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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[569]

No. 35.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


14.

Seit einem Jahre hatte Richard Fügen die Stellung in Prag, welche ihn nach seinem Scheiden von der Moosburg längere Zeit fesselte, mit einer andern, ihm mehr zusagenden vertauscht. Er war einem Rufe nach S. als Director eines dort unlängst gegründeten Musikinstitutes gefolgt, und waren auch weder Gehalt noch Wirkungskreis ersten Ranges, so bot sich doch gerade das, was ihm zusagte: Frei von jeder andern Aufgabe, als der, eine Musikschule und den Domchor zu leiten, fand er Muße genug zu ungestörtem künstlerischem Schaffen.

Als er aus dem weiten, von großartigen Schneehäuptern begrenzten Thalgrunde in den malerischen Bergpaß einfuhr, in dessen Schooße die schöne Stadt so vornehm ruht, wallten und sprühten seine Lebensgeister in die Wette mit dem grünen Gebirgsstrome, welcher plätschernd vor ihm hereilte. Wer je den Alpen nahe gelebt hat, wird den Zug nach ihnen nicht wieder bannen. Der erste Eindruck, dessen sich Richard Fügen bewußt wurde, glich einem Heimathsgefühle und bestätigte sich ihm bald in erfreulicher Weise; denn alle Verhältnisse, in denen sich sein Leben hier bewegte, gestalteten sich befriedigend; er fühlte sich in seinem neugewonnenen Berufe wohl. In der Stellung eines Capellmeisters liegt für den Musiker ein großer Reiz; stellt sie doch Kräfte zu seiner Verfügung, über die er im vollen Sinne des Wortes nur den magischen Stab zu schwingen braucht, um den ihm werthvollsten Inhalt des Lebens zum Ausdrucke zu bringen.

Aber nicht nur in seinem Wirken nach außen hin fand Fügen Befriedigung, er hatte sich auch sein häusliches Leben schon seit Jahren behaglich eingerichtet. Seine Haushälterin, die alte, noch flinke Resi, hielt zwar ihren Herrn in gewissen Punkten etwas unter dem Pantoffel, wäre aber für ihn durch alle Feuer gegangen und verstand sich vollkommen auf seine Art und Weise. Daß sie ihm von Prag nach S. folgte, erschien Beiden als selbstverständlich; sie hatte die von ihm hier gewählte Wohnung so gefällig und behaglich einzurichten gewußt, daß er sich nicht ohne eine Art naiven Stolzes „daheim“ umschaute.

Aber heute fühlte sich der Herr Capellmeister in seiner freundlichen Wohnung nicht recht wohl. Obgleich erst der September zur Rüste ging, stürmte es doch draußen schon herbstlich, und zum ersten Male fiel es Fügen auf, wie rasch die Tage abnahmen. Draußen plätscherte der Regen, leise, unermüdlich; im Zimmer über ihm wurde Clavier gespielt – das zog ihm die Stirn kraus und verbesserte keineswegs seinem Humor. Er streckte die Hand nach der Klingelschnur aus, ohne dieselbe jedoch zu ziehen, und griff dann plötzlich nach Hut und Ueberzieher, um seine schlechte Laune spazieren zu führen.

Dieses probate Mittel, das fast etwas von homöopathischem Beigeschmack hat, versagte auch heute seine Wirkung nicht; denn Sturm und Regen, welche den Menschen zum Kampf herausfordern, sei es auch nur zu dem zwischen seinem Schirm und dem Winde, schlagen die gewöhnliche Species üblen Humors meist in die Flucht – so auch hier! Während Fügen auf seinem Gange durch die Straßen an St. Peter vorbeikam, drangen durch die schwach erleuchteten Fenster der Basilika langgezogene Orgeltöne. Die vereinzelten Klänge mischten sich mit dem Plätschern des Regens und des Petrus-Brunnens, und plötzlich trat dem Capellmeister ein Motiv klar vor die Seele, das seit Tagen schon immer vor ihm her in den Lüften geschwebt hatte, ohne sich ergreifen zu lassen.

Eilig machte er sich aus der Heimweg und kam triefend und durchfroren, aber seelenvergnügt in seiner Clause an, wo bereits die brennende Lampe seiner harrte. Es gehörte zu Fügen’s Eigenthümlichkeiten, daß er es nicht leiden konnte, in ein finsteres Zimmer zu treten; bis seine sparsamkeitsbeflissene alte Köchin sich dieser „Verschwendung“ gefügt, hatte es manchen Kampf gekostet, und noch jetzt erlebte der Hausherr zuweilen, daß er, von der Straße aufblickend, oben alles dunkel fand und die Sünderin überführen konnte, heimtückisch auf der Lauer gestanden, und sich erst des Gehorsams befleißigt zu haben, während er bereits die Treppen erstieg.

Als er, aus den nassen Hüllen geschält, jetzt in sein Zimmer trat, schimmerte ihm zur Erhöhung der glücklich gewendeten Laune von einem Tischchen her etwas Weißes entgegen. Heimzukommen und einen Brief vorzufinden gehörte für Fügen zu den guten Dingen einer Welt, die ihm überhaupt in keiner Weise als schlechte erschien. Er hatte noch niemals Anlaß gehabt, sich vor verschlossenen Briefen zu fürchten, correspondirte überhaupt nur mit Befreundeten oder den Verlegern seiner Compositionen, und durfte von Beiden meist Günstiges erwarten Dennoch grüßte er den stummer Gast vorläufig nur mit einem Augenzwinkern, setzte sich sogleich an den mit rastrirtem Papier bedeckten riesengroßen Schreibtisch und zeichnete sein Motiv auf.

Als nach geraumer Zeit die Wirthschafterin eintrat, um für das Abendbrod zu decken, und nun den Brief sachte auf den Schreibtisch legte, streifte sein Blick zerstreut die Adresse, blieb aber sofort daran hängen. Eilig streckte er die Hand aus, der Brief [570] zu ergreifen, während er aber sonst jedes Couvert aufzureißen pflegte, prüfte er dieses so genau, als wäre noch etwas anderes viel Bedeutsameres darauf verzeichnet als sein eigener Name; er griff dann nach der Scheere, um es behutsam am Rande zu durchschneiden. Seine Brauen bewegten sich, indem er das dichtbeschriebene Blatt entfaltete. Lange, lange hatte er die Züge dieser Hand nicht mehr erschaut.

Gleichsam in Uebereinstimmung mit seinen Gedanken begann Genoveva’s Brief in gleichem Sinne:

„Auf der Moosburg, October 1857.

Jahre sind vergangen, seit wir zuletzt von einander gehört, lieber Freund. Sicher gab es Gründe, welche Ihnen versagten, uns durch ein Wiedersehen zu erfreuen, obgleich Sie uns seit einiger Zeit nahe leben. Ihrer Gesinnung bin ich so sicher, daß ich Sie heute unbedenklich frage, ob Sie sich des Wortes noch entsinnen, welches Sie einst zu mir gesprochen: Sie wären bereit, Alles für meinen Siegmund zu thun? Damals antwortete ich Ihnen, daß ich Sie vielleicht einmal hieran erinnern würde. Es ist lange her, acht Jahre – aber Raum und Zeit ist keine Schranke zwischen Freunden, und ich spreche darum ohne Rückhalt.

Siegmund hat sein dreizehntes Jahr zurückgelegt, bis jetzt an meiner Seite. Ernste Gründe gebieten mir nun, ihn von mir zu geben. Ich wünsche nicht nur ihn eines weiteren, freieren Athemzuges theilhaftig werden zu lassen, sondern habe für die nächsten Jahre selbst einen Weg vor mir, auf dem mein Sohn mich nicht begleiten kann. Während dieser Zeit möchte ich ihn der Leitung eines Mannes anvertrauen, auf den ich mich in jedem Sinne verlassen darf, und ich kenne einen solchen Mann. Würden Sie, mein Freund, sich entschließen, Siegmund bis nach seiner vollendeten Berufsausbildung in Ihr Haus zu nehmen, ihm Schutz und Führung zu gönnen, als sei er Ihr eigener Sohn? Ich wäre dann ruhig.

Ich blieb nie ohne Kenntniß Ihres Aufenthaltsortes und Ergehens. Ich weiß, daß Sie unverheirathet geblieben; doch haben Sie sich ein Heimwesen gestaltet, genießen einer festbegründeten bürgerlichen Stellung und haben bleibende Stätte. Unter solchen Verhältnissen steht die Aufnahme eines jugendlichen Haus- und Lebensgenossen nicht außer Frage.

Sollte mein Vorschlag Ihnen dennoch störend sein, so rechne ich auf die Offenheit, welche Freunde einander schuldig sind. Siegmund folgt in diesem Falle seinem bisheriger Hofmeister nach Wien. Stimmen Sie zu, so wünsche ich Ihnen meinen Sohn selbst vorzustellen; erst dann, wenn Sie sich überzeugt, ob der Knabe Ihnen dieselbe Sympathie weckt, welche das Kind Ihnen abgewann, verabreden wir Weiteres.

Ich stelle es in Ihre Entscheidung, ob Sie uns in S. erwarten oder uns auf der Moosburg besuchen wollen.

Auch in dem Falle, daß Sie Gründe wider meinen Vorschlag haben, wäre es mir, wie uns Allen, sehr erwünscht, Sie hier zu sehen. Sie finden Menschen und Dinge so unverändert, wie dies nach Verlauf von Jahren überhaupt möglich ist, unverändert vor Allem das herzliche Gedenken an gemeinschaftlich verlebte Zeit.

Genoveva Riedegg.“

Fügen saß eine ganze Weile regungslos da; er hatte den Kopf auf die linke Hand gestützt, während die rechte durch den Haarbusch fuhr und dort, als Signalement für ein scharfes Gefecht hinter der Stirn, das übliche Chaos anrichtete.

Resi, die vorhin zu ihrem Schrecken den Hausherrn über den Notenblättern gefunden, welche ihren fertigen Mahlzeiten oft genug verderbliche Concurrenz machten, hatte eiligst ihre Schüsseln aufgetragen, als sie sah, daß er den Brief zur Hand nahm. Zweimal war aber die Meldung: „Es ist angerichtet, Herr Capellmeister,“ an dem achtlosen Ohre verhallt. Jetzt räusperte sie sich kräftig und sagte, als auch diese Mahnung erfolglos blieb, im Ton einer schwer gekränkter Seele: „Das Gebachene wird kalt. Es ist angerichtet, gnä’ Heer.“

Er wendete den Kopf. Ein Freudenblitz schoß aus seinen Augen; wie ein Jüngling sprang er aus, faßte die alte Person an beiden Schultern und drehte sich um und um. „Hurrah, Resi! Wir kriegen einen Sohn.“

„Was wär denn das?“ rief die Alte mit weit aufgerissenen Augen und vergaß nun selbst auch ihr „Gebachenes“.

„Einen Sohn!“ wiederholte Fügen, und all die kleinen Fältchen um seinen Mund regten und rührten sich. „Bring’ Sie mir meinen Ueberzieher! Ich will gleich um Urlaub nachsuchen – morgen oder längstens übermorgen geht’s fort.“

„Urlaub nachsuchen? Jetzt? Bei nachtschlafender Zeit? Den Rock hab’ ich zum Trocknen aufgehängt; der tropft wie eine Dachrinne, und ’s Essen steht auf dem Tisch, und die Herren sind um diese Zeit allesammt beim Wein.“

Das leuchtete dem Eifrigen ein; richtig, bis morgen früh mußte man warten. Er setzte sich an den Eßtisch und sprach lebhaft weiter, während Resi die Schüsseln abdeckelte.

„Ich verreise also nächster Tage, so für eine Woche denke ich. Dann wird Sie schon sehen, wen ich mit heimbringe.“

„Ist’s wirklich und wahrhaftig Ihr Sohn?“ fragte sie mißtrauisch. „Hab’ doch nie vernommen, daß der Heer Capellmeister ein Wittiber wäre.“

Er schüttelte lachend den Kopf.

„Das grüne Gastzimmer thut’s, aber es muß noch allerhand hinein! Morgen geht Sie einkaufen – ein nettes Bücherschränkel und ein Schreibpult und was sonst fehlen möchte. Und daß Sie mir alles schön ausputzt! Es muß ganz schmuck ausschauen und so recht behaglich. Keine Sparerei, wie Sie das gern prakticirt, alles Nummer Eins!“

„Na, na, nur stat! Das ist mir ja ein absonderlicher Gast, für den so mit allen Glocken geläutet werden soll,“ staunte die Alte und füllte das mit einem Zuge geleerte Kelchglas des Herrn auf’s Neue mit rothem Tiroler.

„Kein Gast!“ Er ward plötzlich schweigsam und versank in heiteres Sinnen. Das süße, sinnige Kindergesicht tauchte wie leibhaftig vor ihm auf, und zugleich Bild nach Bild aus unvergeßlichen Zeiten. Nichts Störendes mischte sich in die Freude, welche ihm die Adern durchströmte wie feuriger Wein. Ist es doch eines der größten Geschenke, welche die Zeit dem Menschen gönnt, daß sie alles Dunkle verzehrt, jedes Fünkchen Licht aber hell entfacht und verklärt. Das Vergangene glänzt. Was an Trübem, Leidenschaftlichem darin gährte, verrinnt in jenen Strom, welcher all unser Erlebtes aufnimmt, wie Bäche, die ihn verstärken. Es ward Fügen zu Muthe, als sei er plötzlich mit einer großen Gabe beschenkt worden; seine Zusammengehörigkeit mit den Menschen, welche ihm unter Allen, denen er je begegnet, die Bedeutendsten geworden, kam ihm stark zum Bewußtsein. Seit er von ihnen geschieden, war eine Reihe von reich ausgefüllten Jahren an ihm vorübergegangen, aber keines derselben hatte ihm Stunden gebracht, wie er sie auf der Moosburg verlebt. Das stand einzeln, mit nichts vergleichbar in seiner Erinnerung. Lange hatte er sich mit dem heftigen Zuge, dorthin zurückzukehren, herumgeschlagen. Auch dies kam zur Ruhe, doch blieb eine Lücke übrig, deren er sich endlich kaum mehr bewußt gewesen, die ihm erst heute, als sie sich füllte, deutlich fühlbar ward. Acht Jahre! Zeit genug, jeden Rausch zu beschwichtigen; weit mehr Zeit, als nöthig, ihn bis zum letzten Hauche verfliegen zu machen, wenn es nur ein Rausch gewesen. Jede wahre Leidenschaft birgt aber Besseres, als nur den Hang nach Befriedigung; etwas von dem Mitgefühl, welches sich der gesammten Menschheit gegenüber Erbarmen nennt, wächst sich im Herzen fest und läßt den Funken nicht sterben. War Genoveva’s ferne Gestalt neuerdings vor ihm angestiegen, so sprach sein Empfinden nur noch das eine Wort: Könnte ich Dir helfen!

Daß sie seiner jetzt wirklich bedurfte, sich ihm zuwandte, als es solches Bedürfen galt, erfüllte ihn mit Stolz und Freude. Voll Spannung dachte er, wie Siegmund sich entwickelt haben würde; aus dem interessanten Kinde mußte ein Knabe erwachsen sein, mit dem zu leben sich’s verlohnte. Bei dieser Vorstellung ward dem Einsamen warm und wohl. Die freudig angeregten Gedanken schweiften den nächsten Tagen voraus. Wie er wohl Alles auf der Moosburg finden würde? Unverändert – schrieb Genoveva. Kaum denkbar! „Die Kinder sind doch älter, und wir Andern wahrhaftig nicht jünger geworden – Jana?“ Er lächelte dem feinen Blumengesichte in Gedanken zu. Das war inzwischen wohl verblüht; sie mußte nun beinahe Dreißig zählen, wesentlich verändert konnte er sie sich aber wirklich nicht vorstellen – auch Lois, ihren Bruder, nicht. Maxi aber und vor Allem Siegmund! An diesem blieben seine Gedanken haften, die ihn bereits als Eigenthum ergriffen hatten; die sonnigen blauen Augen folgten ihm bis in die Träume der Nacht.




[571]
15.

Der Postillon schmetterte sein „Gott erhalte Franz den Kaiser!“ in den hellen Octobermorgen hinein, während die alte, gelbe Karriole durch die Fahrstraße von Lahnegg rasselte. Nur ein Passagier saß im Innern, doch konnte er für zwei gelten, da sein buschiger Kopf bald zum rechten, bald zum linken Wagenfenster hinausfuhr, als wollte er jedes Haus und jeden Steig zu gleicher Zeit in’s Ange fassen. So kam es, daß er schon von Weitem dem schlanken Jünglinge sichtbar wurde, der einige Schritte vom Posthause entfernt stand und sich demselben rasch näherte, als der Wagen still hielt. Sein schmales Gesicht färbte sich leicht, und die grauen Augen blickten dem Ankömmling so beredt entgegen, daß Fügen keinen Moment in Zweifel darüber blieb, wer ihn hier erwartete.

„Lois!“ rief er froh, indem er niedersprang und dem jungen Menschen beide Hände entgegenstreckte. „Das ist ja schön.“

„Grüß Gott, Herr Fügen!“ sagte Lois mit wohlklingender, tiefliegender Stimme, welche Fügen mehr noch als seine Erscheinung an die Reihe von Jahren mahnte, welche seit dem Verkehr Beider als Lehrer und Schüler verflossen waren. Der hochaufgeschossene Seminarist erschien in der langen Soutane noch größer, als er wirklich war. Schon beschattete dunkler Flaum seine Lippen, und in dem intelligenten Gesichte trat ein prägnanter Ausdruck von Kraft hervor. Doch wölbte sich die entschlossene Stirn auch jetzt noch über dämmernden, etwas verschleierten Augen, deren rascher Freudenblitz sich nach der ersten Begrüßung in Stille verlor.

„Ich kam im Auftrage der gnädigen Frau mit dem Einspänner des Auwirthes,“ sagte er, während er dem Reisenden seinen Mantelsack aus der Hand nahm.

„Fahren? Nicht doch!“ sagte Fügen. „Ich habe mich seit einer Stunde schon darauf gefreut, durch den Ort und über die Wiesen zu gehen. Der Reisesack mag sich kutschiren lassen; wir Zwei wollen wandern.“

Während Lois dem vor der Thür des Judenwirthes harrenden Kutscher das leichte Gepäck übergab, ließ Fügen seine Augen über den wohlvertrauten Platz schweifen, auf dem sich nichts verändert hatte. Dort der Brunnen mit den verwitterten Umfassungsmauern drüben das alte von der Straße etwas zurückweichende Wirthshaus, daneben dessen tiefschattiger Garten, wenige Schritte weiter der rothe Spitzthurm des hochgelegenen Pfarrkirchleins! Das Rauschen des Alpbaches drang Fügen in’s Ohr, und der Ton klang wie Heimathslaut. Nun lief der Postexpeditor aus seiner Bude, ihn zu begrüßen – dasselbe treuherzige, nur etwas faltiger gewordene Gesicht von einst! Die Judenwirthin kam über die Straße und bot ihm schon von Weitem die Hand entgegen. Ein Gefühl von Heimkehr überwallte ihn so warm und wohlig, wie seit seiner Knabenzeit nicht mehr, und wuchs, während er nun durch den Ort schritt, wo die Leute feiernd auf den Bänken vor ihren Häusern saßen. Alles erschien ihm geschmückt und festlich. Rothblühendes Bohnengeranke, purpurfarbiges Weinlaub spann sich über die Wände; vom First der steinbeschwerten Dächer hingen goldige auf Schnuren gereihte Maiskolben in Girlanden nieder und berührten fast die blaßrosa Hortensien, welche auf dem Sims der „Lauben“ gereiht standen. In dem kleinen Garten erhoben sich hochstämmige Malven in buntem Flor. Das Alles hatte er ganz ebenso gesehen vor langen Jahren, und die Menschen schienen ihm auch ganz dieselben zu sein wie damals. Er wunderte sich durchaus nicht, von allen Seiten erkannt und begrüßt zu werden, als sei er gestern erst von hier fortgegangen; der Gedanke, daß seine Ankunft durch Lois und den wartenden Wagen angekündigt worden, kam ihm nicht einmal in den Sinn; er nickte nur und warf fröhliche Worte nach rechts und links.

Erst als Lois das Pförtchen zurückschlug, welches durch leichte Umzäunung in Wiesen- und Waldrevier führte, verstummte der Wanderer. Wie oft war er in Gesellschaft Jana’s und der Kinder diesen seinen Lieblingsweg gegangen! Die Sonne stand bereits hinter den Bergen, welche ihre zackigen Schatten weithin über noch frischleuchtenden Wiesengrund warfen; dieser führte, langsam aufsteigend, durch ein kleines, vom Herbst über und über vergoldetes Gehölz.

Auf der Höhe, wo sich der Blick auf die Flußebene öffnete und die Burg in das Bild trat, stand Fügen stille. In alter Schöne prangte das Gebirge; hoch mit Schnee bedeckt glänzten seine Häupter über dem blitzenden Strom; das Womperjoch stand im Purpurschein. Nur für kurze Momente hing das Auge des Wiederkehrenden an der lauteren Herrlichkeit des Bildes; dann kam es über ihn, als sei jeder Augenblick des Zögerns eine Verschwendung, und Fuß und Sinn drängten dem Ziele um so eifriger zu. Der junge Begleiter vermochte nur eben Schritt mit ihm zu halten.

„Es ist doch schön, daß Sie mich einholen kamen, Lois,“ sagte er fröhlich. „Hatte nicht auch Siegmund Lust, von der Partie zu sein?“

„Lust genug,“ entgegnete der junge Mensch mit einem Lächeln, das seinem festgezeichneten Munde besonders gut stand. „Seine Mutter bat ihn aber zu Hause zu bleiben, und wenn die bittet, dann thut oder läßt er Alles, so brennend er auch darnach verlangen möchte. Ich glaube, die gnädige Frau hält darauf, dabei zu sein, wenn Sie unsern Siegmund treffen Und sie hat Recht. Uebrigens – was ich schon vorhin bitten wollte, Herr Fügen: sprechen Sie doch nicht so fremd zu mir! Noch bin ich Schüler, wie zur Zeit, als Sie sich meiner annahmen, und ich hörte so gern wieder das alte Du.“

Fügen schüttelte den Kopf und streifte mit der Hand leicht über das Gewand, welches des Jünglings künftigen Stand bezeichnete. Der ehrliche Blick, welcher ihm begegnete, gewann es ihm dennoch ab.

„Na, für die paar Tage, für diesmal mag’s noch gelten, lieber Geselle,“ sagte er. „Jetzt erzähl’ mir aber von der jungen Gesellschaft, von Siegmund, aber auch von der Maxi! Im Briefe, der mich herbeschied, stand von ihr kein Wort; sie ist doch noch auf der Moosburg? Ich bin neugierig, was aus dem Blitzmädel für ein Kräutlein geworben ist. Was treibt sie, was hat sie gelernt? Ist sie noch immer Dein Verzug?“

Lois’ freie Stirne trübte sich.

„Was hätten wir viel mit einander zu theilen!“ sagte er herb. „Spielzeit ist vorbei, und die Maxi hört nicht. Seit sie aus der Schule ist, hat sie von meiner Jana gelernt, Blumen und Kränze zu winden; darin ist sie geschickt, und verdient sich ihr Gewand damit.“

„Schau, schau! ist das Sprühteufelchen so seßhaft geworden? Dann hat sie Jana auch wohl noch mehr abgesehen, als Kränze winden?“

„Ist nicht weit her,“ sagte Lois rasch und brach dann ab. Seine ernsten Augen wurden weich. „Meiner Jana ließe sich freilich viel absehen, gleich sehen wird ihr aber nicht leicht irgend wer. Ich möcht Ihnen lieber nichts von ihnen Allen berichten, Herr Fügen. Sie sind ja bald mitten drinnen – es dünkt mich gar sonderbar über die eigenen Leute zu reden, und – die auf der Moosburg kommen mir eben vor wie meine Leute, wenn mir auch Keiner verwandt ist, außer der Jana.“

„Dann erzähle mir vom Lois!“ lächelte Fügen; „dagegen wirst Du wohl nichts einzuwenden haben – wie? Daß Du Deine geistlichen Gedanken festgehalten hast, sehe ich. Nun möcht ich auch erfahren, wie es mit der Musik stehst und ob es Dir im Seminar behagt?“

Der junge Mensch antwortete nicht gleich.

„Von Musik kann nur wenig die Rede sein,“ sagte er mit einem leichten Seufzer. „Das ist der Regel unterworfen, wie alles Andere. In den Ferien aber – ganz verlernt hab’ ich’s nicht; ich übte, wo und wie es möglich ward, und Jana läßt sich gern von mir begleiten. Im Uebrigen – jeder Beruf legt seine Opfer auf.“

„Wie alt bist Du jetzt?“ fragte Fügen nachdenklich. „Siebenzehn, wenn ich mich recht entsinne? Richtig! Hm! Weltentsagung ist ein großes Wort. Du wirst darüber mit Dir im Reinen sein. Manch ein Ding, was jeder Andere darf, muß Hochwürden der Herr Curat bleiben lassen.“

Lois’ Wangen färbten sich tief.

„Das gerade ist schön. Wenn der Geistliche nicht wie jeder Andere darf, so zeigt das nur, wie hoch ein Priester steht. Er muß in der Gemeinde sein, wie die Kirche unter den Häusern, fester aufgebaut und höher als Alles, was um ihn her ist. Und was dürfte man denn nicht? Ich möchte kein Mönch werden, der sich lossagen soll von jeder Liebe und jedem Umgang, aber thun möchte ich, wie unser Herr Jesus, der auch der Welt entsagt hat und doch mitten unter den Menschen wohnen geblieben ist und Theil genommen hat an all ihrem Leid und Freud’ und für sich selber nichts begehrt hat, als die Menschen in’s Himmelreich zu führen – das kann nicht allzu schwer sein und Schöneres giebt es nirgends.“

[572] Fügen drückte des Jünglings Hand, ohne ein Wort zu entgegnen. Er wußte kaum, ob es Befriedigung oder Trauer war, was er ihm gegenüber empfand. So viel edles Feuer in seinem jungen Freunde! Aber wäre ihm nur Raum gegeben zu freierem geistigen Fluge! Die Ueberzeugung, daß große Enttäuschungen dieser jungen Seele bevorstünden, drängte sich ihm schmerzlich auf. „Stoff zu etwas Großem!“ dachte er, „allzu großartiger Stoff für einen Dorfpriester!“ Und wieder hielt sein Gedanke still; Schilderungen, die er vom Leben der Gebirgspfarrer vernommen, stiegen seiner Erinnerung auf. Wie konnte so ein Pfarrer menschlich schön und groß wirken! Welcher Hingabe bedurfte es, im Hochgebirge, inmitten armer, weit zerstreuter Gemeinden, in tiefer geistiger Einsamkeit auszudauern, arm an Genuß, reich an Opfern und Entsagung, selbst an Gefahren! In solchem Beruf war Kraft und Feuer nicht verschwendet; es bedurfte dessen in seltenem Maße, um nicht zu erlöschen, das karge Leben von innen heraus zu nähren und zu erwärmen. Die bewegliche Phantasie Fügen’s gestaltete ein Zukunftsbild, das sein Denken so erfüllte, daß er die Scenerie um sich her vergaß und im Geiste zwischen jäh niederfallenden Alpenwänden steile, schneebedeckte Pfade wanderte. Und doch schritt sein achtloser Fuß bereits den Hügel zur Moosburg hinan. Auf überraschende Weise ward er hieran erinnert; aus dem Buschwerk zur Rechten des anssteigenden Weges brach mit freudigem Gebell der Neufundländer, stürzte dem Ankömmling entgegen, hob sich wie zum Sprunge und ließ, als Zeichen des Wiedererkennens, die beiden Vordertatzen auf Fügen’s Schultern nieder. Ehe sich dieser so recht auf die Situation besonnen hatte, klang helles Lachen auf.

Unwillkürlich wendete er den Kopf und erblickte zwischen dem goldigen Land der Büsche einen dunklen Mädchenkopf, dessen große Augen ihn anleuchteten; das glühende, blühende Gesicht lachte über und über. Halb verlegen, halb ärgerlich strebte er sich der Zärtlichkeiten des vierfüßigen alten Freundes schleunigst zu entledigen ehe dies ihm aber gelungen, war die Erscheinung schon verschwunden. Endlich frei geworden, wandte er sich lebhaft gegen Lois. „Wer ist das gewesen?“

„Das fragen Sie, Herr Fügen? Natürlich die Maxi!“

„Warum nicht gar! Die ist ja noch ein Kind – dieses bildschöne Geschöpf aber –“

„Sie war’s,“ murmelte der junge Mensch.

Ehe Fügen hierauf erwiderte, hatte sein der flüchtigen Erscheinung nachspähender Blick das Haus gestreift und haftete nun an einem der Fenster. Mutter und Sohn standen innerhalb desselben, und ein weißes Tuch flatterte zum Willkommgruß. Fügen’s Herz begann rascher zu schlagen. Eine starke Aufregung ergriff ihn plötzlich; ohne ein weiteres Wort, ohne um sich zu schauen eilte er vorwärts durch die wohlbekannte Pforte, die Treppen hinauf, dem Terrassenzimmer zu, wo ihm die beiden Gestalten erschienen waren. Als er die Schwelle überschritten hatte, sah er im ersten Moment nur Genoveva. Ja, sie war es, in ihrer ganzen Macht. Als sie auf ihn zutrat und ihm die Hand bot, traf es ihn wie mit einem elektrischen Schlage. Der dunkle, magnetische Blick setzte sein Innerstes in jähe Bewegung, als sei ein Pendel, der lange stillgestanden, plötzlich berührt, und die Uhr schlüge nun den alten Tact, nachdem sie Jahre hindurch tief geschwiegen. Aber nicht umsonst geht ein Mann in kräftigem Wirken und Schallen durch eine Reihe von Jahren. Richard Fügen empfand die Gewalt Genoveva’s, gleichzeitig blieb er sich aber des Willens bewußt. Mit festem Händedruck erwiderte er die Begrüßung der edlen Frau, und schon im nächsten Moment leuchtete ihm wieder schöne Freude aus den Augen.


(Fortsetzung folgt.)




Frauen der französischen Revolution.

Von Rudolf von Gottschall.
4. Charlotte Corday.

Wohl keine der Heldinnen der Revolutionszeit hat größere Sympathien erweckt, als Charlotte Corday, welcher selbst ein Autor von so sittlichem Hochgefühl wie Jean Paul einen begeisterten Dithyrambus widmete. Charlotte Corday erscheint als die idealste Frauengestalt jener Zeit; ihre Jugend und Schönheit trugen nicht wenig dazu bei, sie zum Gegenstande schwärmerischer Verehrung zu machen; der Abscheu, den man gegen den blutdürstigen Marat hegte, umgab seine beherzte Mörderin mit einem Heiligenschein.

Charlotte de Corday und d’Armans, aus einem altadeligen Hause, war am 27. Juli 1768 im Kirchspiele von Ligneries geboren; sie stammte mütterlicherseits von dem großen Dichter Corneille, dessen Verse sie oft zu citiren pflegte und dessen schwunghafter Heldenmuth in ihrer Seele lebendig war. Ihre Eltern lebten in den allerbescheidensten Verhältnissen, und ihr Vater verfügte nur über eine Jahresrente von 1500 Franken. Charlotte wurde anfangs in einem Benedictinernonnenkloster erzogen und von den schwarzgekleideten, weißverschleierten Nonnen im Schreiben, Sticken und Zeichnen unterrichtet; das ernste, schöne Mädchen gewann namentlich in der letzteren Kunst eine große Fertigkeit.

Als die Revolution die Klöster aufhob, wurde Charlottens Erziehung der ältesten Schwester ihres Vaters, einer Frau von Bretteville, anvertraut, die als sechszigjährige Wittwe in Caen ein düsteres, melancholisches Haus bewohnte. In enger Freundschaft mit Eleonore von Faudors verbunden, mit der zusammen sie die ersten Gesellschaften der Stadt besuchte, wuchs Charlotte hier auf. Ihre Lieblingsbeschäftigung war eine ernste Lectüre, und schon damals las sie mit großem Interesse die Zeitungen. Die Freiheitsgedanken der Revolution fanden in ihr ein lebhaftes Echo.

Charlotte Corday war mit zweiundzwanzig Jahren eine Schönheit geworden; wenigstens schildern sie ihre Lobredner als eine solche. Sie rühmen an ihr eine regelmäßige und kräftige Figur, die doch zugleich zierlich und elegant war; jede ihrer Bewegungen athmete Anmuth und Ehrbarkeit; ihr Mund und ihre Zähne waren schön, ihre Haare kastanienbraun, ihre Augen blau mit langen Wimpern. Ihre tadellosen, etwas strengen Gesichtszüge, ihre edel geformte Nase, Hände und Arme hätten dem Bildhauer zum Modell dienen können. Ihre Sprache hatte Klarheit, Gemessenheit, einfache und edle Natürlichkeit und verführerischen Wohllaut, der durch ausnehmende Modulationsfähigkeit unterstützt wurde.

Doch das Lob der Schönheit ist nie ein unbestrittenes gewesen; nicht nur ist der Geschmack ein verschiedener, auch die politische oder sonstige Voreingenommenheit bestimmt unser Urtheil. So erging es auch Charlotte Corday; die jakobinischen Blätter jener Zeit entwerfen durchaus nicht ein so schmeichelhaftes Bild von der jungen Heldin, die ihnen nur als eine verruchte Mörderin erschien. Die „Gazette Nationale“ brachte folgende officielle Photographie, welche die Provinzialblätter der Regierung nachdrucken mußten: „Jenes Weib besaß keine Spur von Schönheit; sie war ein Mannweib, mehr fett als frisch, mit männlichem Wesen, ohne Grazie und schlampig, wie es ja die weiblichen Philosophinnen zu sein pflegen. Ihr Gesichtsausdruck war bäuerisch, anmaßend, ihre Farbe knallroth, und doch genügte ein weißer Teint, Jugend und ein berüchtigter Name, um sie in einem Verhör für eine Schönheit gelten zu lassen. Charlotte Corday hatte bei ihrem Tode ein Alter von fünfundzwanzig Jahren; sie war im Grunde bereits eine ,passirte‘ Schönheit.“

Aber die Nachwelt ist im Stande nach Bildern und Büsten sich ein selbstständiges Urtheil über die todesmuthige Schwärmerin zu bilden, das nur zu Gunsten ihrer Schönheit ausfallen kann und jene Schilderung der jakobinischen Regierungsblätter als tendenziöse Carricaturzeichnung erscheinen läßt.

Es sind durchaus innerliche Vorgänge, welche in dem heroischen Mädchen den Entschluß zur Reife brachten, den Führer der blutrothen Demagogenpartei, Marat, zu ermorden; eine äußere Anregung dazu gab die Anwesenheit der flüchtigen Girondisten in Caen, welche das Volk zur Empörung gegen die Pariser Schreckensherrschaft aufriefen. In Marat sah sie den blutigen Verfolger dieser jungen hochbegabten Männer, von denen sich einige, wie Barbaroux, auch durch äußere Schönheit auszeichneten. Charlotte Corday wohnte oft den Sitzungen des Insurrectionscomités bei, begeisterte sich für Buzot’s glänzende Reden, für Barbaroux’ feurige Beredsamkeit und sah in ihnen die Märtyrer der edlen Republik; sie

[573]

Charlotte Corday vor ihrem letzten Gange.
Oelgemälde von Victor v. Schubert.
Nach einer Photographie von F. Köbke in Dresden.

[574] vernahm von den neuen Proscriptionen, welche die Schreckensmänner in allen Provinzstädten Frankreichs vorbereiteten. Marat war der giftigste Gegner einer Partei, zu der sich Charlotte begeistert bekannte; er stand damals im Zenith seines Ruhmes und mochte bedeutender scheinen, als er in Wirklichkeit war; denn die eigentlichen Regierungsmänner hielten ihn doch nur für einen blutdürstigen Bajazzo. Charlotte Corday aber sah sein widerwärtiges Bild in diesem Vergrößerungsspiegel; sie sah in ihm ein Scheusal, welches den Untergang der besten Männer und den drohenden Bürgerkrieg allein verschuldete; denn der Aufstand war durchaus nicht aussichtslos; General Wimpfen, der in der Bretagne stand, hatte sich für ihn erklärt, und der Marsch nach Paris war die große Losung des Augenblickes. Da hielt sich Charlotte für berufen, mit einer einzigen That ein großes Blutvergießen zu hindern oder mindestens dem Sieg der Girondisten den Weg zu bahnen.

Unter heißen Thränen rang sie mit dem Entschlusse. Man hat behauptet, sie sei von den Girondisten zu der Blutthat angestachelt worden, aber sie hat dies im Verhör geleugnet, und man muß ihr glauben; denn hätte sie einem Buzot und Barbaroux ihren Entschluß mitgetheilt: keiner würde ihn gebilligt haben. Was half ihnen Marat’s Tod? Er war ein Götze, aber kein Führer des vielköpfigen Jakobinerthums; es gab keinen Einzelnen, der damals die Bewegung leitete, jedenfalls aber waren Robespierre und Saint-Just bedeutender und einflußreicher, als der Feuilletonist des rothen Schreckens, der im Keller seine Brandbriefe schmiedete. Andere behaupten, aus Liebe zu dem schönen Burbaroux habe Charlotte Corday zum Dolche gegriffen. Nun verkehrte sie zwar in Caen mit ihm wie mit den anderen Girondisten; wahrscheinlich hegte sie auch eine stille Neigung für den begabten, feurigen Volksvertreter, aber nichts spricht dafür, daß diese Liebe zu einer Erklärung geführt habe oder erwiedert worden sei. Ganz im Stillen reifte der Plan des kühnen Mädchens; sie wollte ihre Freunde überraschen mit der vollbrachten That, mit dem Opfer des eigenen Lebens, das sie ihnen und dem Vaterlande darbrachte.

Ihre Verwandten bemerkten doch, daß etwas Außerordentliches mit dem Mädchen vorging. Madame de Bretteville fand des Nachts aus Charloltens Tisch eine alte, offene Bibel, in welcher die Worte mit Bleistift unterstrichen waren, welche Judith’s Aufbruch aus der Stadt erzählten, als sie sich zu Holofernes begab:

„Da steigt sie auf in fliegendem Gewand,
Ein Schwert, ein blutend Haupt in ihrer Hand,
Die Heldenjungfrau aus der Vorzeit Tagen,
Die ihres Volkes wüsten Feind erschlagen.

5
Als des Gelages wilde Luft verklungen,

Als nun der Mond durch die Gardinen lauscht,
Hat sie mit nackten Armen ihn umschlungen,
Hat sie mit süßen Küssen ihn berauscht.

Bethulien’s Tochter kennt die Schande nicht -

10
Die Schmach wird Ehre, das Verbrechen Pflicht;

Haß darf sich auf der Liebe Lager betten,
Gilt es die Rettung aus Tyrannenketten:
Ist Marat nicht der neue Holofernes,
Der Blut des Volks aus Todtenschädeln zecht?

15
Auf, Judith, folg’ der Führung. Deines Sternes

Und greif’ zum Schwert für Deines Volkes Recht!“[1]

Um ihre Absicht zu verheimlichen, spiegelte sie ihren Verwandten vor, daß sie sich nach England begeben wolle, weil sie die Schrecken des Bürgerkrieges fürchte, und nach einem Besuch bei ihrem Vater in Argentan reiste sie am 9. Juli 1793 mit der Diligence von Caen nach Paris:

„Auf nach Paris! Unheimlich hier umfängt
Die Menge sie, die rastlos wogt und drängt.
Hier steht das Volk und schaut mit stumpfen Mienen
Das blut’ge Tagewerk der Guillotinen.

5
Dort rothe Mützen an den Klosterpforten,

Wo der Zerstörung wilde Fackel brennt:
Hier Wiederhall von jenen Donnerworten,
Womit Europa richtet der Convent.

Hier Marat’s Bild, mit Blumen reich geziert –

10
Wie unter düstern Brau’n das Auge friert!

Die Lippe lacht, wie Nero’s Lippe lachte,
Als rings ein brennend Rom sein Lied entfachte.
In dem Verstecke dieser Züge lauert,
Zum Sprung bereit, die Schlange Tyrannei,

15
Und auf der Stirne düstrem Teppich kauert

Des Wahnsinns Sclavin – wilde Schwärmerei.

Im Laden neben diesem Bilde blinkt
Ein blanker Dolch, der freundlich lockt und winkt.
Sie eilt, mit ihm bewehrt, zu Marat’s Schwelle;

20
Man läßt sie ein in des Tribunen Zelle –

Krank liegt und schwach der fiebernde Titane;
Ist es ein gotterleuchteter Prophet?
Ist es ein wüster trunkener Schamane,
Der sich im Kreis mit wirren Sprüchen dreht?

25
Er schreibt und schreibt – das durstige Papier

Schlürft Blut und Tinte ein mit gleicher Gier.
Des Todes Schlange zischt in jeder Zeile;
Die Worte sind geschwungne Henkerbeile.
Der schwache Hauch, so nahe dem Ersterben,

30
Der kaum die Brust mit schweren Zügen hebt,

Bläst aus der Asche noch ein neu Verderben,
Das in den Flammen Volk und Land begräbt.

Die Lichterscheinung, die in’s Zimmer tritt,
Bringt eines fremden Himmels Schimmer mit.

35
Ja, so besucht ein Strahl der ew’gen Sonne

Den schmutz'gen Cyniker in seiner Tonne.
Ein Abendroth, um lichte Höh'n geschwungen,
Wirft so in trübe Fluth den Widerschein,
Besucht die Sümpfe in den Niederungen

40
Und kehrt bei ekeln Schlammgeburten ein.


Schön war das Weib … wie Sabbathstille lag
Auf ihrer Stirn der Seele heitrer Tag;
Es war der bleiche Marmor ihrer Wangen
Von einem seidnen Lockennetz umfangen.

45
Ob auf der Stirn des Geistes Hoheit thronte,

Die Wange trug der Liebesgötter Kuß,
Und auf den festgeschloss’nen Lippen wohnte
Ein grausam unerbittlicher Entschluß.

Und Marat spricht von Opfern ohne Zahl;

50
Da zuckt sie rasch den mörderischen Stahl.

Sie trifft in’s Herz – ein letztes Hülferufen,
Schon drängt das Volk sich an des Hauses Stufen.
Es stürzen von den Straßen die Trabanten;
Geschrei und Säbelklirren füllt das Haus.

55
Den sie verehrten, ihren Gottgesandten,

Er röchelt hier sein letztes Leben aus.

Du bleich Madonnabild, befleckt mit Blut,
Schon reißt dich lärmend fort die Volkeswuth.
An Marat’s Leiche knie’n sie mit Gebeten,

60
Indeß sie wüthend dich mit Füßen treten.

Du thöricht Weib – Du willst den Frieden bringen
Mit blut’gem Stahl – Du heilst mit Mord den Mord –
So schließt sich That an That in blut’gen Ringen
Zu einer unheilvollen Kette fort.

65
Auf das Schaffot! Der Regenbogen steht

Am Himmel hell – der Geist des Friedens weht.
Die schönen reizumfloss’nen Formen klagen
Der schönen Welt ihr schmerzliches Entsagen.
Die Jugend pocht mit ungestümem Bangen

70
Im stolzen Busen, der sich wallend hebt;

Die Liebe folgt und stürmisches Verlangen,
Das mit der schönen Leiche sich begräbt.

Das Guillotinenmesser zuckt mit Gier
Nach dieses Leibes, dieser Reize Zier;

75
Dort an der Grube lauern schon die Raben –

Doch Marat wird im Pantheon begraben.
Es branden unten wild der Menge Fluthen,
Und rastlos nimmt Vernichtung ihren Lauf
Am Himmel flammen Abendsonnengluthen:

80
Er schließt des Friedens gold’ne Pforten auf.“

Charlotte Corday ging entschlossen zum Schaffot. Unser Bild veranschaulicht uns die jugendliche Heldin kurz vor ihrem letzten Gange. Ueber ihr Ende berichtet Lamartine in seiner „Histoire des Girondins“ etwa Folgendes:

„Der Künstler, der die Züge Charlotte Corday’s vor dem Tribunal flüchtig entworfen hatte, war Hauer, Maler und Officier der Nationalgarde der Section des Théâtre Francais. Bei ihrer Rückkehr in den Kerker bat sie den Schließer, den Künstler eintreten zu lassen, damit er seine Arbeit vollenden könne. Hauer [575] wurde hereingeführt. Charlotte dankte ihm für das Interesse, das er an ihr zu nehmen scheine, und saß ihm mit Heiterkeit. Sie unterhielt sich mit Hauer über seine Kunst und den Frieden, den ihr die vollbrachte That ließ. Sie sprach von den Freundinnen ihrer Kindheit und bat ihn, das Portrait, welches er im Großen ausführte, im Kleinen zu copiren und dieses Miniaturbild ihrer Familie zu schicken. Während der Unterhaltung wurde leise an der Thür des Kerkers geklopft. Man öffnete – es war der Henker mit der Scheere und dem rothen Hemd. Charlotte erbleichte und schauderte über diese Zurüstungen.

‚Wie, schon jetzt?‘ rief sie aus. Sie faßte sich aber bald.

‚Mein Herr,‘ sagte sie zu dem jungen Künstler, ‚ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll; ich habe Ihnen nichts zu bieten, als dies; bewahren Sie es als ein Andenken an meine Dankbarkeit!‘

Mit diesen Worten nahm sie dem Henker die Scheere aus der Hand, schnitt eine Locke von ihrem langen Haar und überreichte sie Hauer. Die Familie Hauer’s besitzt noch das Portrait, dessen Vollendung durch den Tod unterbrochen wurde. Nur der Kopf war gemalt; die Büste war kaum skizzirt. Der Maler stellte Charlotte später im rothen Hemde dar, das sie auf dem Schaffote trug.

In dem Augenblicke, als sie auf den Karren stieg, um zum Schaffot zu fahren, brach ein Gewitter über Paris los. Schaaren wüthender Weiber verfolgten den Karren mit ihren Verwünschungen, aber Charlotte ließ ihren glänzenden Blick voll Heiterkeit und Mitleid über das Volk gleiten.“

Ja, sie fühlte sich wie eine Rachegöttin, die für hundert unglückliche Opfer das Gericht an ihrem Henker vollzog. Scheidend gewann sie noch einen begeisterten Verehrer, den Mainzer Lux, der in leidenschaftlicher Bewunderung ausrief: „Seht, sie stirbt würdiger als Brutus!“ Er büßte seine Begeisterung mit dem Tode. Zur Feier der jugendlichen Heldin aber stimmte André Chènier seine Leier. Und jenseits des Rheins entflammte sie den Sänger der „Messiade“ und den Dichter des „Titan“ zu Oden in Vers und Prosa, die dem Schatze unserer Nationalliteratur angehören.




Die Veredelung der Getreidearten.

Stellen wir an unsere heutigen Landwirthe die Frage, ob sie sich jemals bemüht haben, aus den bereits vorhandenen und von ihnen cultivirten Getreidevarietäten neue und bessere zu ziehen, so werden sie in den meisten Füllen über ein derartiges gelehrtes Ansinnen bedenklich die Köpfe schütteln. Sie unterlassen es zwar nicht, ihre Pferde und Hunde, ihre Rindvieh- und Schafheerden durch rationelle Zuchtmethoden zu veredeln; sie thun dasselbe mit ihren Obstbäumen und wissen auch zu ihrem Vergnügen aus den alten Rosenstöcken im Blumengarten neue Arten zu ziehen; daß sie aber die wichtigste Frucht, welche sie bauen, züchten, daß sie Getreide veredeln könnten, daran haben sie in der Regel gar nicht gedacht. Und doch ist die Veredelung der Pflanzen eine längst bekannte Thatsache. Wir brauchen nur in eine Kunstgärtnerei zu gehen, um uns zu überzeugen, daß man aus bereits vorhandenen Pflanzenarten neue Varietäten ziehen kann, welche uns durch buntere Farbenpracht, sonderbare Blätter- und Blüthenformen erfreuen.

Schon in der Schule wird uns übrigens gelehrt, daß die Gärtner neue Varietäten der Blumenpflanzen zu bilden vermögen, indem sie den Pollen der einen Varietät auf die Narbe des Blüthenstempels der andern übertragen, den Fruchtknoten hierdurch befruchten und auf diese Weise Samen einer neuen „Bastardpflanze“ erhalten. Dieser Zweig der Kunstgärtnerei ist so bekannt, daß wir Näheres darüber nicht zu berichten brauchen.

Aber wir haben dennoch auf dieses Beispiel hingewiesen, weil die Zucht einer einzigen neuen, für unser Klima besser passenden und reichlicheren Ertrag liefernden Roggen- und Weizenvarietät in der That für die Menschheit von weit bedeutenderem Nutzen wäre, als alle die bis jetzt neu gezogenen, noch so farbenprächtigen Blumen. Leider herrscht in den landwirthschaftlichen Kreisen gegen diese wichtigen Arbeiten eine unerklärliche Abneigung, und so kam es, daß die uralte, für die Völker unentbehrliche Landwirthschaft in dieser Hinsicht von der jüngeren Luxusindustrie der Gärtner weit überflügelt wurde.

Betrachtet man überhaupt die Geschichte der Getreidearten, so kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, daß sich auch ihnen gegenüber das alte Sprüchwort von der menschlichen Undankbarkeit bewahrheitet habe. Wissen wir denn genau, weß Landes Kinder die vier Haupternährer der Menschheit, die vier Grasarten, Roggen, Weizen, Hafer und Gerste sind? Nur dunkle Vermuthungen, keinen Aufschluß, giebt hierüber die Wissenschaft. Und würde man den gebildeten Städter nach dem Aussehen der Brodfrüchte, welche er täglich genießt, befragen, wie oft würde man alsdann eine falsche und wie oft gar keine Antwort erhalten!

Unsere städtischen Leser, welche das einst in der Schule gewonnene Bild vom Bau der Getreidepflanzen nunmehr wieder aus dem Gedächtnisse verloren haben, bitten wir daher, zunächst die auf der Rückseite befindliche Abbildung zu betrachten. Die einzelnen Theile unserer Getreidearten werden dort so genau veranschaulicht, daß wir uns ein weiteres Eingehen auf diesen Gegenstand füglich ersparen können. Nur auf den Bau der Grasblüthe müssen wir ganz besonders die Aufmerksamkeit lenken. Die inneren Theile der Blüthe bei den hier in Frage kommenden Getreidearten, die drei Staubgefäße und der Stempel, sind in der Regel von je zwei Klappen oder Spelzen, den Kelch- und den Blüthenspelzen eingeschlossen. Diese öffnen sich nur bei schönem Wetter und nach erfolgter Befruchtung der Stempelnarbe durch den reifgewordenen Pollen, wobei an der Aehre die grüngelben Staubbeutel zum Vorschein kommen. Im gewöhnlichen Leben pflegt man diesen Zustand gerade für die Getreideblüthe zu halten, wiewohl er nur zeitweise eintritt und die Getreidearten blühen und befruchtet werden können, ohne daß die Klappen sich öffnen.

Kehren wir jedoch zu unserm Hauptthema zurück, und betrachten wir die in unserem Jahrhunderte angestellten Versuche über die Veredelung der Getreidearten, welche in der Geschichte des Ackerbaues einen wichtigen Markstein für alle Zeiten bilden werden![2]

Neue Varietäten der Getreidearten können aus zwei Quellen gewonnen werden: man findet sie auf angebauten Feldern unter anderen Pflanzen als sogenannte Naturspiele oder man züchtet sie durch Kreuzung verschiedener Sorten mit einander.

Der vor wenigen Jahren verstorbene, um die Landwirthschaft hochverdiente Schotte Patrick Shirreff hat bei seinen Versuchen zunächst den ersten Weg betreten. Als er im Frühling des Jahres 1819 über ein Weizenfeld der Farm Mungoswells ging, bemerkte er eine sich ausbreitende grüne Pflanze, welche in Folge des strengen Winters sehr gelitten hatte. Shirreff suchte sofort durch Hinzubringung von Dünger ihr Wachsthum zu kräftigen, und die Pflanze ergab schließlich eine Ernte von 63 Aehren mit 2473 Körnern, welche im nächsten Herbste ausgesäet wurden. Das Korn dieses Weizens zeigte im Vergleich zu den anderen bekannten Varietäten besondere Eigenschaften, und nach vier Jahren brachte es Shirreff unter dem Namen „Mungoswells wheat“ in den Handel. Dieser Weizen wird nun bis auf den heutigen Tag in England cultivirt, wiewohl ihm vielfach ein anderer Name beigelegt wurde.

In dieser Weise entdeckte später Shirreff andere Varietäten, und als seine Bemühungen allgemeiner bekannt wurden, sandte man ihm von verschiedenen Orten Englands Aehren, welche sich durch ein ungewöhnliches Aussehen kennzeichneten und aus welchen neue Varietäten von Weizen, Gerste und Hafer gezüchtet wurden.

Shirreff begnügte sich aber nicht mit dem Aufsuchen und Aufziehen dieser zufällig auftretenden Naturspiele, sondern betrat seit 1856 den allein richtigen Weg, indem er zur künstlichen Erzeugung neuer Varietäten überging.

Die Thatsache, daß man die Weizenarten mit einander kreuzen könne, war übrigens schon damals nicht unbekannt. Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hatte nämlich der durch seine Erbsenkreuzungen berühmte englische Gärtner Knight verschiedene Sorten Weizen unter einander gesäet und dadurch, daß der Blüthenstaub der einen Pflanze durch Wind und durch Insecten auf die Blüthen der anderen übertragen wurde, neue Varietäten erhalten. Knight constatirte jedoch nur die Thatsache, die weder von ihm noch von Anderen praktisch verwerthet wurde. Mit Knight’s Verfahren [576] würde man außerdem nicht weit vorwärts kommen, da in demselben die Kreuzung vom Zufall abhängt.

Anders verhält sich die Sache bei Shirreff, welcher bei seinen Operationen die notwendigen Sicherheitsmaßregeln, unter denen die bestimmt beabsichtigte Kreuzung allein gelingen kann, einführte. Nachdem er die entsprechenden Varietäten gewählt hatte, begann er die Operation mit Verkürzung der Mutterähre, das heißt derjenigen, welche mit den Pollen der andern Varietät befruchtet werden sollte.

Er entfernte von den einzelnen Aehrchen eins um’s andere und ließ nur die beiden an der Außenseite befindlichen Kapseln an einem Knoten stehen. „Eine so präparirte Aehre,“ schreibt er, „dürfte dann aus vier oder sechs Knoten mit acht oder zwölf Kapseln bestehen, und die Verstümmelungen, welche die Aehre erlitten, erleichtern die späteren Manipulationen und hindern die oberen Blüthen am Ausschütten ihres Pollens auf die in Operation befindlichen.

Die vier Haupternährer der Menschheit.
Zweizeilige Gerste, Hordeum distichon L., a ein Aehrchen, daneben links ein Stück. Granne vergr., b c Samenkorn, vordere und hintere Seite. - 2. Gemeiner Weizen, Triticum vulgare L., d ein einzelnes Aehrchen mit dem zugehörigen Spindelgliede, e dasselbe auseinander gebreitet; man unterscheidet daran die beiden Kelchklappen und die fünf Blüthchen: 1, 2, 3, 4, 5, von denen 4 und 5 verkümmert sind; f ein Samenkorn von der innern gefurchten Seite, darüber 3 andere von der Rückenseite, das mittelste kräftigste ist aus dem 2. Blüthchen. - 3. Gemeiner Roggen, Secale cereale L. g wie d; i h Samenkorn von beiden Seiten, an h unten die Keimstelle. - 4. Der gemeine Rispenhafer, Avena sativa L., und zwar nur ein Theil einer Rispe; l k wie i h. (Alle Figuren sind natürliche Größe.)

Dann öffne man die Klappen der Mutterähre, und nach Entfernung der Staubbeutel aus der Kapsel ersetze man sie durch der männlichen Aehre entnommene Staubbeutel; endlich schließe man die Klappen durch einen leisen Druck mit den Fingern.“ Selbstverständlich empfiehlt ferner Shirreff, daß man bei der Entfernung der Staubbeutel der Mutterähre dieselben nicht verletze, weil sonst ihr Pollen auf die Narbe fallen und dieselbe befruchten könnte und der gewonnene Samen alsdann keine Bastardpflanze hervorbringen würde. Diese Operation wird am zweckmäßigsten von zwei gemeinschaftlich arbeitenden Personen ausgeführt, von denen die eine die Klappen offen hält, während die andere mit kleinen Zangen die Staubbeutel der Mutterähre entfernt und sie durch die Staubbeutel der Vaterähre ersetzt. Gleich nach der Kreuzung wird die operirte Aehre an einem Pfahl befestigt und vor Wind und Vögeln durch eine Hülle aus Drahtgaze geschützt.

Die auf diese Art gezogenen Samenkörner sehen freilich sehr schwächlich aus, und erst in zweiter oder dritter Generation zeigen sie ihre durch die Kreuzung neugewonnenen Eigenschaften. Dem allgemein bekannten Naturgesetz zufolge können nur Varietäten derselben Art, also Weizen mit Weizen, Roggen mit Roggen etc. gekreuzt werden. Auch wird man stets nur eine gewisse Anzahl von Pflanzen der Operation unterwerfen können, und durch wiederholte Aussaat die nöthige Quantität des Saatguts gewinnen müssen.

Gleichzeitig mit Shirreff versuchte nun ein anderer englischer Saatzüchter, Hallet in Brighton, die bereits vorhandenen Varietäten zu verbessern. Die Grundlage seiner Arbeiten bilden folgende Sätze, welche bisjetzt wenig angefochten wurden.

„1) Jede entwickelte Getreidepflanze zeigt eine Aehre, die eine höhere Productionskraft hat (das heißt stärker und schöner entwickelt ist) als alle anderen an dieser Pflanze. 2) Jede solche Pflanze enthält ein Korn, welches sich productiver erweist als jedes andere von derselben Pflanze und 3) das beste Korn einer Pflanze liegt in der besten Aehre.“

Hallet folgerte nun daraus, daß durch fortgesetzte Auswahl der besten Körner in der Nachzucht die Productionskraft der Pflanze verstärkt werden müsse, bis sie schießlich das Maximum erreiche. Es gelang ihm auch in der That, überraschende Resultate zu erzielen. In vier Jahren erhielt er aus einer Aehre von 43/4 Zoll Länge mit 47 Körnern durch fortgesetzte Aussaat des besten Kornes eine Aehre von 83/4 Zoll mit 123 Körnern.

Zu Shirreff und Hallet gesellte sich in letzterer Zeit noch ein dritter englischer Saatzüchter, Delf, der im Großen und Ganzen die Hallet’schen Principien annahm, aber nicht das größte, sondern das schwerste Korn zur Nachzucht auszuwählen rieth. Er hat auch eine Maschine ersonnen, auf welcher die schweren Körner von den leichteren sortirt werden.

Die neueren Saatzüchter, wie Graf zu Lippe, empfehlen nunmehr eine Vereinigung der beiden Methoden, indem ihrer Ansicht nach bei den Kreuzungsversuchen die obersten und untersten Blüthen einer Aehre entfernt werden und nur die mittelsten zur Befruchtung gelungen müßten.

In den jüngsten Jahren wurden diese englischen Neuerungen auch auf deutschen Boden verpflanzt, und vor Allem verdienen hier die Arbeiten des Herrn Rimpau-Schlanstädt hervorgehoben zu werden, welcher seit dem Jahre 1875 Kreuzungen zwischen dem englischen und deutschen Weizen unternimmt, um eine Art zu erhalten, welche neben der Ertragsfähigkeit der englischen die Winterhärte der einheimischen besäße.

Die große Bedeutung der Bildung neuer Getreidevarietäten je nach den jeweiligen Bedürfnissen des Landwirtes brauchen wir hier wohl nicht ausführlich zu besprechen Manche Getreideart, die eine reiche und schöne Ernte liefert, kann gegenwärtig in unserem Lande nicht gebaut werden, weil sie sich zu rasch entwickelt und durch die Nachtfröste des Frühjahrs geschädigt wird; kreuzen wir aber dieselbe mit den winterharten einheimischen Arten, so ist die Möglichkeit geboten, eine neue Varietät zu schaffen, welche die ursprüngliche Ertragsfähigkeit beibehält und außerdem die unserem Klima entsprechende langsamere Entwicklung annimmt. Solcher Gesichtspunkte giebt es freilich unzählig viele, und von jedem derselben aus bietet sich dem Landwirthe eine verlockende Aussicht. Aber so leicht die Operation der Kreuzung erscheinen mag, ebenso schwierig ist die Wahl der zu kreuzenden Arten. Wie Alles in der Landwirtschaft, so erfordert auch diese Arbeit, wenn sie gelingen soll, viel Mühe und eiserne Energie. Aber die Bahn zur Veredelung der Getreidearten ist gebrochen, und der Unternehmungsgeist unseres Jahrhunderts bürgt uns dafür, daß wir auf derselben zum allgemeinen Nutzen rüstig vorwärts schreiten werden.



[577]
Um die Erde.
Von Rudolf Cronau.
Zweiter Brief: Auf dem Greenwood Cemetery zu Brooklyn.
Brooklyn, N.-Y., Frühling 1881.

Im Sommer des vergangenen Jahres saß ich in träumerischer Ruhe auf dem Friedhofe des Oybin in Sachsen; als im Herbste die Blätter fielen, wandelte ich einsam unter den düsteren Hollunderbäumen des alten Judenfriedhofes in Prag; jetzt, wo junges Grün den Zweigen entsprießt, lehne ich an einem Grabmale des Greenwood Cemetery in Brooklyn. Drei Plätze, denselben Zwecken dienend, derselben Bestimmung geweiht und doch – wie verschieden ist ihr Charakter, wie verschieden die Sprache, die aus ihrer Anlage, ihrem Pflanzenwuchs und ihren Monumenten zu uns redet!

Süßer, heimlicher Friede umfächelt uns auf den Höhen Oybin; das Herz hat innerhalb dieser Idylle kaum einen anderen Wunsch, als auch dereinst unter diesen alten Walnußbäumen zu Füßen der verfallenen Klosterruinen schlafen zu dürfen. Weltentrückt, schlägt das Herz ruhiger in stillem Entsagen.

Unter dem mauerumschlossenen Hollunderdickicht in Prag aber ist’s finster und schauerlich. Die verloschenen Schriftzüge, die fremdartig durch Gestrüpp und Unkraut von den zerborstenen Tafeln uns entgegenstarren, sie kälten das Herz; kein freundlicher Strahl der Hoffnung steigt aus dem über einander gethürmten Schutte der Gräber empor; unheimlich schüttelt’s uns, als fühlten wir die Nähe des Judengottes, der furtchtbar und unerbittlich richtet und keine Gnade kennt.

Greenwood Cemetery in Brooklyn.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

Nichts von dem empfinden wir, wenn wir über die Hügel des Greenwood wandern; kaum bemerken wir die traurige Bestimmung dieser paradiesischen Ruhestätte; sie breitet sich über eine Reihe wohlbewachsener Hügel aus, die allenthalben liebliche Plätze und reizende Ansichten bieten. Wunderbar schöne Baumgruppen neigen sich da und dort über einen stillen See, dem zur Sommerszeit ein Springbrunnen sprudelnd entsteigt, oder sie ziehen sich einen Hügel hinan, dessen Gipfel von einem prächtigen Denkmal geziert wird. Nirgends streiten die Todten sich um den Raum; der Freigebigkeit, mit welcher der Boden zugemessen wurde, entspricht der Reichthum und die Vornehmheit der Marmormonumente, die in schneeweißer Pracht dem Blumendickicht entsteigen.

Sie bekunden zwar nicht die unendliche Mannigfaltigkeit, den architektonischen Reichthum und die künstlerische Reinheit, die wir auf europäischen Friedhöfen zu finden gewohnt sind, dagegen überrascht uns eine seltene, an Verschwendung grenzende Benutzung der kostbarsten Materialien, sodaß sich wohl kaum ein Friedhof der Welt in dieser Hinsicht mit dem Greenwood messen dürfte. Der Gesammteindruck der zahllosen, schlanken Marmorobelisken, die neben Kreuz und Sarkophag vorherrschen und in allen erdenklichen Varianten erscheinen, ist ein ungemein edler und erhabener und kommt etwa dem gleich, den wir bei Betrachtung einer der edelsten Architekturblüthen des alten Griechenthums empfinden.

Greenwood Cemetery ist eine fashionable Ruhestätte mit [578] classischem Anstriche; es fehlt ihm ganz und gar der erkältende Hauch, der gar zu leicht derartige Anlagen zu einer gern gemiedenen Schauerstätte macht. Was ihn aber erst recht zu einem Juwel von höchstem Glanze erhebt, das ist der wunderbar schöne Ausblick, der sich von seinen höher gelegenen Punkten dem Auge bietet. Weit, weit hinaus schweift der Blick über das herrlichste Panorama, über die langausgedehnten, wechselreichen Häuserlinien von Brooklyn, über das Häusermeer von Manhattaneiland, dem allenthalben reiche Paläste, stolze Thürme und kühne Brücken entsteigen. In majestätischer Ruhe liegt die Herrscherin der Neuen Welt vor uns da wie ein Zauberbild, umrahmt in blauer Ferne von den Höhenzügen der Staaten New-York, New-Jersey und Pennsylvania – zur Linken aber dehnen sich breit und gewaltig die dunkelblauen Fluthen der mächtigen Hudsonmündung, die, schon halb dem Meere zugehörig, einen der stolzesten und schönsten Häfen der Welt bildet. Und nichts ist da, was die tiefe Ruhe stört; wir hören kaum den Lärm der Riesenstadt, kaum das Rollen eines den Friedhof durcheilenden Wagens, kaum den Signallaut der Schiffe, welche in weiter Ferne mit weißschimmernden Segeln durch die blaue Meeresbucht ihre stillen Bahnen ziehen.




Nihilismus und russische Dichtung.
Studien von Wilhelm Goldbaum.
4. Iwan Turgenjew.

Wie Raketen im Kriege die feindliche Stellung anzeigen, so hatten die Dichtungen Nicolaus Gogol’s den Punkt offenbart, auf den das Mißvergnügen, das in den einsichtigen Volksschichten angehäuft lag, sich entladen sollte. Der Leibeigene, die „todte Seele“, mußte zu menschlichem Dasein emporgehoben, der Beamte, dieser Vampyr, ausgerottet werden. Aber damit war noch nicht viel gethan. Zu einem Angriffe gehört ein Plan, eine Aufstellung, eine Recognoscirung; es ist nicht genug, daß man den Feind kenne; man muß auch wissen, wie ihm beizukommen ist. Das aber liegt außerhalb der Grenzen, welche der Dichtung gesetzt sind. Hier muß der Agitator, der Publicist an’s Werk gehen. Und zwei Männer, Alexander Herzen und Michael Bakunin, traten auf den Schauplatz, um das Mißvergnügen aus der literarischen Sphäre hinüberzutragen auf den Boden des wirklichen Lebens. Herzen war ein großer Publicist und nur in sehr beschränktem Sinne auch ein Dichter. Er hatte an sich selbst erfahren, was der russische Despotismus und die russische Mißwirthschaft bedeuteten; denn man hatte ihn umhergehetzt von einem Ende des Reiches zum andern, ihn in Nischnei-Nowgorod internirt, wo er, im Range eines Hofrathes stehend, die wegen mißliebiger politischer Gesinnungen der polizeilichen Aufsicht verfallenen Leute, also auch sich selbst, zu überwachen hatte und in jedem Wochenrapport neben seinem eigenen Namen die Worte „gut aufgeführt“ schrieb. Dem Exil war er auf die Dauer doch nicht entgangen, und von London aus schleuderte er mit jedem neuen Hefte des von ihm gegründeten Blattes „Die Glocke“ einen neuen Funken unter das russische Volk. Er war es, der zuerst den Ruf nach Reformen erhob. Gleichzeitig wühlte Bakunin, ein kraftvoller, aber roher Agitator, aus dem Mißvergnügen die socialistischen Elemente heraus.

Verlangte Herzen nur Reformen, so predigte und betrieb Bakunin schlechtweg die Revolution, die Anarchie. Waren bis dahin das Unbehagen, die Unzufriedenheit, die Auflehnung nur in der Dichtung zum Ausdrucke gelangt, so wurden sie durch Herzen zu politischen, durch Bakunin zu socialistischen Factoren. Und damit war die strategische Aufstellung gegenüber dem Feinde vollendet. Nicht die Urheber des Nihilismus, wie man wohl gemeint hat, sind Herzen und Bakunin gewesen, sondern sie haben ihn kampffähig gemacht.

Wenn man verstehen will, wie merkwürdig zwischen Dichtung und Leben die Fäden hin- und herüberlaufen, so muß man das Bekenntniß Iwan Turgenjew’s lesen, das er noch lange vor dem Ausbruche des Kampfes in dem „Tagebuch eines Jägers“ abgelegt hat. Da dreht sich – es ist im Todesjahre Gogol’s – Alles noch um die Leibeigenschaft.

„Ich konnte,“ sagt er, „nicht mehr die gleiche Luft athmen, noch in einer Atmosphäre leben, die ich verabscheute. Ich mußte mich von meinem Feinde entfernen, um mit mehr Gewalt über ihn herzufallen. Dieser Feind hatte eine genau bestimmte Form und trug einen bekannten Namen: es war die Leibeigenschaft. Ich beschloß, bis zu meinem Ende gegen ihn anzukämpfen, und schwor, mich nie mit ihm auszusöhnen. Das war für mich der Schwur des Hannibal.“

In dem „Tagebuch“, dieser originellsten aller novellistischen Skizzensammlungen, steht Turgenjew noch unmittelbar unter dem Einflusse Gogol’s; sein volles und eigenes Besitzthum ist nur eine durch Wehmuth gedämpfte pessimistische Weltanschauung. Die „todte Seele“ wandelt ihm gespensterhaft nach auf Schritt und Tritt. Sie heißt bald so und bald anders, aber es ist immer herzerschütternd, sie zu sehen. „Dieser Mensch,“ lautet es von dem Leibeigenen Stiopuscha, „hatte nicht einmal eine Vergangenheit; man sprach gar nicht von ihm; bei der Seelenrevision war er sicherlich niemals gerechnet worden.“ Auch früher schon, vor dem „Tagebuch“, in den beiden Erzählungen „Mumu“ und „Das Wirthshaus an der Landstraße“, macht Turgenjew den Leibeigenen zum Mittelpunkt der Erzählung. Der arme taubstumme „Mumu“ kommt um seine Geliebte, eine Magd, ohne daß er sich beklagen darf, und da er sein trauriges Herz an ein Hündchen gehängt hat, befiehlt ihm die Herrin, daß er dieses mit eigener Hand ertränke. Aber wenn der Leibeigene das gepeinigte Opfer des Edelmanns ist, so stellt dieser hinwiederum doch auch nur einen Leibeigenen des Staates vor. Und das ist die fürchterliche Kette von Ursache und Wirkung: Wer Andere knechtet, ist zumeist selbst ein Knecht.

Dieser kleine russische Edelmann thut nichts, kann und weiß nichts, erstrebt nichts, kurzum, es ist ein Geheimniß, wozu und wofür er lebt, und wenn er just in seinen Knabenjahren denken gelernt hat, so fühlt er selbst, daß er eine zweck- und sinnlose Existenz führt. Ein solcher kleiner Tyrann, der bereits in Paris und Berlin gewesen, sagt:

„Sie halten mich für einen Steppenbewohner, für einen rohen Menschen, aber ich bin durchaus nicht, was Sie denken. Erlauben Sie! Erstens spreche ich Französisch nicht schlechter wie Sie und das Deutsche sogar besser. Zweitens habe ich drei Jahre im Auslande zugebracht; in Berlin war ich acht Monate. Ich habe den Hegel studirt, mein Herr, und kann Goethe auswendig; überdies bin ich lange in die Tochter eines deutschen Professors verliebt gewesen und heirathete hier in der Heimath ein schwindsüchtiges Fräulein, eine kahlköpfige, aber sehr bemerkenswerthe Persönlichkeit. Ich bin also eines Geistes mit Ihnen; ich bin kein Steppensohn. Auch ich bin reflexions-wurmstichig, und es ist nichts Unmittelbares an mir.“

Auch Nicolaus Gogol hat zeigen wollen, daß in Rußland nichts vorhanden sei, was nicht in Sclaverei verschmachte, daß der Leibeigene der Sclave des Edelmannes, der Edelmann der Sclave des Beamten, der Beamte der Sclave der Despotie sei, und insofern stellt Turgenjew bis zum Jahre 1852 – dem dreiunddreißigsten seines Lebens – keinen Fortschritt der Entwicklung dar. Er ist auch darin durchaus der Schüler Gogol’s, daß er nicht über die nationale Beschränkung hinauskommt, sondern innerhalb des engen Kreises specifisch russischer Anschauung festgebannt bleibt. Was er von sich aus hinzubringt, ist die tiefere Bildung und das feinere Naturgefühl. Als der Sohn eines Gutsbesitzers, hat er der Landschaft ihre intimsten Reize abgelauscht, als Student in Berlin sich ernstliche Kenntnisse angeeignet. Aber vorerst arbeitet das Kunstbewußtsein in ihm noch sozusagen unausgesprochen; es ist nur Instinct. Der Zweck bleibt die Hauptsache; er besteht in dem Kampfe gegen das Institut der Leibeigenschaft.

Turgenjew wird von dem Einflusse Gogol’s durch einen Zwischenfall losgelöst, welcher auch wieder auf Gogol zurückführt. Er hat dem verstorbenen Meister einen Nachruf gewidmet und ihn darin einen „großen Mann“ geheißen. Dafür soll er auf Befehl des Czaren für vier Wochen in Arrest gesteckt, dann für zwei Jahre in’s Innere Rußlands verbannt werden, und nur vermöge einflußreicher Fürsprache wird die Strafe in Verbannung nach dem Auslande verwandelt. Da geht er nach Baden-Baden, sinnend und [579] beobachtend, an unverfänglichen Stoffen sein Kunstgefühl und seine Schaffenskraft übend, aus der Ferne mit gesteigerter historischer Einsicht die Entwickelung des Vaterlandes verfolgend, diese Entwickelung, die keine war, bis Puschkin laut an der Oedigkeit dieses Staats- und Volkslebens verzweifelte, Nicolaus Gogol sie mit grellen Farben malte, bis es über das im Starrkrampf liegende Volk wie schauernde Ahnung besserer Schicksalsfügung kam und hier, da, dort der revolutionäre Funke aufsprang, welcher die künftige verheerende Feuersbrunst voraus verkündete.

In dieser Zwischenzeit, während welcher Herzen und Bakunin fast dämonisch an der Unterwühlung des russischen Selbstherrscherthums arbeiten, ist Iwan Turgenjew nicht mehr der Tendenzpoet; er hat, wie er selbst sagt, in Deutschland eine „zweite Heimath“ gefunden, und bei Allem, was er da drunten in dem wundersamen Oosthale schafft, hat man das Gefühl, als sei es die pure blinkende Schönheit, welche über seine Seele herrschst als kümmere er sich nicht um das, was drüben im Vaterlande vorgeht. Und doch bleibt er bis in die letzten Fasern seines Seins der Russe von ehedem, aber der Russe, dem nur wie ganz von fern, wie verhallendes Echo, die Stimmen von der mütterlichen Erde das Herz zu bewegen scheinen. Der unheimlich eindringende Blick, vor dem sich Menschengeschicke wie Visionen enthüllen, der wehmüthig in bezaubernden Naturlauten verklingende Weltschmerz, die fast barbarisch ungezügelte Sinnlichkeit sind nach wie vor in ihm vorhanden, aber es ist Alles neutralen Stoffen zugewendet, welche der Künstler meistert, ohne den tief verwundeten Patrioten zu verrathen. Seine Gestalten sind oft von großer Eigenart: Diese herbe Märtyrerin der Liebe, Helene, dieser Dämon sinnberückender Herrschsucht, Auguste Polosow, sind Weiber, die nur slavischer Boden zu erzeugen, nur eine slavische Künstlerhand zu gestalten vermag. Aber ob bewußt oder kraft der Intuition des Genies, das ist die Frage. Oder vielmehr, es ist eine recht alberne Frage, die gleichwohl aufgeworfen wurde; denn wer Iwan Turgenjew’s dichterische Größe nur nach dem Maße des beabsichtigten Könnens, der kalten Vorbedachtsamkeit beurtheilt, der hat für sein Wesen überhaupt kein Verständniß. Er ist weder Realist noch Idealist, weder „Romantiker des Realismus“, noch sonst das schattenhafte Gespenst irgend einer ästhetischen Kategorie; er ist der Sohn der Steppe, dem zu dem seltsam tiefen Natursinn der Heimath sich die Weisheit des Westens aufgethan.

Ein historischer Zug beherrscht seine schriftstellerische Physiognomie, deren Anblick daran erinnert, daß er an der Scheide zweier Welten geboren ward, der europäischen und der asiatischen, welche fremd, unvermittelt einander gegenüberstehen und doch noch in einander werden aufgehen müssen, nicht vielleicht unter den Schrecken des Krieges, wie einst die asiatische sich auf die europäische stürzte, sondern unter den Zeichen der Cultur und Civilisation, deren Mittelpunkt und Träger die europäische Welt ist. Der Mensch, dem auf solcher Scholle die Wiege stand, hat schärfere Sinne; er sieht mit den Augen des Luchses und hört mit den Ohren des Wildes. Und wenn er gesättigt an dem Besten, was unser Wissen und Forschen zu bieten hat, zur künstlerischen Production schreitet, wenn er Gestalten formt und Schicksale nachschafft, so vereinigt sich dabei der Naturalismus mit der ergründenden Kraft; er braucht nur zu sagen, was er geschaut, nur zu erzählen, wie er es geschaut, und der Zauber ist von selbst da, der von einer bewältigenden, eigenartigen Individualität allezeit ausgeht.

Von diesem Iwan Turgenjew bleibt nur hübsch fort mit euren Kategorien, euren Reflexionen, euren Vergleichungen! Er ist, was er ist, und das Höchste, was der Dichter, der Künstler, was der gottbegnadete Mensch von sich sagen kann, ist dieses stolze: „Ich bin Ich.“ Turgenjew selbst äußert sich in einem mir freundlichst zur Verfügung gestellten Briefe über diese Unmittelbarkeit seines Schaffens wie folgt:

„Sie selbst wissen besser, als ich es sagen kann, daß der Schriftsteller keine vorgefaßten Ideen in Bilder kleidet. Das Alles wächst aus ihm heraus, halb bewußtlos. Sollte ich den wahren Grund meiner Thätigkeit angeben, so würde ich möglicher Weise sagen, ich habe es geschrieben, weil es mich selbst ergötzt hat. Das eigene Volk, das menschliche Leben, die menschliche Physiognomie – das ist das Bestimmende. Der Schriftsteller macht daraus, was er kann und was er nicht anders kann. Das ist eine sehr vage Theorie; für mich ist es die einzige …“

Und er schreibt das „Ich“ in seinen Briefen durchgehends mit großem Anfangsbuchstaben.

Jedoch nicht um die allgemeine kritische Würdigung Iwan Turgenjew’s, sondern nur um die Darlegung seines Verhältnisses zum Nihilismus kann es sich in dieser Betrachtung handeln, und wenn man den Punkt, auf welchen es dabei ankommt, mit einiger Sicherheit treffen will, so thut man wohl am besten, zu sagen, daß ihm zuerst der Nihilismus zum Kunstobject geworden.

Während Herzen und Bakunin von außen her das Mißvergnügen des russischen Volkes organisirten und nach der revolutionären Richtung lenkten, saß Turgenjew abseits in Baden-Baden. Sein Vergnügen war die Musikübung in der Nachbarvilla der befreundeten Familie Viardot, seine Kurzweil die Jagd. Wenn er, die Büchse auf der Schulter, durch den Wald schweifte, drängten sich Erinnerungen aus der Heimath an ihn heran, Gestalten, die von ihm reproducirt zu werden begehrten, wie sehr er sich auch sträubte. So ward der künstlerische Schaffenstrieb in ihm zum Herrn über die Tendenz von ehedem.

Dann stürzte Rußland, der Koloß mit den thönernen Füßen, krachend zusammen und begrub den Czar Nicolaus unter seinen Trümmern; Alexander, eine weichere Herrschernatur, bestieg den Thron der Romanows. Herzen und Bakunin wendeten sich direct an ihn, jener in einem offenen Briefe, welcher ihm die Verwandlung in einen constitutionellen Monarchen zumuthete, dieser, indem er ihn aufforderte, ein „Bauernczar“ zu werden. Die Antwort war jenes epochemachende Decret, das die Leibeigenen freigab.

Aber ach! an der halben Arbeit haftet immer ein Fluch. Die Befreiung der Leibeigenen war nichts, wenn der Beamtenstand nach wie vor in seiner Corruption verharren durfte. Die Freiheit ist eine Illusion, wo nicht das Recht an ihrer Seite wandelt. Einen Augenblick stutzten Herzen und Bakunin; sie schwankten, was angesichts des Emancipationsdecretes zu thun sei. Aber bald trieb der revolutionäre Geist sie vorwärts; schroffer, dreister als bisher ward der Unwille, den die halbe Erfüllung erweckte, und der Nihilismus trat im Sinne des offenen Widerstandes, wenn auch noch nicht mit seinem Namen, zu Tage; bald auch schrieb ihm einer der Seinen, Tschernyschewsky, eine Art Katechismus in der Form des Romans „Was sollen wir thun?“

Iwan Turgenjew beschied sich mehr als zehn Jahre mit tendenzlosem künstlerischem Schaffen; er bevölkerte deutsches Land, den Rheingau, den Schwarzwald, mit den Gestalten seiner Phantasie – oder vielmehr nicht seiner Phantasie; denn als unter Alexander’s Regiment die Auslandsreisen den Russen erleichtert wurden, zogen sie ihm nach und machten Baden-Baden zu ihrem Hauptquartier. Und dort konnte er ihnen, wie sehr er es auch wollte, nicht immer aus dem Wege gehen. Er hat sie dafür – und insbesondere ihre Frauen – mit seinem Roman „Rauch“ unbarmherzig gestraft. Jene Stelle von den drei Fürstinnen ist eine classische Satire; diese drei Fürstinnen sind: „Fürstin Babette, dieselbe, in deren Armen Chopin seinen Geist aufgab; dann Fürstin Annette, die ganz gewiß Effect machen würde, wenn nicht, wie Ambra- und Sauerkohlgeruch, bei ihr zuweilen das liebe Bauerndorf zum Vorschein käme; endlich Fürstin Pachette, deren Mann das Unglück hatte, in seiner hohen Stellung einen Kaufmann durchzuprügeln und 20,000 Rubel Regierungsgelder zu stehlen.“

Man darf aber daraus nicht etwa schließen, daß Turgenjew im Auslande der nationale Sinn abhanden gekommen wäre; im Gegentheil, seine Liebe zur Heimath und zu dem russischen Volke hatte sich vertieft; nur jenen hohlen Abenteurern und Abenteurerinnen, welche in der Fremde nutz- und ziellos, unter unerhörter Verschwendung umherflatterten, hatte er kein anderes Interesse zuzuwenden als das des Satirikers.

Zu kämpfen in jener Weise, wie er es im „Tagebuch eines Jägers“ gethan, hatte er kaum noch ein Recht. Die Leibeigenen waren ja frei, wie er es gefordert, und die Gesellschaft hätte sich selbst corrigiren müssen, um eines freien Lebens im Staate werth zu sein. Diese nichtsnutzigen Laffen und Koketten, welche die Spielsäle von Baden-Baden und Homburg bevölkerten – nach einer von diesen russischen Spielerinnen hat das dankbare Homburg eine Straße benannt – besaßen keinen Anspruch auf ein menschenwürdigeres Dasein, als es ihnen die russischen Verhältnisse gestatteten. Aber war das „Rußland auf Reisen“ denn das russische Volk? O nein, diejenigen, welche daheim mit Puschkin resignirt über ihr Schicksal geseufzt, mit Gogol schneidend über dasselbe gelacht hatten, [580] waren die russische Nation, und unter der Führung Herzen’s und Bakunin’s, deren Commando sie auf hunderte von Meilen vernahmen, hatten sie sich inzwischen zu einer furchtbaren Armee gesammelt, welche, unfaßbar, insgeheim dem Staate den Krieg machte, die Gesellschaft mit revolutionären Elementen durchsetzte, die Jugend unwiderstehlich an sich zog. Das neue Rußland stand kampfbereit dem alten gegenüber – „das achtzehnte Jahrhundert,“ schrieb der Dichter Bestuschew, „zieht uns an den Knieen zur Erde, das neunzehnte an den Ohren in die Höh’.“

Den Augen des Poeten enthüllte sich dieses Schauspiel des Kampfes zwischen „Vätern und Söhnen“ in seiner ganzen schauerlichen Größe; die künstlerische Hand, des Gestaltens froh, griff unwillkürlich nach diesem Stoffe, und der Roman „Väter und Söhne“ war nicht blos ein Ergebniß der Beobachtung, sondern die erste plastische Verlebendigung des revolutionären Geistes, der Rußland aufwühlt. In diesem Roman ist der Nihilismus zum ersten Male beim Namen genannt und nach seinem innersten Wesen erklärt worden.

Unter den feingezeichneten dichterischen Gestalten Turgenjew’s hat in „Väter und Söhne“ als Vertreter des alten Rußland Paul Kirsanow, der Edelmann, als derjenige des jungen Rußland aber Bazarow, der Student der Medicin, eine Rolle zuertheilt erhalten. Auf dem Gute, auf welchem Paul bei seinem Bruder lebt, gerathen sie zusammen, da Bazarow als Freund des jungen Arkad Kirsanow seine Ferien auf diesem Gute verbringt.

Und zwischen ihnen werden die berühmten Dialoge geführt, durch welche Europa zuerst von dem Nihilismus genauere Kunde erhielt. So zwischen Paul und Arkad.

Paul: „Was ist denn eigentlich Herr Bazarow, Sohn?“

Arkad: „Was er ist? Soll ich Ihnen, lieber Onkel, sagen, was er eigentlich ist?“

Paul: „Thu’ mir diesen Gefallen, mein theurer Neffe.“

Arkad: „Er ist ein Nihilist.“

Paul: „Ein Nihilist? Das Wort muß von dem lateinischen nihil = nichts abstammen, so weit ich es beurtheilen kann, und bedeutet mithin einen Menschen, der – nichts anerkennen will.“

Arkad: „Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, der ohne vorherige Prüfung kein Princip annimmt, und wenn es auch noch so sehr im Ansehen steht.“

Dann ein Dialog zwischen Paul und Bazarow:

Paul: „Die Deutschen sind nicht mein Geschmack. Vormals waren sie noch erträglich; sie hatten bekannte Namen, einen Schiller und Goethe zum Beispiel. Jetzt aber gewahre ich unter ihnen nur Chemiker und Materialisten.“

Bazarow: „Ein guter Chemiker ist zwanzigmal nützlicher, als der beste Poet.“

Paul: „Wirklich? Die Kunst scheint also für Sie eine gänzlich werthlose Sache?“

Bazarow: „Die Kunst Geld zu gewinnen und die Hühneraugen gründlich zu vertreiben – –“

Paul: „Vortrefflich! Wie Sie zu scherzen belieben! Das kommt auf eine verständige Negation hinaus. Sie glauben also nicht an die Wissenschaft?“

Bazarow: „Ich habe schon die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich an gar nichts glaube. Was verstehen Sie unter dem Worte Wissenschaft im generellen Sinne? Es giebt Wissenschaften, wie es Handwerke, wie es Professionen giebt. Eine Wissenschaft in dem Sinne, den Sie ihr beilegen, giebt es nicht.“

Ein anderes Mal:

Paul: „Ich begreife nicht, wie es möglich ist, keine Principien, keine Regeln anzuerkennen. Wodurch lassen denn Sie sich im Leben leiten?“

Bazarow: „Unser Handeln bestimmt nur die Rücksicht auf das Nützliche. Heutzutage scheint es uns nützlich, zu verneinen – und wir verneinen.“

Paul: „Alles?“

Bazarow: „Durchaus Alles!“

Paul: „Wie? Nicht nur die Kunst, die Poesie, sondern …“

Bazarow: „Sondern Alles.“

Paul: „Erlaubt, Ihr verneint Alles, oder um mich genauer auszudrücken, Ihr reißt Alles ein, aber man muß auch wieder aufbauen.“

Bazarow: „Das geht uns nichts an; vor allen Dingen muß der Platz abgeräumt werden.“

Hier ist das Wesen des Nihilismus unbarmherzig aufgedeckt in seiner ganzen jammervollen Unfruchtbarkeit, aber der Poet, der sein Vaterland liebt, weint über diese Verirrung der russischen Jugend. Noch kann er nicht glauben, daß es mehr als Worte sind; denn dieser Bazarow ist ja sonst ein sympathischer Mensch. Oder wäre es nicht eine Blasphemie, wenn er ausruft: „Ich meinestheils gebe nicht einen Groschen für Rafael!“ – Wäre es Ahnung einer entsetzlichen Zukunft, wenn der Dichter seinem Helden das Wort in den Mund legt: „Ein Kreuzerlicht genügte, um die ganze Stadt Moskau in Brand zu stecken“?

Turgenjew hat es mit diesem Romane Niemandem recht gemacht; denn die Gegner des Nihilismus verargten es ihm, daß er für Bazarow Partei nahm, die Nihilisten, daß er ihre Nichtigkeit so rücksichtslos preisgegeben. Und doch hat er gezeigt, wie scharf sein Blick nicht blos die Gegenwart durchdrang, nein, wie prophetisch er auch die Zukunft vorwegnahm. In dem Romane „Väter und Söhne“ führt uns Turgenjew auch zu einer Nihilistin, Eudoxia Nikitischna Kukschin, welche Champagner trinkt, Cigaretten raucht, George Sand für eine „abgethane Sache“ hält, Liebig zu consultiren und nach Heidelberg zu gehen gedenkt, weil daselbst Bunsen docirt. Doch Bazarow erkennt sie nicht an; er will überhaupt von der Mitwirkung der Frauen an der Arbeit der Nihilisten nichts wissen.

Das ist vorerst noch der theoretische Nihilismus vom Jahre 1861. Worte sind’s, mit welchen gekämpft wird. Und Bazarow endet nicht aus Verzweiflung an Rußland, nicht am Galgen, sondern an einer Blutvergiftung. Damals hätte der Abgrund noch geschlossen werden können. Turgenjew zeigte ihn, damit man sich mühe, dem nahenden Verderben rechtzeitig zu wehren. Er fragte nicht nach Gunst oder Ungunst; er konnte nur hinuntergreifen auf den Grund der Erscheinungen und darthun, daß, so lange ein Bazarow mit der Section von Fröschen sich begnüge, dem Nihilismus durch Zugeständnisse noch beizukommen sei.

Aber man hörte den Dichter nicht, sondern ließ das Uebel ungehindert weitergreifen. Und bald wurde jene Eudoxia zu einer Maschurina, jener Bazarow zu einem Neschdanow. Das Messer, das Frösche secirt hatte, wurde gegen Menschen gezückt; das Weib, welches von Bunsen und Liebig gefaselt, wurde politische Complotirerin, Agentin und Zuhälterin ihrer nihilistischen Cumpane.

Das ist die „neue Generation“.

Es knallen die Revolver; es explodiren die Dynamitbomben; es ist eine regelrechte Verschwörung über ganz Rußland verbreitet, und zahllose Opfer fordert dieselbe von Staat und Volk.

Der Dichter ist ein Idealist; er wähnt noch immer, daß edlere Triebe in den Nihilisten stecken, welche nur leider nicht emporkeimen durften; es ist bezeichnend, daß Neschdanow, der Held des letzten Romans, in dem Briefe, den er vor seinem Tode schreibt, auf Puschkin zurückkommt und auf den poetischen Lensky in dessen „Eugen Onägin“. O hätten doch diese Jünglinge nicht das Ideal der Freiheit befleckt durch den Mord!

Aber der Unmuth ist in die Seele Turgenjew’s eingezogen, und er nennt das russische Volk das „verlogenste der Erde“.

Hat er Recht? Durch ihn lernte Europa das russische Volk kennen; er ist ein Weiser und zugleich der Bote, welcher den Einen von den Anderen Kunde bringt. Ein solcher Bote war auch Goethe. Wenn Turgenjew’s Zorn berechtigt wäre, so hätte Rußland nichts verdient als den Nihilismus, das russische Volk nichts, als auch vom Nihilismus vergiftet zu werden. Aber Völker werden nicht leicht vergiftet, selbst nicht durch eine Regierung, welche den Nihilismus aus der Tiefe emportrieb.

Bazarow, Neschdanow – sie fallen unter den Tisch, das russische Volk bleibt. Wenn Knaben gegen den Despotismus streiten, so behält die schlechte Sache immer den Sieg. Aber es kommt ein Tag, da das Volk selbst sich zum Kampfe rüstet, und dann ist ihm der Triumph gewiß. Dann aber giebt es keinen Nihilismus mehr; dann wird nicht blos eingerissen, sondern auch aufgebaut. Dann aber lebt vielleicht auch Iwan Turgenjew nicht mehr, um die dritte Revolution in Rußland zu schildern. Die erste hat er in dem Roman „Väter und Söhne“, die zweite in dem Roman „Neuland“ dargestellt, jene künstlerisch, objectiv, weil er noch mit ihr sympathisiren durfte, die andere chronistisch, ohne Gleichmaß, weil er sie verabscheuen mußte.

Wenn der Roman, ohne es zu wollen, zur Weltgeschichte wird, so hat er das Beste erlangt, was er als poetisches Kunstwerk an Ruhm und Bewunderung nur immer erstreben mag. Die beiden Nihilistenromane Turgenjew’s sind aber Weltgeschichte

[581]

Esel-Siesta am Strande von Scheveningen.
Nach der Natur gezeichnet von J. Weinberger.

[582] geworden. Ihr Verfasser hat sich auf einen Punkt der Betrachtung zu schwingen vermocht, welcher oberhalb aller nationalen Beschränktheit liegt.

Es giebt auf der Erde Stellen, wo die Gebiete großer Ströme knapp an einander stoßen. Dort wehen die Winde heftiger, entsprießen die Pflanzen üppiger dem Boden. Auf einer solchen Stelle muß man sich Iwan Turgenjew denken. In ihm vereinigen sich französisches Formgefühl, deutscher Tiefsinn und russische Unmittelbarkeit. Die russische Volksseele hat Niemand so gründlich erkannt wie er; sie seufzte hülflos in Puschkin’s Dichtungen; sie verspottete sich selbst in den Schöpfungen Gogol’s, aber in den Romanen und Novellen Turgenjew’s enthüllte sie, was sie als guten und schlechten Inhalt birgt. Ihr schlechter Inhalt ist die Corruption, welche im Staate den heutigen russischen Beamten, in der Gesellschaft den Nihilisten erzeugt hat. Der Despotismus mit seinen niederträchtigen Werkzeugen hat diesen schlechten Inhalt gehegt und gepflegt, und er ist es, den Turgenjew brandmarkte, indem er die Geschichte des Nihilismus mit der Tiefe eines Dichters und der Erkenntniß eines Weisen schrieb. Wann hätte ein Czar sich einer gleichen That zu rühmen gehabt?

Hiermit mögen die Betrachtungen über „Nihilismus und russische Dichtung“ ihren Abschluß finden.




Spandau.
Ein Städtebild von Dr. Otto Kuntzemüller.

Von der Stadt Spandau bilden sich Leute, welche den Ort nicht aus eigener Anschauung kennen, vielfach gar wunderliche Vorstellungen. Aus der Geschichte wissen sie, daß in der Citadelle Spandaus mancher Staatsverbrecher büßen mußte; auch von dem Zuchthause zu Spandau haben sie gehört, ferner von Hinrichtungen, die in der Stadt vorgenommen wurden, und endlich gar noch von bösen Fiebern, welche dort jeden bedrohen. Ein Zug tiefsten Bedauerns erscheint daher auf den Gesichtern dieser Leute, wenn man sich ihnen als „Spandauer“ vorstellt, als ob man dort seine Tage bei Wasser und Brod hinter kleinen Gitterfenstern zubringen müßte. Besuchen solche Leute aber einmal die Stadt, so sagen sie einem in der Regel: „Bei euch ist es wirklich gar nicht so schrecklich, wie wir es uns vorgestellt haben.“ Und in der That: Spandau ist besser als sein Ruf. Es ist nicht die schlechteste von den Städten der Mark, und von allen den ihr angedichteten Schrecknissen existirt in Wahrheit kein einziges.

Von den Höhen der Umgegend aus gesehen, gewährt Spandau, wie es sich in der Niederung am Zusammenflusse von Spree und Havel ausbreitet, einen überaus freundlichen Anblick. Die Havel läßt nur an einzelnen Stellen ihre Fluthen durch die zum größeren Theile den Fluß verdeckenden Gebäude hindurchschimmern. Die Spree aber wälzt ihre dunklen Wogen am Fuße des Spandauer Berges, des sogenannten Bockes, vorbei in mächtiger Krümmung der Havel zu; sie bespült lachende Wiesen. Und nicht blos die Spree, auch die beiden Eisenbahnen, die Hamburger und die Lehrter Bahn, welche in divergirenden Linien vom Bocke aus der Stadt zulaufen, tragen mit ihren häufigen Zügen wesentlich zur Belebung des Vordergrundes bei. Dunkle Föhrenwälder, hin und wieder durchsetzt von Laubholz, heben sich mit welligen Formen vom Horizonte ab und geben dem ganzen Bilde einen freundlichen Rahmen.

Die Stadt Spandau selbst mit dem Alles überragenden Thurm von St. Nicolai ist zum größten Theile auf dem rechten Ufer der Havel gelegen. Hier breitet sich die Altstadt aus, welche erst jetzt ihrer beengenden Mauern und Wälle entkleidet wird, umgeben von ausgedehnten Vorstädten: der Potsdamer Vorstadt, Klosterfelde und der Oranienburger Vorstadt. Auf dem linken Havelufer liegt südlich der Spree: der Stresow mit dem Hamburger Bahnhofe, den beiden Casernen des vierten Garde-Regiments, der königlichen Geschützgießerei und der königlichen Artilleriewerkstatt, während sich nördlich der Spree die Citadelle mit dem jetzt weltbekannten Julius-Thurm (vergl. „Gartenlaube“, 1880, Nr. 47), die königliche Gewehrfabrik und die königliche Pulverfabrik dem Blicke darbietet. Eine fünfte fiscalische Fabrik, das königliche Feuerwerkslaboratorium, befindet sich auf dem Eiswerder, einer großen schönen baumreichen Insel in der seeartigen Havelerweiterung nördlich der Citadelle. Trotz ihrer vielen rauchenden Essen geben diese großartigen Fabrikanlagen der Stadt dennoch kein schwarzes düsteres Aussehen.

Die Hauptstraßen der Altstadt sind breit und sauber, eingefaßt von zum Theil recht stattlichen Häusern, unter denen die sogenannte „Schloßcaserne“, das ehemalige Zuchthaus – heute existirt in den Straßen Spandaus kein Zuchthaus mehr – besonders hervorragt.

Von den übrigen Gebäuden sind zu nennen: das Rathhaus am Markte, das Gymnasium, das in keiner Weise den heutigen Anforderungen genügt – es ist in Bezug auf seine bauliche Einrichtung vielleicht das jammervollste im ganzen preußischen Staate – die Töchterschule, die katholische Kirche, das Garnisonlazareth und endlich die evangelische Kirche St. Nicolai, welche berufen war, in der Geschichte des brandenburgisch-preußischen Staates eine hervorragende Rolle zu spielen.

Die Oranienburger Vorstadt kann schon jetzt als zur inneren Stadt gehörig betrachtet werden, da sie von der bedeutend erweiterten Stadtbefestigung, der neuen Enceinte, gänzlich umschlossen wird, und da der Wall, welcher sie bisher von der Altstadt trennte, zum Theil schon gefallen, bald gänzlich verschwinden soll; mit ihm wird hoffentlich auch der letzte Rest der alten Stadtmauer fallen. Sind aber Wall und Mauer erst geschwunden, dann bildet die Oranienburger Vorstadt den Stadttheil, in welchem die Zukunft Spandaus liegt; denn das Terrain, welches sie einnimmt, ist ungefähr sechsmal so groß, wie die ganze Altstadt, bietet also reichlich Gelegenheit zu allen möglichen Anlagen.

Wie die Oranienburger Vorstadt, so ist auch der durch stattliche Gebäude ausgezeichnete Stresow, nachdem die alte Stadtmauer längs der Havel von der Charlottenburger Brücke bis zum Garnisonlazareth gefallen, als zur innern Stadt gehörig anzusehen.

Zu den besonderen Reizen Spandaus gehört die prächtige Umgegend: der Tegeler-See mit seinen waldreichen, malerisch schönen Ufern, der Spandauer Bock, durch Natur und Kunst eines der anmuthigsten Vergnügungslocale in der ganzen Umgebung Berlins, der Grunewald mit seinem Wildreichthum und vor allem die lieblichen Havelufer zwischen Spandau und Potsdam.

Spandau ist eine der ältesten Städte der Mark Brandenburg. Sie verdankt ihre Entstehung der Burg „Spandow“, welche Markgraf Albrecht der Bär um’s Jahr 1160 gründete, um das Havelland, in dessen vollen Besitz er nach der Eroberung Brandenburgs im Jahre 1157 gekommen war, gegen Angriffe der noch nicht unterworfenen Wenden des Barnim und Teltow zu sichern. Diese Burg lag auf dem Terrain, welches heute die Citadelle der Festung Spandau einnimmt, und ihren Namen erhielt sie ohne Zweifel von einer Ansiedlung wendischer Fischer, neben welcher sie erbaut wurde. Die Reste dieser vorgermanischen Ansiedler am Zusammenflusse von Spree und Havel finden wir vermuthlich in den Wenden auf dem Kietze, welche bis zum Jahre 1560 neben der Burg oder dem Schlosse „Spandow“ wohnten und eine schloßunterthänige Dorfgemeinde bildeten.

Nach Gründung der Burg, welche auf einer Insel in der Havel gelegen war, siedelten sich auf dem rechten Havelufer der Burg gegenüber deutsche Kriegsknechte und Handwerker an, und es entstand so allmählich der Markflecken Spandow, dessen Bewohnern die Markgrafen Johann der Erste und Otto der Dritte 1232 brandenburgisches Stadtrecht ertheilten. Seit 1231 giebt es also eine deutsche Stadt „Spandow“, oder wie sie heute genannt wird, „Spandau“. In den Jahren 1319 bis 1386 wurde sie durch eine Mauer befestigt, die auf der Westseite und zum Theil auf der Ostseite noch erhalten ist. Von den sechs Thürmen, welche dieselbe ehemals schmückten, steht nur noch der des alten Stresowthores, der als „der Rundthurm am Charlottenburgerthore zu Spandau“ in jüngster Zeit viel von sich reden gemacht hat; sogar die preußische Landesvertretung hat sich mit ihm beschäftigt. Einige sanguinische, um nicht zu sagen fanatische, Verehrer mittelalterlicher Befestigungsbauten wollen denselben durchaus erhalten sehen und brachten es zuwege, seinen bereits beschlossenen Abbruch noch in letzter Stunde zu verhindern, indem sie vorgaben, der [583] Thurm habe großen historischen und architektonischen Werth. Historischen Werth hat er nur insofern als er der letzte von den sechs Thürmen ist, welche ehedem die Stadtmauer Spandaus krönten; alles, was man ihm sonst andichtet, ist eitel Erfindung. Keine Sage knüpft sich an diesem Thurm, und in der Geschichte der Stadt spielt er nur die untergeordnete Rolle eines Statisten. Ein architektonischer Werth kommt ihm ebenfalls nicht zu; denn die Mark hat viel besser erhaltene Befestigungsthürme zu Dutzenden. Er ist nichts, als ein hinderlicher, die Stadt verunzierender Backsteincylinder, keine sagenumwobene Säule, die da zeugt „von entschwundener Pracht“. Möge er bald das Schicksal seiner in Schutt gesunkenen Genossen theilen!

In den Wirren, welche das Auftreten des sogenannten falschen Waldemar über die Marken brachte, stand Spandau zuerst auf Seiten der Anhaltiner, nachdem aber die Aussöhnung zwischen den Luxemburgern und Wittelsbachern erfolgt war, hielt die Stadt als eine der ersten wieder treu zu ihrem rechtmäßigen Landesherrn, Markgraf Ludwig dem Aelteren.

Der Reformation zeigten sich die Bürger Spandaus früh geneigt, und als die verwittwete Kurfürstin Elisabeth 1535 nach dem Tode ihres Gemahls, Kurfürst Joachim’s des Ersten, in dem Schlosse Spandau, das ihr bereits 1508 als Wittwensitz verschrieben worden war, Wohnung nahm, scheint in der Stadt lutherischer Gottesdienst abgehalten worden zu sein. Der förmliche Uebertritt zur Reformation erfolgte am Allerheiligentage 1539, wo es geschah, daß Kurfürst Joachim der Zweite in der Nicolaikirche zu Spandau aus den Händen des Bischofs Matthias von Jagow das Abendmahl in beiderlei Gestalt empfing und damit öffentlich der Reformation beitrat. Nach dem im Jahre 1555 erfolgten Tode seiner Mutter faßte der Kürfürst den Entschluß, neben der Stadt Spandau eine Festung zu erbauen, die so angelegt werden sollte, daß sie das ganze alte Schloß umgab, und schon 1560 begann der Baumeister Christos Römer den Bau. Der Italiener Giaramella de Gandino setzte denselben 1572 bis 1578 fort, und Graf Rochus Guerini zu Lynar vollendete ihn 1594. Im Jahre 1580 erhielt die Festung, die jetzige Citadelle, die erste Besatzung von drei Rotten Landsknechte, im Ganzen vierundzwanzig Mann mit einem Guardihauptmann. Der Julius-Thurm, vermuthlich erbaut in der Zeit Kaiser Karl’s des Vierten, ist der letzte Rest des alten Schlosses „Spandau“.

Ob der Entschluß Joachim’s des Zweiten für die Stadt Spandau heilbringend gewesen ist? Schwerlich! Spandau, am Zusammenflusse zweier schiffbarer Ströme gelegen, erfüllte alle Bedingungen, um sich zu einer Industriestadt zu entwickeln, aber die Citadelle, welche die Befestigung der Stadt nach sich zog, hat die industrielle Entwickelung Spandaus lahm gelegt.

Im Dreißigjährigen Kriege brachten die immer drückender werdenden Contributionen und Materiallieferungen, die zu wiederholten Malen mit Heftigkeit auftretende Pest, die häufigen Einquartierungen einer mehr als anspruchsvollen Soldateska die Stadt, welche aus Grund der Capitulation vom 4. Mai 1631 von den Schweden besetzt wurde und bis zum Mai 1634 in deren Händen, blieb, an den Rand des Verderbens. Die aus jener trüben Zeit zu uns herübertönenden Klagerufe sind so herz- und markerschütternd, daß wir uns das Elend nicht groß genug vorstellen können. Am Ende des Krieges lag die Hälfte der Häuser Spandaus in Trümmern; die Einwohnerzahl war auf ein Dritttheil herabgesunken, und dieses Dritttheil bestand aus verarmten, geistig und moralisch heruntergekommenen Menschen. Es bedurfte langer Jahre, ehe die Wunden, welche der schreckliche Krieg geschlagen hatte, wieder geheilt waren.

In die Zeit des Dreißigjährigen Krieges fällt auch die Umwandelung der bisher nur durch Mauer, Wall und Graben geschützten Stadt in eine den Anforderungen der Zeit entsprechende Festung. Nachdem im Jahre 1626 durch Kurfürst Georg Wilhelm verordnet worden war: „die Stadt Spandau solle also fortificirt werden, daß man bei sich ereignendem feindlichem Angriffe in dieselbe retiriren und sich schützen könne“, begannen die Arbeiten, und besonders energisch wurden sie betrieben, als Graf Adam von Schwarzenberg als Statthalter der Mark auf der Citadelle Wohnung genommen hatte. Damals wurden sämmtliche Vorstädte und mit ihnen die Heiligegeistkirche sowie die Gertraudenkirche auf dem Stresow zerstört.

Das achtzehnte Jahrhundert bietet in der Geschichte Spandaus mit Ausnahme der im Jahre 1722 erfolgten Anlage der Gewehrfabrik keine Ereignisse von allgemeinem Interesse. Trübe Zeiten brachen im Anfange dieses Jahrhunderts über die Stadt herein. Der Unglückstag von Jena und Auerstädt führte die Franzosen nach Spandau. Ohne einen Schuß gethan zu haben, überlieferte der kopf- und energielose Commandant am Nachmittage des 25. October 1808 die Festung die Feinde, und bis zum 3. December 1808 hatte Spandau die Franzmänner in seinen Mauern. Der Ausbruch des Krieges gegen Rußland im Jahre 1812, in welchem Preußen der Verbündete Napoleon’s war, gab der Stadt wiederum eine französische Besatzung, und als dann im folgenden Jahre Preußen ein Bündniß mit Rußland geschlossen hatte, wurde Spandau am 24. Februar 1813 von den Franzosen in Belagerungszustand versetzt. In Folge dessen ereignete sich das furchtbare Schauspiel, daß sämmtliche Vorstädte niedergebrannt wurden.

Die Belagerung der Festung begannen im März die Russen, die aber bald von den Preußen abgelöst wurden. Am 17. April eröffneten die Belagerer das Bombardement auf die Citadelle und die Batterien am Berliner Thore und setzten es in den folgenden Tagen mit großer Heftigkeit fort. Dabei fielen einige Bomben in die hinter der Batterie am Berliner Thore liegenden Häuser und verursachten eine Feuersbrunst, welche mehr als sechszig Häuser in Asche legte. Nach Abschluß der Capitulation übergaben die Franzosen die Festung am 27. April den Preußen, die mit unermeßlichem Jubel von der schwergeprüften, nun aber wieder frei athmenden Bevölkerung empfangen wurden.

In eine neue Entwickelungsphase ist Spandau in den letzten fünfundzwanzig Jahren durch Anlage der königlichen Fabriken und Erweiterung der Stadtbefestigung getreten. Die 1722 gegründete Gewehrfabrik ging 1855 in den Alleinbesitz des Staates über; 1839 wurde die Pulverfabrik, 1853 auf 1854 die Geschützgießerei, 1867 auf 1868 die Miiitärweckstatt gegründet. Alle diese Fabriken besorgen den Betrieb durch Civilarbeiter, seit 1870 auch das königliche Feuerwerkslaboratorium, weshalb die Arbeiterbevölkerung Spandaus nach Tausenden zählt. Dennoch ist die Stadt kein Industrieort im eigentlichen Sinne; denn größere Privatindustrie ist dort nicht vorhanden. Abgesehen von drei Schneidemühlen, einer Mahlmühle und zwei größeren Brauereien, beschränkt sich die gewerbliche Thätigkeit der Einwohner auf das Kleingewerbe, und der Handel ist im Wesentlichen auch nur Kleinhandel.

Die königlichen Fabriken und namentlich der Julius-Thurm haben der Stadt Spandau einen Weltruf verschafft. Seit 1875 birgt der Julius-Thurm in seinem obersten Theile den Reichskriegsschatz, hundertzwanzig Millionen Mark in wohlgeprägten Kronen und Doppelkronen, in hölzernen Kisten verpackt, nur den Herren der Reichskriegsschatzcommission zugänglich, den Schlüsselbewahrern.

Möge dieser Schatz noch lange unangetastet liegen als ein Hort des Friedens, Deutschland zum Heile!




Blätter und Blüthen

Gefunden! Von den in den letzten Vermißtenlisten Aufgeführten sind folgende Nachrichten eingegangen:

1) Jacob Schwarz kehrte am 14. März nach Hause (M.-Gladbach) zurück.

2) Holzhändler Lages in Wolfenbüttel hat von uns Mittheilungen über den Aufenthalt seines Sohnes erhalten.

3) Karl Raab conditionirt, wie wir den Seinigen mittheilen konnten, als Apothekergehülfe in M. - Gladbach.

4) Ueber die von ihrem Bruder, einem Schauspieler, lange vergeblich gesuchten Schwestern sind bei uns von fünf Seiten zugleich Nachrichten eingegangen.

5) Die über den vermißten Frömmig aus Amerika eingelaufenen Nachrichten haben wir den Angehörigen mitgeteilt.

6) Ueber Ernst von Malßka sind Spuren entdeckt, die seine Auffindung ziemlich sicher stellen.

7) Der Tapezierermeister Jul. Harnisch zu Großwardein in Ungarn hat seine Brüder (in Leipzig) gefunden.

[584] 8) Der Menageriebesitzer Kriesel ist als Hausbesitzer in Herford erkundschaftet.

9) Max Linus Hoppe ist in Südamerika entdeckt worden, und zwar als Redacteur einer Zeitschrift „Die Germania“ auf der Colonie Esperanza (Provinz Santa Fé, Argentinische Republik).

10) Ueber den verschollenen Schlossermeister und Ehemann K. E. Mustwitz erhalten wir „actenmäßige“ Nachrichten, welche ausführlich über ihn verhandeln.

11) E. Höhne, den wir in Australien suchten, ist, nach einer Nachricht aus Hamburg, eben als er nach Amerika reisen wollte, 1869, in Sydney erkrankt und gestorben. – – –


Vermißte. (Fortsetzung von Nr. 8 dieses Jahrgangs):

59) Im 79. Jahre noch voll Sorge nach seinem verschollenen Sohne auszuschauen, das ist das Loos eines Vaters in Kellenbach (Hunsrück). Sein Sohn, der Schreiner Peter Schneberger, 1845 geboren, klein, schwächlich und blond, war in Kreuznach verheirathet. Als 1879 seine Frau kinderlos starb, schnürte er wieder den Wanderbündel, wollte über Lahnstein an der Lahn und Wiesbaden sich in’s Badische begeben, ist aber seitdem verschollen.

60) Der Chemiker William Sparker, bekannt durch seine Mittel, sich vor Verbrennen zu schützen, hat 1879 aus Ostende zum letzten Male an die Seinen geschrieben. Diese bitten ihn, Nachricht von sich zu geben.

61) Ein am Rothen Meer verschollener Schweizer wird von Mutter, Bruder, Schwestern und Oheim (J. Haeberlin-Schaltegger in Frauenfeld) gesucht. Er heißt Conrad Emil Tuchschmid, wurde zu Thundorf im Canton Thurgau 1852 geboren, ist ein großer kräftiger Bursche mit ovalem Gesicht, braunen Augen und Haaren und guten Zähnen und beabsichtigte im März 1873 als Mechaniker von Alexandria über den Suezcanal nach Ostindien zu reisen, schrieb auch noch im Herbst jenes Jahres von Massana am Rothen Meer an die Huber’sche Buchhandlung in Frauenfeld um Zusendung einiger Bücher, hat aber von diesem Augenblick an nichts mehr von sich hören lassen.

62) Karl Ludwig Voelker in Jersey City (St. R.-J.), 35 Oakland Av. sucht seinen Bruder Christian Friedrich Voelker, in den 60er Jahren Wirthschafter beim Grafen von Bodelschwingh, und seine Schwester, die bis zum Tode des Vaters (vor 1866) in Königsberg i. Pr., Vorstädtische Borchertsgasse Nr. 50 wohnte.

63) Dem Riemermeister Fritz Vollrath aus Coburg, eine Zeitlang in Wilsdruff bei Dresden, oder dessen Familie die Nachricht, daß seine Mutter, nun achtzig Jahre alt, noch lebt.

64) Ein Zeichen außerordentlichen Vertrauens auf die Aufspürkraft der „Gartenlaube“ ist das Ansuchen, einen Verschollenen im Birmanischen Reiche zu suchen. Es ist dies Isaak Frank Bouant aus Genf, der, 1843 geboren, längere Zeit in der britischen Marine, später bei Herrn Gratien, Vice-Consul in Rangoon, Britisch Burma, India, zuletzt bei den Herren F. Bidrot u. Comp. angestellt, 1865 sich in Ava niedergelassen. Geschildert wird Bouant als ein Mann von mittlerer Größe, ovalem Gesicht, blondem Haar und blauen, sehr lebhaften Augen, der französisch, englisch und spanisch spricht.

65) Ein Sohn, der von den Seinen nicht gefunden sein will, ist Hermann (Herz) Weinreich, um Dubro, russ. Gouvernement Volhynien, geboren; er verließ, in Folge eines Zerwürfnisses, 1861, achtzehn Jahre alt, das Elternhans, schrieb von Paris an seine Eltern, gab aber, auf die Nachricht, daß seine Mutter ihn in Paris aufsuchen wolle, sofort eine falsche Adresse an, meldete, daß er als Dolmetscher nach Spanien zu gehen gedenke, und ist seitdem für die Seinen verschollen.

66) Eine arme 67. Jahre alte Wittwe sucht in ihrem letzten Sohne die einzige Stütze für ihren Lebensrest: Friedrich Georg Zander, 1849 zu Königsberg in Pr. geboren, er wurde in London, wo er, obwohl eigentlich Kellner, in einer Stockfabrik gearbeitet 1872 durch einen Agenten zur Auswanderung nach Paraguay verleitet und hat seitdem keine Nachricht mehr von sich gegeben.

67) Zu Graz in Steiermark ist am 12.August 1875 die Gattin des Schuhmachermeisters Joseph Zàvorg, Johanne Zàvora, aus dem Hause mit der Drohung verschwunden, ihrem Leben ein Ende machen zu wollen. Seitdem war in und um Graz keine Spur mehr von ihr zu finden. Dennoch kann sie noch am Leben sein. Sie ist zu Untervillach in Kärnten, wo ihr Vater Fedelius Schmied Schmelzmeister war, 1841 geboren, hatte kleine Statur, langes hellblondes Haar, hohe Stirn, blaue Augen, spitze Nase, großen Mund und einen dicken Hals; beim Verschwinden trug sie einen carrirten Rock und eine schwarze Joppe. Für ihre Angehörigen ist’s zugleich von rechtlicher Wichtigkeit, daß man über ihr Schicksal bald entschiedene Auskunft erhalte, einerlei ob dieselbe an die „Gartenlaube“ oder an den Advocaten Dr. J. B. Holzinger in Graz gerichtet wird.

68) Der zu Wernsdorf bei Forchheim im Erzgebirg 1851 geborene Otto Richard Zischang, der in der Militäranstalt zu Struppen erzogen und 1865 zu einem Hutmacher in Bautzen in die Lehre gegeben wurde, ist von dort, wohl am Ende seiner vierjährigen Lehrzeit, „in die Welt“ gegangen, ob über’s Meer? wer weiß es! Sein in Chemnitz lebender Bruder hätte gern Nachricht über ihn.

69) Der Brauergeselle August Zucker aus Ottmachau bei Grottkau in Preußisch-Schlesien, geboren 1852, ging 1871 „in die Fremde“, von welcher er noch bis heute nicht wieder heimgekehrt ist. Er war zuerst bei und in Zeitz und in Weißenfels, von wo er noch bis Ostern 1875 die Briefe der Angehörigen beantwortete. Im Herbst desselben Jahres verließ er Weißenfels angeblich in der Richtung nach Leipzig und Torgau zu und wurde 1877 wieder in Weißenfels gesehen. Vielleicht erinnert Jemand oder dieser Aufruf ihn daran, daß er auch Pflichten als Sohn und Bruder hat.

70) Aus Nordamerika geht uns von Mrs. Anna Rhaesa Ames in Camden, Knox County, Maine, die Bitte zu, über den Vater derselben Erkundigungen einzuziehen. Derselbe hieß Theodor Rhaesa, wanderte angeblich über Hamburg 1843 nach Pennsylvanien aus, wo er sich verheirathete. Etwa zwei Jahre später ging er nach Californien, um Gold zu graben, und ist seitdem für seine Familie verschollen. Die Tochter vermuthet nun, daß ihr Vater, der eine Schwester, Amelia, in Deutschland zurückgelassen, in die alte Heimath zurückgekehrt sei. Ist das wirklich der Fall gewesen, so kann der Wunsch der Tochter (deren Mutter noch lebt), von dem Vater Kunde zu empfangen, vielleicht doch erfüllt werden.




Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts von Ludwig Solomon (Stuttgart, Levy und Müller). Auf allen Gebieten der Interpretation geistiger Erzeugnisse macht sich seit lange das Bestreben fühlbar, die einzelnen Schaffensperioden, ja die einzelnen Producte selbst aus dem Geiste der Zeit heraus zu erklären und sie im Zusammenhange mit demselben zu betrachten. Die Beurtheilung künstlerischer oder literarischer Hervorbringungen lediglich vom Standpunkte ihrer selbst aus und ohne den Wurzeln nachzuspüren, die sie mit dem Boden der Zeit verbinden, gehört heute gottlob! so ziemlich zu den überwundenen Gewohnheiten. Dies gilt namentlich auch von der Literaturgeschichte. Der moderne Literaturhistoriker pflegt die geistigen Einzelproducte auf ihren Zusammenhang mit dem Geiste der Zeit, die sie geschaffen, zu prüfen. In diesem Sinne darf Ludwig’s Salomon’s „Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ ein echtes Kind der Gegenwart genannt werden; sie geht in der Besprechung der verschiedenen Zeltabschnitte wie der einzelnen Werke, durch welche diese Zeitabschnitte gekennzeichnet werden, den Fäden nach, welche diese mit den allgemeinen Strömungen der Culturbewegung verbinden, und bestrebt sich so, die Wechselwirkung zwischen Literatur und Zeitgeist im Rahmen des gegenwärtigen Jahrhunderts klarzulegen.

Was uns Salomon bietet, ist keine Literaturgeschichte in jenem engen Sinne kurzsichtiger Historiographen, welche den Kreis literarischen Schaffens geschlossen glauben in den drei Poesiegattungen: Lyrik, Epik, Dramatik, unter Hinzunahme der Prosadichtung als vierter Abtheilung; wir haben es hier vielmehr mit einem Werke zu thun, welches neben einer verständnisvollen Einführung in die schöne Literatur uns auch ein umfassendes Gemälde von jenen Disciplinen eines mehr abstracten Schaffens entrollt, wie sie in Philosophie und Geschichte, in Politik und Naturgeschichte, in der Aesthetik und den übrigen aus den Grenzen der reinen Fachwissenschaften sich erhebenden Bethätigungen geistigen Lebens sich uns darthun. Wenn Salomon dabei die Dichtung im engeren Sinne in den Vordergrund der Betrachtung rückt, so geschieht dies stets im Zusammenhange mit der geistigen Bewegung der Zeit überhaupt, und dieser universelle Standpunkt ist es, welcher dem auf umfassenden Studien beruhenden Werke seinen eigentlichen Werth verleiht.

Die Salomon’sche „Nationalliteratur“, ein auch äußerlich sehr geschmackvoll ausgestattetes und mit vierundzwanzig Portraits hervorragender Dichter geschmücktes Buch, führt uns nach einer kurzgefaßten Einleitung zu den Epigonen Weimars, das heißt zu denjenigen Dichtern, die noch unter dem unmittelbaren Einflusse der Schiller-Goethe’schen Zeit schufen, und geleitet uns von da durch die lange Entwickelungsreihe der nachclassischen Literatur bis zu dem Schriftthum der Gegenwart, bis zur Kriegslyrik von 1870/71 und der Literatur „im neuen Reich“; sie entrollt uns in übersichtlicher und klarer Darstellung ein nahezu erschöpfendes, wenn auch nur in den Grundlinien gezeichnetes Bild dieser acht Decennien deutscher Literatur und verdient daher als ein schätzenswerthes Handbuch die Beachtung aller Gebildeten.




Esel-Siesta. (Mit Abbildung S. 581.) Das ist ein frisches Bild aus dem Badeleben – der Strand des eleganten Nordseebades Scheveningen, wo gerade jetzt das vornehme Leben der Saison in höchster Blüthe steht. Die Esel-Siesta, welche uns der Künstler mit seinem Humor vor’s Auge führt, versetzt uns mitten in das bunte Treiben des Dünenlebens. „Jeder Strich meines Bildes,“ schreibt uns Herr Weinberger, „ist dem Leben abgelauscht. Es ist ein trauriges Loos, das diesen armen Vierbeinern, Eseln und Pferden, beschieden ist – zumal den Eseln. Unter harten Stockschlägen werden sie an den Strand getrieben und den Badegästen zum Spazierreiten vermiethet, und zwar unter der zudringlichen Empfehlung der Besitzer: das Reiten auf der Düne gehöre zu den gesundesten Bewegungen, die man haben könne. Du lieber Gott – so ein Ritt aus dem eckigen Rücken eines geduldigen Esels soll Herz, Lungen und Nieren stärken? Das begreife wer kann! Ein Vergnügen ist es jedenfalls nicht, von so einem störrischen und unberechenbar hinterlistigen Thiere bald in den Sand, bald aber in’s Wasser geworfen zu werden. – Letzteres gehört gar nicht zu den Seltenheiten; denn die Herren Esel von Scheveningen sind ganz besonders übellaunig, und ich glaube, das hat seinen guten Grund, sie scheinen dem geduldigen Badepublicum die stündlich von ihren Besitzern zu erleidenden Mißhandlungen heimzahlen zu wollen. So ein Esel hat auch ein Herz, und allzu viel Prügel machen bitter und störrisch. Auf meinem Bilde ist nun freilich nichts zu schauen von solchen Rache-Aeten einer verbissenen und – wenn ich mich des bezeichnenden Ausdrucks bedienen darf – verknurrten Eselsseele – nein, müde wie sie nach den Strapatzen eines heißen Morgens sind, halten sie alle ihre Mittagsruhe, die Esel, der Führer und – der Prügel. Nur Einer wacht über Alle, der getreue, nimmer ruhende Phylax. Ist es nicht ein Bild der Milde und Versöhnung?“


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Kleiner Briefkasten.


H. St. in Dresden. Zur Beurtheilung lyrischer Gedichte fehlt uns alle Zeit.

Gustav Gr. in Breslau. Wiederholen Sie gütigst Ihre Anfrage unter Angabe Ihrer vollen Adresse!

Julie in B. Wir bedauern, Ihnen nicht dienen zu können.


  1. Diese Verse wie die folgenden hat der Verfasser unseres Essays.
    seinem Gedichte „Charlotte Corday“ entnommen. Unsere Leser finden
    dasselbe in der größeren Dichtung „Die Göttin“, welche den zweiten Band
    von Rudolf v. Gottschall’s poetischen Erzählungen bildet. (3. Bogen
    Breslau, Trewendt.) Wir benutzen diese Gelegenheit, um auf das durch
    bedeutenden Gedankeninhalt, glänzendes Colorit der poetischen Schilderung
    und dramatische Kraft der Charakterzeichnung hervorragende Poem so
    warm wie nachdrücklich hinzuweisen und es der allgemeinen Beachtung
    zu empfehlen.
    D. Red.
  2. Vergl. auch: „Die Verbesserung der Getreidearten.“ Von Patrick Shirreff, deutsch von Dr. R. Hesse. (Halle, Hofstetter.)