zu Lande dienstbar zu machen und dadurch den Grund zu einer völligen Umwälzung aller Lebens- und Staatsverhältnisse, zu einem ungeahnten Umschwung des Handels, der Industrie und des Verkehrs zu ebnen.

Gegen Ende des Jahres 1830 bestanden in England, Nordamerika, Frankreich und Oesterreich 445 Kilometer Eisenbahnen, von welchen 328 Kilometer mit Pferden, 107 mit Dampfwagen, die übrigen mittelst Seilebenen betrieben wurden. Am 5. Mai 1835 erschloß Belgien der Lokomotive die Einzugspforte, nunmehr ist auch für Deutschland der Tag gekommen, das fünfzigjährige Jubiläum seiner ersten Eisenbahn mit Dampfkraft als ein wichtiges Erinnerungsfest, ja als ein Nationalfest, zu begehen. Mit der am 7. December 1835 erfolgten Weihe der freilich nur kleinen, kaum eine Meile langen, wohl aber ganz den örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen entsprungenen Schienenverbindung der beiden blühenden Schwesterstädte Nürnberg und Fürth begann für Bayern und für das gesammte deutsche Vaterland eine neue Aera friedlicher Kulturentwickelung. Wie die Tragweite jeder belangreichen Neuerung, so kann auch das Verdienst des ersten Eisenbahnunternehmens nur voll gewürdigt werden bei Betrachtung ihrer Vorgeschichte, welche hier in schlichten Worten gekennzeichnet werden soll.

Die ersten Vorschläge zu einer Eisenstraße zwischen Nürnberg und Fürth greifen ziemlich weit zurück und stehen in Zusammenhang mit der [798] Geschichte des Ludwig-Donau-Mainkanals, der bekanntlich wichtigsten und längsten künstlichen Schifffahrtsstraße Deutschlands! Schon zu einer Zeit, als noch Finsterniß auf dem Felde des Eisenbahntransportes ruhte, hatte ein Veteran in der Mechanik, der k. bayerische Oberstbergrath Ritte[r] Joseph von Baader (geb. 1764, gest. 1835) zufolge eines zweimaligen Aufenthaltes in Großbritannien das Wesen der englischen Bergwerksbahnen in sich aufgenommen und die letzteren zuerst dem deutschen Publikum näher gebracht. Seit dem Jahre 1812 stellte Baader in der königlichen Maschinenwerkstätte zu München wiederholt Versuche an mit arbeitenden Modellen seiner Eisenbahn nach „verbesserter englischer Bauart“, erhielt von König Max Joseph ein fünfundzwanzigjähriges Privileg auf seine „Eisernen Kunststraßen“ verliehen und brachte im Jahre 1817 den eingehend begründeten Vorschlag zur Verbindung des Rheins mit der Donau durch eine von Donauwörth über Nürnberg nach Kissingen ziehende Eisenbahn vor die Oeffentlichkeit, später auch vor den Landtag. Baader hatte lediglich schmalspurige Chaussée-Pferdebahnen – die Lokomotive war noch nicht erfunden – für Waarentransporte im Auge, deren Wagen zur Vermeidung der Umladung an jeder Stelle der Bahn auf die Straße übergehen konnten. Viel von sich reden machten die vergleichenden Versuchsfahrten, welche Baader im Frühjahr 1826 Dank der Geldunterstützung des Monarchen im Schloßparke zu Nymphenburg mit zwei Probe-Eisenbahnen, die eine nach englischer, die andere nach seiner eigenen Bauart in natürlicher Größe, veranstaltete. König Ludwig I. ließ die Hauptergebnisse jener Versuche dem Handelsstande Nürnbergs und Fürths mit der Aufforderung bekannt geben, „sich über die Zweckdienlichkeit einer solchen Bahn, deren Unternehmer sich des besonderen Schutzes Sr. Majestät zu erfreuen hätten, zu äußern.“ Allein die Zeit war noch nicht reif genug zu einem derartigen „gewagten“ Unternehmen. Als dann der Landesherr Karls des Großen uraltes Projekt einer Kanalverbindung der Donau und des Mains zu verwirklichen beschloß, da fielen nicht nur die Eisenbahnpläne in Ungnade, sondern auch Baader selbst, der als ein zu sehr leidenschaftlicher, selbstgefälliger Erfinder mit allen Waffen gegen die – beinahe zwei Jahrzehnte später erst vollendete – Kanalverbindung ins Feld zog.

Johannes Scharrer.

Paul Denis.

Von Alters her glänzte das freie reichsstädtische Nürnberg durch seinen Gewerbefleiß und Handel, wie durch seine Findigkeit. Seine Blüthezeit im Mittelalter wurzelte in dem belebenden Einfluß der Künste und Wissenschaften auf Industrie und Handwerk. Die politischen und kriegerischen Stürme, die vielen Wendungen der wirthschaftlichen Zustände in den folgenden Jahrhunderten haben zwar Nürnbergs Betriebsamkeit tief erschüttert, nie aber gelähmt. Traurig waren die Verhältnisse noch im Jahre 1806 beschaffen als die alte Reichsstadt der Krone Bayern einverleibt wurde; dann aber nahm dieselbe wieder einen riesigen Aufschwung, Dank der Organisation der Volksschulen und höheren Lehranstalten, der Herstellung eines freien Handelsverkehrs der deutschen Völkerstämme und der zunehmenden Freiheit des Zunftwesens. Mit Nürnberg war gleichzeitig die benachbarte Handelsstadt Fürth von Preußen an Bayern übergegangen. Im Schutze des Friedens und des freien Verkehrs fühlten sich die Schwesterstädte, welche vor Beginn der Eisenbahn-Aera zusammen 56000 Seelen besaßen, fester und fester aneinander gekettet, und die Verbindungsallee wimmelte von Fußgängern, Reitern und Fuhrwerken aller Art.

Die größten Lorbeeren um Nürnbergs Auferstehung erwarb sich ein schlichter Bürger, der edle Kaufmann und Gemeindebeamte Johannes Scharrer (geb. 1785, gest. 1844), der eigentliche Urheber und die Seele des ersten deutschen Eisenbahnunternehmens. Als zweiter Bürgermeister ordnete er mit Umsicht die Finanzen der Stadt, organisirte das Schulwesen und schuf die heute noch blühenden technischen Lehranstalten daselbst, obenan die im Jahre 1823 eröffnete polytechnische Schule. Scharrer erstrebte jedoch nicht nur die Wiederbelebung der Gewerbe, auch die Hebung der tief gesunkenen materiellen Regsamkeit Deutschlands durch Verbesserung des Zoll- und Verkehrswesens lag ihm am Herzen. Hierin ist er nur mit seinem Zeitgenossen, dem Schwaben Friedrich List zu vergleichen. List (geboren 1769, gestorben 1846), der gewandte Volkswirth und Agitator für den deutschen Zollverein, wirkte unablässig in Wort und Schrift für den Gedanken, daß man die Eisenbahnen als die Grundlage zu einem großen deutschen Transportsystem, als das Mittel zur nationalen Emancipation des Handels und der Industrie betrachten müsse. Unter den von ihm hauptsächlich befürworteten Eisenbahnlinien erscheint auch eine Süd-Nordbahn vom Bodensee über Nürnberg bis an den Main. List machte sich um die Gründung der Leipzig-Dresdener Privatbahn neben Gustav Harkort wesentlich verdient, zudem rief er das erste deutsche Eisenbahnjournal ins Leben.

Der Adler, die erste Lokomotive in Deutschland.

Scharrer, der freilich nicht wie List dem Systeme hoher Schutzzölle, auch nicht wie Adam Smith dem Systeme unbeschränkten Freihandels huldigte, sondern den goldenen Mittelweg vertheidigte, waren ebenfalls die von den jungen Großmächten der Dampfschifffahrt und der Dampfbahn zu erwartenden Vortheile für Deutschland, insbesondere für seine Vaterstadt klar vor Augen getreten. Das Jahr 1832 sah bereits in einer Anzahl norddeutscher Städte Eisenbahnvereine, in- und ausländische Ingenieure in emsiger Thätigkeit für Schaffung von Schienenwegen zwischen verkehrsreichen Städten; an opferwilligen Kapitalisten schien es dabei nicht fehlen zu wollen. Das war für Scharrer das Signal, seinen lange getragenen Wunsch zu verwirklichen und Nürnberg durch Anlegung einer Triest mit Amsterdam und Hamburg, die Donau mit Elbe und Rhein in der Richtung des mittelalterlichen Handelszuges verbindenden Eisenstraße und zwar mit Dampfbetrieb wieder zum Hauptpunkte des Binnenlandes, zum Haupt-Transitoplatz des kontinentalen Großhandels erhoben zu sehen. Hierbei dachte sich Scharrer, wie aus seinen Schriften und einer von ihm entworfenen Karte des zukünftigen deutschen Eisenbahnnetzes erhellt, Dampfschiffkurse auf Rhein, Main und Donau beigezogen.

Die kurze Strecke zwischen Nürnberg und Fürth sollte den Anfang machen als ein erster, billigster und voraussichtlich lohnendster Versuch. Am häuslichen Tische gewann Scharrer sofort seinen verehrten Freund, den ebenso ehrgeizigen als vermögenden Kaufmann und Handelsvorsteher Georg Zacharias Platner, zum Verbündeten, und Beiden gelang es im Umsehen, Nürnbergs Oberbürgermeister Binder und drei patriotisch gesinnte Freunde aus Fürth: den Bürgermeister Bäumen, Handelsvorsteher Meyer und Kaufmann Reissig sich beizugesellen. Aber welche Vorurtheile, welche Abneigung und Gleichgültigkeit gegen das geplante Transportmittel stauten sich nicht auf, als die Gründer ihr Projekt zum ersten Male in der Presse zur Sprache brachten! Zweifelnde, spottende, erbitterte Gegner fanden sich da ein, meist gerade aus jenen Kreisen, die nachmals die größten Vortheile aus den Eisenbahnen zogen. Mangelndes Bedürfniß in dem dürftigen, verkehrsarmen Deutschland, Unerschwinglichkeit der nöthigen Kapitalien, Erzeugung eines grenzenlosen Wirrwarrs, Ruin des Spannfuhrwesens, der fahrenden Posten und aller damit zusammenhängenden Nahrungen und Gewerbe, so und ähnlich lauteten die Klügeleien der Widersacher. Daß vermehrte und verbesserte Transportmittel auch den Verkehr vermehren und neue Transporte hervorrufen müssen, das leuchtete den Wenigsten ein. Das Mißlingen der schon bestehenden österreichischen Pferdebahn von Linz nach Budweis, wie auch die riesigen Kapitalien, welche die Lokomotivbahn Liverpool-Manchester verschlungen hatte, schwächten das Vertrauen erheblich. Außerdem galten die nach Beginn des vierten Jahrzehnts in England mit gewaltigem Lärm in [799] hundert Variationen auftauchenden Straßendampfwagen und Dampfkutschen für alleinige Personenbeförderung – eine der unglücklichsten und undankbarsten Ideen in der Geschichte des Verkehrswesens – beharrlich als Oppositionsmittel. Das Feldgeschrei der englischen Straßendampfwagen-Fabrikanten fand helles Echo in der deutschen Tagespresse; der Marburger Professor Alex. Lips und ein gewisser Schmitz in Erlangen prophezeiten sogar in Schriften den baldigen Sieg jener Mitteldinger zwischen Spannfuhrwerk und Lokomotive über die Eisenbahnen.

Unbeirrt durch alle Bedenken und Einreden brachte das Eisenbahnkomité nach vorausgegangenen Frequenzbeobachtungen auf der Nürnberg–Fürther Chaussée am 14. Mai 1833 die „Einladung zur Gründung einer Aktiengesellschaft“ – eine meisterhafte Arbeit Scharrer’s – vor das Publikum; der vom Professor Kuppler angefertigte Kostenanschlag forderte für die nach englischen Vorbildern zu erbauende Bahn ein Aktienkapital von 132 000 Gulden und stellte eine jährliche Rente von 121/2 Procent in Aussicht. Der König genehmigte den Namen „Ludwigs-Eisenbahn“. Die rege Theilnahme an der Aktiensubskription übertraf alle Erwartungen, schon bei der ersten Versammlung der Aktionäre am 18. November 1833 waren sämmtliche 1320 Aktien, größtentheils im Schoße Nürnbergs, gezeichnet, es konnten die Statuten und die (höchst einfache) Verfassung der Gesellschaft berathen und das Direktorium aus sieben Mitgliedern gewählt werden. An dessen Spitze traten Platner als Direktor und Scharrer als dessen Stellvertreter und Referent. Der allererste ins Leben getretene deutsche Aktienverein im Gebiete des Verkehrswesens, ja in Bayern die erste anonyme Gesellschaft überhaupt, war somit Thatsache. Drei Monate später erfolgte die königliche Privilegirung derselben auf dreißig Jahre.

Die von Baader warm empfohlene versuchsweise Anwendung seiner „neuesten Erfindung für Eisenbahntransport“ schien dem Direktorium ebenso wenig geeignet wie das von Fr. List lebhaft befürwortete wohlfeile amerikanische Oberbausystem mit eisenplattirten Holzschwellen. Hingegen beschloß man nach dem Vorgange der von Scharrer persönlich besichtigten Eisenbahn St. Etienne–Lyon neben der Dampfkraft auch die Pferdekraft anzuwenden. Die beabsichtigte Uebertragung der Bauleitung an einen Ingenieur Stephenson’s scheiterte an den übertriebenen Gehaltsansprüchen; da half der Zufall. Scharrer war in München durch Leo von Klenze auf den königlich bayerischen Bezirksingenieur Paul Denis, der eben erst die Eisenbahnen jenseit des Kanals bereist hatte, aufmerksam gemacht worden. Dieser nahm die ihm angebotene Bauleitung an und überhob dadurch das Direktorium der Mühe, den Engländern gute Worte und viel Geld geben zu müssen. Denis war klug genug, Stephenson’s Errungenschaften ohne wesentliche Abänderungen nach Deutschland zu verpflanzen.

Das Jahr 1834 verfloß mit den technischen Vorarbeiten, mit Einleitung der Hauptlieferungen, mit Erforschung von Kohlenbezugsquellen und mit Durchführung des ganz neuen und mangels eines Zwangsabtretungsgesetzes äußerst schwierigen Geschäftes der Grunderwerbung. Im Januar 1835 erfolgte die Verdingung der Schienen und Schienenstühle (chairs), im Mai wurde der erste Spatenstich gemacht und im Juli die erste Schiene gelegt. Zur Anfertigung der einköpfigen Walzschienen hatte sich im ganzen Zollvereinsgebiete nur Remy bei Neuwied bereit erklärt; die gußeisernen Chairs, mittelst deren die Schienen auf Steinquadern zu ruhen kamen, lieferten die Hütten der Gebrüder Gemeiner in Hüttensteinach, die Personenwagen – Güterbeförderung fand auf der Ludwigsbahn niemals statt – fertigten Nürnberger und Fürther Meister mit alleiniger Ausnahme der aus England bezogenen gegossenen Räder und der Wagenachsen. Im Oktober kam die in Stephenson’s Werkstätten gebaute Lokomotive „Adler“ und auch ihr künftiger Führer, der wackere Wilson aus Newcastle, nach umständlicher Reise zu Schiff und Wagen glücklich in Nürnberg an. Dieser erste und kleinste Dampfwagen Deutschlands, gegen welchen unsere heutigen Zugmaschinen wie Riesen erscheinen würden, leistete nur die Kraft von 15 bis 20 Pferden, wog mit Wasser und Kohlen 61/2 Tonnen (6500 kg) und kostete mit Transport 17 000 Mark.

Nur dem eifrigsten Zusammenwirken von Denis und Scharrer war es zuzuschreiben, daß die Bahnweihe an dem voraus bestimmten Tage stattfinden konnte. Hatte die am Vorabend derselben abgehaltene Generalversammlung einen erfreulichen Beweis geliefert von dem die Gründer wie die Aktionäre beseelenden Geiste und der patriotischen Gesinnung, so legte der Jubel, das Staunen und die Begeisterung des in unermeßlichen Scharen zur feierlichen Eröffnung des Schienenweges am 7. December 1835 herbeiströmenden Volkes beim Vorüberfliegen des geschmückten Festzuges Zeugniß ab von dem richtigen Erfassen der segenspendenden Kraft des in so kleinem Raume eingeschlossenen Elementes. Zahlreich langten Glückwunsch-Schreiben ein von verschiedenen Eisenbahnkomités, von hohen und höchsten Herrschaften des In- und Auslandes; eine ganz besondere Anerkennung ward den Unternehmern beim Besuche des Landesherrn am 17. August 1836 zu Theil.

Der Fahrpreis in den mit Glasfenstern versehenen Wagen I. Klasse betrug die Hälfte gegenüber den bisherigen Eilwagenfahrten und den siebenten Theil gegenüber den Kutschenfahrten zwischen Nürnberg und Fürth. Gar bald vermehrte man die Dampffahrten und verminderte die Pferdefahrten, welch’ letztere im Jahre 1856 völlig eingestellt wurden. Trotz karger Besoldung erfüllte das Bahnpersonal, obenan Betriebsinspektor Löhner und Lokomotivführer Wilson, mit Treue und Hingebung seine Pflichten. Denis’ Kostenanschlag von 140 000 Gulden wurde aus unvorhergesehenen Ursachen überschritten, so daß das Aktienkapital auf 177 000 Gulden erhöht werden mußte. Immerhin bleibt dieser Schienenweg die wohlfeilste je in Europa gebaute Lokomotivbahn und ist die bestrentirende Eisenstraße Deutschlands auch heute noch, trotz der Mitbewerbung zweier parallel laufender Bahnen, der Staatsbahn Nürnberg–Bamberg und einer Straßen-Pferdebahn. Zum öfteren ertrug die Ludwigsbahn mehr als 20 Procent, nie aber weniger als 12 Procent Dividende. Die Gesellschaft hatte in dankbarer Erinnerung dem hochverdienten J. Scharrer nach seinem am 30. März 1844 erfolgten Tode im ersten deutschen Bahnhofe am „Plerrer“ zu Nürnberg ein Denkmal errichtet. Schlicht und einfach ist die von Meister Burgschmiet in Erz gegossene Büste; schlicht und einfach wie Scharrer im Leben war, den bei allen Thaten sein Wahlspruch leitete: „Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“

Man blicke nicht geringschätzend auf das kleine Stückchen Eisenbahn, das bald nach seiner Inbetriebsetzung einen unverkennbaren moralischen Einfluß auf alle geplanten gleichartigen Unternehmungen äußerte, die Kleingläubigen bekehrte und alle Witzeleien verstummen machte.

Erst seit dem vortrefflich gelungenen Versuche des Dampftransportes zwischen Nürnberg und Fürth stammen die fruchtbringenden Anstrengungen verkehrsreicher Städte, um in den Besitz von Eisenbahnen zu kommen. Doch vergingen noch Jahre, bis die Maschen eines zusammenhängenden Netzes von Eisenstraßen geknüpft und dadurch der industriellen Wiedergeburt die kräftigsten Stützpunkte verliehen waren. Die Riesenfortschritte der deutschen Dampfeisenbahnen hinsichtlich ihrer räumlichen Ausdehnung und inneren Entwickelung sind mehr bekannt und mehr beachtet, als deren Anfänge. Deutschland steht heute, was die absolute Länge seiner Schienenwege – in diesem Augenblicke mehr als 36 200 Kilometer – betrifft, allen Ländern Europas weit voran; das auf sie verwendete Anlagekapital hat das hübsche Sümmchen von 9 Milliarden Mark bereits überschritten. Wenn wir heute, die wir schon ein halbes Jahrhundert all der Segnungen des geflügelten Rades theilhaftig geworden sind, die wir bequem und sicher von der Eilkraft des Dampfes durch Schluchten und Berge, über Thäler und Ströme getragen werden, uns im Geiste zurückversetzen in jene Zeit, als Nürnbergs Söhne von Unternehmungsgeist und Thatkraft beseelt das eiserne Band um zwei regsame Städte zu legen sich anschickten, da muß freudiger Stolz über das Vollbrachte uns erfüllen. Ehren wir aber auch mit dankbarem Angedenken die Thaten unserer Vorfahren und wünschen wir der Ludwigs-Eisenbahn, der kleinsten unter ihren Schwestern, die sich jedoch rühmen kann, Deutschlands erste Lokomotivbahn zu sein, auch für die Zukunft Blühen und Gedeihen!


Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.
(Fortsetzung.)

Wie der Wagenschlag so jählings aufgerissen worden war, hatte Bianca mit flüchtigem Blick nur grünes Gesträuch und blinkenden Sonnenschein wahrgenommen. War’s ein Stückchen Prater? Gleichviel! Erst morgen um diese Zeit wollte sie sich erkundigen, wo sie sich befänden.

Edgar bestürmte sie mit Fragen, die sie nicht recht hörte; er bedeckte ihre Handschuhe mit Küssen, die sie nicht recht fühlte.

Erst, als er sich in Stimmung zeigte, nach und nach etwas mehr als die Handschuhe zu küssen, munterte sie sich auf und sah ihn so vorwurfsvoll bittend an, daß er nur noch einmal heftig ihre Fingerspitzen drückte und dann so weit als möglich von ihr abrückte.

Also in die Ecke des Wagens gedrückt, sah er sie nachdenklich an, wie schön sie war! Schöner als je in der Verwirrung und Erregung des unwiederbringlichen Augenblicks! Und sie war sein! Die Entscheidung war gefallen, früher, vollkommener, rückhaltloser, als er je zu hoffen gewagt hatte. Nun konnt’ er leicht Geduld haben, sie wird ja doch seine Sehnsucht krönen. Die Zurückhaltung, die Verzögerung verlieh dem sicheren Besitz, der ihm bevorstand, nur höheren Reiz.

Wie berauschend fühlten sich diese Minuten voll erhöhten Lebensgefühls, voll verdreifachter Glückseligkeit!

Sie sprachen mit einander. Erst recht verliebtes Zeug; sie dankte ihm für seine opferbereite Freundschaft; er dankte ihr für ihr rückhaltloses Vertrauen, für die Wonne, mit ihr in die weite Welt rollen zu dürfen, für das ganze beseligende Abenteuer; jeder in seiner Art sich das Thun des Anderen zurechtlegend und in der Zukunft nur das sehend, was er sich wünschte.

Mitten in dieser Gefühlsschwelgerei wurden sie durch ein plotzliches Stillstehen des Wagens erschreckt.

„Was bedeutet das? Werden wir angehalten?“ rief Bianca todtenblaß. Sie machte Miene, aus dem Wagen zu springen. Aber noch ehe sie die Hand auf den Drücker gelegt, hatte sich Edgar schon beruhigt und bedeutete leise die Geängstigte: „Wir fahren wohl durch die Linie.“

[800] Hier beim Passiren der vor den äußersten Vorstädten gezogenen Befestigung erleiden Fuhrwerke der städtischen Mauth halber manchmal Verzögerungen.

Und richtig, kaum daß Edgar seine Erklärung laut werden ließ, rollte der Wagen schon wieder weiter, anfangs noch etwas langsamer, dann in der üblichen „husarischen“ Weise, darin der Stolz eines echten Wiener „Zeugels“ liegt. Und das des Herrn von Sperber war eines von den echtesten.

„Gott sei Dank!“ sagte Bianca, die Hand auf dem Herzen und tief Athem holend. „Ich dachte schon, wir wären verrathen!“

Edgar tröstete sie nun mit reichlichen Worten und berichtete, wie er alle Vorsorge getroffen, daß sie nicht gestört werden würden. An ein Einholen war ja nicht zu denken. Denn wer sollte Verdacht schöpfen, da alle, denen daran lag, Bianca’s Flucht zu verhindern, sie auf dem Wege nach Gumpoldskirchen, ja bald schon dort angelangt wähnen mußten?

Niemand, nicht seine vertrautesten Freunde, nicht sein Diener wußten, wohin er den Weg genommen. Allen sei eine andere Richtung, ein anderes Ziel angegeben. Der Kutscher ließe sich lieber von seinen eigenen Pferden zerreißen, eh’ er ein Wort verriethe. Das würde ihm auch die ganze elegante Kundschaft kosten. Darum sollte sie nur ganz beruhigt sein und die Reise fortsetzen, ohne sich trübe Gedanken zu machen.

„Aber die Pferde könnten doch nicht bis in die späte Sommernacht hinein so fortrasen,“ meinte Bianca.

Das brauchten sie auch nicht. Und das wäre nicht nur für die Pferde, sondern auch für die Insassen zu anstrengend, die doch noch die ganze Nacht und den kommenden Vormittag auf der Eisenbahn zubringen müßten. Der erste Lauf werde nur bis zu einem kleinen waldsicheren Ort gehen, wo Edgar bereits gestern alles in Person geordnet hatte, damit sie ungesehen, unbelauscht, unbelästigt ein gutes Mittagsmahl, dessen Hauptbestandtheile ebenfalls gestern aus Wien mitgebracht worden waren, einnehmen und dann seine Freundin einige Stunden der Ruhe pflegen könnte, bis die Pferde sich erholt hätten, die ärgste Hitze sich gemildert hätte und beide Durchgänger getrost die Weiterfahrt bis zu der bewußten Bahnhofsstation fortsetzen möchten.

Bianca ließ sich des Genaueren die Lage des Ortes schildern, vergaß aber alsbald den Namen, ohne dafür eine bestimmte Vorstellung seiner Beschaffenheit und seiner Entfernung von der Hauptstadt zu behalten. Was sie nicht vergaß und worauf es ihr vor Allem ankam, war, daß man dort sicher und allein und vor jeder Störung, vor jedem Späher geborgen war.

Daß dem so sei, schwur ihr Edgar hoch und theuer. Und darüber ward sie froh und immer froher bis zum Uebermuth. Es ging ja Alles vortrefflich!

Und wenn sich doch an ihre Freude eine gewisse nagende Bangigkeit herandrängte, so schmetterte sie jetzt einige helle Läufer und Triller los, die ihre Brust erleichtern und die Luft im Wagen mit guten Geistern bevölkern sollten.

Es ward ihr wirklich immer wohler und vertraulicher zu Sinn.

Auf einmal meinte sie, nun wären sie doch meilenweit genug von der Stadt entfernt, daß sie unbekümmert ein Fenster zur Seite öffnen dürfte.

Edgar, dem schon das laute Singen der Freundin heute nicht so geheuer als sonst klang, gestand es zögernd zu, vorausgesetzt, daß sie sich ruhig verhalten wollte, und ließ eigenhändig, ohne den blauen Vorhang zu erheben, das Glas herab.

Aber der Vorhang, gegen den nun der Wind anstand, zitterte so heftig und tobte so unangenehm hin und her, daß er die Schnüre zu zerreißen drohte, wenn man ihn nicht löste.

„Ach, hier hat’s wohl keine Gefahr!“ sagte der sorgliche Liebhaber, nachdem er sich auslugend überzeugt hatte, wo sie wären, und raschelnd rollte sich die blaue Seide um ihren Stab auf. Der schöne grüne Wald grüßte und duftete herein in den kleinen Wagen.

Bianca patschte wie ein Kind die Hände zusammen, so entzückte sie der Anblick der wundervollen Waldeinsamkeit, die wie ein Wandelbild durch den schwarzen Rahmen des Wagenfensters sie anmuthete. Sie hatte, ganz ihrer Kunst als Städterin beflissen, dergleichen lange nicht gesehen.

Und die Welt war so stille hier draußen, fern dem sausenden, brausenden, betäubenden Lärmen der Großstadt. Auch Bianca verstummte hier und sog nur mit gleichmäßigen, mit andächtigen Athemzügen die würzige Luft ein.

Sachte, sanft und fromm legte Edgar seine rechte Hand auf ihre linke. Sie duldete es, ohne sich zu ihm zu kehren, und ein dankbarer Druck ihrer kleinen Finger sagte mehr als Worte, was sie jetzt empfand.

Aber auch Worte wurden dann wieder gewechselt. Manchmal, wenn ein Lastkarren, mit einem langen, am schmalen Ende schwankenden Baumstamme befrachtet, an ihnen vorüberknarrte, flog Bianca’s Köpfchen hastig in die Ecke zurück und sie regte sich nicht, bis der Bauernknecht weit vorüber war, obschon sie dazu lachte, denn der Tagelöhner im Walde kannte sie nicht.

Einmal kamen ein paar fahrende Handwerksburschen vorbei und hielten ihre Mützen gegen den Wagen. Unbedenklich warf sie diesen ihr Kleingeld zu. Die armen Teufel sollten sich auch freuen an dem schönen Tage.

Und dann stapfte eine Herde Kühe mit triefenden wiederkäuenden Mäulern und klingelnden Schellen auf langsam schleppenden Füßen daher. Bianca lachte laut, so oft eins dieser breitstirnigen Häupter den Wagen anbrüllte und dazu mit langem Schweif über den Rücken schlug.

Und wieder eine Herde Kühe und noch eine und eine vierte – und dann war die Straße wieder leer und sie sahen nichts als die vorüberhuschenden Bäume, Sträucher und Pfähle und hörten nichts als das Rollen ihrer Wagenräder.

Aller guten Dinge froh und von Edgar vergewissert, daß sie nun bald anlangen und ihren rechtschaffenen Hunger stillen würden, wurde Bianca muthiger. Sie wollte nun auch die sämmtlichen anderen Vorhänge hoch ziehen

Jedoch das widerrieth Edgar. Man konnte doch nicht wissen! ...

„Na, aber doch noch einen!“

„Meinethalben, aber nicht den zur andern Seite!“

„Nein, den da nur, um etwas voraus auf den Weg blicken zu können.“

„Der Kutschbock und der Rücken Schani’s decken ja doch die beste Aussicht zu!“

„Um so ungefährlicher darf man’s wagen!“ versetzte das muthwillige Mädchen, und brrr! da war das blaue Vorhängelchen vor ihr schon in die Höhe gerasselt.

„Baron Edgar!“ rief sie, und es klang befremdlich, fast ängstlich, während sie die blaue Seide mit vorsichtigen Fingern langsam wieder über die Scheibe herunterzog.

„Was haben Sie, Bianca ?“ fragte der Ueberraschte lachend.

Seine Freundin lüpfte seitwärts den Vorhang ein klein wenig, kaum fingerbreit. „Sehen Sie doch selbst!“ sagte sie leise. „Mir scheint, auf unserem Kutschbock sizen Zwei, nicht Einer.“

„Warum nicht gar!“ rief Sperber, rückte ganz nahe mit der Nase an das Fensterglas heran und lugte durch den Spalt. Dann fuhr er geruhig fort: „Es sitzt in der That ein Kerl mit einem riesigen Schlapphut neben Schani. Nach dem schäbigen Sommerüberzieher zu schließen, der seinen Buckel ziert, scheint’s ein armer Teufel zu sein, den der Fiaker aus Mitleid hat aufsitzen lassen. Schani ist aus der Gegend. Wahrscheinlich ist’s ein Verwandter von ihm, vielleicht sein Bruder, jedenfalls ein ganz gleichgültiger und ganz unbekannter Sterblicher. Er hat ihn wohl beim Aufenthalt an der Linie aufgenommen.“

Bianca nickte wie beruhigt, denn sie hatte sich darein ergeben, Edgarn Alles zu glauben, was er sagte, und auf ihn alle Last der Verantwortung und jede Sorge der Reise abzuladen. Sonst wäre ihr das ganze Wagstück, je länger es währte, desto unerträglicher geworden.

Indessen hatte die unverhoffte Erscheinung auf dem Bock doch so viel Eindruck in ihren Gemüthern hinterlassen, daß die Beiden sich unwillkürlich leiser unterhielten als zuvor.

Nicht zum Schaden Edgar’s. Denn mit den leisen Reden wuchs die Vertraulichkeit. Und als nun in so traulicher Nähe nach stundenlangem Alleinsein in begreiflicher Aufregung Sperber versicherte, daß sie gleich ankommen würden, und er so herzlich und doch so demüthig um einen Kuß, um einen einzigen Kuß, um den allerersten Fuß bat, da sagte Bianca nicht nein und wehrte sich wenig, als sie Edgar’s Hand hinter ihrer Schulter fühlte.

Schöner als der Kuß war der innige Blick aus blauen Augen, der ihm vorherging. Es war Edgarn, als küßte sie ihn

[801]

Hänschen im Hemdchen.0 Von Karl Fröschl. Aus der Münchener „Bunten Mappe“ (s. S. 803).

[802] mehr mit den Augen als mit den Lippen, die nun rasch und flüchtig und doch entzückend die seinigen streiften.

Er wollte sie schon besser unterrichten, aber Bianca wich eilig zurück, und beide Hände zwischen ihm und ihr ausstreckend sagte sie bestimmt. „Nur diesen einen! Und noch lange keinen zweiten! Nicht vermessen sein, theurer Freund, und Freundschaft und Vertrauen bewahren, wie versprochen!“

Annoch wollt’ er gute Miene machen und sich bescheiden. Die nächste Zukunft war ja doch des Glücklichen! dacht’ er, und überdies fuhren sie im Augenblick vor dem stillen Waldwirthshause vor, das zwischen dichten Laubbäumen versteckt so traulich und behaglich ihnen entgegenwinkte.

Gackernd und flügelschlagend stoben etliche Hühner mit weitausgreifenden Schritten vor den rollenden Rädern zur Seite. Ein kleiner zottiger Spitz kam wedelnd herangetrippelt. Und nun standen die Pferde, und der Wagenschlag hielt dicht vor einer braunen Hausthür, in welcher Bianca ein artig Bauernweib sah, das eben die aufgesteckten Schürzenzipfel abnestelte und über der Hüfte glattstrich.

Im nächsten Augenblick flog ein breiter Schatten über den Vorhang des Vorderfensters – der Mann neben Schani war heruntergesprungen – und zwischen der knixenden Wirthin und dem sich öffnenden Wagenschlag erschien, nickenden lächelnden Hauptes und den Hut in der Hand – die beiden Flüchtlinge meinten durch sieben Himmel herab in den Erdboden einzusinken – Pater Otto.


Alle guten Geister loben Gott den Herrn! Der Mönch kam Beiden wie ein Gespenst vor. Der Athem stockte und die Rede versagte ihnen. Bianca war einer Ohnmacht nahe und lehnte sich fast bewußtlos auf den Arm des lächelnden Priesters, vor dem ihr’s nur erst durch alle Nerven schauderte.

Pater Otto dagegen, der heute unter dem schäbigen Sommerüberzieher nicht den Gehrock des Weltgeistlichen, sondern die lange schwarze schlichte Sommerkutte des Benediktiners trug, schien in der leutseligsten Stimmung von der Welt. Er plauderte wie ein Buch, äußerte sich ganz entzückt über die Fahrt, über den Tag, über das Wetter und äußerte die lebhafteften Vorsätze in Bezug auf das Mittagessen.

„Es wird ja wohl für unser drei ausreichen!“ setzte er leiser, den verblüfften Sperber verständnißinnig anblinzelnd, hinzu.

„O gewiß . . . Ah . . . Hochwürden . . . größte Freude . . . bitte einzutreten . . .“ antwortete dieser, ohne recht zu wissen, ob er von langer Hand betrogen oder in dieser Minute verrückt geworden sei.

Bianca redete gar nichts. Leichenblaß wankte sie ins Wirthszimmer, das für ihr ländliches Mahl reserviert worden war, und sank neben dem weißgedeckten mit Sperber’schem Silber, Glas und Porzellan anmuthend gedeckten Tisch auf einen Stuhl, mehr todt als lebendig.

Es ward ihr zu Muth, als sei mit Vetter Otto’s Erscheinen ein Vorhang zerrissen, den sie mit Willen vor das wahre Gesicht ihrer That gezogen und eigensinnig fest gehalten habe, und sehe diese sie nun in ihrer wahren Gestalt an: thöricht, häßlich, unverzeihlich.

Und dann dachte sie auch wieder mit aufwallendem Verdruß, daß ihr Vorhaben für immer vereitelt, alle Anstrengung, Aufregung und Willenskraft vergeudet sei für nichts, und daß sie nun gesenkten Hauptes und gebrochenen Muthes, beschämt und unterwürfig heimkehren und auf Künstlerruhm und Liebe verzichten müsse ... vielleicht für immer verzichten, denn in ihr zuckte ein jäher Schmerz, als wären die Organe zerrissen, mit denen man an Wunder glaubt und Wunder wirkt.

Sperber war ehrlich besorgt um sie, obschon er sich trotz ihres blassen Gesichtes und ihrer sichtlichen Schwäche des Argwohns nicht erwehren konnte, daß er das Opfer einer heimlichen Verabredung zweier sich in die Hände spielenden schlauen Verwandten und schändlich gefoppt sei.

Der Mönch verlor seine gute Laune nicht. Er schob das Uebelbefinden seiner lieben Nichte auf die lange Fahrt, auf die verzögerte Mahlzeit, auf allzuknappe Taille, auf Gott weiß was, und versicherte gemüthsruhig, es werde sich geben, sobald sie einen guten Löffel Suppe gegessen haben werde.

Edgar sagte, daß er nur gleich selber nachsehen werde, ob sich das Auftragen der Suppe beschleunigen lasse. Aber so hastig er aus der Stube stürzte, er ging zunächst doch nicht zur Frau Wirthin in die Küche, sondern in den Stall zu Schani, der im ganzen Gesicht so roth, wie sonst nur seine Nase war, sich emsig mit seinen „Rössern“ zu schaffen machte.

„Malefizfiaker, was ist denn das für eine Bescheerung, daß Du mir den Pfaffen mit ins Grüne bringst?“ stieß Sperber, blaß vor Wuth, zwischen den Zähnen hervor.

Der Kutscher sah ihn betroffen an, Augen und Mund weitaufgerissen. „Ja mein, gnädiger Herr, ich hab gemeint, der hochwürdige Herr gehört zur Partie. Er hat auch so gesagt . . .“

„Wo, wann, was hat er gesagt?“

„No, bei der Linie, wie’s wegen der vielen Wägen etwas stad gangen ist mit dem Zeugel, da war er neben den Pferden und ‚ich weiß Alles!‘ hat er gerufen, ‚und ich gehör’ auch dazu.‘ Mir hat kein Mensch das Gegentheil nicht gesagt, und eins, zwei, drei, hat er die Kutten beim Zipfel gehabt und oben war er auf dem Bock. Jetzt aber bitt’ ich einen Menschen, ein geistlicher Herr wird mich doch nicht anlügen! das ist ja nicht zum glauben, und vom Herrn Pater Otto schon ganz gewiß nicht. Besinnen Sie sich einmal, gnädiger Herr, es wird Ihnen gewiß einfallen, daß Sie den Hochwürdigen eingeladen gehabt haben, und nachher haben Sie’s halt vergessen. Ja, wie’s halt geht!“

Sperber sah den Kutscher überrascht an, der ihm in seiner leutseligen Schlauheit offenbar eine Handhabe bot, sich aus der Verlegenheit zu ziehen. Es war wohl das Gerathenste sie anzufassen.

„Ja ja,“ sprach er leise, „mir scheint, Du hast Recht. Ich besinne mich . . .“

„Na, da sehen Sie’s, gnädiger Herr! Und ich bin froh darüber.“

„Was, froh? wieso?“

„No, ich mein’ nur, es war recht fidel auf unserm Bock. Der Hochwürdige hat so seine Geschichten erzählt und war so gut aufgelegt . . . noch besser, als damals, wissens, wo ich ihn zum ersten Mal neben mir auf dem Bock gehabt hab, selbigs Mal im Winter nach dem letzten Maskenball im Theater an der Wien.“

„Ihr seid seitdem wohl gute Freunde?“ fragte Sperber.

„Na, mit Unterschied, gnädiger Herr, und mit allem schuldigen Respekt. Aber wahr ist’s, der Pater Otto hat mir seitdem viel Guts erwiesen. Er hat meinem Bruder, den kein Mensch mehr hat haben wollen, weil ihm einmal was durch’s Gewissen gefallen ist und er fünf Monat dafür im Kriminal hat sitzen müssen . . . ja, dem hat er eine Stelle verschafft als Kutscher in der Stiftskellerei. Viel hat er da gerad’ nit, aber er kann davon leben und braucht nit zu stehlen, was ihm sonst wohl kaum erspart worden wär. Und meine Frau Mahm hat der Pater Otto auf dem Sterbebett getröstet, obwohl sie keine schöne Krankheit gehabt und sich lang hat quälen müssen. Ich darf ihm das nicht vergessen.“

Edgar trat ganz nahe auf den Fiaker zu, unwillkürlich ballten sich seine Fäuste und er sah ihm Aug in Auge, als wollt’ er ihm an die Gurgel springen.

Schani stellte den Eimer bei Seite, richtete sich auf, krempelte die Hemdärmel über die haarigen Unterarme herab und den wüthenden Blick des Barons aushaltend, seinen Verdacht aus seinen Augen herauslesend, sprach er: „Der gnädige Herr thun mir Unrecht. Ich hab’ den Pater Otto von Herzen gern, aber verrathen hab’ ich nix! Ich nix! Das wär’ mir nicht zugestanden . . . und wär auch nicht nöthig gewesen. Der Hochwürdige merkt so was ganz allein!“

Edgar hatte genug von dieser Unterredung. Er wandte sich jach ab und ging davon. Nur an der Stallthür kehrt’ er sich auf der Schwelle noch einmal rasch um, weil er das Gesicht des Fiakers sehen wollte, ob dieser sich nicht hämisch verriethe.

Aber Schani, der sich gelassen den Rock anzog, verbeugte sich nur noch einmal und recht ehrerbietig und: „Seien Sie nicht bös, Herr Baron!“ sprach er treuherztg. „Glauben Sie mir altem Esel, es ist so besser. Auch für Sie, Herr Baron! Es wär’ doch schad’ um das Madel gewesen, um so ein Prachtmadel! Meiner Seel’!“

Und er wandte sich rasch um, als hätt’ er hinter den Pferden was vergessen. Edgar war schon zum Stall draußen und eilte nach der Küche.

[803] Strahlenden Angesichts vor der lohenden Flamme empfing ihn die Frau Wirthin. Ohne sich in emsiger Hantirung des Kochlöffels dabei zu unterbrechen, bedankte sie sich ein übers andere Mal für die Freud und Ehre, die ihr unverhofft erwiesen wurde.

Das Hereinplatzen Pater Otto’s in die mißrathene Landpartie hatte also zum Mindesten Eine Menschenseele glückselig gemacht.

Denn, daß sie einen geistlichen Herrn vom Stifte (na ja, der Name thut nichts zur Sache), daß sie gar den Herrn Pater Bibliothekar, der auch so manche weltliche Angelegenheit fürs Kloster zu regeln hatte und in der Gegend wohl bekannt schien, daß sie den bewirthen durfte, das brachte sie vor Freuden außer sich.

An der Wirthin lag’s wahrlich nicht, wenn Edgar von Sperber mit diesem Mittagsmahl nicht zufrieden war. Das Huhn, das sie jetzt für ihn an den Spieß steckte, wär’ ihm ohne des Paters Tischgenossenschaft niemals aufgetragen worden.

Er aber schritt ungerührten Herzens aus der glühenden Werkstatt gastronomischer Meisterwerke, denn sein Kopf war allzu sehr von der einen Frage eingenommen, ob ihn die Geliebte oder der Kutscher betrogen habe? Daß Pater Otto selbst hinter ihre Schliche gekommen sei, ohne andere Hilfe als die unbewußten Zeichen, die ein erregtes Mädchen ihm gewiesen, und seinen geschulten Spürsinn, das wollte dem Ketzer Edgar nicht einleuchten.

Und doch war es so. In seiner Herzensqual und unter dem Eindruck eines abscheulichem Argwohns, erschien ihm Fahrt und Mahlzeit, Leben und Lieben, das schöne Wien und die geliebte Bianca selbst verleidet.

Er wollte, da er in die Wirthsstube trat und des blassen Mädchens fragende Augen auf sich gerichtet sah, dem Geistlichen gleich jetzt das Messer auf die Brust setzen.

Aber eh’ es zum Aussprechen kam, wies Pater Otto auf die dampfende Suppenschüssel, die hinter dem Baron herein getragen und triumphirend mitten auf den Tisch gepflanzt wurde, und er rief glänzenden Angesichts: „Siehe, da nahet Speise für den Gerechten wie für den Sünder! Greifen wir dankbar zu und lassen es uns recht gut schmecken! Nachher reden wir in Gottes Namen weiter, so viel Ihr Beide begehrt!“

Damit bekreuzte er sich und sprach stehend mit tonlos sich regenden Lippen sein Tischgebet.

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüthen.

Weihnachtsliteratur. Prachtwerke. Nur wenige neue Erscheinungen von Prachtwerken bietet der Buchhandel in diesem Jahre dem Büchermarkte dar, aber was der Menge abgeht, ist dem Werthe zu Gute gekommen, und namentlich die „Neuen Folgen“ einiger schon im vorigen Jahre von uns empfohlenen Werke beweisen das Gesagte.

Obenan steht die Neue Folge der im Verlage von Mitscher und Röstell herausgegebenen „Auswahl aus Chodowiecki’s schönsten Kupferstichen“ (135 Stiche auf 30 Kartonblättern, nach den zum Theil sehr seltenen Originalen in Lichtdruck ausgeführt von A. Frisch in Berlin). Dieselbe Sauberkeit, Treue nud Sorgfalt, die wir an der Ausgabe des vorigen Jahres rühmten, weist auch die Neue Folge auf, deren durch ihre Seltenheit hervorragendste Perle das Portrait der Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine von Preußen, der Gemahlin des Prinzen Wilhelm V. von Oranien ist. Diesem charakteristisch und fein ausgeführten schönen Portrait reiht sich würdig der „Abschied des Calas von seiner Familie“ an. Chodowiecki begründete durch dieses Oelgemälde, das er 1767 in der Größe des Originales zweimal in Kupfer stach, seinen Ruf. Ferner zeigt diese Neue Folge eine Anzahl jener kleinen geistvollen, flüchtig hingeworfenen, aber ungemein charakteristischen Figuren, die Chodowiecki in den Plattenrand radirte, aber meist nach wenigen Abdrücken ausschleifen ließ. Nur Wenigen dürften diese reizenden „Spielereien“ bekannt sein, die doch echte, rechte Kunstwerke sind, welche der Dunkelheit entrissen zu haben, ein großes und anerkennenswerthes Verdienst der Verlagsbuchhandlung ist. Die Mappe – in der geschmackvollen Ausstattung der vorjährigen – bietet in ihrem Inhalte dem künstlerischen Feinschmecker wie dem Kunstliebhaber eine Fülle reinen und schönen Genusses.

Eine andere Neue Folge ist der diesjährige, zweite, Jahrgang der „Münchener Bunten Mappe“ (München, Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft), zu der Münchener Künstler, Dichter und Schriftsteller ihr Bestes in Bild und Wort beigesteuert haben. Entzücken einerseits die reizenden Frauenköpfe von Defregger, Lenbach, F. A. Kaulbach, Löfftz etc., die anmuthigen Mädchengestalten von Herterich, Seifert, Papperitz etc. und die prächtigen Genrebilder von Raupp, Prölß, Fröschl etc., so fesseln uns andererseits die geist- und schwungvoll geschriebenen litterarischen Beiträge von Pecht, Maximilian Schmidt, Gregorovius, Graf Schack, Holtzendorff, F. v. Reber, Paul Heyse und die köstlichen Dichtungen von Julius Grosse, Wilhelm Hertz, Martin Greif, Karl Stieler, Lingg, Scherer etc. Aus diesem Reichthume greifen wir auf gut Glück das anmuthige Genrebild „Hänschen im Hemdchen“ von Karl Fröschl heraus (vergl. S. 801); die tiefsinnigen und zarten Beziehungen Hänschens zu einem alten Storche werden mit frischem Humor in dem hübschen Gedichte, welches dem Bilde beigegeben ist, näher erläutert:

Hänschen im Hemdchen
Verwundert sich sehr,
Wer der Herr Langbein
Dort oben denn wär’?
Sperrt auf die Aeugelein
Und auch das Mäulchen sein,
Ei, das ist wunderlich –
Hänschen im Hemdchen!

Hänschen im Hemdchen
Hat großen Verstand;
Guckt noch ein Weilchen
Und hat ihn erkannt.
Der hat ihn hergebracht,
’s war in der Frühlingsnacht,
Hat in das Gras gelegt
Hänschen – im Hemdchen?

Es ist eine vornehme Gesellschaft, die man in dieser „Bunten Mappe“ trifft, eine Gesellschaft, die mit Geist, Anmuth, Witz und Gemüth aufwartet und ein Werk ins Leben gerufen hat, das ihr wie dem bayerischen Athen an der Jsar zu hoher Ehre gereicht.

Wie die Münchener Künstlergesellschaft sich zu gemeinsamem fröhlichen Schaffen zusammeugethan, so hat auch die Wiener Genossenschaft der bildenden Künstler sich zu gemeinschaftlichem Unternehmen vereinigt, indem sie im Verlage von R. Lechner’s Hof- und Universitätsbuchhandlung das „Album in Bild und Schrift“ herausgiebt, das in tadelloser und sorgfältigster Ausführung 12 Radirungen und 18 mit Randzeichnungen verzierte Textblätter enthält. Auch hier offenbart sich das Bestreben, das Beste in ihrer Kunst zu bieten, und es würde schwer fallen, einem der Meister allein die Krone zuzusprechen. Die Bilder eines Defregger, Karger, Fröschl, Friedländer, Lichtenfels, Pausinger, Schäffer, Ungcr sind ebenbürtig den im Faksimile wiedergegebenen Texten von Rosegger, Baumbach, Anzengruber, Hamerling, Bauernfeld, Uhl u. A., und das Ganze ist nicht nur von hohem künstlerischen Werthe, sondern bietet auch Unterhaltung wie Anregung für den Laien.

Ein drittes gemeinsames Unternehmen ist die „Spanische Künstlermappe“, welche zu Gunsten der durch Erdbeben in Spanien Heimgesuchten von der Prinzeß Ludwig Ferdinand von Bayern und Maria de la Paz, Infantin von Spanien, herausgegeben ist (Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft, vormals Friedrich Bruckmann, in München). In klaren und schönen, getönten Lichtdrucken finden wir hier die Werke spanischer Künstler wiedergegeben, die zum Theil, wie Fortuny und Andere, unseren Lesern keine Fremden mehr sind und die ihren Ruf weit über die Grenzen ihres Vaterlandes hinausgetragen haben. Es sind Oelbilder, Aquarelle, Bleistift- und Kreidezeichnungen, die alle in charakteristischer und pointirter Weise spanische Typen zur Erscheinung bringen und unsere ganze Bewunderung erregen müssen.

Diesen genossenschaftlichen Unternehmungen stellen wir das großartige Werk eines einzigen Mannes gegenüber, eines Mannes allerdings, der bestimmt ist, einen Kaiserthron zu besteigen; wir meinen die „Orientreise“ des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich (Wien, Verlag der Hof- und Staatsdruckerei), ein reiches, lebendig und warm geschriebenes Werk voller Belehrung, das aber auch jener Unterhaltung nicht ermangelt, welche geistvolle Schilderungen von Land und Leuten bieten. Das Märchenland des Orient, die ernsten Stätten des Grabes des Erlösers, die eigenartige Pracht und Schönheit der Landschaften des goldigen Ostens haben auf den fürstlichen Reisenden einen tiefen Eindruck gemacht, der sich in fesselnden Schilderungen niederschlägt und von der scharfen Beobachtungsgabe und umfassenden Bildung des Verfassers zeugt. Die dazu gehörigen Zeichnungen Franz von Pausinger’s sind in guten Radirungen und Holzschnitten wiedergegeben.

Ueber dem Neuen soll man die Werthschätzung des guten Alten nicht vergessen, und der Gegensatz des Romantischen am Anfang unseres Jahrhunderts zu dem Realistischen und Naturalistischen am Ende desselben ist ebenso wohlthuend wie lehrreich. Mit Freuden begrüßen wir daher die illustrirte Prachtausgabe „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph Freiherrn von Eichendorff – mit Heliogravüren nach Originalen von Philipp Grot Johann und Professor Edmund Kanoldt (Leipzig, C. F. Amelang’s Verlag), ein vornehm und geschmackvoll ausgestattetes Werk, das sich zahlreiche Freunde unter denen erwerben wird, die der derben Realistik eines Zola und seiner deutschen Nachäffer keinen Geschmack abzugewinnen vermögen.

Wirkt in den genannten Werken Wort und Bild einträchtiglich zusammen, so versucht ein unseren Lesern wohlbekannter Künstler, Paul Heydel, mit seiner „Heinrich von Kleist-Gallerie“ (Berlin, Verlag von Sophus Williams) allein durch die Beredsamkeit und treffende Charakterisirung seines Zeichenstiftes einen Erfolg zu erreichen. In 12 Kreidezeichnungen stellt er die Figuren und Hauptscenen aus Kleist’s Werken dar. Ein anderes Werk desselben Künstlers „Spatzen-Liebe und Leben“, dessen humoristische Zeichnungen Richard Schmidt-Cabanis mit witzigen, geist- und gemüthvollen Dichtungen begleitet, liegt bereits in 2. Auflage für den diesjährigen Weihnachtstisch bereit.

Ein ganz eigenartiges Werk ist das „Japan-Album“ von E. Klumsch (Leipzig, Verlag von M. Heßling). Es sind dekorative japanische Handzeichnungen, die ihrer Fremdartigkcit halber sicher Nachahmer finden und ihre Reproduktion an manchem Fries und mancher Wandfläche veranlassen werden.


[804] Kloster Eberbach. (Mit Illustration S. 793.) Zu den berühmtesten Weinorten Deutschlands gehört der Steinberg im Rheingau, ein etwa 24 Hektar umfassendes, von einer hohen Mauer eingeschlossenes Gebiet, auf dem das edelste Rheingaugewächs, der „Steinberger Kabinetwein“, reift. Dieses Weingut gehört zu dem Kloster Eberbach, und die Mönche dieses Klosters waren es, die um das Jahr 1177 auf dem Steinberg die Rebe pflanzten und dadurch den Grund zu dem rheinischen Edel-Weinbau legten. Später wurde diese Cisterzienser-Abtei noch durch ihre Gerbereien und Tuchmanufakturen, sowie durch den ausgedehnteu Mehlhandel mit den Niederlanden berühmt. Obwohl das Kloster im Bauernkrieg 1525 verwüstet wurde, zeugen noch heute die alten Gebäulichkeiten von dem Fleiß der Eberbacher Mönche und ihrer Geschäftskenntniß. 1803 wurde das Kloster aufgehoben und zunächst zu einer Irrenanstalt, später zu einer Strafanstalt umgewandelt. In einem idyllischen Waldthale gelegen, erfreut sich der interessante Bau, dessen stimmungsvolle Scenerie im Wintergewande unser Bild wiedergiebt, häufig des Besuchs der Touristen – das heißt nicht jener, die unter einer Rheinreise eine Dampferfahrt verstehen, wohl aber jener genußfreudigen Leute, die der Meinung sind, die ganze Herrlichkeit des Rheins läßt sich erst ermessen, wenn man an seinen Ufern Rast hält und die romantischen Seitenthäler durchwandert. In einem solchen verborgen liegt auch die alte Abtei Eberbach, die am besten von Hattenheim aus zu erreichen ist. Am stärksten wird sie besucht zur Zeit der berühmten Weinversteigerungen – im Frühjahr – bei denen jeder, ob Käufer oder nicht, gratis „kosten“ kann. Erwähnt sei noch der Ursprung des Namens: Ein Eber soll dem heiligen Bernhard mit dem Rüssel den Grundriß des zu erbauenden Ordenshauses vorgezeichnet haben. E. P.     


Auflösung des Kryptogramms „die Kreuzstichstickerei“ in Nr. 45: Man bezeichnet das Alphabet von A–Z mit den Zahlen 1–26 (i und j besondere Buchstaben). Hierauf zählt man alle jene kleinen Quadrate, welche ein Kreuzchen haben und die Zeichnung des Ornaments bilden, von einem schwarzen Quadrat zum andern ab. Man beginnt demnach bei dem gekreuzten Quadrat in der 6. Reihe von oben, 6. Reihe links. Folgt man beim Abzählen der Zeichnung des Ornaments, so giebt die Zahl der Kreuze von einem schwarzen Quadrat zum andern den Buchstaben an, der die gleiche Zahl im numerirten Alphabet hat. Aneinandergereiht geben diese Buchstaben den Satz: „Sich regeb bringt Segen“. S. Atanas.     


Inhalt: Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 789. – Erste Liebe. Illustration. S. 789. – Römische Cäsaren. Von Johannes Scherr. II. Tiberius (Fortsetzung). S. 795. – Vor fünfzig Jahren. Zur Erinnerung an die Gründung der ersten deutschen Eisenbahn. Von Hugo Marggraff. S. 797. Mit Illustrationen und zwei Portraits S. 797 und 798. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen (Fortsetzung). S. 799. – Blätter und Blüthen: Weihnachtslitteratur. S. 803. – Kloster Eberbach. S. 804. Mit Illustration S. 793. – Auflösung des Kryptogramms „die Kreuzstichstickerei“ in Nr. 45. S, 804.



–– Wie schaffen wir unsern Kindern gute und billige Lektüre? ––
Wichtig für Eltern und Erzieher!

Die Universalbibliothek für die Jugend

gibt eine Auswahl der besten und bekanntesten Jugendschriften in hübschen neuen Ausgaben
zu billigen Preisen
von 20 Pfennig an bis höchstens 1 Mark und 20 Pfennig.

Jeder Band enthält mehrere Abbildungen in Holzschnitt. – Jedes der nachstehend aufgeführten Werke ist einzeln geheftet oder gebunden zu den beigesetzten Preisen zu haben.

[ Verlagswerbung Gebrüder Kröner. Hier nicht dargestellt. ]


Sämmtliche in die „Universalbibliothek für die Jugend“ aufgenommenen Werke sind von bewährten Pädagogen und Jugendschriftstellern ausgewählt, resp. bearbeitet.
Die Einbände in rother Leinwand mit Schwarz- und Golddruck geben den Büchern ein hübsches, festliches Aussehen.
Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich unter Beifügung des Betrags
(in Kassenscheinen oder Briefmarken) an die Verlagsbuchhandlung von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.