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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[681]

No. 42.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.


Grüß’ Dich Gott, Finkenbauer! Schaust Dir Dein’ Hof an!“ rief der Jäger, der von den Bergen her des Weges kam, dem Bauer zu, welcher mit gekreuzten Armen, die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen, am Zaune seines Gehöftes lehnte. „Aber hast schon Recht! Da is auch ’was dran zum Schauen!“

Damit hatte nun wieder der Jäger Recht; denn der Finkenhof mit dem stattlichen, zweistöckigen Wohnhause, dessen braunrothes Dach die mit Schnitzwerk gezierten Balken weit hinausreckte über die Giebelwand, mit dem hübschen, blaßblau bemalten Austraghäuschen, mit dem Gesindetrakte, mit dem Back- und Waschhause, mit der eigenen Schmiede, mit den Stallungen, Scheunen, Heustadeln und Holzschuppen, bildete gleichsam ein Dörflein inmitten des Dorfes. Ein langer, brauner Staketenzaun mit einem breiten Gitterthore und einem kleinen, zum Wohnhause führenden Pförtchen schied das Gehöfte von der Straße; ein gleicher Zaun umhegte den an die Rückseite des Hauses sich anschmiegenden Gemüsegarten, während graue Bretterplanken die hügelanziehenden Wiesen von den Nachbarhöfen trennten. Höher und höher stiegen diese Planken empor, bis sie im dunklen Wald der steilen Berge sich verloren, die mit ihrer wildzerrissenen Kontour in weitem Bogen das Dorf umspannten. Dicht und weiß lag noch der Schnee auf allen Felsenkuppen, und wie mit bleichen, eisigen Fingern griff er durch alle Schluchten und Schrunden niederwärts gegen das Thal. Die Almenlichtungen, welche sich zwischen Wald und Felsen dehnten, waren wohl zum größten Theile schon frei von Schnee, aber ihre Grashänge zeigten noch ein mattes, todtes Gelbgrün; die Lärchenbestände jedoch, die sich von ihnen dem dichteren Gehölze zusenkten, waren bereits von zartem, lichtem Grün leicht überhaucht, und auch die tiefer stehenden Tannen begannen schon jene hellere Färbung anzunehmen, welche die frischen Triebe des Frühjahrs den dunklen Nadelbäumen verleihen. An den Kastanienbäumen aber, welche das Wohnhaus umringten, war voll und dicht bereits das Laub ersproßt – und die jungen Blätter schwankten und rauschten im lauen Frühlingswinde.

Mit ihrem Rauschen vermischte sich das fröhliche Schwatzen der Sperlinge, das Gurren der Tauben und das Glucksen und Gackern der Hühner. Aus der Schmiede tönte klingender Hammerschlag und aus den Ställen das Brüllen der Rinder und das Klirren der Ketten. Knechte und Mägde kreuzten in geschäftiger Eile den Hof, und aus einer offenen Scheune klang, von einer frischen, kräftigen Mädchenstimme gesungen, die trauliche Weise eines volksthümlichen Liedes. Ein röthlich goldiges Licht lag ausgebreitet über dieses friedsame Bild; denn die Sonne war schon dem Sinken nahe. In zarter Bläue blickte der Himmel hernieder durch die lautere, würzige Lenzluft, in die sich vom Kamine des Finkenhofes der Rauch emporkräuselte mit langsamen Wirbeln.

Ein zärtlich stolzer Blick war es gewesen, mit dem der Bauer auf die Worte des Jägers hin sein Gehöft überflogen hatte, und während er nun lächelnd vor sich

Italienische Traubenhändlerin. Nach dem Oelgemälde von A. Charodeau.
Nach einer Photographie im Verlage von Ad. Braun u. Co. in Dornach (Vertreter Hugo Grosser in Leipzig).

[682] hinnicktc: „Ah ja – der Finkenhof –“ schien die hohe, stramme Gestalt des etwa zweiundvierzigjährigen Mannes, der den um acht Jahre jüngeren Jäger ohnedies um eines halben Kopfes Länge überragte, noch zu wachsen.

Dieser Bauer paßte so recht zu seinem Hofe; er machte ein gar gefälliges Bild. Auf den breiten, massiven Schultern saß ein energischer Kopf mit einem scharf geschnittenen Gesichte, darin unter dichten Brauen zwei kluge, lebhafte Augen saßen; sie waren braun wie das Haar, das die knochige Stirn frei ließ, während es mit glatt gestrichenen Strähnen die Ohren völlig verhüllte; ein kurzer, dicht gekräuselter Bart deckte die Wangen; Kinn und Oberlippe waren glatt rasirt; die Lippen waren schmal und beinahe herb gezeichnet, aber die weichen Faltenzüge zu beiden Seiten des Mundes ließen errathen, daß diese Lippen ebenso geübt waren in guten, freundlichen Worten wie im strengen Befehlen.

Solch freundliche Worte waren es auch, mit denen er sich jetzt zu dem Jäger wandte, dessen Gestalt sich ansah, als wollte sie den Beweis führen, daß Knochen und Sehnen zur Bildung eines menschlichen Körpers völlig ausreichend wären. Wenn der Jäger den Kopf zur Seite drückte oder den Arm beugte, meinte man, es müßte dieser Kopf und dieser Arm im nächsten Augenblicke wie von Federkraft wieder in die gerade Lage zurückgeschnellt werden. Fingerdicke Sehnen zogen sich am Halse unter dem schwarzen, struppigen Vollbarte hervor gegen die Schultern und gegen die braune Brust, welche das graue, weit offene Wollhemd tief entblößte. Einem Sehnenbündel glich auch das schwarz behaarte Gelenk der nervigen Hand, die den mächtigen Bergstock gefaßt hielt. Die mit blanken Kappennägeln beschlagenen Schuhe, in denen die nackten Füße staken, mochten nach Pfunden wiegen. So weit die knochigen Kniee zwischen den grauen Wadenstrümpfen und der steifen, verwehten Lederhose sichtbar waren, zeigte sich ihre dunkle Haut bedeckt mit zahlreichen Narben. Die Flügel der dicken, ruppigen Lodenjoppe standen wie zwei Brettstücke von den Hüften ab, und nur widerwillig krümmte sich das rauhe Tuch um die Schultern, welche die Last des bauchig angepackten Rucksackes und der schweren, dickläufigen Büchse nicht zu fühlen schienen. Schief über den kurz geschorenen, schwarzen Haaren saß ein mürber Filzhut, dessen einstiges Grün sich in Wetter und Sonne zu einem gelblichen Braun gewandelt hatte. Ueber die schmale Krempe nickte eine Spielhahnfeder von seltener Größe gegen die Stirn, unter welcher zwei stahlgraue Augen blitzten, aus denen Verwegenheit, Uebermuth, ehrliche Geradheit und harmloser Frohsinn in unbeschreiblicher Mischung sprachen. Scharf hob sich die gekrümmte Nase aus den hageren, sonnverbrannten Wangen und über den starken, spitz aufgedrehten Schnurrbart, unter welchem zwei Lippen lachten, deren frische, schwellende Röthe in seltsamem Widerspruche zu der nervigen Hagerkeit der ganzen Erscheinung stand.

Bei all der starren, trotzigen Kraft, die aus dem Aeußern dieses Menschen sprach, waren seine Bewegungen von einer lebhaften Geschmeidigkeit. Nicht nur sein Mund, alles an ihm redete mit, während er so stand und auf des Bauern Frage, woher er käme, Antwort gab:

„In der Früh – weißt – da hab’ ich a bißl nach meine Auerhähn’ g’schaut, ob s’ noch sauber falzen, und tagsüber nachher hab’ ich meine Jagdsteig’ a bißl ausputzt, damit mein junger Herr Graf a bessers Marschieren hat, wann er jetzt zum Hahnfalz kommt. Weiß dengerst net, warum er so lang ausbleibt. Vor zwei Tag is er schon ang’meldt g’wesen und droben im Schlößl is schon lang alles herg’richt für ihn.“ Dabei deutete er über die Schulter hinweg nach dem kleinen Schlosse, das von einer unfernen Anhöhe mit seinen Thürmchen und Erkern einherwinkte über die Dächer des Dorfes. „Es wär’ an der Zeit, daß er käm’ – sonst laßt’s aus mit’m Falz. Wir haben ja heut schon den vierundzwanzigsten April. No, vielleicht kommt er morgen – und da schießt er nachher doch noch seine sechs, acht Hähn’ – da steh’ ich gut dafür.“

„Oho, oho, ich saget gleich gar: a Dutzend!“ lachte der Finkenbauer.

„Na, na, net an einzigen laß’ ich abhandeln! Mein Jagderl, das steht jetzt da, daß man a Freud’ dran haben kann. Freilich – Müh’ g’nug hat’s mir schon g’macht, und d’ Füß’ sind mir schier gar kürzer worden um an halben Schuh, vor Laufen und Laufen. Wie ich her’kommen bin vor sechs Jahr’, da hat im ganzen Bezirk kein Hahn net g’falzt, zwei einschichtige Hirscherln sind um einander g’schlichen, und alle heiligen Zeiten amal hast an guten Gamsbock g’sehn. Und jetzt! Im vorigen Jahr schon hat der junge Herr Graf fünf Hirsch’ g’schossen, und kein’ unter zehn End’ – und neunzehn teuflische Gamsböck’. Aber weißt – ich hab’ halt sauber g’macht – weißt – mit die Lumpen. A jeder hat’s lassen müssen, der’s früher ’trieben hat. G’rad ein’ – ein’ hab’ ich noch auf der Muck! Aber der lauft mir schon noch amal überzwerch – wie die andern alle.“

Der Jäger überhuschte das Gehöfte mit einem lauernden Blicke, der den Bauer stutzig zu machen schien; doch eh er noch die Frage anzubringen wußte, die ihm auf den Lippen lag, sprach der Jäger schon in raschen Worten weiter: „No – aber – was wahr is, is wahr – das muß ich sagen: mein’ Rennerei allein hätt’s auch net ausg’macht. Er hat sich’s schon recht a Trumm Geld kosten lassen – für Winterfutter, Salzlecken, Gangsteig’ und Jagdhütten – der alte Herr Graf –“

„Unser Herrgott hab’ ihn selig,“ unterbrach der Bauer. „Das war a ganzer, a richtiger Herr, der auch den Bauer ’was hat gelten lassen. Hat ihn aber auch a jeds gern g’habt. Und ’s ganze Ort is allweil z’sammg’rennt, wenn er ’kommen is im Frühjahr, aus der Münchnerstadt, mit der Frau Gräfin und mit seine lieben Büberl. Es hat aber auch ’s ganze Ort mittrauert, wie ’s ihn ’naustragen haben vor zwei Jahr’ – mit die Füß’ voraus. Schad’ drum is g’wesen, schad’, recht schad’ – denn daß ich’s noch amal sag – das war a ganzer, a richtiger Herr.“

„Und der Junge, weißt, der schlagt ihm nach. Das is Dir schon so a lieber und a feiner Mensch. Und so seelengut kann er Dir sein – ja – da könnt’ ich Dir gleich hundert Sachen erzählen. Was ich halt hab’, das hab’ ich von ihm – mein’ Hund, meine G’wehr’, mein kleins Häusl – alles halt, alles! Und a Jaager mein Lieber, a Jaager! G’rad sehen sollst ihn, wann er so draußen is mit mir! Weißt – d’ Jaagerei is halt sein’ liebste Sach’. Da is ihm kein’ Wand net z’gach und kein Graben net z’tief. Und wann’s dazu kommt, daß er ’s Büchsl an sein’ weißen Backen druckt, da heißt’s bei ihm: schnallen und fallen! Drum hab’ ich aber auch mein’ Freud’ dran. Durch’s Feuer ging’ ich für ihn – und wann er’s haben wollt’, reißet ich den Teufel in der Mitt’ aus einander – ja – ich schon!“

Dabei machte der Jäger eine Faust, als hätte er den schwarzen Widersacher bereits auf Armeslänge vor sich. Der Finkenbauer schaute ihm ins blitzende Auge und lachte; dann begann er – wie es jedoch schien, mit einiger Zurückhaltung – in das Lob des jungen Grafen einzustimmen und sagte unter Anderem:

„So viel gern is er allweil da g’wesen in mei’m Hof, wie er noch a Bürschl von a zwölf, vierzehn Jahr’ g’wesen is. Und gar arg gute Kameradschaft hat er g’halten mit mei’m Ferdl.“

„Was is denn,“ unterbrach der Jäger, „laßt sich der Ferdl net bald wieder anschaun im Ort?“

„Ja, ja, in der nächsten Woch’, da kommt er,“ erwiderte der Bauer mit eifrigen Worten. „Vor a sechs Wochen is er ein’zogen worden nach der Münchnerstadt als Unterofficier – no – und in die nächsten Tag’ wird er wieder frei – und da hab’ ich ihm g’schrieben, er soll a Zeitlang bei uns da bleiben, vor er wieder nach Bertlsgaden geht zu seiner Schnitzerei. Mein Gott – am liebsten hätt’ ich ihn ganz bei mir. Aber weißt ja selber, wie er is! Daherin hat er kein’ Werkstatt und kein Werkzeug – und wann er ’s Holz und ’s Schnitzmesser net in die Händ’ haben kann, nachher is ihm net wohl.“

„Ja, ja, das liegt halt so in ihm. Aber es kann ihm auch net leicht einer an in der Schnitzerei,“ betheuerte der Jäger. „Weißt, wann er oft so da g’wesen is in die letzten Jahr’ und is mit mir droben g’wesen am Berg – und wann wir nachher so schön stad um einander g’stiegen sind, da hat er allbot was auf’klaubt vom Boden, a Wurzen oder a Trümmerl Holz, und hat dran um einander bosselt mit sei’m Feitl[1], und kaum daß ich’s versehen hab’, hat er schon a Köpfl, a Mandl oder a Viecherl fertig g’habt. Ja – a ganze Sammlung hab’ ich daheim in meiner Stuben. No – und da freut’s mich recht, daß er sich wieder amal anschaun laßt, der Ferdl, weil er gar so a sauberer, unterhaltsamer und so a rechtlicher Mensch is, und weil ich ihn gar so viel gern hab’.“

„Er is aber auch a Mensch zum Gernhaben,“ stimmte der Bauer mit einem Lächeln stolzen Wohlgefallens bei. „Und lieber [683] kann man sein’ Brudern dengerst nimmer haben, als ich den Ferdl hab’. Is schon wahr – ganz warm geht’s mir allweil von einander in mir drin, wann er da is. Ja – und haben könnt’ er von mir, was er g’rad möcht’. Weißt – und drum hab’ ich auch schon öfters dran ’denkt – bei uns herin wird’s ja auch von Jahr zu Jahr besser mit die Sommerleut’ – no – und da ließet ich ihm a saubers Häusl hinsetzen, hart an d’ Straßen, und da könnt’ er sich nachher einrichten auf’n Glanz und könnt’ a Werkstatt aufmachen und an Laden. Meinst net?“

„Da hast Recht! Da hast Recht! Bist halt a Teufelskerl, Finkenbauer – ich sag’s allweil! Und schau – was Schöners kann’s ja nie net geben in der Welt, als wie wenn Geschwisterleut’ so zu einander halten. Unser Herrgott hätt’ aber auch ’s Kleeblatt net schöner z’sammtragen können, als wie Dich, Dein’ Ferdl und die Hanni dazu. Aber sag’, was is denn mit Deiner Schwester, wie gcht’s ihr denn? Ich mein’, sie müßt’ bei unserer Frau Gräfin drin in der Stadt a schöns Bleiben haben. Und hinpassen thut s’ auch an so an Platz, Dein’ Hanni – weißt – sie is ja selber so fein und so gar net bäurisch – ja – könnt’ schier gar selber a Herrische sein. Ich hab’ mir s’ diemal gar net anz’reden traut, wenn s’ mir so begegnet is in ihrem stadtischen G’wandl und mit ihrem Muttergottesg’sichtl. Wie geht’s ihr denn, han?“

Der Bauer schwieg; sein Gesicht hatte den Ausdruck sorgender Betrübniß angenommen; mit ernsten Augen blickte er nieder und nickte dazu mit dem Kopfe langsam vor sich hin.

Der Jäger schien diese Veränderung nicht zu gewahren und auch auf seine Frage keine Antwort zu erwarten. Seit geraumer Zeit schon war er nur mit getheilter Aufmerksamkeit bei der Sache gewesen. Immer wieder waren seine Blicke hinüber gewandert zu der nahen Scheune, und immer war dabei ein so seltsam unruhiges Zucken über seine Lider und Wangen gehuscht. Während nun der Bauer schwieg, hob er lauschend den Kopf, als bemühe er sich, die Worte des munteren Gesanges zu verstehen, der aus dem Innern der Scheune tönte.

„Is jetzt das net die Emmerenz?“ frug er plötzlich. „Die singt ja heut’ drauf los, als ob s’ ’zahlt werden thät’ dafür!“

Seufzend blickte der Finkenbauer auf; sein herbgeschlossener Mund verzog sich zu einem leisen Lächeln, und während er eine dicke Rauchwolke vor sich hinpaffte, sah er mit zwickernden Augen auf den Jäger und sagte: „Hätt’ leicht g’meint, daß Du der Enzi ihr Stimm’ soweit schon kennst, daß D’ nimmer drum fragen mußt!“

„Hast g’meint?“ frug der Jäger ganz verwunderten Tones, indem er an seinem Rucksackriemen zu nesteln begann. „No weißt, von die paarmal her, wo ich d’ Emmerenz im letzten Sommer g’sehen hab’, droben auf der Alm, da kannst a Stimm’ gar leicht vergessen. Der Winter is gar lang.“

„Ja, ja,“ nickte der Finkenbauer, dessen Lächeln sich verstärkte. „Aber gelt, sauber kann s’ singen, mein’ Oberdirn’?“

„Ja – das muß man ihr zub’stehn, das kann s’!“ sagte der Jäger, während er zur Höhe blickte, als wäre vom Wetter die Rede. „Aber – ich mein’, Du wirst auch sonst kein’ Grund zum Klagen haben. Wenigstens hab’ ich d’ Emmerenz noch nie net anders g’sehn als mit rührige Händ’, allweil fleißig und allweil lustig bei ’r Arbeit.“

„Ja, was hast denn?“ lachte jetzt der Finkenbauer laut auf. „Lobst ja das Deandel über’n Schellenkönig!“

„Gar net, gar net,“ plauderte der Jäger mit dem möglichsten Anscheine von Gleichgültigkeit vor sich hin.

„Geh, geh weiter, thu’ net gar a so!“ schmunzelte der Bauer. „Es is ja doch kein’ Schand’ net, wenn Du ’s einb’stehst, daß D’ seit dem letzten Frühjahr schon der Enzi z’ G’fallen gehst.“

„Ich?“ fuhr der Jäger auf und machte zwei Augen, groß und rund wie Thalerstücke. Dann verzog er die Nase und schüttelte den Kopf: „Na – na – das Deandl wär’ mir für mein Gusto schon alles z’ viel g’schnappig.“

„No – da schau – und ich hätt’ g’meint, da passet s’ g’rad zu Dir. Wenigstens wärst Du der Rechte, der ihr ’nausgeben könnt’ mit gleicher Münz’.“

„Meinst? Meinst? Meinst?“ lachte jetzt der Jäger, daß ihm die Schultern wackelten und die Thränen in die Augen sprangen.

Und dazu klang aus dem Innern der offenen Scheune die frische muntere Stimme der Emmerenz:

„Gasseöngehn is mein Freud’,
Gasselngehn hab’ ich gern,
Wann schön der Mon’schein scheint
Und blitzen d’ Stern’!

Wann ich z’ Nacht munter wer(d)
Und Buaben singen hör’,
Möcht’ ich halt aussi glei’,
Wär’ gern dabei!

Wann ich kein Schneid net hätt’
Hätt’ ich beim Tag mein G’frett,
Hätt’ ich bei’r . . .“

Da plötzlich brach die Stimme mitten im Gesange ab, ein halb erstickter Aufschrei wurde hörbar, ein Gepolter, dann ein klatschender Schlag – und gleichzeitig ließ sich die zornige Stimme des Mädchens vernehmen: „Da hast a Bußl, Du Haderlump, Du heimtückischer!“

Mit gerunzelter Stirn blickte der Finkenbauer nach der Scheune, aus deren Thor ein Knecht getreten war, der außer dem unsauberen, an den Ellbogen zerrissenen Hemde nur eine verblichene, vielfach geflickte Soldatenhose am Leibe trug. Die lautlosen Tritte der nackten Füße verliehen seinem Wesen etwas Schleichendes. Auch ging er leicht gebückt und hielt dabei den Kopf mit den borstig abstehenden, semmelfarbigen Haaren zwischen die Schultern gezogen. Das Gesicht mit dem starken Schnurrbarte, dessen spiralenförmig gedrehte Spitzen bis auf die Brust niederhingen, hätte man hübsch nennen können, wenn ihm nicht der kleine, schiefe Schnitt der Augen einen Ausdruck von lauernder Verschlagenheit gegeben hätte. Dazu war jetzt die eine Hälfte dieses Gesichtes unnatürlich geröthet – und der Bursche schien alle Eile zu haben, diesen rothen Backen in der Stallthür verschwinden zu lassen.

„He! Was hat’s denn da ’geben?“ rief ihm der Finkenbauer zu.

„Was wird’s ’geben haben? Nix!“ brummte der Knecht.

Schon wollte der Bauer erwidern, als ein scharfklingendes Kichern ihn veranlaßte, nach dem Jäger umzublicken – und was er nun in den grauen Augen desselben funkeln sah, das war die Schadenfreude eines glühenden Hasses. Herb und schneidend klang auch das Lachen, mit welchem der Jäger jetzt dem Knechte zurief: „Ja, was is denn, Valtl? Mir scheint ja gar, Du hast den Sonnenschein ’kriegt, am Abend und unter’m Dach?“

Der Bursche erwiderte keine Silbe; einen stechenden Blick nur schoß er nach dem Jäger und verschwand dann in der schmalen Thür des Pferdestalles. Durch eine Spalte des Scheunenthores klang aber nun die streithafte Stimme der Emmerenz: „Gelt, Jaager, geh fein Du auch in’ Schatten. Weißt – d’ Sonn’ macht dürr – und schaust ja so wie so schon aus wie a Zwetschgen am Nicklstag!“

„Hörst es, die hat Dich g’schwinder derkennt!“ lachte der Finkenbaucr, und lachend stimmte der Jäger ein; aber das war nun wieder ein offenes, munteres Lachen, und hell und lustig klangen seine Worte, als er nach der Scheune zu rief:

„Geh, laß Dich doch wenigstens a bißl anschaun. Mußt ja heut’ sakrisch sauber sein, weil schon im Reden so süß bist, als wärst a halbes Jahr lang mit die Immen g’flogen.“

„Da kannst Recht haben!“ klang es aus der Scheune entgegen. „Aber weißt – wenn ich auch vom Honigmachen nix g’lernt hab’, könnt ich bei die Immen ’leicht was profitirt haben vom Stechen.“ Und kichernd schlugen die Worte des Mädchens über in Gesang:

„Der Immstock steht hinterm Haus,
D’ Imm’ fliegen ein und aus,
Büberl, gelt, rühr’ net dran,
Weil der Imm ’s Stechen kann!“

Ueberleitend in einen Jodler entfernte sich die Stimme gegen die Tiefe der Scheune.

Der Jäger aber sang lächelnden Mundes entgegen, freilich mit einer so sehr gedämpften Stimme, daß seine Worte nur dem Ohre des Bauern noch verständlich waren:

„Daß der Imm stechen kann,
Das schreckt mich weni’,
Wann der Imm g’stochcn hat,
Laßt er sein’ Höni’.“

Da schüttelte sich der Finkenbauer vor Lachen. „So! Sauber! So is recht – schön hin und schön her! A kleine Hacklerei, das hab’ ich allweil gern – das macht ei’m lachet, und ’s Lachen halt’ d’ Leber g’sund. Aber weißt ’was, Jaager? Ich mein’ [684] schier, wir hätten uns ganz trocken g'redt. Geh weiter, kehr' a bißl zu ins Haus, nachher trinken wir a Stamperl mit einander.“

„Ja, Du, da laß ich mich fein gar net nöten,“ lachte der Jäger, „weißt – ich hab’ allweil an rauchen Hals, der ’s Netzen vertragen kann.“

Der Weg durch die Gatterthür mochte ihm wohl als ein überflüssiger, zeitraubender Umweg erscheinen; so schob er seinen Bergstock durch die Staketen und sprang mit einem flinken Satze über den Zaun hinweg an die Seite des gastlichen Bauern.

Nun lenkten die Beiden um die Ecke des Wohnhauses, und da verhielt ihnen ein gar lieblicher Anblick die Schritte.

An der ganzen Länge des Hauses hin zog sich eine mit Holzplatten gepflasterte, gegen den Hofraum durch ein Geländer abgesperrte Terrasse. Bis unter das Dach war die Mauer überspannt von einem grünen Lattengitter, an welchem sich die knorrigen Ranken des wilden Weins, der in langen, grünbemalten Holzkisten wurzelte, zu einem dichten Netze verwebt hatten, aus dem nun die langen, weißlich-grünen Triebe stachelartig hervorstarrten. Wie glühende Augen aus dichtem Schleier, so funkelten die von der Abendsonne roth beleuchteten Fenster aus diesem Retzwerk, das ein schmales, laubenförmiges Dach über der offenen Thür bildete, zu welcher drei breite Stufen aus braungelben Backsteinen emporführten. Auf der obersten dieser Stufen saß ein Mädchen, welches kaum das sechzehnte Jahr überschritten haben konnte. Dicke braune Flechten umrahmtem, die rosigen Ohren fast verdeckend, ein feines Köpfchen von länglichem Oval. In dem halb kindlichen, halb jungfräulichen Gesichte mit dem schlanken Näschen, dem winzigen kirschrothen Munde und dem sanft aus den runden Wangen sich senkenden Kinne paarte sich gesunde Frische mit einem leichten Ausdrucke von Trauer oder Schwermuth. Vielleicht waren es aber auch nur die großen Rehaugen, die dem Gesichte diesen Ausdruck verliehen: sie bewegten sich so langsam, sie blickten so zag und schüchtern, sie erzählten von seltsamen, wunderlichen Gedanken und Träumen, die unter der runden, von dünnen Zaushärchen halb verschleierten Stirne leben und weben mochten, und waren anzusehen, als ob sie über alles zu erstaunen hätten, was ihnen auf ihren langsamen Wegen begegnete. Zu beiden Seiten des Mädchens lagen kurzgeschnittene, dunkelgrüne Tannenreiser über die Stufen gestreut, und in ihrem Schoße ruhte ein aus solchen Reisern geflochtener Kranz, der wohl zum Schmucke des nebenanstehenden Brettchems bestimmt war, das auf weißem Grunde in bunten Farben die schnörkelige Aufschrift: „Willkommen!“ trug. Dem Mädchen zu Füßen saßen zwei bausbäckige, von Gesundheit strotzende Kinder, ein Knabe von fünf und ein Dirnlein von etwa sieben Jahren. Sie lehnten sich mit den Aermchen über die Kniee des Mädchens; als dritter im Bunde hatte sich der schwarzzottige Hofhund zu ihnen gesellt, hatte den breiten, kurzschnauzigen Kopf unter dem einen Arme des Dirnleins durchgeschoben – und wie die beiden athemlos lauschenden Kiuder, so blickte auch er mit funkelnden Augen zu dem Gesichte des Mädchens empor, das seinen beiden Schützlingen von Berggeistern und Waldfeen erzählte. Mit rosigen Lichtern spielte die abendliche Sonne über die liebliche Gruppe, während durch den dunklen Flur das in der Küche flackernde Herdfeuer den Kopf, die Schultern und die der Fülle noch entbehrenden nackten Arme des Mädchens mit leuchtenden Linien umsäumte.

„Und so hat a jeder Stein sein’ eigenen Geist: der Kreidenstein, der Bluthstein, der Eisenstein, der Salzstein, der Marmelstein – und überhaupt a jeder – hat mein Vaterl g’sagt,“ so hörten Bauer und Jäger das Mädchen erzählen, als sie näher traten, ohne von demselben bemerkt zu werden. „Die Bäum’ aber und die Pflanzen und Bleameln, die haben Geisterinnen, wo man Feen heißt – ja – und die sind gar sanft und gütig gegen alle Menschen – hat mein Vaterl g’sagt – und bloß nachher werden s’ bös’ auf ein’, wenn einer aus Uebermuth ’neinschneidt in a Bäuml oder so a liebs Bleamerl z’samm tritt mit die Füß’. Und so giebt’s an Almrauschsey, an Enzianweibl und a Steinrautalf. Grad an einzigs von die Bleameln, das schöne, schöne Edelweiß, das droben wachsen thut, z’höchst auf die Berg’, das hat an Mannergeist, der’s hüten thut und b’schützen – und dem sein Nam’ heißt Edelweißkönig. Der hat a freundlichs G’sicht mit blaue Augen, an braunen Bart und braune Lockenhaar! Sein grüner Hut is ziert mit lauter Edelweiß, und ’s ganze G’wand is g’macht aus solche Bleamerln. Ja – und so viel sorgen thut er sich um seine Pflanzerln. Lang vor’m ersten Schnee schon kommt er aus’m Berg und deckt die Pflanzerln zu, daß keins derfrieren kann. Im Sommer nachher, hat mein Vaterl g’sagt, wenn’s lang net g’regnet hat und d’ Sonn’ so hin brennt auf die armen Bleamerln, daß alle schier verschmachten möchten, da holt er ’s Wasser aus die Bach’, damit er seine Pflanzerln gießen kann. Und nachher hat er so viel Freuden, wenn s’ recht schön frisch und weiß und sauber werden – ja – und weil er ’s ganz gut kennt, wie ’s Edelweiß den Menschen so viel g’fallt, drum führt er alle, die wo suchen gehn, unsichtbar an die Platzln hin, wo seine weißen Sternderln wachsen. Dieselbigen aber, wo mit die Bleamerln allein net z’frieden sind, wo die Pflanzerln mitsammt die Wurzen ausreißen, daß an so ei’m Platz kein Stammerl nimmer wachsen kann, die haßt er bis auf’s Blut, und als a Unsichtbarer stößt er s’ ’nunter über d’ Wand, daß s’ ganz derschmettert liegen müssen in der Tiefen – ja – zur Straf’!“

Ein tiefer, stockender Athemzug schwellte die junge Brust der Erzählerin, deren sanfte Stimme sich zu geheimnißvollem Flüstern gedämpft hatte.

Nun sie schwieg, rüttelte ein Schauer unheimlichen Grauens den Flachskopf des kleinen Dirnleins, fröstelnd zog das Kind die Aermchen enger an den Leib, so daß der zottige Hofhund, der dabei unwillkürlich in Mitleidenschaft gezogen wurde, ein röchelndes Knurren hören ließ. In dem frischen Gesichte des braunlockigen Knaben aber war keine Spur eines ängstlichen Empfindens zu lesen. Er hatte schmollend die Lippen aufgezogen, hielt die Augen gesenkt und runzelte nachdenklich die Stirn. Plötzlich warf er das Köpfchen auf und sprach mit kecker Stimme zu dem Mädchen empor. „Du – Veverl – wie kann man denn wissen, wie er ausschaut und was er thut, der Edelweißkönig – wann er allweil unsichtbar is?“

Drüben an der Hausecke stieß der Finkenbauer in lächelndem Vaterstolze dem Jäger den Ellbogen an die Rippen.

Veverl aber richtete ihre großen, träumerischen Augen mit vorwurfsvollem Blicke auf den kleinen, fürwitzigen Frager. „Ja, Pepperl, wie kannst denn jetzt so daherreden!“ schalt sie mit einer Stimme, deren wichtig thuender Ton ihren festen Glauben an die Wahrheit dessen verrieth, was sie den beiden Kindern erzählt hatte, fast mit den gleichen Worten, in denen es ihr vor Jahr und Jahr zu dutzendmalen von ihrem Vater erzählt worden war, im tiefen Bergwalde unter rauschenden Tannen.

„So hat mein Vaterl g’sagt –“ das war für ihr kindliches Gemüth ein Argument, welches keinen Zweifel duldete. Diesen Haupt- und Grundbeweis brachte sie nun auch dem Knaben gegenüber zur Anwendung und fügte erklärend bei: „Weißt, allweil is er ja net unsichtbar, der Edelweißkönig! Ja, kannst es glauben, Pepperl, er laßt sich schon diemal sehen – wenn auch grad net vor ei’m Jeden, der nur so daherlauft auf seine zwei Füß’. “

„Hast ihn Du – schon – amal – g’sehen?“ frug jetzt das blonde Dirnlein mit leise zitternder Stimme, während der Bruder noch immer aus schiefgehaltenem Kopfe mit mißtrauischen Blicken zu dem Gesichte des Mädchens empor zwinkerte.

„Na, Liesei – noch nie net!“ erwiderte Veverl. „Wie könnt’ ich ihn denn g’sehen haben! Da müßt’ ich ja z’erst sein Königsbleamerl g’funden haben! Ja, Pepperl – wart’ nur, wann amal groß bist, daß drauf kannst z’oberst auf die Berg’ – und wenn nachher ’s Glück will, daß D’ sein Königsbleamerl findst, nachher kannst ihn rufen, daß ihn selber siehst mit Deine eignen Augen – ja, und da bist nachher a g’machter Mann! Denn wer sein Königsbleamerl findt und tragt’s am Hut, dem kann in die Berg’ nix g’schehen, der kann sich net versteigen und net derstürzen. Und wo nur Einer in Noth oder G’fahr is droben auf die Berg’ und er ruft den Edelweißkönig an, mit sei’m Königsbleamerl in der Hand – da steht er nachher auf amal da vor ei’m und giebt ei’m alle zwei Händ’ und hilft ei’m aus der Noth.“

„Du – Veverl – an was kennt man denn das Bleamerl?“ frug das Liesei, dem die Augen vor Spannung und Erregung glühten.

„Du mein Gott – kennen thut man’s leicht, aber ’s Finden, weißt, ’s Finden, das is das Schwere bei der Sach’. Denn so a Bleamerl wachst in die ganzen Berg’ g’rad an einzigs alle Jahr’. Wen aber ’s Glück g’rad hinführt davor, der derkennt’s auf’n ersten Blick. Denn ’s Königsbleamerl, das is fünfmal so groß als wie an anders Edelweiß. In der Mitt’, da hat’s fünf graue Schöpferln auf ei’m einzigen Stiel, wie an anders Sterndel

[685]

Herbstgedanken.
Nach dem Oelgemälde von Helene Stromeyer.

[686] g’rad an einzigs hat – und rings drum ’rum, da stehen dreiß’g bluhweiße sammetne Strahlen.“

„Geh – das muß aber schön sein!“ seufzte das kleine Dirnlein.

„No, das glaub’ ich, daß so a Bleamerl schön is – wunderschön!“ betheuerte Veverl. „Ich selber hab’ freilich noch nie keins net g’sehn, aber mein Vaterl hat mir g’nau verzählt, wie’s ausschaut.“

Da legte Pepperl abermals die kleine Stirn in Falten und frug in beinahe drohendem Tone: „Is aber auch wahr, daß’s so a Bleamerl giebt?“

„No freilich!“ scholl jetzt von der Hausecke her die laute Stimme des Jägers, so daß die beiden Kinder erschrocken zusammenfuhren, während der Hofhund dem Jäger mit heulendem Gebell entgegenstürzte. Der Finkenbauer beruhigte das Thier, dann kam er mit seinem Gaste näher, der den verdutzt dareinschauenden Knaben lachenden Wortes ansprach: „No freilich is wahr, Du kleiner Thomasl, Du! Mir wirst es doch glauben! Weißt – ich hab’ selber schon eins g’funden, so a Bleamerl – ja. G’rad schad’ is, daß ich’s Dir nimmer zeigen kann – denn weißt, ich hab’s am Hut droben tragen, und da hat’s mir der Wind ’nunterg’weht über a Wand, daß ich’s nimmer hab’ finden können.“ Lachend wandte er sich zu Veverl, die sich erröthend erhoben hatte und den Jäger mit einem Blicke betrachtete, als suche sie aus seinem Gesichte zu ergründen, ob er scherze oder die Wahrheit spräche. „Aber schön kannst verzählen, Deandl! Schau – Dir möcht’ ich gleich selber zuhören, ganze Stunden lang.“

Veverl erröthete noch tiefer. Mit schüchterner Stimme beantwortete sie des Jägers Frage, wie es ihr ginge und wie sie sich auf dem Finkenhofe eingewöhnt habe – gut natürlich! Auch an die Kinder richtete der Jäger noch einige lustige Worte; dann stellte er den Bergstock an die Mauer und schritt mit dem Bauer in das Haus.

(Fortsetzung folgt.) 




Berühmte Weinfässer.

Von Ferdinand Hey’l-Wiesbaden.

„Kennt ihr des Kellers hohe Poesie?
Sie zu versteh’n, bedarf’s der Dichterader.
Zu Häupten sah ich schön’ren Himmel nie,
Als Wölbungen von fest gefügtem Quader,
Drinn einfach ruhig Faß an Faß gereiht,
Ein starkes, ritterliches Kampfgeschwader,
Im Panzerhemd von braunem Eichenkleid;
Sie fordern Dich heraus mit ernsten Mienen,
Als ob sie Zauberkraft zum Sieg gefeit,
Als wollten sie an Dir den Sporn verdienen.“

 Wolfgang Müller.

Der Zwerg Perkeo in Heidelberg.
Nach einer Photographie im Verlage von Edm. v. König in Heidelberg.

Wenn ein rheinischer Dichter den poetischen Zauber des wohlgefüllten Weinkellers besingt, so denkt er zumeist wohl an den Inhalt des „ritterlichen Geschlechts, der gottvollen Fässer“, und zu leugnen ist’s nicht: gemeinhin ist der Inhalt dem „braunen Eichenkleide“ vorzuziehen. Aber auch in letzterem, im Fasse selbst, liegt „da drunten in des Kellers tiefsten Gründen“ ein Stück Geschichte begraben.

Welche Wandlungen haben die Behälter für den edlen Rebensaft im Laufe der Zeiten durchgemacht! Viktor von Scheffel besang gelegentlich der Versammlung deutscher Philologen im Herbste 1865 das große Faß zu Heidelberg und nennt dieses Riesenfaß „ein Stück Kultur- und Sprachgeschichte“. Von den „Nilkanoben“ und den „Keilschriftthoncylindern“ kommt Scheffel auf den Gaisbockschlauch, dankt den Phöniciern für die pitschirten Flaschen, die sie uns geschaffen, und beklagt die „Kimmerier“, die noch kein großes Faß erbaut, sondern nur Bütte, Pott und Bottich hatten.

„Das echte Faß zeigt deutschen Schwung,
Es gingen die Germanen
Schon auf die Völkerwanderung
Mit Trinkglas, Faß und Hahnen.“

Und in der That, man darf wohl annehmen, daß die ersten Riesenfässer auf deutschem Boden gebaut und entstanden sind. Den Völkern des Alterthums war die Kunst, Fässer zu binden, durchaus fremd, und es wäre ein Irrthum, anzunehmen, daß Diogenes sich in eine Tonne nach heutigem Begriffe „mit philosophischer Ruhe“ zurückgezogen. – Wenn er in Wirklichkeit eine vollständige Wohnung in einer solchen bezogen, so war sein Heim doch offenbar nur ein irdenes Gefäß, denn Faßbinder kennt seine Zeit nicht, wohl aber Töpfer. Große irdene Krüge oder Schläuche von Ziegenfell waren damals die Weinbehälter, deren Inhalt indessen offenbar schon durch die Art der Behandlung ein anderer war, als unser Rebensaft ihn heute bietet. Offen stand der gegohrene Saft in irdenen Gefäßen, in Krügen und Amphoren, und unter den 100 000 Faß griechischen Weines, den nach Plinius der reiche Lucullus nach seiner Rückkehr aus Asien an das römische Volk vertheilt haben soll, sind wohl nur eben so viele Amphoren zu verstehen.

Haben wir aber den Faßbau nicht von den Alten gelernt, so ist uns doch ein Trinkgefäß von ihnen überkommen – das Trinkhorn, freilich in anderer Form der Anwendung, denn wir trinken oben aus der weiteren Oeffnung des Horns, die Alten bohrten in die Hornspitze ein Loch und ließen sich so den „rieselnden Bach“ angedeihen.

Hölzerne Tonnen finden wir zuerst bei den Deutschen, den Engländern und Franzosen, aber auch der letzteren Lehrmeister in dieser Richtung sind wir.

Die Hochschulen des Weinbaues selbst waren – die Klöster. Die fleißigen Mönche dachten dabei nicht allein an sich und den eigenen Genuß, sie fanden auch, daß der Weinbau nebenbei ein recht einträgliches Geschäft bildete. Deßhalb finden wir auch in den älteren geistlichen Gebäuden am Rhein auf und ab, in den aufgehobenen und noch bestehenden Klöstern die ungeheuren Keller und Lagerräume, in denen man sich im wahren Sinne des Wortes „verlaufen“ kann. Doch auch Fürsten und Ritterschaft pflegten und liebten den Saft, verkaufte doch Kaiser Wenceslaus seine Kaiserkrone um vier Fuder Bacharacher Weines an den Kurfürsten Ruprecht von der Pfalz beim Königsstuhl zu Rhense.

Und wenn man große Keller, große Humpen hatte – da brauchte man oder wünschte man doch auch große Fässer! Und diese „riesenbauchigen Schatzkasten“ finden wir auch heute noch am Rhein, zum Theil noch wohl erhalten, wenn die Faßriesen auch nicht mehr alle im Gebrauch sind.

Prunksucht und Nothwendigkeit schufen die älteren Riesenfässer. Im Rheingau dienten die großen Fässer zur Aufnahme von Zehentweinen, von Traubensaft, der aus den verschiedenen Weinbergslagen stammte.

[687] Deßhalb besaß wohl Kloster Eberbach (noch heute bekanntlich der berühmte Kabinets-Keller) ein großes Faß, nicht aber das ebenso weinberühmte Johannisberg, weil letzteres keine Berechtigung zur Zehent-Erhebung hatte. Das Eberbacher Faß, welches 400 Ohm Wein zu fassen vermochte, hat seine besondere Geschichte. Es ist dahin, ein Opfer des – Bauernkrieges. Als die rheingauischen Bauern während jenes Krieges in Wehr und Waffen auf dem sogenannten „Wachholder“ vor Eberbach lagerten, da tranken sie nach der Chronik vom 2. bis 25. Mai des Jahres 1525, also in drei Wochen nicht nur jenes große Faß, sondern außerdem nicht weniger als 80 Stück guten Rheinweines aus. Das Faß wurde bei dieser Gelegenheit leider zerstört.

Johann Kasimir, Pfalzgraf und Administrator der Pfalz, ließ 1591 in Heidelberg ein Faß, das 132 Fuder bergen konnte, und Kurfürst Karl Ludwig 1664 sogar ein solches für 204 Fuder Inhalt erbauen, da das erstere, weil es lange „trocken“ gestanden, während des Dreißigjährigen Krieges verfault war. Die Schilderung des letzteren Fasses giebt die Chronik in folgenden Worten: „Man steiget auf einer Treppe von fünfzig Staffeln hinauf. Oben trift man einen zwanzig Schuh langen Altan mit einem Gelänter an, worauf sechs Personen ganz gemächlich tanzen können. Es ist dieses Faß ausserdem mit allerley Bildhauer-Arbeit gezieret. Vornen steht das Churfürstliche Wappen, oben darauf sitzet der Abgott Bacchus von ziemlicher Größe, einen großen Kelch in der Hand haltend und mit verschiedenen Satyren wie auch anderen Bildern von versoffenen Leuten umgeben. Es ist anbey so hoch, daß ein Mann mit einem Spieß aufrecht darin stehen kann. Vierundzwanzig eiserne Reiffen halten es zusammen, und es fasset zwey hundert und vier Fuder, drei Ohmen und vier Viertel Wein in sich.“

Bei der Zerstörung der Stadt und des Schlosses Heidelberg durch die Franzosen wurde das Faß unbrauchbar gemacht – es hatte nahezu vierzig Jahre leer gelegen – aber Kurfürst Karl Philipp wollte sich seines Hauses Stolz erhalten, er ließ es 1716 erneuern und im Jahre 1728 mit oberrheinischem Landwein füllen. Ein neues Wappen, eine doppelte Treppe, verschiedene Bilder und neue Verse zierten den renovirten Bau, so der eine:

„Klopff nur nicht mich,
Sonst klopff ich Dich,
Klopff hier nicht an,
Sonst musst Du dran.“

Dieser Vers bezieht sich auf die am ganzen Rhein verpönte Unart, in den Kellern an Fässer zu klopfen. Es gilt noch heute nicht für wohlanständig, bei einem Besuche im Keller die Fässer durch Klopfen zu prüfen, ob sie voll oder leer sind. Den echten Rheingauer erfaßt bei einer solchen „unrheinischen That“ ein gelinder Schauer.

Das große Faß in Heidelberg.
Nach einer Photographie im Verlage von Edmund von König in Heidelberg.

Im Jahre 1751 aber erbaute im Auftrage des Kurfürsten Karl Theodor der Küfermeister Joh. Jakob Engler das dritte, das jetzige Faß, welches 80 000 Gulden gekostet haben soll. Es ist größer als die beiden früheren, die nicht so dauerhaft gewesen sein dürften, und faßt 236 Fuder Wein zu 1000 Trinkflaschen, also 236 000 Flaschen. Es mißt in der Länge 9 Meter, im Durchmesser 6,90 Meter, und seine einzelnen Dauben sind 26 Centimeter dick. Vom Boden des Kellers gerechnet, erreicht es eine Höhe von 8 Meter. Neben einem Theil des Handwerkszeuges, mit dem es gebaut worden sein soll, hält der Zwerg Perkeo, der Hofnarr Karl Philipp’s, jener Held im Weinberge des Herrn, der täglich seine fünfzehn Flaschen auf sich nehmen konnte, die jetzt recht trockene Wacht. Doch – so interessant das „Heidelberger Faß“ auch ist – es ist seit vielen, vielen Jahren (1764) leer.

„Als edler Bildungsdurst die Welt
Erfüllt mit edlem Streben,
Rief mich ein Kurfürst und ein Held
Als Burgfaß hier ins Leben.
Noch steh ich fest, wo Alles fiel,
Des Pfälzer Geists ein Funken;
Groß in Gedanken, flott im Stil
Und gänzlich – leer getrunken.
O wär’ ich voll heut, Mann und Glas
Füllt’ ich mit Rheinweinmassen;
Doch weh und ach! – dem Hauptwort ‚Faß‘
Fehlt längst sein Zeitwort ‚fassen‘.“
 V. v. Scheffel.

Auch die Rathsherren der Hansestädte wollten, der Sitte der Zeit entsprechend, ihre großen Fässer haben – sie haben es indessen zu solchen Ungeheuern wie die rheinischen Klöster und Fürstenkeller nicht gebracht. Selbst Mephisto dürfte sich eines kleineren „Gebindes“ zu seinem vielberühmten Ritte aus Auerbach’s Keller bedient haben. – Uebrigens hatte auch die Festung Königstein in Sachsen ein großes Faß, welches im Jahre 1680 angefertigt und 1725 erneuert wurde. Dasselbe hatte nach dem Maß jener Zeiten „16 Ehlen weniger 6 Zoll, oder 31½ Werkschuh in der Länge, und 11 Ehlen weniger 4 Zoll in der Höhe“. (Es war 34 Fuß lang, 24 Fuß hoch.) 37 Staffeln führten hinauf zu einer mit eisernem Gitter umgebenen Gallerie. Vorn befand sich das kurfürstliche Wappen in Holzschnitzerei mit „französischer Ueberschrift umgeben“. Bacchusfiguren fehlten auch hier nicht, ja das Faß war zum Theil vergoldet. 131 eiserne Reifen hielten den Bau zusammen, „276 Fuder, 7½ Eimer und 3 Maß“ soll es gehalten haben, das Fuder zu zwei Eimern gerechnet. Es war somit größer als das Heidelberger Faß, es „faßte“ 600 Eimer mehr und diente wohl gefüllt in Kriegszeiten dazu, die Festung Königstein mit Wein zu versorgen. Das Faß wurde faul und baufällig und zerfiel nach und nach. Herzog Ulrich von Württemberg ließ gleichfalls 1546 für seinen Schloßkeller in Tübingen ein Riesenfaß bauen, wie sich denn auch deren noch mehrere in den württembergischen Schloßkellern finden. So ein solches in dem Schloßkeller zu Ludwigsburg, welches sogar älter und größer als das Heidelberger Faß ist. Es wurde auf Befehl Herzogs Eberhard III. 1719 bis 1720 durch den Hofküfer J. W. Ackermann erbaut und vom Hofbildhauer A. C. Seefried mit weit reicherer Schnitzerei als das Heidelberger geziert. Das Faß hat Raum für 300 württembergische Eimer (etwa 110 220 Rheinweinflaschen), enthielt vormals ebenfalls Zehentwein und ward noch 1847 mit Most gefüllt. 20 Eichenstämme, 5 Stämme Hagenbuchen und ein Birnstamm wurden zum Bau verwendet. Leider ist das Faß schwer zugänglich und lagert in einem für seine Höhe zu niedrigen Raume.

Rheinischer Scherz läßt wohl die Frage stellen, wie diese Fässer denn eigentlich bei den engen Thüren in die Keller gekommen sind, und die Antwort ist stets: erst sei das Faß, dann der Keller gebaut worden. In Wahrheit aber wurden diese [688] Riesen im Keller selbst gefertigt. Das Heidelberger Faß liegt noch heute im „Bandhaus“.

Riesenfässer der J. B. Sturm’schen Kellerei zu Rüdesheim.
Originalzeichnung von W. Klusmeyer.

Und trotzdem sind diese Kunstwerke, so darf man sie wohl nach ihrer äußeren Ausstattung nennen, nichts gegen die monströsen Fässer der Brauereien in England und Amerika. Barclay, Perkins u. Komp. in London, die bekannten Porterbrauer, haben Lagerfässer, die 192 000 Gallonen, also gegen 800 000 Liter, zu lagern im Stande sind.

In Würzburg, im Frankenlande, erbauten die Fürstbischöfe eine Kellerei, die ehedem als die größte der Welt galt. Die Räume sind noch erhalten und in Benutzung und befinden sich unter dem fürstlichen, jetzt königlichen Schloß daselbst. In diesen „heiligen Hallen“ des Steinweines und des Leisten ruhen nun neben Gebinden der mannigfaltigsten Formen und Größen drei Kolossalfässer, von denen das größte 660 Eimer (oder 55 Fuder = 440 Hektoliter = etwa 55 000 Flaschen) faßt und welches in der Höhe und Tiefe je 5 Meter mißt. Zwei kleinere, recht ansehnliche Ovalfässer mit einem Gehalt von 289 und 276 Eimern sekundiren dem größeren Koloß in trauter Eintracht. Diese Fässer dienten ehemals zur Aufnahme von „Bestallungswein“ oder Beamtenwein, denn es gab eine glückliche Zeit in Franken, in welcher Wein einen Theil der Besoldung fürstlicher Diener ausmachte. Damit nun Klagen über ungleiche Weine bei der Vertheilung nicht aufkamen, wurde der Rebensaft in diesen Riesenbäuchen zusammen gelagert. Verbrauchte doch die fürstliche Hofkellerei im Jahre 1782 allein 266 Fuder und 10 Eimer an „Beamtenwein“.

Ein kunstreich geschnitztes Faß, 30 Hektoliter, gleich 3750 Flaschen haltend, aus dem Jahre 1683 stammend, hat ebenfalls eine besondere Geschichte, denn es enthielt den edlen 1540er, wie noch eine Inschrift besagt: den sogenannten „truckenen Sommerwein“, der in einem Jahre gewachsen, in welchem die Flüsse, selbst der Rhein, „schier ausgetrocknet“ waren. Im Dreißigjährigen Kriege ward das Faß vergraben, um den Inhalt zu retten. Es ist ihm Nichts verblieben, als das Aroma im Innern, ein Genuß, mehr für den Kenner, wenn er den Spund lüftet, – als für den Trinker.

Der Stolz der Fürstengeschlechter früherer Tage hat sich auf die Fürsten des rheinischen Weinhandels vererbt. Und so treffen wir im Rheingau die Nachfolger des Heidelberger Fasses aus neuester Zeit. In den Kellern der Firma J. B. Sturm in Rüdesheim, die sich übrigens mit den Würzburger Kellereien an Ausdehnung reichlich messen können und die, in drei Etagen erbaut, als die größten Keller am Rhein an und für sich eine Sehenswürdigkeit bilden, lagern die jüngsten Meisterwerke der Faßbinderei. Und – was nicht zu unterschätzen, diese Fässer sind noch im Gebrauch – noch waltet in ihnen der lebendige Geist, „noch tobt er an die Wände“, und wer sich von diesem Geiste überzeugen will, ist jederzeit willkommen – die rheinische Gastlichkeit hält stets diese Räume auch dem Fremdling geöffnet.

Hier, unter den Resten der ehemaligen Boosenburg, im jetzigen Hause Sturm, lagert ein Faß, dessen schützende Wände 20 Stückfaß Wein zu 24 000 Liter oder 30 000 Flaschen bergen können. Das Faß ist vollständig rund, hat 3½ Meter im Durchmesser und ist ebenso lang. Das Eichenholz, welches zum Bau verwendet wurde, ward 1873 in Wien auf der Ausstellung prämiirt. Ein Jahr darauf erbaute ein Meister seines Faches das Kunstwerk in Weisenau bei Mainz. Zu Schiff geschah der Transport, und in Rüdesheim angekommen, ward das Faß, dessen Dauben 13 Centimeter stark sind, aus einander genommen und [689] im Keller wieder zusammengefügt. Auf dem Vorderboden finden wir einen Querriegel, darüber ein von Weinranken umgebenes Römerglas, trefflich in Holz geschnitzt, und den Spruch:

„Im Rüdesheimer Berg gedeiht
Der Wein am besten weit und breit.
Drum schirme Gott dies Stückchen Erde,
Damit alljährlich voll ich werde.“

Im Jahre der Ablieferung – 1874 – wurde das Faß zuerst mit Rüdesheimer des genannten Jahrganges gefüllt.

Ein Bruder dieses Fasses ruht dicht daneben. Es enthält 12 Stück gleich 14 000 Liter oder 18 000 Flaschen. Das Gebinde hat einen Durchmesser von 2,60 und eine Länge von 3 Metern, die Daubenstärke beträgt 10 Centimeter. Das Faß wurde von dem in seinem Fache weitberühmten Faßfabrikanten Heinrich Wellhöfer erbaut, auf der Frankfurter Patent- und Musterschutz-Ausstellung 1881 ausgestellt und von der Firma Sturm dort erworben. Der Vorderboden ist prachtvoll aus dem Holz herausgeschnitzt und stellt eine vollständige Weinlese, die Kelterung und eine Weinprobe im Keller dar. Ueber diesen Schnitzereien befindet sich das Frankfurter Stadtwappen. Der Anschaffungspreis des großen Fasses war 2400 Mark, während das zweite, kleinere, in Rücksicht auf die prächtige Schnitzerei, 2500 Mark kostete. Auch das letztere Faß ist in Gebrauch. Alle diese Fässer werden im Innern gereinigt, indem durch eine kleine Thür im Vorderboden, welche durch einen Querriegel geschlossen ist, ein Mensch in den duftigen Bauch kriecht, um „Schwenkung“ und Säuberung darin vorzunehmen. Wie oft haben wir in diesen gastlichen Räumen vor diesen würdigen Herren gestanden, und nicht nur die „gottvollen Tropfen“ geprüft, sondern auch mit Freund Rittershaus die Wahrheit seines sinnigen Spruches empfunden:

„Der Rhein erbaut im Rebenflor
Den Tempel für den Gott des Weines,
Und Rüdesheim – das ist das Thor
Zum Allerheiligsten des Weines.“


Das Riesenfaß der A. Wilhelmj’schen Kellerei zu Hattenheim.
Originalzeichnung von Otto Dillmann.

Drum war es auch ein treffender Gedanke Theodor Dilthey’s in Rüdesheim, ein Riesenfaß als Ehrenpforte zu bauen, durch welches Kaiser Wilhelm, alle Fürsten und deren Gefolge am Tage der Enthüllung des Niederwald-Denkmals den Durchzug hielten, ein Gruß der Rüdesheimer Küferzunft, dessen malerische Anordnung wir in Nr. 44, Jahrgang 1883 der „Gartenlaube,“ im Bilde bereits wiedergegeben.

Noch mächtiger aber erscheint das in den letzten Jahren so vielgenannte Riesenfaß zu Hattenheim. Und welche fröhlichen Stunden verlebten hier die Vertreter der deutschen Presse am Tage der Einweihung dieses Kolosses im gastlichen Hause A. Wilhelmj, bei Gelegenheit des Deutschen Journalisten-Tages im Jahre 1876! Verfasser dieses hatte selbst die Leitung der Expedition nach Hattenheim an jenem Tage übernommen und ein fröhlicheres Kellerfest, eine poetischere Weinprobe ist wohl am Rhein noch nicht erlebt worden. Mitten im gesegneten Rheingau, umgrenzt von Rauenthal, Marcobrunn, Hattenheim und Johannisberg, inmitten seiner eigenen ausgedehnten Weinbergbesitzungen liegt das gastliche Haus Wilhelmj, dem jeder in Wiesbaden tagende Kongreß ebenso wie dem Hause Sturm in Rüdesheim seinen Besuch abstattet, seien es die Herren Mediciner, die Naturforscher, Journalisten oder Philologen. Wer sich einen Begriff von der Gewinnung des Weines, der Kelterung, Gährung und Kellerung verschaffen will, der wandere hierher – und bringe dem Weingott seine Devotion! Vater und Sohn Wilhelmj haben sich einen Namen erworben, der weit über des Vaterlandes Grenzen hinausreicht – der Vater begeistert zur Poesie durch seine feurigen Gaben – der Sohn [690] entzückt durch sein Instrument und seine Kunst – denn August Wilhelmj, der Geiger, ist der Sohn des vielgenannten rheinischen Weinhauses.

In einem Tempel, einem über 8 Meter hohen Kuppelgewölbe, auf einem Lager von vier kunstvoll durch Meister Kremer in Eltville gefertigten „Sätteln“ liegt das Riesenfaß von Hattenheim. Dasselbe, aus der Werkstatt des Küfers Ignaz Müller in Eltville hervorgegangen, hält circa 50 Stück, das Stück gleich 1200 Liter, also nahe 80 000 Flaschen Wein. Es ist ein vollständig rundes Gebinde, während die meisten großen Fässer, auch das Heidelberger, oval erbaut sind. Das dazu verwendete „slavonische“ Eichenholz ward gleichfalls in Wien prämiirt und 14 Eisenreife von einem Gesammtgewichte von nahe 3000 Kilo halten den Riesenbauch zusammen. Es bedürfte wahrlich nicht der „Kanzel“, welche sich vor dem Vorderboden aufbaut, um jeden Eintretenden hier feierlich zu stimmen. Diese Kanzel im Stile des 16. Jahrhunderts gehalten und nach einem Modell aus einer alten Benediktiner-Abtei gefertigt, ruht auf einer Balustrade, welche nach dem Muster alter Chorstühle geschnitzt ist. Sechs Meter ragt der Riese empor, auf seinem Boden könnten mit Leichtigkeit 18 bis 20 Personen tafeln. An der Kopfseite über der Kanzel prangt in Holzschnitzerei das Hauswappen Wilhelmj, gleich den kurfürstlichen Wappen an den Fässern in Würzburg. So ändern sich die Zeiten! Jahreszahlen künden die Gründung der Handlung und die Eröffnung der Kellerräume in Hattenheim.

Und welch ein Vorzug! Das Faß ist in beständigem Gebrauch, denn darinnen wird jährlich nach der Kelterung der „Tischwein“ zum Lager gebracht, der aus den „kleineren“, das heißt nicht hochfeinsten „Lagen“ des ausgedehnten Weinbergbesitzes des Hauses Wilhelmj gewonnen wird. Beim sogenannten „Abstich“ entleert man den Riesen durch einen Schlauch in acht Stück haltende Lagerfässer, welche sich in einer Kellerabtheilung unter dem Kellerraum des Riesengebindes befinden. Der Transport des in Eltville gefertigten Monstrums geschah während der Nacht, mit Benutzung des doppelten Schienengeleises der Eisenbahn. Von der Station bis zum unweit gelegenen Keller (etwa 100 Schritte) brauchte man – drei Nächte.

Wohl hat Hermann Dickmann, der den ganzen Raum mit trefflichen Sprüchen geschmückt, Recht, wenn er in einer Inschrift am Fasse sagt:

„Was Heidelberg! Was Hattenheim!
Der Dichter versöhnt euch durch einen Reim:
Dem Alten bleibt die Historie –
Dem Jungen winkt der Zukunft Glorie!“

Und rechts und links vom Altvater des Kellers sehen wir Reihen von Doppelstückfässern gelagert (jedes zu circa 3000 Litern) und über diesen bilden abermals zwei Reihen Stückfässer (von je 1200 Liter Inhalt) ein imponirendes Spalier. Und wenn nun, wie wir es oft gesehen, dieser ganze Raum in buntem Lichterschmuck erglänzt, wenn eine gläubige und seelige Gemeinde hier dem Weingott ihre Andacht bezeugt, wenn ein Glas vom Besten die Zungen löst, dann widerhallt der Raum nicht nur von Rede und Gegenrede, dann mag’s auch der Griesgram leiden, daß „hier der Becher überschäumt!“

Dann tönt neben dem Augenblicks-Spruche des Poeten auch oft ein fröhlich Lied vom fröhlichen Leben am Rhein.


Aus der schwäbischen Türkei.

Zwei ungarische Villeggiatur-Briefe.
Von Karl Braun-Wiesbaden.
II.

Zunächst muß ich bemerken, daß die Deutschen im Samogyer Komitat, nördlich von Szigetvár, durchaus nicht, wie in so vielen Büchern geschrieben steht, „Schwaben“ genannt werden, sich auch selber nicht so nennen und auch durchaus nicht so genannt werden wollen. Und sie haben Recht. Sie sind keine Schwaben, sondern, wenn nicht alle Anzeichen trügen, bayerischer Herkunft. Ihre deutschen Namen, die sie mit Sorgfalt konserviren, nur daß sie nach ungarischer Landessitte den Familiennamen an die erste und den Tauf- oder Vornamen an die zweite Stelle setzen – heißen z. B. Seydl, Speidl, Pranckl, Huber, Mayr, Kaiser, Gerstner etc. Ich habe bei Herrn Pfarrer Nemes in Nágy-Harságy, der uns mit großer Freundlichkeit aufnahm, die Register der Kopulationen, Taufen und Todesfälle nachgesehen bis weit in das achtzehnte Jahrhundert zurück. Die pfarramtlichen Funktionen wurden damals von den Franziskanern in Szigetvár verrichtet. Die Register sind mit großer kalligraphischer Hand geschrieben. Namentlich glänzt der Pater Fulgentius durch die Schönheit seiner Handschrift. Erst im Jahre 1809 wurde ein Kuratgeistlicher hier eingesetzt. Er kam von Káposvár, der jetzigen Komitats-Hauptstadt, und hat uns eine Schilderung seiner damaligen (1809) Fahrt von Káposvár nach Szigetvár hinterlassen. Er kann nicht genug klagen über die Unwegsamkeit dieses Landes. „Nichts als Himmel und Wald,“ schreibt er, „nur hin und wieder ein gräfliches Jagdhaus“; die Bauern, die in diesen Urwäldern hausten, waren arm und unwissend über alle Maßen – Alle, ungarische wie deutsche.

Jetzt ist das eine blühende, frohmüthige und sonnenhafte Landschaft, in welcher die Herrschaft und die nunmehr von den Feudallasten befreiten Bauern mit einander wetteifern in Kultur und Wirthschaftlichkeit.

Ich habe bei den ältesten deutschen Bauern dieser Gegend Erkundigungen darüber eingezogen, wie und woher ihre Vorfahren in dieses Land gekommen. Alle stimmen darin überein, daß ihre Urgroßväter vor mehr als hundert Jahren von den Grafen Festetits in das Land gerufen worden. Sie seien aus dem katholischen Deutschland gekommen – aus welcher Gegend, aus welchem Land, aus der Nähe welcher Stadt, darüber wissen sie nichts zu sagen. Einige behaupten mit Bestimmtheit, sie seien aus Bayern gekommen, so hätten sie es von ihren Vorfahren vernommen. Und in der That nicht nur, wie ich bereits erwähnt, ihre Familiennamen, sondern auch ihre Mundart spricht für bayerischen Ursprung. Allein bestimmte Ueberlieferungen oder gar Urkunden besitzen sie nicht. Auch in den Archiven der Grafen von Festetits hat sich trotz der großen Mühe und Sorgfalt, womit ein früherer Pfarrer von Nagy-Harsagy darnach geforscht hat, nichts über diese Kolonisationen vorgefunden. Daß die Bauern selber darüber wenig Auskunft zu geben im Stande sind, ist sehr begreiflich. Auch die deutschen Bauern, welche vor ein- oder zweihundert Jahren nach Amerika gegangen, wissen selbst wenig oder gar nichts von dem Leben ihrer cisatlantischen Vorfahren.

„Unsere Voreltern hier in diesem ungarischen Lande,“ erzählte mir ein siebzigjähriger deutscher Bauer, „haben es früher recht schlecht gehabt; aber wahrscheinlich hatten sie es in Deutschland noch schlechter, sonst hätten sie doch ihre Heimath nicht verlassen und sie gänzlich vergessen. Der hochgeborene Graf hat sie in das Land gerufen und ihnen Grundeigenthum versprochen, und er hat sein Versprechen gehalten. Mein Großvater hat mir das oft erzählt, und mein Urgroßvater ist unter den ersten Ansiedlern gewesen. Jeder hat seine Session erhalten (Session nennt man hier die bäuerliche Vollhufe, wahrscheinlich ist es eine Abkürzung von Possessio [Besitz], und man darf nicht vergessen, daß Latein die Gerichtssprache war, auch für Grundbuchangelegenheiten). Eine ganze Session, das war viel Land. Jetzt haben in Folge des Anwachsens der Bevölkerung und der freien Erbtheilung unter sämmtlichen Kindern viele nur eine Viertelsession. Aber jetzt ist ein Viertel mehr werth als damals das Ganze. Damals war es wildes rauhes, schweres Land, in welchem der Pflug zerbrach. Jetzt ist es altbebauter, mürber und fruchtbarer Boden. Wir stehn uns besser bei der Freiheit der Menschen und des Bodens, als die Kroaten und Serben bei ihrer Hauskommunion und sonstigem Zwang der Gemeinschaft. Unsere Voreltern, die ersten Ansiedler, hatten es schlimmer. Die Herrschaft gab ihnen zwar das Land und das Holz aus ihren Waldungen, um Haus, Stall und Scheune zu bauen. Aber dagegen hatten die Väter auch schwere Lasten zu tragen. Sie mußten doppelten Zehnten geben, [691] einmal an die Herrschaft und einmal an den Propst oder Abt der Benediktiner. So wurde aus dem Zehnten ein Fünftel. Da aber die geistliche und weltliche Herrschaft sehr stark und der Bauer sehr schwach war, und doppelt schwach, weil er ein Fremdling in diesem Lande, und da es auch noch keine Regierung in Pest gab und keine Gerichte, bei welchen Recht zu haben war auch für den Bauer, und überhaupt für den Schwachen, so wuchsen unsere Lasten mit jeglichem Tage; und wenn wir der Herrschaft freiwillig etwas zu Gefallen thaten, so dauerte es gar nicht lange, dann wurde ein Recht daraus, und man zwang uns die Leistungen ab, die wir ursprünglich aus gutem Willen verrichtet; und so wurden unsere Rechte immer kleiner und unsere Lasten immer größer. Von dem Wein mußten wir bis zur Grundentlastung der Herrschaft gar den fünften Theil liefern, und zwar das beste Faß unserer Fechsung.

Bei der Zehnterhebung hatten die Zehntherren allein alle Macht und Gewalt, und nachdem aus dem Zehntel ein Fünftel geworden, wurde zuweilen aus dem Fünftel die Hälfte, die man uns abnahm. Daneben mußten die Bauern der Herrschaft an 52 Tagen alljährlich – oder an einem Tag in der Woche – Robot oder Frohnden verrichten. Wenn es dem Herrn Grafen zu jagen beliebte, dann mußten wir treiben, oft auch im härtesten Winter, so daß wir uns Nasen und Ohren verfroren. Aber die Herrschaft schützte uns nicht vor dem übermäßigen Wildstand. Zuweilen kamen die Wölfe aus dem Lande der Kroaten über die Drau herüber und fraßen uns nicht nur die Schafe, sondern zuweilen auch den Hirten. Für die hochgräfliche Herrschaft mußten die Bauern zu aller Zeit zur Verfügung stehen. Sie mußten z. B. Botengänge thun, weit über Land und oft mehrere Tage; und dabei mußten sie noch aus eigener Schnur zehren.

Das Schlimmste aber waren die unbarmherzigen Prügel. Wer bei der Treibjagd geklappert hatte, wo er stille sein sollte, bekam Prügel. Wer stille war, wo er hätte klappern sollen, bekam Prügel. Die Prügelbank wurde nicht leer, und Mancher wurde zum Krüppel geschlagen. Denn der alte Herr Graf war ein grausamer Herr. Gott hab’ ihn selig in der Ewigkeit! Vielleicht wußt’ er’s nicht besser und glaubte, die Bauern fühlten keine Schmerzen. Seitdem wir aber in Buda-Pest ein eigenes ungarisches Regiment haben, sind die Grafen nicht mehr allmächtig im Lande. Die Grundentlastung hat viel gekostet und kostet noch immer. Auch hat die Herrschaft noch allerlei Regalien und Propinationen. Aber den Robot und die Prügel und die anderen Lasten sind wir los und ledig geworden. Unser Boden ist frei, und wir Bauern sind Menschen und Bürger wie die Anderen. Und deßhalb sind wir gute Ungarn geworden, und obgleich wir unser Deutsch lieben und ehren und festhalten wollen bis an unser seliges Ende, so haben wir Alle auch Ungarisch gelernt und sagen: Gott segne Kossuth Lajos (Ludwig Kossuth), der die Bauern befreit hat.“ So sprach der alte Bauer. Ich füge hinzu:

In der Schule wird Deutsch gelehrt und auch Ungarisch. Beide Sprachen werden hier als gleichberechtigt behandelt. Ungarisch aber ist die Sprache der Gerichte und der Behörden.

In den hiesigen katholischen Kirchen wird abwechselnd den einen Sonntag Deutsch gepredigt und den anderen Magyarisch. Ein jovialer Pfarrer aber meinte: Der Geschmack der Bauern ist: „Kurze Predigten und lange Bratwürste“. Hier sind die Pfarrer nicht kopfhängerisch, sondern lustig, was ihrer Frömmigkeit gar nicht schadet. Im Gegentheil, sie haben bei ihren Gemeinden viel Ansehen und Einfluß; und das ist doch die Grundlage für eine gesegnete Wirksamkeit. In Ungarn sitzt die hohe Geistlichkeit als solche im Oberhaus, wie in England, und die neue Parlamentsreform wird hieran nichts ändern, sondern nur den bloßen Titularbischöfen die Standschaft entziehen. In dem Oberhaus des Reichstags zu Budapest stehen rechts von dem Präsidium drei mächtige rothsammtene Sessel. Darauf sitzen die drei ungarischen „Eminenzen“, das ist Kardinäle. Einer derselben, der Erzbischof Haynald von Kalosza, ist zugleich eine Zierde der Wissenschaft. Dahinter sitzen die übrigen Bischöfe. Alle diese Prälaten schicken zwar ihren Peters-Pfennig nach Rom, sind aber streng nationalgesinnte Ungarn und getreue Unterthanen der Krone des heiligen Stephan.

Doch man entschuldige diesen Abstecher. Kehren wir zurück zu unseren deutschen Bauern in der Umgegend von Harságy.

Treten wir ein in das Haus eines Bauern in Klein-Harságy. Er gehört zu den mittleren Besitzern. Das Haus ist so, wie ich es oben beschrieben. Ein jedes hat an der südlichen langen Wand eine Vorhalle oder Veranda. Sie wird von einer Säulenreihe getragen. Die Säulen sind blendend weiß angestrichen und man glaubt anfangs einen marmornen Portikus zu erblicken. Am meisten in die Augen sticht uns die Küche. Ein Backofen und ein Herd, beide von glänzend weißen Kacheln, sowie blank gescheuertes Haus- und Küchengeräth machen einen außerordentlich behäbigen Eindruck. Auf dem Herde prasselt ein lustiges Feuer. Auch riecht es etwas nach Papprika, nach jenem schönen rothen ungarischen Pfeffer – einer gesunden und kräftigen Würze der Speisen. Zugeben muß man, dieser Papprika macht Durst. Allein was schadet das in einem Lande, wo überall in reichlichstem Maße ein guter und billiger Wein wächst und daneben noch eine Unzahl von Quellen eines erfrischenden Mineralwassers fließen? Siehe, da kommen der alte Gerstner und der alte Kaiser – zwei rüstige Greise, die Beide im Altentheil sitzen. Aber zum bäuerlichen Altentheil gehört hier auch Wein, aus kräftigen rothen oder weißen Kadarka-Trauben bereitet. Die beiden alten bäuerlichen Herren erinnerten sich, nachdem des Tages Hitze vorüber, an die schönen Verse von Schartenmaier (Fr. Vischer):

Doch dem Guten ist’s zu gonnen,
Wenn am Abend sinkt die Sonnen,
Daß er in sich geht und denkt,
Wo man einen Guten schenkt.“


So sind sie selband in ihren Weinberg und den darin befindlichen Keller gegangen, eingedenk des weisheitsvollen Spruches: „Was den Kindern die Milch, das ist der Wein für die Greise.“ So kommen sie nun soeben wieder Arm in Arm nach Hause gehumpelt. Du meinst, sie seien angetrunken? Gott bewahre! Diese würdigen Männer verstehen mit dem Rebenblut richtig umzuspringen. Sie sind vergnügt. Das ist Alles. Ein Schuft, wer Schlechtes dabei denkt. Hony soit qui mal y pense! Inzwischen haben zu Hause der junge Bauer und die Bäuerin, auf welche das Gut oder die „Session“ übergegangen, zum Rechten gesehen, des Hauses und Hofes, des Rindviehs und der Schafe gewaltet. Sie führen uns in die Wohn- und in die Aushaltsstube, wo Alles reinlich und reichlich vorhanden und uns namentlich die hohen Betten und das gute Bettzeug imponiren. Im Hofe ist ein langes niedriges Gebäude, dem ehemaligen Eisbocke in der Potsdamer Straße in Berlin zu vergleichen. Unter dessen Dach geht der Kellerhals abwärts, und wenn wir da in den Keller hinunter steigen, dann finden wir bei diesen Bauern auch Wein, und nicht etwa bloß Kartoffeln. Das Merkwürdigste aber ist der Keller selber. Er ist lang, schmal und mannshoch, und zwar ganz in den schweren lehmigen Boden geschnitten, der oben an der Wölbung und an den beiden Seitenwänden und unten so fest steht, wie eine Mauer, ohne daß es eines Stückes Holzes bedurfte, um ihn zu versprießen, oder der Ziegelsteine, um ihn zu wölben. Er ist allein mit dem Grabscheit gebaut, wie das Haus mit der Stampfe. Der Lehm an beiden wird jeden Tag fester und härter. Er ist gleichsam versteinert.

So hat die gütige Mutter Natur dem reichen, aber steinarmen Lande einen Ersatz für die fehlenden Steine gegeben. Hier bedarf es zum Baue nicht der Kelle des Maurers und nicht des Beiles des Zimmerers. Hier wird das Haus nicht gerichtet, und kein Maurer- und kein Zimmermannsspruch bei demselben gehalten. Lehm ausgraben und stampfen – das ist Alles. In acht Tagen ist das Haus fertig und in weiteren acht Tagen der Keller. Das ganze Holzwerk an dem Haus besteht aus der in langen Balken gezogenen und mit Querbalken bedeckten Decke. Solche Decken unterscheiden sich von den unsrigen dadurch, daß sie niemals einstürzen. Auch der Fußboden besteht nicht aus Parkett noch aus sonstigem Holze. Auch er ist nur gestampfter Lehm, und je mehr man ihn betritt, desto fester, ebener und glatter wird er. Man geht gut darauf, am besten barfuß. Außen aber ist das Haus glänzend weiß angestrichen. Die grünen Akazien, das weiße Haus und die rothen Blumen am Fenster bilden zusammen die Farben des ungarischen Landes, des Magyar-Ország.

Auf dem Rückwege von Groß-Harságy nach unserem Kastell nahmen wir den Weg über den Berg, um die Aussicht zu genießen. Links von unserem Wege, auf dem südwestlichen Abhange des Berges, erstreckten sich Weinberge bergabwärts bis nach der Thalmulde. Die Weinstöcke waren gezeilt und gesetzt so wie in Deutschland, nur etwas dichter als in unseren deutschen Weinbergen. [692] Auch zieht man nicht Bogreben, sondern man bedient sich des sogenannten Bockschnitts, wie solcher schon laut Zeugniß der „Anthologia Graeca“ bei den alten Hellenen im Gebrauche war und es bei den heutigen Griechen noch ist. Man rasirt jedes Jahr den Stock ab bis auf den Stamm oder Strunk, welcher dadurch immer stärker und kräftiger wird und einen mächtigen, gewundenen schwarzen Knorz (truncus) bildet. Man überläßt es ihm, alljährlich neue Schößlinge, Bogen und Reben zu treiben, wovon er reichlichen Gebrauch macht. Am Rande des Weinberges stehen zierliche Pfirsichbäume, deren Früchte sehr gut zu dem Wein schmecken. Der Weinberg des deutschen Bauern in Harságy hat einen Vorzug vor unseren. An seinem oberen Ende steht ein Häuschen. Es bildet zugleich den Eingang zu dem in den Lehmboden gegrabenen Keller, worin der Wein lagert. Außer dem Kellerhals befindet sich in dem Hause ein größerer Raum für die zur Weinbereitung erforderlichen Gegenstände und dahinter ein trauliches Stübchen zum Trinken. Mit dem letzteren sollten wir unsere Bekanntschaft machen. Während wir an den Weinbergen und den Weinhäuschen entlang fuhren, lud uns der Besitzer eines der letzteren, einer der wohlhabendsten Bauerngutsbesitzer von Nágy-Harságy, der Alt-Richter Michael Meyer, oder wie man hier sagt: Herr „Meyer Michel“ ein, abzusteigen. Wir folgten seiner gütigen Einladung und kehrten, nachdem wir den wohlgepflegten und mit rothen Kadarka-Trauben bepflanzten Weinberg mit gebührender sachkundiger Sorgfalt inspicirt hatten, in dem Hinterstübchen des Weinbergshäuschens ein, wo wir eine Anzahl kluger alter Zecher vereinigt fanden. Es waren der Gemeindenotar von Nágy-Harságy und mehrere dortige Bauerngutsbesizer, welche in vergnüglicher Tafelrunde ihren Sonntag Abend zubrachten bei Wurst, Schinken und heurigem (das ist 1884er) Rothwein. Herr Meyer stieg fleißig in den Keller und füllte den Heber. Dieser Heber war nicht ein gläsernes Instrument wie bei uns, sondern die Frucht eines kurbisartigen Schlinggewächses. Diese Frucht hängt an einem langen und hohlen Stiel, der in einem Kolben endet, abwärts. Wenn man sie von ihrem Inhalt reinigt und aushöhlt und trocknet, dann aber am Ende des Kolbens ein kleines Loch macht, gegenüber dem großen Loch an dem anderen Ende der Röhre, dann hat man einen vortrefflichen „Hebér“, wie der Ungar das deutsche Wort ausspricht. Auch Flaschen oder Kalebassen, ähnlich der korsischen „Zucca“, macht man aus dieser Frucht. Man nennt diese kleinen Weinbehälter „Kabák“.

Wir hielten einen frischen und kühlen, fröhlichen Trunk mit den deutschen Landsleuten, in dem so nahe an der südlichen Drau gelegenen Komitat von Samogy, und wenn wir mit unseren mit rothem Kadarka-Wein von 1884 gefüllten Gläsern anstießen, dann brachten wir dem „Magyar-Ország“ ein Eljen; aber neben der Patria hungarica gedachten wir auch der Germania Mater und brachten ihr ein gebührendes Vivat, und wir gedachten endlich auch des edlen Grafen Andrassy, der im Jahre 1870 Oesterreich-Ungarn zurückhielt, als es der Graf Beust zum Verbündeten Napoleon’s machen wollte im Kriege wider Deutschland.


Verdächtig.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Der Fremde preßte die Lippen zusammen, sein Gesicht hatte sich auffallend verfinstert, seine Hand ballte sich und die Augen blitzten so zornig auf, als habe er Lust, den enthusiastischen Verehrer der schönen Schauspielerin den Abhang hinunterzuwerfen, den sie gerade passirten, aber ein Blick auf das harmlos gutmüthige Gesicht des Sprechenden brachte ihn zur Besinnung. Er zuckte nur die Achseln und ging dann weiter vorwärts, ohne eine Antwort zu geben.

Herr von Below bemerkte das nicht, er war sehr mittheilungsbedürftig und es störte ihn durchaus nicht, daß der Zuhörer, den er in seine Herzensangelegenheiten einweihte, ein ganz Fremder war. Er schwatzte vergnüglich weiter.

„Sie wundern sich darüber, nicht wahr? Ja, ich muß es auch von meiner ganzen Verwandtschaft hören, daß es eine Mißheirath ist, wenn ein Freiherr von Below sich mit einer jungen bürgerlichen Schauspielerin vermählt, aber ich mache mir gar nichts daraus. Valeska Blum ist von tadellosem Rufe, aus guter Familie – ihr Vater war Professor am Gymnasium der Residenz – und sie lebt mit einer alten Verwandten in einer Weise, daß selbst die schlimmste Klatschsucht ihr nichts vorwerfen kann – ich heirathe sie unter allen Umständen.“

„Aber ich denke, die Dame will Sie nicht,“ warf der Reisegefährte ein, der seine augenblickliche Erregung überwunden hatte und die Sache jetzt von der komischen Seite zu nehmen schien.

„Ja, sie hat mich allerdings schon zweimal abgewiesen, und ich glaube, sie ist nur deßhalb so Hals über Kopf nach Seefeld gereist, weil sie fürchtet, ich käme zum dritten Male – aber ich komme doch! Die Tante, das alte Fräulein Blum, hat mir die Spur verrathen, und da bin ich ihnen schleunigst nachgefahren.“

„Das ist in der That eine bewundernswerthe Konsequenz!“

Der Majoratsherr merkte nicht die Ironie in diesen Worten, er nahm die Bemerkung wörtlich und fühlte sich geschmeichelt dadurch.

„Ja, konsequent bin ich, das ist wahr,“ entgegnete er mit Selbstgefühl. „Das ist eine meiner Haupteigenschaften, und deßhalb kümmere ich mich auch nicht um die Proteste all der Vettern und Basen, obgleich sie mir mit der allerhöchsten Ungnade drohen. Man wird bei Hofe allerdings eine derartige Heirath ungern sehen.“

„Gewiß,“ sagte der junge Fremde mit einem eigenthümlich bitteren, fast schneidenden Tone. „Unser Hof stellt in solchen Fällen die Ahnentafel als unverbrüchliches Gesetz auf, aber das Herz ist ein Revolutionär, es wirft bisweilen Ahnen und Traditionen und Hausgesetze über den Haufen und erkämpft sich triumphirend sein Recht.“

„Ganz meine Meinung!“ stimmte Herr von Below bei. „Sie haben das sehr schön ausgedrückt. Sie gefallen mir überhaupt. Wer sind Sie denn eigentlich? Vermuthlich ein Maler.“

„Ich – nein! Weßhalb?“

„Weil Sie so auf die Waldromantik versessen sind. Ich finde sie sehr unbequem, das heißt in der Wirklichkeit, auf den Bildern habe ich nichts dagegen einzuwenden.“

„Sie sind im Irrthum,“ sagte der Fremde mit einem flüchtigen Lächeln. „Ich bin kein Künstler, ich stand bisher in der Armee und gedenke, mich jetzt der Landwirthschaft zu widmen.“

Der Majoratsherr wurde aufmerksam. Landwirthschaft! Das war sein Fach, das interessirte ihn, und er sah sich seinen Begleiter darauf hin genauer an. Der junge Mann sah ganz anständig aus, er hatte sogar etwas Vornehmes, allerdings wanderte er zu Fuß, war also jedenfalls ein armer Schlucker, dem seine Reisekasse nicht erlaubte, einen Wagen zu benutzen, aber das störte nicht das Wohlwollen, das Kuno von Below für ihn empfand, ihm gefiel die männlich ernste Erscheinung, und dann hatte sich der Fremde so freundlich seiner angenommen und sich erboten, ihn auf den rechten Weg zu bringen, ohne zu wissen, daß er die Ehre hatte, den Majoratsherrn von Waltersberg zu führen.

„Also Landwirth!“ wiederholte er. „Und Sie haben vermuthlich noch keine Stellung, da Sie eben erst vom Militär entlassen sind. Haben Sie denn auch etwas Ordentliches gelernt?“

„Nun, ich hoffe es wenigstens.“

„Dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen – kommen Sie zu mir nach Waltersberg. Im Herbst wird dort der Posten des zweiten Inspektors frei, eine sehr gute Stellung. Dreihundert Gulden Gehalt, freie Station und eine Gratifikation zu Weihnachten. Was meinen Sie dazu?“

Ueber die Lippen des Fremden ging wieder ein verdächtiges Zucken, als kämpfe er mit einem unwiderstehlichen Lachreiz.

„Sie sind sehr gütig, Herr von Below, ich fürchte nur –“

„Nun, was Ihnen noch fehlt, können Sie ja lernen!“ unterbrach ihn Below, der sich veranlaßt fühlte, der Bescheidenheit des jungen Mannes zu Hilfe zu kommen. „Mein erster Inspektor ist sehr tüchtig und wird Sie schon in die Schule nehmen. Etwas derb ist er allerdings, die feinen wildledernen Handschuhe, die Sie da

[693]

Der Mühlendamm in Berlin.
Originalzeichnung von Wilhelm Geißler.

[694] tragen, wird er Ihnen zum Beispiel gleich abgewöhnen, dergleichen ist nicht Mode bei uns. Er wird überhaupt Einwendungen machen, weil ich Sie so ohne alle Zeugnisse und Empfehlungen nehme, aber Sie gefallen mir und das ist die Hauptsache. – Da stehen wir schon wieder vor einem Stück Ihrer verwünschten Romantik! Sollen wir etwa da hinunter?“

Die letzten Worte galten dem Wege, der sich plötzlich steil in eine äußerst malerische Schlucht hinabsenkte. Herr von Below, der kein Bergsteiger war, blieb bedenklich stehen, aber sein Begleiter ermuthigte ihn.

„Es ist die letzte Schwierigkeit, die Sie zu überwinden haben, dort unten treffen wir auf die Fahrstraße. Stützen Sie sich auf meine Schulter, so, auf diese Weise wird es gehen.“

„Ja, so geht es!“ sagte der Majoratsherr sehr befriedigt, da der neue Inspektor sich als ein äußerst brauchbarer und gefälliger Mensch erwies, „Sie scheinen ja sehr vertraut mit den Bergen zu sein und stammen vielleicht auch aus dieser Gegend. Wo sind Sie denn eigentlich geboren?“

„Auf der Rosenburg, in der Nähe der Residenz.“

„Ah, das herzogliche Lustschloß! Da sind Sie vermuthlich der Sohn des Kastellans oder etwas dergleichen.“

Der Gefragte machte eine leichte Bewegung mit dem Haupte, die eben so wohl eine Bejahung als eine Verneinung sein konnte, Herr von Below nahm sie für das erstere und klopfte seinen Begleiter freundlich auf die Schulter.

„Das ist mir lieb, ich lege Werth darauf, wenn meine Leute aus anständiger Familie sind, ich habe Ihnen das gleich angesehen.“

„Sie können außer Sorge sein, meine Familie ist durchaus anständig,“ versetzte der junge Fremde lächelnd. „Aber da ist endlich die Fahrstraße! Sie können jetzt den Weg nicht mehr verfehlen, dort liegt Seefeld, das Sie in einer halben Stunde erreichen, die Straße führt geradewegs hinein. Ich werde auf dem Waldpfade bleiben.“

„Gehen Sie lieber die Fahrstraße,“ sagte der Majoratsherr, dem es langweilig war, den Rest des Weges allein zurückzulegen, und der Lust zu noch fernerem Schwatzen verspürte. „Sie wollen ja auch nach Seefeld und dabei können Sie mir auch meinen Plaid tragen, er wird mir in der Sonnengluth beschwerlich werden.“

Damit nahm er seinen Plaid von der Schulter und wollte ihn ohne Weiteres dem neuen Inspektor einhändigen, da trat dieser plötzlich einen Schritt zurück und sich zu seiner vollen Höhe aufrichtend, maß er den jungen Freiherrn mit einem ganz seltsamen Blick.

„Ich bedaure, Herr von Below, ich habe Eile und ziehe den kürzeren Weg vor. Auf Wiedersehen in Seefeld!“

Er lüftete leicht den Hut und mit einer Handbewegung, die zwar freundlich, aber so unendlich vornehm war, als entlasse er den Majoratsherrn von Waltersberg, schritt er in den Wald zurück und verschwand zwischen den Bäumen.

Kuno von Below stand mitten auf der sonnigen Fahrstraße, mit seinem Plaid in der Hand und einem höchst verblüfften Gesicht. Es dauerte einige Minuten, ehe er die Sache überhaupt begriff, dann aber schüttelte er den Kopf und sagte halblaut:

„Ich wollte, ich hätte ihn nicht als Inspektor engagirt – dem Menschen fehlt der Respekt!“

Damit trat er unter fortgesetztem Kopfschütteln den Weg an und langte denn auch nach manchem vergossenen Schweißtropfen glücklich in Seefeld an.

Sebald und sein Untergebener befanden sich noch immer in dem Gärtchen, das den Vorzug hatte, nach allen Seiten hin einen freien Ueberblick zu bieten. Sie hatten sich dort das Mittagsmahl auftragen lassen, um in unverdächtiger Weise ihren Wachposten behaupten zu können, denn die Verdachtsgründe mehrten sich zusehends. Der Fremde, der eine Stunde nach den Damen eingetroffen war, hatte sich gleichfalls in das Pfarrhaus begeben und war noch nicht wieder zum Vorschein gekommen, da man aber dort füglich nicht eindringen konnte, so blieb vorläufig nichts übrig, als „mit aller Energie zu observiren“.

Gerade in dies Observiren hinein gerieth nun Kuno von Below, der erhitzt, ermattet und sehr übellaunig vor dem Wirthshause anlangte und sofort ein neues Beobachtungsobjekt für die beiden Beamten wurde. Diesmal übernahm es Sebald selbst, den neuen Ankömmling auszuforschen, er stieß wie zufällig in der Gartenthür mit ihm zusammen und entschuldigte sich dann mit aller nur möglichen Höflichkeit. Er bedaure unendlich, den fremden Herrn gestoßen zu haben, es sei durchaus nicht seine Absicht gewesen, er bitte tausend Mal um Verzeihung.

Herr von Below, dem nach der Respektlosigkeit, die er soeben erfahren hatte, diese Höflichkeit sehr wohlthat, nahm die Entschuldigung an, und das war der Eingang zu einem Gespräche, das mit einer Bemerkung über die Schönheit des Sees und seiner Umgebungen begann, dann allmählich auf die Fragen nach dem Woher und Wohin überging und im Ganzen nur ein vorsichtiges Ausforschen war.

Die Vorsicht war bei dem jungen Manne nun gerade nicht nöthig, denn dieser erzählte sofort, auf die erste Frage hin, seine ganze Leidensgeschichte, mit allen möglichen Details, schalt auf den Kutscher, der versprochen hatte, mit den Pferden und dem Koffer sofort nach Seefeld aufzubrechen, und noch immer nicht da war, und erkundigte sich endlich, ob nicht zwei Damen, in einem offenen Landauer, mit verschiedenem Reisegepäck hier vorgefahren und abgestiegen seien.

Sebald horchte auf. Auch dieser Mensch war verdächtig, auch er suchte Jemand in diesem abgelegenen Orte, aber der Beamte war zu gut geschult, um seinen Triumph über diese neue Entdeckung auch nur mit einem Worte zu verrathen, er gab im Gegentheil mit größter Artigkeit die gewünschte Auskunft.

„Zwei Damen? Eine ältere und eine jüngere – ganz recht! Sie sind vor einer Stunde hier vorübergefahren, aber ich sah sie drüben am Pfarrhause aussteigen, wo sie sich jedenfalls noch befinden. Vermuthlich eine Reisebekanntschaft, die Sie dort aufsuchen wollen?“

„Natürlich werde ich sie aufsuchen!“ rief Herr von Below. „Ich muß nur erst Toilette machen – mein Gott, jetzt fällt es mir erst ein, daß ich meinen Koffer nicht bei mir habe! Ich kann mich nicht umkleiden und in dem Aufzuge kann ich mich doch unmöglich präsentiren!“

Die Waldromantik hatte in der That dem eleganten Touristenanzug arg mitgespielt. Die hellen Beinkleider trugen die mißfarbenen Spuren des feuchten und stellenweise sumpfigen Waldbodens, mit dem der Majoratsherr beim Stolpern einige Male in Berührung gekommen war; die Gebüsche und Dorngesträuche, durch die er gekrochen, hatten seinen Rock auch nicht geschont, und an dem rechten Aermel klaffte ein großes Loch, das ihm ein tückischer Ast gerissen hatte. Er sah erst jetzt die ganze Größe des Unheils und blickte entsetzt darauf nieder.

„Mein Koffer! Wo ist mein Koffer?“ wiederholte er verzweiflungsvoll. „Der verwünschte Kutscher wird nicht darauf geachtet haben, er kann verloren, gestohlen sein, und ich stehe hier mit verdorbenen Beinkleidern und einem Loch im Aermel! Wo ist der Wirth? Ich will einen Boten hinaufschicken, ich muß meinen Koffer haben!“

Sebald versuchte, ihn zu beruhigen und ihm klar zu machen, daß der Kutscher, der für den zerbrochenen Wagen erst Hilfe herbeiholen müsse, sich dabei verspätet haben könne, aber Herr von Below hörte nicht darauf. Die Vorstellung, daß seine Reisegarderobe verloren sei und er keine Toilette machen könne, brachte ihn ganz außer sich. Er rief nach dem Wirthe und verlangte schleunigst einen Boten und ein Zimmer, um seinen Anzug wenigstens einigermaßen zu ordnen.

Glücklicher Weise war beides zu haben; der Wirth, hocherfreut über diesen ungewöhnlich lebhaften Zuspruch, lief eiligst die Treppe hinauf, um das letzte seiner Gastzimmer in Stand zu setzen, der Majoratsherr lief ihm ebenso eilig nach, ohne sich von Sebald zurückhalten zu lassen, der das Gespräch fortzusetzen versuchte; das vernichtende Bewußtsein, mit einem Loch im Aermel dazustehen, ließ ihn vorläufig die Menschennähe fliehen, aber man hörte es noch, wie er anfing, dem Wirthe genau dieselbe Geschichte des Unfalls, mit einigen Variationen zu erzählen.

Sebald kehrte inzwischen in den Garten zurück, wo sein Untergebener anscheinend mit dem Abräumen des Tisches beschäftigt war, und sagte leise, aber triumphirend:

„Haller – jetzt habe ich ihn!“

„Schon wieder einen Verdächtigen?“ fragte Haller, der sich in bescheidener Entfernung gehalten, aber doch die ganze Verhandlung mit angehört hatte.

[695] „Vielmehr den Hauptverdächtigen! Es ist zweifellos jener Helfershelfer, der erwartet wird, nach dessen Ankunft man sich so angelegentlich erkundigte. Sie hören es ja – er will gleichfalls in das Pfarrhaus.“

„Aber er will erst Toilette dazu machen, und das ist doch nicht nothwendig bei einer Verschwörung. Herr Sebald, der junge Mensch ist nicht gefährlich, er schwatzt ja fortwährend, von einem zerbrochenen Wagen und einem neuen Inspektor und einer verfluchten Waldromantik – alles durch einander, so daß man nicht klug daraus wird, aber Unheil richtet der gewiß nicht an – dazu ist er viel zu dumm!“

Sebald zuckte die Achseln, wie er es stets that, wenn der Untergebene sich heraus nahm, anderer Meinung zu sein.

„Haller, ich gebe mir nun schon so lange Mühe, Sie für den höheren Dienst auszubilden, aber Sie bleiben immer noch in den Anfängen stecken, Sie haben gar kein Talent zum Kombiniren. Sehen Sie denn nicht, daß diese so geflissentlich zur Schau getragene Einfalt nur eine Maske ist, um unverdächtig zu erscheinen? Ich sage Ihnen, dieser junge Mann mit seiner allerdings meisterhaft ausgeübten Verstellungskunst ist sehr gefährlich, viel gefährlicher als jener Andere, der uns mit seinen Civilkleidern zu täuschen glaubt und doch in jedem Worte, jeder Bewegung den Soldaten verräth. Die Gefährlichste von allen aber ist diese Valeska Blum, zu der sie beide wollen und die dort im Pfarrhause einen ganzen Kongreß von Verdächtigen um sich zu versammeln scheint.“

„Aber eine Dame!“ wandte Haller ein. „Ein junges Mädchen!“

„Das sind die Schlimmsten, denken Sie an Rußland! Welche Rolle spielen die Frauen dort bei den Verschwörungen, was liegt alles in ihren Händen! doch genug davon – wir müssen jetzt auf alle Gefahr hin eine Rekognoscirung des Pfarrhauses vornehmen. Ich muß auf der Stelle Seiner Excellenz Bericht erstatten und möchte doch irgend ein greifbares Resultat melden. Wir machen einen Spaziergang nach jener Seite hinüber, Sie tragen mir das Buch und den Feldstuhl nach, vielleicht gelingt es uns, noch irgend einen Einblick zu erhalten.“

Der Plan wurde ausgeführt, fünf Minuten später schritt Herr Sebald, mit einem großen Sonnenschirm, das Fernglas an einem Lederriemen über der Schulter, so harmlos und würdevoll nach dem Seeufer, als sei es wirklich nur seine Absicht, die Landschaft zu bewundern, Haller folgte mit Buch und Feldstuhl, und Beide schienen nur nach einer passenden Stelle zu suchen, wo sie sich niederlassen konnten.

Das kleine Pfarrhaus neben der Kirche lag mit seinen grünen Läden und blanken Fenstern so freundlich und idyllisch da, als sei es ganz unfähig, etwas so Finsteres, Blutiges, wie eine Verschwörung, in seinem Innern zu bergen. Von der Frontseite war es nicht anzugreifen, weil dort die feindliche Rekognoscirung sofort bemerkt worden wäre, aber seine Rückseite lehnte sich an die Mauer des Friedhofes, den man ganz unverdächtig betreten konnte.

Das geschah denn auch, Sebald und sein Begleiter besichtigten mit großem Interesse die einzelnen Grabstätten, lasen die Inschriften und rückten dabei immer weiter gegen die Mauer vor, die gerade dort am Pfarrhause von dichtem Hollundergebüsch beschattet war. Unmittelbar über demselben befand sich ein Fenster, das offen stand und den Einblick in ein kleines, sehr einfach eingerichtetes Gemach gewährte, das aber augenblicklich als Fremdenzimmer benutzt zu werden schien, denn es stand ein sehr eleganter Handkoffer auf dem kleinen Tischchen.

Das Zimmer war leer, aber gerade jetzt hörte man, wie ein Schlüssel umgedreht und die Thür geöffnet wurde. Sebald gab seinem Untergebenen einen Wink, und beide glitten lautlos und schnell in das Hollundergebüsch, das sie vollständig verbarg, während sie sich an die Mauer lehnten. Sehen konnten sie hier allerdings nichts, aber wenn das Fenster nicht geschlossen wurde, so mußten sie hören, was man dort oben sprach.

Das Glück begünstigte sie in der That. Die Eintretenden mochten wohl einen Blick auf den Friedhof geworfen und ihn leer gefunden haben, denn das Fenster blieb offen, und die Sprechenden schienen sogar in unmittelbarer Nähe desselben ihren Platz zu nehmen, so daß jedes Wort laut und deutlich zu den Lauschenden herniederklang.

(Schluß folgt.) 


Blätter und Blüthen.

 Herbstgedanken.
 (Mit Illustration S. 685.)

Hart an der Mauer, halb im Grün verborgen,
Fand ich ein Kreuz an einem Frühlingsmorgen.
Ein längst vergess’nes Grab schien’s. Zarte Pflege
Schützt nicht die Blumen, ebnet nicht die Wege.
Die Sonne kommt allein es zu behüten,
Sie weckt am Rosenstrauch die duft’gen Blüthen,
Bis lieblich sie in holden Farben glühen,
Sie läßt noch andre Blumen darauf blühen.

Dann ist’s geschmückt, als brächten fromme Gaben
Noch sie, die einst ihr Liebstes drin begraben. –
So blumenduftig, sonnenhell geschmückt
Hab’ ich das stille Grab im Lenz erblickt.
Da ist mir’s plötzlich in den Sinn gekommen:
Wenn Herbstesstürme all die Pracht genommen,
Wenn Winterflocken eisig drüber schnei’n,
Wie traurig muß das Grab, wie einsam sein!


Der Mühlendamm in Berlin. (Mit Illustration S. 693.) Nur sehr wenige Straßen giebt es heute in Berlin, die von der Neuzeit mit ihrem Verschönerungs- und Veränderungstrieb so gänzlich unberührt geblieben sind, wie der Mühlendamm, dieser zwischen dem Kölnischen Fischmarkt und dem Molkenmarkt in verkehrsreichster Gegend belegene, aus baufälligen Gebäuden bestehende Engpaß. Hier ist ein unverfälschtes Stück der alten Stadt erhalten, und gerade an diese Straße knüpfen sich ganz besonders eigenartige Erinnerungen.

Die Erbauung des Mühlendamms reicht weit bis ins vorige Jahrhundert. Seinen Namen trägt er nach den königlichen Mühlen, die sich an die nördliche Häuserreihe nach der Wasserfeste zu anlehnen und Tag und Nacht im Betriebe sind. Denn fast die ganze Straße, unter der ein Arm der Spree hinwegfließt und die Räder der Mühlen treibt, ist auf Pfählen erbaut. Zu Anfang der vierziger Jahre zerstörte eine große Feuersbrunst diese Gebäude und den größten Theil der nördlichen Häuserreihe in den oberen Etagen, die deßhalb auch ein moderneres Gepräge haben. Die Mühlen selbst wurden – der Neuzeit angepaßt – schnell wieder aufgeführt. Bei dem Brande, der zur Nachtzeit stattfand, kamen 16 Menschen ums Leben, entweder durch Ersticken, oder indem sie sich aus den Fenstern in die Spree stürzten und ertranken oder sich an den unten befindlichen Fischkasten zerschmetterten.

Auf dem vorliegenden Bilde nun ist das Leben und Treiben auf dem heutigen Mühlendamm veranschaulicht. Der ungeheure Verkehr wogt auf und ab von früh bis spät in die Nacht hinein und geräth nicht selten, trotz der Ordnung schaffenden Schutzmannschaft, ins Stocken.

Es ist Mittagszeit. Von der nahen Nikolaikirche hat die Stunde geschlagen. Die Kinder entströmen den Schulen und tummeln und balgen sich inmitten des Durcheinander von Omnibussen, Droschken, Lastwagen, Handkarren und Gefährten aller Art, dem die Passanten nur mit Mühe auszuweichen vermögen. Dazwischen Rufen und Schreien der Kutscher. Eilende Menschen, Lärm überall! Für die Fußgänger bieten die langen arkadenartigen Gänge unterhalb beider Häuserreihen einen sicheren Weg. Das nahe Polizeipräsidium, die Stadtvogtei und Kriminalpolizei bringen oft düstere, aber auch heitere Abwechselung in dieses Getriebe. Es passiren nur zu häufig Arrestanten oder Sistirte, unter Schutzmanns-Eskorte, begleitet von dem lärmenden Berliner Janhagel und der immer bereiten Straßenjugend.

Die elegante Welt meidet den Mühlendamm; dieser dient hauptsächlich dem geschäftlichen Verkehr, da die Straße im Herzen der Stadt liegt und die verkehrsreichsten Stadttheile verbindet.

Die eigentliche Besonderheit, die der Mühlendamm aus frühester Zeit in die Gegenwart mit herübergenommen hat, äußert sich in den zahlreichen, meist verräucherten Läden und Verkaufsgeschäften unter den Arkaden zu beiden Seiten der Straße. Da sind Trödler, Pfandleiher, Glaswaaren- und Bilderhandlungen mit Darstellungen historischer Ereignisse in seltsam primitivem Kolorit und sonstiger Ausführung, Kuchenbäcker und Destillationen, Bierläden, Schnittwaarenhändler und Schuhmacher, alles bunt durcheinander. Hier sind meist Gegenstände zum Verkauf ausgestellt, die eher an Jahrmärkte kleiner Städte, als an die Großstadt erinnern.

Der Haupt-Handelsartikel des Mühlendamms jedoch sind alte, getragene Kleidungsstücke. Dies Geschäft wird in großem Maßstabe betrieben, und die ganze eine Seite der Straße besteht ausschließlich aus Kleiderläden. Es hängen da Civil- und Uniformstücke jeder Gattung zur Schau, und manche goldgestickte Officier-Uniform, die bei Paraden und im Salon den Träger geziert hat, wandert hierher und von dort in die Theatergarderoben.

Die jüdischen Händler oder deren „Junge Leute“, im Volksmunde von altersher „Mühlendammer Jünglinge“ genannt, stehen Winter und Sommer meist in den Thüren ihrer Geschäfte und laden die Vorübergehenden [696] zum Kaufen ein. In früheren Jahren hatte diese Art des Anpreisens einen geradezu widerlichen Höhepunkt erreicht, so daß die Polizei dem Unfug steuern mußte. Wehe dem Kleinstädter, dem arglosen Landmann, der nach Berlin kam, um auf dem Mühlendamm sich zum „Neuen Menschen“ zu machen! Die Händler stürzten sich auf ihn, packten ihn und zerrten ihn, oft wider Willen, in ihre Geschäfte, um ihn zum Kaufen zu bewegen. War er dem Einen glücklich entronnen, fiel er dem Anderen sicher zum Opfer. Ihm wurden nicht selten buchstäblich die Kleider vom Leibe gerissen!

Diese Händler waren aber auch ebenso die rettenden Engel der akademischen Jugend, und mancher ehrbare Geheimrath denkt gewiß noch heute der goldenen Zeit, wo die Mühlendammer Firmen „Labandter und Sohn“ oder „Scholem nomine Brühl“ dem flotten Studio für alte Kleider Geld zum Kneipen brachten.

Das Alles hat heut freilich seinen Charakter verändert.

Wie lange noch, und auch der Mühlendamm, dieser originelle Fleck des alten, gemüthlichen Berlins, ist nicht mehr! Die morschen Gebäude sollen niedergerissen und an ihrer Stelle wird eine Prachtbrücke über die Spree gebaut werden. „Ade, du altes Berlin!“ H. H.     


Palermo. Wieder einmal geht der Name der berühmten sicilianischen Stadt von Mund zu Mund, die in dem herrlichen Thale der „Goldmuschel“, zwischen dem Fuße des Monte Pellegrino und dem Gestade des tyrrhenischen Meeres, in feenhaftem Schmucke prangend, seit Jahrtausenden gewinnlustige Kaufherren und ruhmbegierige Eroberer in ihre Mauern lockte. Aber diesmal verleugnet die Gastliche ihren stolzen Namen; das alte Panormos der Hellenen, der „Allhafen“, weigert sich, fremde Schiffe in der stillen Bucht aufzunehmen; von französischer Küste brachten die Seefahrer die schreckliche Pest an die reben- und olivenumkränzten Ufer, die Cholera haust grausam in den Vierteln der Armen und den Häusern der Vornehmen, und Palermo will sich grollend von der Welt abschließen, in wilder Verzweiflung allein fertig werden mit dem Leid, das so plötzlich über die Stadt verhängt wurde.

Sonderbar! Die mächtigen Wandlungen der Neuzeit, die Riesenfortschritte der Kultur gingen spurlos an dem Charakter des Sicilianers vorüber. Er scheint ewig der Alte zu bleiben, ewig derselbe mit den alten menschlichen Schwächen und menschlichen Leidenschaften.

Der Hafen von Palermo mit Blick auf den Monte-Pellegrino.

Vor fast einem halben Jahrhundert hatte dieselbe Geißel die Insel heimgesucht. In Palermo allein raffte sie in fünf Wochen gegen 24 000 Menschen dahin! Und mitten in der Schreckensherrschaft der Seuche erwuchs derselbe Wahn, der im finstern Mittelalter, da die Pest wüthete, zu den zahllosen Opfern derselben noch seine eigenen Opfer forderte. Damals geschah es oft, daß die unerklärliche Verbreitung ansteckender Krankheiten auf Rachsucht und menschliche Tücke zurückgeführt wurde. So klagte man einst in Mailand eine große Zahl Unschuldiger an, sie hätten im Geheimen den aus Leichen gewonnenen Ansteckungsstoff zu einer Salbe verarbeitet und mit dieser die Straßenmauern bestrichen, um also dem Weitergreifen der Seuche Vorschub zu leisten. Kein Beweis konnte für die Richtigkeit dieser Beschuldigung erbracht werden, aber der Wahn beeinflußte auch die Richter, und als die Häupter der Unglücklichen gefallen waren, setzte man an der Stätte des Justizmordes sogar eine Denksäule, welche die Schande der Verurtheilten verewigen sollte! Aufgeklärtere Zeiten haben längst jenes Schandmal entfernt, aber der Aberglaube hat sich bis auf unsere Tage erhalten. Als im Jahre 1837 die Cholera die Bevölkerung von Palermo decimirte, da erhob sich das Volk und rief laut, daß die Armen auf Befehl der Regierung von den Aerzten vergiftet würden, und die geballte Faust des Pöbels wüthete gegen diejenigen, die ihm Hilfe bringen wollten.

Heute, da die Cholera wiederum in die Stadt ihren Einzug gehalten, wiederholt sich dasselbe Schauspiel. Die aufgeregten Volksmassen wollten den Hafen sperren, die Eisenbahn wurde zerstört, damit kein Gift in das Land hineingeschleppt werde, und selbst die Desinfektionsmittel, welche die Regierung nach den bedrohten Ortschaften senden zu müssen glaubte, wurden von dem Pöbel angehalten und vor den Thoren der Stadt verbrannt. Und so groß war in den letzten Septembertagen die Aufregung der Bevölkerung, daß die bewaffnete Macht einschreiten und Ordnung schaffen mußte.

Wie stimmt diese traurige Wirklichkeit zu dem volltönenden Namen: Palermo la felice – das Glückliche! Nun, es wechseln auf Erden Stürme und Sonnenschein, und der lachende Himmel Italiens hat dieser Stadt wohl mehr Glück als Unheil beschieden. Oft hatte der Kriegsgott dieselbe heimgesucht, und seit jener Zeit, da der Karthagerheld Hamilkar Barkas mit seinem Heere drei Jahre lang auf der natürlichen Veste des Monte Pellegrino gelagert, den Römern fünfzehn Schlachten geliefert und unbezwungen die Abhänge des Berges verlassen hatte, bis zu jenem denkwürdigen Tage, an welchem Garibaldi mit seinen „Tausend“ unter dem „Regen von 2000 Bomben“ die Stadt im Sturm eingenommen hatte, ward Palermo unzählige Male von Feinden umringt und der Willkür des Siegers preisgegeben.

Aber stets hatte sich der „Allhafen“ rasch von den Schlägen des Schicksals erholt und glänzte von Neuem, gleichviel ob das Kreuz oder der Halbmond von seinen Thürmen in die weite See hinausschaute. Eine Perle im Städtekranze Italiens wird Palermo mit Recht genannt, und in ewiger Frische ist es heute noch dasselbe, wie es ein maurischer Schriftsteller des 12. Jahrhunderts gepriesen: eine Stadt von verführerischer Pracht, an die sich herrliche Lustgärten schmiegen, „wie eine reiche Halskette um den Nacken eines schönen Mädchens“. – i.      


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Albert K. in Hamburg. Ein empfehlenswerthes Buch in dem von Ihnen gewünschten Genre ist der „Internationale Citatenschatz", herausgegeben von O. Zeuschner, welcher soeben in 3. Auflage erschienen ist (Verlag von Edwin Schloemp in Leipzig).

W. P. in Neudorf. Ortschaften, welche genau den gleichen Namen führen wie Ihr Wohnort, giebt es allein im Deutschen Reiche gegen fünfzig.

B. B. in Landau. Schwindel.

Dank Gott vergelt’s, Darmstadt. Erhalten. Oeffentliche Quittung kommt später.

N. S., C. D. in M ... g., V. St., P. B. in C., G. L. in Magdeburg, J. H. in Wien, Abonnent in Th., Charlotte 11. 9., J. L. in Blankenese, A. B. in München, Rud. B. Nicht geeignet.


[Inhaltsverzeichnis dieser Nr., hier z. Zt. nicht dargestellt.]


Im unserem Verlage ist erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:

„Gartenlaube-Kalender"
für das Jahr 1886.
8. 251 Seiten mit zahlreichen Illustrationen in Holzschnitt, eleg. geb. Preis ℳ 1,50.

Allen Lesern der „Gartenlaube" als Ergänzung der letzteren empfohlen! Man bittet beim Kauf des Kalenders genau auf die Verlagsfirma zu achten, da von anderer Seite her ein sogenannter „Gartenlauben-Kalender“ verbreitet wird.

Leipzig, im Oktober 1885. Ernst Keil’s Nachfolger. 


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Ein Taschenmesser mit kurzer, breiter Klinge.