Die Gartenlaube (1869)/Heft 6
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No. 6. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Noch waren die letzten stürmischen Accorde unter Jutta’s Händen nicht verhallt, als die Pfarrerin zur Thür hereinsah. Dies leuchtende, lebensfrohe Gesicht zeigte nicht die mindeste Spur des Gekränktseins – das war ein Gemüth, das rasch mit sich fertig wurde; „die können ja nicht wissen, wie einem Mutterherzen zu Muthe ist –“ hatte sie versöhnend bedacht, und damit war der Groll verflogen.
Sie rief herein, daß die Bescheerung nun vor sich gehen könne. Die kleine Gräfin erfaßte ihre Hand, Jutta schlug den Clavierdeckel zu, und Frau von Herbeck erhob sich langsam, mit einem so verbindlichen Lächeln, aus der weichen Sophaecke, als sei nie ein arger Gedanke gegen jene Frau an der Thür in ihre Seele gekommen.
Unten in seinem engen Studirstübchen saß der Pfarrer bereits am kleinen, altersschwachen Spinett. – Das war freilich kein Kopf, wie ihn die heutige Mystik auf der Kanzel sehen will. Diese Züge waren nicht abgeblaßt in der düsteren Gluth des Fanatismus; keine Spur jener eisernen Unbeugsamkeit und Intoleranz des finsteren Glaubenseiferers lag auf der Stirn, und das Haupt beugte sich nicht gegen die Brust, in dem Bestreben, der Welt ein lebendiges Beispiel christlicher Demuth zu sein – er war ein echter Sohn des Thüringer Waldes, eine kraftvolle, markige Gestalt mit breiter Brust, hellen Gesichtszügen und einer so leuchtend offenen Stirn unter dem vollen, dunklen Kraushaar, als könne kein Gedanke verborgen dahinter weggleiten. … Um ihn her standen seine Kinder, pausbackige Köpfchen wie sie drüben in der Kirche über und neben der alten Orgel als Seraphim und Cherubim schwebten. Alle die strahlenden Blauaugen hingen erwartungsvoll an dem Gesicht des Vaters. Er begrüßte die eintretenden Damen mit einer stummen Verbeugung, dann griff er voll in die Tasten, und feierlich, glockenhell setzten die Kinder ein: „Ehre sei Gott in der Höhe, der Herr ist geboren.“
Beim Schlusse des Verses öffnete die Pfarrerin langsam die Thür der Nebenstube, und der Glanz des Weihnachtsbaums floß heraus. Die Kinder stürzten nicht jubelnd hinüber – scheu traten sie über die Schwelle, das war ja gar nicht die liebe, alte Wohnstube, deren Wände allabendlich in dem Halbdunkel der schwach leuchtenden Talgkerze verschwanden! Der kleine Spiegel, die Glasscheiben über den wenigen Bildern strömten eine wahre Lichtfluth wider, und selbst aus den alten, mattglänzenden Ofenkacheln hüpfte ja ein Lichtlein. …
Die kleine Gräfin aber stand da mit dem Ausdruck der Enttäuschung im Gesicht – das sollte ein Christbaum sein? Diese arme, kleine Fichte mit den wenigen fadendünnen Wachsstengeln auf den Zweigen? Unscheinbar kleine, rothe Aepfel, Nüsse, die das vornehme, kränkelnde Kind nicht einmal essen durfte, und einige zweifelhafte Figuren aus braunem Pfefferkuchen – das waren die ganzen Wunderdinge, die sich da droben schaukelten! Und drunten auf dem groben, weißen Tischtuch lagen Schiefertafeln, Schreibhefte, Bleistifte – lauter Dinge, die sich ganz von selbst verstehen, deshalb hätte doch das Christkindchen nicht vom Himmel herabzusteigen gebraucht! … Und doch, wie jubelten die Kinder jetzt, nachdem die Scheu überwunden war! Das stumme Befremden der kleinen Gräfin bemerkten sie nicht – sie hätten es ja nicht einmal begriffen, sie sahen auch nicht das impertinente Lächeln, das bereits beim Anstimmen des Chorals aus Frau von Herbeck’s Gesicht erschienen war und sich auch jetzt noch behauptete; erkannten doch selbst die Eltern die Natur dieses Lächelns nicht – die Mutter lächelte ja auch, als ihre kleinen Mädchen schleunigst in die neuen, buntwollenen Unterröckchen krochen und ihr sogenannter „Dicker“ schmunzelnd das „nagelneue“ Höschen an seine strammen Beinchen hielt, das sie selbst in stiller Nacht und bei verschlossenen Thüren aus dem allerersten schäbigen Candidatenfrack des Herrn Pfarrers zurechtgeschneidert hatte. Und der Vater trug das jauchzende, lallende Fritzchen auf dem Arm – er hatte vollauf zu thun, alle die Merkwürdigkeiten pflichtschuldigst zu bewundern, die Hans Ruprecht in sein Haus gebracht – ihm blieb keine Zeit, die Gesichter seiner Gäste zu prüfen.
Er zog sich übrigens, nachdem der Weihnachtsbaum ausgelöscht war, in seine Studirstube zurück; einer seiner Collegen war plötzlich erkrankt, er hatte deshalb eine Predigt mehr für die Feiertage übernommen und mußte sich noch vorbereiten.
Frau von Herbeck und Jutta hatten sich gleich zu Anfang der Bescheerung auf das Sopha geflüchtet – dort waren wenigstens die Kleidersäume in Sicherheit vor den rücksichtslosen „Pandurenfüßchen“. Nun wurde der vor ihnen stehende Tisch gedeckt; die alte Rosamunde brachte eine riesige Porcellankanne voll Thee aus der Küche, um die sie eine Schaar blinkend sauberer Steingut-Tassen gruppirte, während die Pfarrerin einen Teller voll frischgebackenen Kuchens, eine Scheibe köstlicher Butter, Honig und ein derbes Schwarzbrod hinstellte.
Die kleine Gräfin wandte sich sogleich weg von diesem Weihnachtsschmaus – frischer Kuchen und Schwarzbrod waren ihr [82] streng verboten. Sie kreuzte die Hände wie ein Professor auf dem Rücken und sah dem Treiben der andere Kinder ernsthaft zu. Der „Dicke“ saß auf einem grellroth angestrichenen Gaul und rollte unter Hü und Hott durch die Stube.
„Das ist ein sehr häßliches Pferd!“ sagte Gisela, als er an ihr vorübersauste.
Der begeisterte Reiter hielt erbost inne.
„Es ist nichts häßlich, was Einem das Christkindchen bringt,“ entgegnete er tief empört – sein kleines Herz war ja voll unsäglicher Dankbarkeit gegen das Christkindchen.
„Wirkliche Pferde sind gar nicht so roth und haben auch niemals solch steife Schwänze,“ kritisirte das kleine Mädchen unbeirrt weiter. „Ich will Dir lieber meinen Elephanten schenken – der läuft von selber durch’s Zimmer, wenn man ihn mit dem Schlüssel aufzieht; eine Prinzessin sitzt d’rauf, die nicht mit dem Kopfe –“
„So, eine Prinzessin sitzt d’rauf?“ unterbrach sie der „Dicke“ überlegen. „Wo sitze ich denn nachher? … Da ist mir mein Gaul doch viel lieber – ich will Deinen alten Elephanten gar nicht!“
Damit rollte er peitschenknallend weiter. Gisela sah ihm betreten nach. Sie war gewohnt, daß die Dienerschaft nach ihren Händen haschte und sie zu küssen versuchte, wenn sie Geschenke austheilte, und hier wurde sie so schnöde zurückgewiesen. Noch mehr aber empörte es sie, daß der Junge den „schauderhaften“ Gaul so beharrlich schön fand. Sie warf einen Blick auf ihre Gouvernante, allein die war in ein Gespräch mit Jutta vertieft und führte eben mißtrauisch langsam die Theetasse an die Lippen, um sie sofort mit einem leisen Schauder wieder hinzustellen.
Das seltsame Kind, das so wenig die Gabe besaß, sich anzuschließen, stand einsam inmitten des Weihnachtsjubels; seine Abneigung gegen die Puppenwelt ließ es jene Ecke fliehen, wo zwei kleine Mädchen ein dickköpfiges Wickelkind fütterten, und vom „Dicken“ war ja der einzige Annäherungsversuch so classisch abgefertigt worden. … Aber dort an einem Seitentisch, aus welchem heute ausnahmsweise auch ein Licht brannte, stand der Erstgeborne des Hauses, ein ungefähr neunjähriger Knabe, und neben ihm die Schwester, die ihm im Alter folgte. Beide lasen eifrig, Alles um sich vergessend, in einem Buche. Auf den fleckenlos sauberen Tisch hatte das kleine Mädchen sein schneeweißes Taschentuch gebreitet, und erst auf diesem lag das Buch wie ein Allerheiligstes; die Kinder wagten kaum mit den äußerste Fingerspitzen die neuen Blätter umzuwenden – es waren die Grimm’schen Märchen, die der Vater unter den Christbaum gelegt hatte.
„Die Sternthaler,“ las der Knabe mit halblauter Stimme. „Es war einmal ein kleines Mädchen“ – mit zwei Schritten stand Gisela neben ihm, der Anfang klang zu verlockend. Sie verstand schon fließend zu lesen, und eine so eigentümlich grübelnde Richtung auch die Geisteskräfte dieses noch so jungen Wesens bereits annahmen – die Märchenwelt mit ihren nicht zu begründenden Wundern übte deswegen doch ihren ganzen bestrickenden Zauber auch auf diese Kinderseele.
„Gieb mir das Buch lieber in die Hand, ich will vorlesen,“ sagte Gisela zu dem Knaben, nachdem sie, auf den Zehen stehend, vergebens versucht hatte, einen Einblick in das Buch zu gewinnen.
„Das thu’ ich nicht gern,“ antwortete er und fuhr sich verlegen mit der Hand in die blonden Kraushaare. „Der Papa will mir morgen erst den schönen Einband in einen Papierbogen schlagen –“
„Ich werde ihn nicht verderben,“ unterbrach ihn die Kleine ungeduldig. „Gieb das Buch her!“ Sie streckte die Hand aus. In dieser sehr herrischen Geberde lag die ganze Zuversicht des verwöhnten vornehmen Kindes, das einen directen Widerspruch gar nicht kennt.
Der Knabe maß die kleine Gestalt mit sehr erstaunten Blicken.
„Oho, so geschwinde geht das nicht!“ rief er abwehrend. Als Aeltester der Kinderschaar war er den Eltern bereits eine Stütze bei Erziehung seiner Geschwister. Er hatte die Aufgabe, leuchtendes Vorbild zu sein, und dies Ehrenamt voll märthyrhafter Selbstverleugnung gab ihm sehr viel äußere Würde. … Er schlug das Taschentuch schützend um den Einband des Buches und nahm es auf.
„Nun, meinetwegen, Du sollst es haben,“ sagte er ernsthaft, "aber Du mußt auch hübsch artig sein und bitten – alle Kinder müssen bitten.“
War die Kleine bereits gereizt durch die Scene mit dem „Dicken“, oder bekam das Bewußtsein ihrer hohen Lebensstellung in diesem Augenblick wirklich die Oberhand in ihr – genug, aus den schönen, rehbraunen Augen funkelte ein maßloser Hochmuth, und dem Knaben den Rücken wendend, sagte sie verächtlich. „Das brauche ich nicht!“
Die Wirkung dieser Worte war eine große. Der eben vorüber rollende Reiter hielt seinen Gaul an – wenn auch selbst mit einer bedeutenden Dosis Trotz begabt, ging ihm diese unerhörte Antwort denn doch über den Spaß – und die zwei kleinen Ziehmütterchen ließen ihr hülfloses Wickelkind in der Ecke liegen und kamen schleunigst herbei, um mit großen, weitgeöffneten Augen „das ungezogene Mädchen“ anzustarren – Alle aber wiederholten wie aus einem Munde: „Alle Kinder müssen bitten!“
Dieses Unisono schreckte auch Frau von Herbeck plötzlich aus ihrem Zwiegespräch mit Jutta auf. Das, was die Kinder riefen, und die feindselige Haltung ihrer Schutzbefohlenen ließen sie sofort begreifen, was vorgegangen war; mit einer so erschrockenen Hast, als sähe sie das gräfliche Kind bereits über einem Abgrund schweben, erhob sie sich und rief hinüber „Gisela, mein Kind, ich bitte Dich, komme sofort zu mir!“
In diesem Augenblick trat die Pfarrerin, die Fritzchen zu Bett gebracht hatte, in’s Zimmer.
„Sie will nicht bitten, Mama!“ riefen ihr die Kinder entgegen und zeigten auf Gisela, die noch unbeweglich mitten im Zimmer stand.
„Nein, ich will auch nicht!“ wiederholte sie, aber diesmal klang ihre Stimme bei weitem nicht mehr so hart und sicher den scharfen, klugen Augen der Pfarrerin gegenüber. „Die Großmama hat gesagt, das schicke sich nicht für mich – nur den Papa darf ich bitten, alle Andere nicht, auch Frau von Herbeck nicht!“
„Sollte die Großmama das wirklich gesagt haben?“ frug die Pfarrerin ernst liebevoll, indem sie das Köpfchen der kleinen Widerspenstigen zurückbog und voll in das trotzige Antlitz sah.
„Ich kann Ihnen versichern, meine beste Frau Pfarrerin, daß dies die unumstößliche Willensmeinung der hochseligen Frau Gräfin allerdings gewesen ist,“ antwortete Frau von Herbeck an Stelle des Kindes mit unbeschreiblicher Impertinenz, „und ich sollte meinen, Niemand habe wohl mehr Recht zu derartigen Erziehungsmaßregeln gehabt, als gerade sie in ihrer erlauchten Stellung! … Uebrigens möchte ich ihnen – lediglich im Interesse ihrer Kleinen selbst – den wohlgemeinten Rath geben, ihnen doch ein wenig klar zu machen, daß sie in der kleinen Reichsgräfin Sturm denn doch etwas ganz Anderes zu sehen haben, als in Hinz und Kunz, mit denen sie für gewöhnlich verkehren mögen.“
Ohne eine Silbe auf diesen „wohlgemeinten Rath“ zu erwidern, forderte die Pfarrerin ihren Aeltesten auf, den Hergang zu erzählen.
„Du mußtest zuvorkommender sein,“ sagte sie verweisend, als er geendet hatte, „und der kleinen Gisela das Buch geben, sobald Du auch nur merktest, daß sie es wünschte – denn sie ist unser Gast, das durftest Du nicht vergessen, mein Sohn!“ Dann öffnete sie die Thür des Studirzimmers und hieß die Kinder eintreten, um dem Papa gute Nacht zu sagen. Der „Dicke“ schob sofort mit einem wehmüthigen Abschiedsblick, aber ohne Widerrede, seinen Gaul in die Ecke, die kleinen Mädchen hüllten ihr Wickelkind bis über die Nase in die warme Wiegendecke, und nach einem freundlichen „Gutenacht“ gegen die Damen schritten sie, nach Alter und Größe wie die Orgelpfeifen, über die Schwelle, um wenige Minuten darauf, unter Anführung der alten Rosamunde, nach der Schlafstube zu marschiren. Der kleinen Gräfin aber gab die Pfarrerin das Märchenbuch in die Hand, führte sie in die anstoßende, wohlgeheizte Kinderstube, deren Thür halbgeöffnet blieb, und kehrte dann zu ihren Gästen zurück.
„Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig, gnädige Frau!“ sagte sie mit ihrer tiefen, kräftigen Stimme, während die klaren, blauen Augen tapfer den stechenden Blick der ihr gegenüberstehenden Dame aushielten. „Die kleinen, neugierigen Ohren sollten ihre weiteren Erklärungen nicht hören, weil sie meinen Erziehungmaßregeln zuwiderlaufen – nicht wahr, dies Recht hat die bürgerliche [83] Mutter doch auch? … Also, ich soll meinen Kindern Respect gegen die kleine Gräfin einflößen – wie soll ich das machen, da ich selbst – verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit – bis jetzt nichts dergleichen in mir verspüre?“
„Ei, ei, meine Liebe, so wenig Demuth in einem geistlichen Hause?“ unterbrach sie die Gouvernante mit ihrem stereotypen Lächeln; aus der höhnisch geschärften Stimme aber klang die tiefste Erbitterung.
Auch die Pfarrerin lächelte, allein mit jenem unvergleichlichen Humor, den die geistige Kraft und Klarheit über das ganze Wesen dieser Frau hauchten.
„Daran fehlt’s bei uns wirklich nicht,“ sagte sie mit einer Art von schalkhafter Einfalt; „es kommt nur darauf an, wie Sie sich die Demuth denken, gnädige Frau. … Ich weiß recht gut, daß die echte, rechte Pfarrersfrau zu allererst auf dem Boden von Gottes Wort stehen soll, und bemühe mich auch redlich um diese Ehrenstelle; aber eben weil ich mich an die Bibel halte, so weiß ich auch, daß sie Gottesfurcht und Gottesverehrung von mir verlangt, aber beileibe nicht Furcht und Götzendienst vor den Menschen.“
Frau von Herbeck hatte sich während dieser tapfern Rede nachlässig in die Sophaecke zurückgelehnt und klirrte mechanisch mit dem Theelöffelchen an die noch immer gefüllte Tasse. Diese scheinbar indolente Haltung, verbunden mit einem kalt gleichgültigen Blick, der aus den halbzugekniffenen Augenlidern unveränderlich auf die Tischplatte fiel, sagte unverkennbar: „Ich bin hier in sehr unanständiger Gesellschaft – am besten wickle ich mich aus der fatalen Lage, indem ich auf gar nichts eingehe.“ – Sie sah nicht einmal zu Jutta auf, die in peinlicher Verlegenheit neben ihr saß.
Die Pfarrerin hatte einen Moment innegehalten, ihr heller Verstand begriff sofort die Taktik der aristokratischen Gouvernante, aber sie ließ sich nicht einschüchtern – was sie einmal ausgesprochen, mußte auch motivirt werden.
„Das Kindchen da drüben“ fuhr sie fest und unbeirrt fort, indem sie mit dem Daumen über die Schulter nach der Kinderstube zeigte, „hab’ ich herzlich gern, und wenn ich ihm ’was Liebes erweisen könnte, da geschähe es zu jeder Stunde mit Freuden – aber Respect, gnädige Frau, Respect! – dazu will ich mehr! … Ich kann’s eben nicht fassen, daß erwachsene Leute um ein Kind herumscherwenzeln, seine Launen ertragen und sein kindisches, unreifes Thun und Wesen am liebsten für pure Weisheit ausgeben möchten, blos weil es hochgeboren ist – da hat mein lieber Mann doch ganz Recht, wenn er sagt, in solchen Fällen würde allemal die menschliche Würde mit Füßen getreten. … Und da soll ich nun meinen Kinderchen, die so frisch und fröhlich in die Welt gucken und noch keine Ahnung davon haben, was die Menschen sich Alles anthun um das ‚Mein und Dein‘ und das ‚Hoch und Niedrig‘ – ja, ich soll den unschuldigen Dingern auf einmal einbläuen, das kleine, hülflose Geschöpf, das noch Wartung und Aufsicht braucht wie sie, das noch so wenig weiß und erfahren hat, das auch ganz gehörig unartig sein kann und Strafe verdient – das sollten sie mit so respectvollen Augen ansehen, womöglich gar wie – Vater und Mutter? Das geht nicht – sie würden es gar nicht einmal verstehen, so wenig, wie – ich selber.“
Frau von Herbeck erhob sich.
„Nun, meine liebe Frau Pfarrerin, das ist ihre Sache!“ sagte sie schneidend. „Die Früchte dieser allerliebsten Erziehungsweise werden Sie einmal recht erkennen lernen, wenn – Ihre Söhne Karriere machen wollen!“
„Sein tägliches Brod wird ja wohl ein jeder finden,“ entgegnete die Pfarrerin vollkommen ruhig. „Meine Kleinen werden in Gottesfurcht streng zu Fleiß und Thätigkeit angehalten – und dann mag’s kommen, wie’s will! Lieber ist mir’s doch, wenn sie schlecht und recht von ihrer Hände Arbeit leben, als daß ich dereinst denken müßte, sie hätten sich durch Kriecherei und Heuchelei fette Stellen erschlichen.“
Draußen fuhr unter hellem Schellengeläute der Schlitten vor, der die kleine Gräfin und ihre Gouvernante nach Hause bringen sollte. Gisela trat in die Thür und reichte der Pfarrerin das Märchenbuch hin. … Wie eigenartig war doch der Charakter dieses Kindes! Weder die zärtlich einschmeichelnde Frau von Herbeck, noch irgend jemand der Umgebung konnte sich je eines Liebesbeweises von Seiten der Kleinen rühmen; scheu und finster wich sie jeder Berührung aus und wies selbst die Liebkosungen des Stiefvaters hartnäckig zurück – und jetzt trat sie plötzlich auf die Zehen, streckte die mageren Arme empor und legte sie um den Nacken der Frau, deren Wesen ein so unbestechlich gerades war, die dem hochgeborenen Kinde nie eine Spur der gewohnten Huldigung und Vergötterung entgegenbrachte.
Die Pfarrerin küßte überrascht den dargebotenen kleinen Mund. „Behüt’ Dich Gott, mein liebes Kind, werde recht brav und wacker!“ sagte sie – ihre volltönende Stimme schmolz in Weichheit – sie wußte ja, daß die Kleine das Pfarrhaus nicht wieder betreten würde.
Frau von Herbeck’s Gesicht wurde ganz blaß bei diesem unvorhergesehenen Auftritt, aber sie war gewohnt, die seltenen Momente einer selbständigen Gefühlsäußerung des Kindes gegen Andere lediglich für kleine, ihr selbst geltende Bosheiten zu halten und deshalb bemühte sie sich, „diese kindische Demonstration“ durch ein kalt-gleichgültiges Lächeln zu entwaffnen. Die „widerwärtige Scene“ wurde ja in diesem Augenblick ohnehin abgekürzt durch einen Lakaien der, den Arm voll Shawls und Mäntel, mit abgezogenem Hut in die Stube trat.
„Tragen Sie die Sachen. in Fräulein von Zweiflingen’s Zimmer!“ herrschte ihm Frau von Herbeck zu; dann nahm sie Gisela's Hand, neigte den Kopf freundlich herablassend und sagte in ihrem verbindlichsten Ton zu der Hausfrau: „Meinen besten Dank für den reizenden Weihnachtsabend, meine liebe Frau Pfarrerin!“
Sie verließ das Zimmer und eilte in einer fast fieberhaften Ungeduld den Anderen voraus über Treppe und Vorsaal, für einen Moment der Grazie, Würde und selbst der peinlichen Rücksicht verlustig, die sie sonst unter allen Umständen für ihre Toilette hatte – der starre, elegant bordirte Kleidersaum schleifte Rosamundens wahrhaft künstlerisch vertheilte Sandbrocken kollernd weiter aus den nassen Dielen. Droben aber in Jutta’s Stübchen blieb sie einen Augenblick bildsäulenartig stehen, dann ließ sie sich wie zerbrochen aus einen Stuhl fallen. Sie war außer sich.
„Nur noch einige Minuten muß ich hier bleiben, liebstes Fräulein Jutta!“ sagte sie, tief Athem schöpfend. „Ich darf unmöglich in diesem aufgeregte Zustand nach Hause kommen und mich vor unseren Leuten sehen lassen – diese müßigen Augen und Mäuler belauern und bemängeln Einen ohnehin auf Tritt und Schritt. … Fühlen Sie meine Wangen an, wie sie glühen!“
Sie preßte ihre weißen Hände abwechselnd an Stirn und Schläfe, als wolle sie das aufgestürmte Blut beschwichtigen.
„Gott im Himmel, war das ein entsetzlicher Abend!“ rief sie aus – sie warf das Haupt schüttelnd zurück und starrte an die Zimmerdecke. „Nie, so lange ich athme, bin ich gezwungen gewesen, in einer so – verzeihen Sie – erniedrigenden Umgebung aufzuhalten! … Was Alles habe ich geduldig anhören müssen! … Diese gemeine Person, mit welcher Ungenirtheit sie ihre Ansichten auskramte, Ansichten, die ihrem lieben Mann Amt und Brod kosten können! Sie mag sich nur vorsehen, die überkluge Frau! … Und diese unendliche Salbung, diese mit Gottesfurcht und Frömmigkeit gespickten Reden! Schon um deswillen ist mir das sogenannte ‚Wort Gottes vom Lande‘ stets ein Gräuel gewesen, weil es sein – rund herausgesagt ‚Handwerk‘ – ewig auf dem Präsentirteller herumträgt!“
Sie erhob sich und ging einigemal auf und ab.
„Sagen Sie selbst, Kindchen,“ hob sie nach einem momentanen Schweigen wieder an und legte, stehenbleibend, die Hände auf Jutta’s Arm, „war das nicht eine starke Zumuthung für den gebildeten Geschmack, für musikalisch verwöhnte Ohren, daß wir aus Ihrem himmlischen Clavierspiel unerbittlich herausgerissen wurden, um drunten einen Choral von dünnen, quiekenden Kinderstimmen zu hören? … Warum soll ich’s leugnen, ich mag überhaupt den Choral nicht – ich gehöre nun einmal nicht zu den überschwenglichen Seelen; und so lächerlich und abgeschmackt mir auch einerseits die Komödie da drunten vorkam, ich mußte mich doch ärgern, eben weil ich gezwungen wurde, sie mitzumachen. … Und nun noch Eines, liebstes Fräulein von Zweiflingen: ich bin selbstverständlich zum letzten Mal mit Gisela in diesem gottgesegneten Pfarrhause gewesen!“
Jutta wandte erbleichend das Gesicht weg, aber die kleine [84] Gräfin, die während der leidenschaftlichen Ergießungen ihrer Gouvernante ruhig Mantel und Capuze angelegt hatte, trat mit großer Lebhaftigkeit vor sie hin und sagte genau in dem trotzig entschiedenen Ton des Pfarrersohnes, der ihr trotz alledem jedenfalls imponirt hatte:
„O, so geschwind geht das nicht – ich werde jedenfalls wiederkommen!“
„Das wollen wir sehen, mein Kind!“ entgegnete Frau von Herbeck plötzlich sehr beherrscht – sie hatte offenbar in ihrer Aufregung die Anwesenheit des Kindes für einen Moment völlig außer Acht gelassen. „Papa soll einzig und allein entscheiden – Du kannst ja noch nicht beurtheilen, Engelchen, was für bittere Feinde Du in diesem Hause hast.“
Die Dame schlang ihre Arme um Jutta’s Schultern und zog die geschmeidige Gestalt fest an sich.
„Und nun hören Sie mich!“ flüsterte sie. „Der unerträgliche Kinderlärm, das entsetzliche Gebräu – Thee genannt – und die groben Speisen, die uns aufgenöthigt werden sollten, die Knasterwolken, die wahrhaft mephitisch aus jeder Thürritze der pfarrherrlichen Studirstube quollen und die Luft verpesteten – enfin, das ganze Heer von Widerwärtigkeiten, das wir heute in trauriger Gemeinschaft über uns ergehen lassen mußten, hat mir die Ueberzeugung aufgedrängt, daß Ihres Bleibens nicht länger in diesem Hause sein kann. So lange wenigstens, bis Sie ihren alten, herrlichen Namen mit dem bürgerlichen vertauschen, sollen Sie noch die Vorrechte und Annehmlichkeiten ihres Standes genießen. … Ich nehme Sie mit, und zwar auf der Stelle. Denen drunten machen wir vorläufig weis, daß Sie mich nur für die Feiertage besuchen – sonst kommen Sie nicht los. … Sie wohnen weder beim Minister, noch bei der kleinen Gräfin Sturm, sondern einzig bei mir, ich trete Ihnen zwei hübsche Zimmer meiner weitläufigen Appartements ab, und sollten Sie oder Ihr Herr Bräutigam Bedenken tragen, alles Uebrige ohne Weiteres in Schloß Armsberg anzunehmen, nun, so geben Sie doch Gisela Clavierunterricht – dann ist Alles ausgeglichen! … „Wollen Sie?“
Statt aller Antwort wand sich das junge Mädchen hastig aus Frau von Herbeck’s Armen, eilte in die anstoßende Kammer und kehrte nach wenigen Minuten, in einen engen, verwachsenen Mantel gehüllt, in die Stube zurück.
„Hier haben Sie mich!“ sagte sie mit strahlenden Augen.
Frau von Herbeck unterdrückte mit Mühe ein Lächeln über die wunderliche Figur, welche die junge Dame in dem engen, pressenden, unmodernen Kleidungsstück spielte. Sie befühlte die dünne Wattirung.
„Das Mäntelchen ist viel zu leicht. Bedenken Sie, daß wir in die eisige Nachtluft hinaus müssen!“ sagte sie, während sie den Mantel abstreifte und zu Boden fallen ließ. „Lena hat uns ja ein wahres Kleidermagazin geschickt!“ fuhr sie fort und zog aus dem Wust von Shawls und Mänteln, den der Bediente auf das Sopha gelegt hatte, einen mit Pelz besetzten, königsblauen Sammetüberwurf und eine Capuze aus weißem Cachemir. Diese weichen, kostbaren Umhüllungen legte sie eigenhändig um Kopf und Schultern des jungen Mädchens.
Nach wenig Minuten stand das traute Eckstübchen verlassen, und die Drei steigen die Treppe hinab, an deren Fuß Rosamunde mit der flackernden Küchenlampe stand. Das alte Mädchen ließ vor Erstaunen fast die Lampe fallen, als Jutta ihr näher kam – es war aber auch in der That ein wahrhaft blendender Anblick. Freilich fehlte diesem stolz zurückgeworfenen Haupt mit dem weißflockigen Diadem über der Stirn, dieser gebieterisch herabschreitenden Gestalt im übergeworfenen Sammetmantel augenblicklich all’ und jeder mädchenhafte Liebreiz – es schien, als sei er, mit dem alten Mäntelchen abgestreift, droben im Eckstübchen zurückgeblieben – dafür war die junge Dame aber auch vollkommen das, was sie sein wollten der stolze Abkömmling eines uralten, hochmüthigen Geschlechts!
Sie war eben im Begriff, sich an Rosamunde zu wenden, als aus dem tiefen Dunkel der weiten Hausflur plötzlich Sievert’s grauer Kopf auftauchte. Der Anblick dieses finster verbissenen Gesichts war wohl gerade in diesem Augenblick der am wenigsten wünschenswerte für die Flüchtige. In ihre Wangen trat die lebendige Röthe einer sehr unliebsamen Ueberraschung, aber die Züge versteinerten sich auch förmlich in dem Ausdruck unsäglichen Hochmuths – vergebens, der alte Soldat ließ sich dadurch weder verscheuchen, noch außer Fassung bringen, er trat vielmehr näher, während seine Augen feindselig höhnisch über die elegante Umhüllung der jungen Dante glitten.
„Der Hüttenmeister schickt mich –“ hob Sievert an.
Wie sich unter dem tiefblauesten Himmel Europa’s, in dem Lande, wo Petrarca seine Lieder sang, noch die Sitte erhalten hat, den Fleischspeisen in launiger Weise auf einige Zeit Lebewohl zu sagen, so begegnen wir auch im hohen Norden dem Volksgebrauche, die letzte Woche vor dem Beginn der großen Fasten, die sogenannte „Butterwoche“, durch tollen Uebermuth zu bezeichnen. Vom Weißen bis zum Schwarzen Meer, aus Rußlands unermeßlichen Ebenen, wird der Abschied von Allem, was zur Leibesnahrung vom Thiere kommt, durch öffentliche Belustigungen erheitert und dabei namentlich der Schaulust der unteren Gesellschaftsschichten genügt.
Turner-, Sänger-, Schützen- und andere Feste kennt man in Rurik’s Reich noch nicht, ebenso sind die im Sachsenlande so beliebten Vogelwiesenfeste noch nicht auf russischen Boden verpflanzt, aber Butterwoche und Osterfest werden würdig, oder vielmehr auf die bunteste Weise begangen. In den kleinen russischen Städten nimmt wohl die ganze Bevölkerung daran Theil, in der großen und stolzeren Hauptstadt aber lenkt nur der niedere Mann seine Schritte auf „die Berge“, wie man zu sagen pflegt, denn Eisberge zum Rutschen sind ein notwendiges Attribut der Butterwoche. Was aber dem uncultivirten Erwachsenen gefällt, das lockt auch Kinder aus den besseren Ständen an, und so strömen denn Schaaren von Wärterinnen mit ihren Pfleglingen den Bergen zu und mengen sich in das bunte Gewirr.
Schon mehrere Wochen vor dem Beginn der Butterwoche, oft bei der schneidendsten, bis zwanzig oder gar dreißig Grad gestiegenen Kälte sieht man auf dem schönsten und geräumigsten Platz der Kaiserstadt eine Menge Arbeiter hämmern und geschäftig hin- und hergehen. Der umfangreiche Platz wird von dem schlanken Admiraliätsthurm, dem kaiserlichen Winterpalais und dem schönen Generalstabsgebäude eingeschlossen und stößt unmittelbar an die zu Ehren Kaiser Alexander’s des Ersten errichtete Säule, den größten Monolithen Europa’s. Die übrigen Seitenflügel des großen Platzes bilden die durch eine Arcade verbundenen kolossalen Gebäude der heiligen Synode und des dirigirenden Senates, beides Schöpfungen des Tzaren Peter des Ersten. An der nördlichsten Seite dieses ausgedehnten Raumes erhebt sich die eherne Reiterstatue des großen politische Reformators Rußlands, und hinter derselben rollt der breite, schöne Newastrom dahin, der mächtige steinerne Quais bespült.
Das bunte Treiben mit seinen Caroussels, Schaukeln, Menagerien, Eßwaarenverkäufern und kochenden Theekesseln nimmt dabei nur einen Theil des Riesenplatzes ein, und es bleibt noch ein hinlänglicher Raum für Equipagen aller Art, in denen die wohlhabendere Welt in bequemster Weise dem Mummenschanze zuschaut und die verschiedensten einzelnen Bilder desselben langsam an sich vorüber ziehen läßt. Am amüsantesten sind für den Beschauer aus der Ferne die in Bauerntracht gekleideten Possenreißer, welche an der äußeren Balustrade der erhöhten Caroussels stehen und die sie umgebende Menge durch Witzworte belustigen. Schon von Weitem sind diese Volkskomiker, die übrigens Jahr aus Jahr ein dieselben Scherze wiederholen, mit denen sie jedoch nur der Hefe des Volkes ein Lachen abzwingen, durch ungewöhnlich lange, falsche graue Bärte kenntlich, und wenn man hinzutritt und eine kleine Weile den Plaudereien des „Alten“, wie man den bezahlten Witzbold nennt, zuhört, so hat man an der kleinen Weile
[85][86] eben auch vollkommen genug. Mißglückt dem gemütlichen Alten einmal ein harmloses Kunststückchen, oder kann er sich nicht mehr aus seinem Lügengewebe heraushelfen, so pflegt er auf den ersten besten Mann im Volke zu deuten und zu sagen. „Da ist der Rothbart daran schuld“. Das Zwerchfell der ihn umringenden Muschiken, rußigen Lehrjungen und naiven Landpomeranzen wird davon weidlich erschüttert, aber da schon nach wenigen Minuten derselbe abgeschmackte Scherz sich wiederholt, so zieht das Publicum weiter, um anderen Zuhörern, die sich inzwischen angesammelt, Platz zu machen.
Das Anhören dieser Possenreißer genießt man umsonst, alles Andere jedoch nicht ohne eine kleine Vergütung. Am wohlfeilsten ist noch die Benutzung jener Schaukeln, die auch in Deutschland als russische Schaukeln bekannt sind. Die heiteren Gesichter der Insassen bekunden das Vergnügen, welches sie durch die Balancirung empfinden, wobei der ungewaschene Rothbart stets den Arm um seine nüsseknackende Schöne hält.
Ohne einige Male von den Eisbergen gerutscht zu sein, verläßt der gemeine Mann den Vergnügungsort nicht, und auch hier trennt er sich nicht von seiner Dulcinea. Zwei mächtige Eisberge stehen sich mit dem weniger steilen Abhange in einer Entfernung von etwa drei bis vier Minuten Gehens gegenüber, so daß die Fahrfläche des einen hart neben der des anderen hinläuft. Die Berge selbst haben eine Höhe von etwa fünfzig Fuß, zu welcher von der nicht zu befahrenden Seite eine steile Holztreppe hinaufführt. Am Fuße derselben befinden sich stets dienstbare Geister mit eleganten kleinen Stuhlschlitten, die sie für eine kleine Vergütung gern jedem kühnen Eisfahrer überlassen. Oben auf der Treppe angekommen, wo bunte Fähnchen wehen, setzen sich Ritter und Dulcinea auf den von dem dienstbaren Geiste ihnen heraufgebrachten kleinen Schlitten, welcher sehr niedrig ist und gar keine Lehne hat, mit Ausnahme einer schrägen Abdachung für den Rücken. Beine und Arme werden vor etwaigem Herüberhängen wohl verwahrt, und schließlich giebt der obenstehende diensttuende Aufseher den Kunststoß, indem er das leichte Fahrzeug mit seinen in zottige Schafpelze gehüllten Vergnügungsreisenden in geradester Linie heruntersegeln läßt. Ein helles Jauchzen von Lippen, die noch von keinem ABC gestutzt worden, bekundet in der Regel das angenehme Gefühl, pfeilschnell, aber mit Sicherheit dahinzulaufen, zuerst von schwindelnder Höhe und dann auf spiegelglatter Fläche. Nach vollendeter Fahrt wird sogleich der zweite Berg bestiegen, und abermals rutscht das glückliche Paar, wenn auch nicht durch’s Leben, so, doch für einige Augenblicke umschlungen. Zur Erwärmung nach diesem eisigen Luftbade geht es dann an die mächtigen dampfenden Theekessel, und ein Glas nach dem andern des sehr durchsichtig gewordenen chinesischen Krautes macht von Neuem die steif gewordenen Glieder geschmeidig und disponirt sie, der einen oder anderen Baracke, deren ungewöhnlich interessante Merkwürdigkeiten durch hochtrabende Schilder angezeigt sind, einen längeren Besuch zu machen.
Die Zahl der Baracken oder Balaganen, die sämmtlich in einer Reihe liegen, ist zehn oder zwölf; meist werden in ihnen Pantomimen dargestellt mit Verwandlungen, Tänzen und komischen Scenen aller Art. Die Vorstellungen beginnen während der ganzen Woche un zwölf Uhr Mittags, dauern etwa eine Stunde und werden bis zum Dunkelwerden fortgesetzt. Die besseren Plätze, die einen bis anderthalb Rubel kosten, werden mitunter auch von den wohlhabenderen Ständen besucht, die einmal sehen wollen wie Harlekin dem Meister Pierrot seine Colombine entführt und bei der Gelegenheit den Betrogenen in ein Tintenfaß stürzt, aus welchem er natürlich kohlpechrabenschwarz hervorkommt u. dgl. mehr. Am größten ist aber natürlich der Zudrang zu dem letzten und billigsten Platze, wo man für zwanzig Kopeken (fünf Silbergroschen) dasselbe Schauspiel, doch in angemessener Entfernung, genießen kann.
Schon lange ehe die Vorstellung beginnt, ist die ganze zu dem noch verschlossenen Eingang in das Zauberspiel führende Treppe mit Schaulustigen besäet, die, Kopf an Kopf gereiht, geduldig warten, bis es wie in der Aladdin’schen Zauberlampe heißt. „Sesam, Sesam, thu’ dich auf.“ Wer zarte Geruchsnerven oder auch überhaupt nur Geruchsnerven besitzt, mag sich nicht in das Gedränge russischer Bauern mengen, denn wenn auch das Schreien des italienischen Pöbels und das unaufhörliche Fluchen des französischen Blousiers wegfällt, so verbreiten doch die groben unüberzogenen Schafpelze, sowie die nur einmal wöchentlich mit Wasser benetzten Wangen des richtigen Muschik einen Parfüm, an den eine westeuropäische Nase sich nicht leicht gewöhnt. In allen diesen Balaganen wird nie ein Dialog geführt, immer sind es nur Pantomimen.
Fern von diesem Treiben, bei welchem das unaufhörliche Knacken von Nüssen eine große Rolle spielt, geht es in der großen Stadt Petersburg während der Butterwoche auch anders als gewöhnlich her. Abgesehen von größerer Bewegung und bunterem Gewimmel auf der Newsky’schen Perspective, dem Brennpunkte des Petersburger Lebens und der Hauptader der Stadt, sind zweimal täglich Vorstellungen in allen vier kaiserlichen Theatern (und andere giebt es in der großen Hauptstadt nicht), von denen die erste um zwölf Uhr Mittags, die zweite um sieben Uhr Abends beginnt, und wer nicht sehr zeitig sich einen Platz sichert, bekommt entschieden keinen. Wer das ganze Jahr über nicht in das Theater geht, will es in der Butterwoche besuchen, und aus den entlegensten zu der Residenz gehörigen Inseln, aus den Vorstädten kommt der Russe gewandert, um während der Maßlänitza (Butterwoche) einer Theatervorstellung beizuwohnen. Theilweise erklärt sich der große Andrang zu den Brettern im Carneval auch dadurch, daß während der siebenwöchentlichen Dauer der Fasten die Theater vollkommen geschlossen sind – und auch nach Ostern nur hin und wieder Vorstellungen stattfinden, während sie im Sommer abermals unterbrochen werden, um erst wieder im Herbste ihren regelmäßigem Fortgang zu nehmen. Die Butterwoche ist somit der Schluß des Theaterjahres, und daher wimmeln die geräumigen Plätze vor den Schauspielhäusern von Menschen und Equipagen aller Art.
Kehrt der Russe zum Mittagessen von der Vorstellung im Theater oder der Promenade auf den Bergen heim, so dürfen auf seiner Tafel die sogenannten „Blini“ oder Pfannkuchen nicht fehlen. Sie werden aus Butter, Mehl und Sahne angefertigt und vor der Suppe servirt, der vornehmere Mann verzehrt sie mit frischem Caviar, der Unbemitteltere mit saurer Sahne oder geschmolzener Butter. Zum zweiten Frühstück, das gegen zwölf Uhr eingenommen wird, bilden Blini während der ganzen Maßlänitza auch die Hauptspeise, ebenso bei den Soupers, da unzählige große und kleine Gesellschaften während der tollen Woche in dem auch sonst sehr geselligen Petersburg gegeben werden. Die großen Restaurants auf der Perspective fabriciren die beliebten Blini in ungeheuren Massen, und der Russe pflegt am Schlusse der Butterwoche vor seinen Bekannten sich mit der Zahl der Blini zu brüsten, die er während der Woche in sich aufgenommen.
Mit dem Mitternachtsschlage am Sonntage der Butterwoche hört Alles wie mit einem Zauberstreiche auf. Der „reine Montag“, wie der erste von den achtundvierzig Fastentagen genannt wird, findet den Tags zuvor noch so belebten Balaganenplatz wüst und leer, und nur hin und wieder wankt noch ein nicht ganz nüchtern gewordenes Subject in verknitterter und zerrissener Kleidung seiner Behausung zu. Nur ein Völkchen von den vielen Völkerstämmen, die sich dem russischen Tzaren beugen, darf noch zwei Tage sich den Carnevalsfreuden hingeben; Montag und Dienstag der ersten Fastenwoche werden nämlich als deutsche Maßlänitza betrachtet, und an beiden Tagen sind Vorstellungen im deutschen Theater und Bälle in dem Petersburger deutschen bürgerlichen Tanzclub. Da die Fasten mit der herrschenden griechisch-katholischen Religion zusammenhängen, so darf kein Bekenner der Landeskirche an diesen Festlichkeiten Theil nehme, es sei denn, daß er sich der Strafe von fünfundzwanzig Rubeln unterziehen wolle, aber zwischen Petersburger Deutschen, d. h. rassischen Untertanen, und Ausländern wird kein Unterschied gemacht. Noch vor etwa zwanzig Jahre prangte zwar auf den Theaterzetteln an diesem Tage die eigenthümliche Aufschrift: „Für Deutschlands Söhne!“ allein jetzt ist sie weggefallen. Was dem geborenen Russen während seiner Maßlänitza die Blini sind, das ersetzen dem Deutschen während seiner zwei privilegirten Buttertage kleine trockene, aber sehr wohlschmeckende, aus Milch und Rosenwasser verfertigte Brödchen, welche Fastnachtsbrödchen heißen.
[87]
(Schluß.)
„Welchen Preis, meinen Sie, werden die heurigen Weine wohl erzielen?“ fragte ich, als der Inspector schwieg.
„Hm,“ versetzte er – „fünftausend Franken für das Faß haben die 1864er eingebracht, und da denke ich, daß wir mindestens auf den gleichen Preis werden rechnen dürfen.“
Der Mann täuschte sich nicht; die in Frage stehende Ernte wurde im vorigen Jahre mit fünftausendsechshundert Franken pro Faß verkauft und Tags darauf im Bordeauxer Weinhandel mit sechstausendsechshundert Franken bezahlt, so daß, wenn man die kostspieligen Unterhaltungskosten bis zur Reife des Weines in der Flasche veranschlagt, die Flasche vom echten Lafite des betreffenden Jahrgangs später sicher zwölf bis fünfzehn Franken kosten wird – eine Warnung für Leser, die ihren Château Lafite mit einem preußischen Thaler zu bezahlen gewohnt sind!
„Und wie viel Wein hoffen Sie in diesem Jahre zu gewinnen?“ fragte ich weiter.
„Für gewöhnlich werden’s hundertzwanzig bis hundertdreißig Faß oder vierhundertachtzig bis fünfhundertzwanzig Oxhoft von der ersten Sorte, in diesem Jahre rechne ich aber bestimmt auf mindestens sechshundert Oxhoft.“
„Ich hätte mir Ihren Bericht über die Geschichte dieses Schlosses offen gesagt, etwas romantischer vorgestellt,“ bemerkte Freund Adolph. „Knüpft sich denn kein Stück interessanter geschichtlicher Erinnerung an dieses Gemäuer, das in seiner wohlthuenden, aber anspruchslosen Einfachheit keineswegs unseren deutschen Begriffen von dem Worte Schloß entspricht?“
„Nicht daß ich wüßte,“ entgegnete der Inspector lächelnd, „doch sind in dieser Hinsicht unsere hauptsächlichsten Rivalen, das ‚Château Latour‘, welches Sie dicht bei Pouillac, hart am Strom werden liegen gesehen haben, sowie das weiter stromaufwärts gelegene ‚Château Margaux‘, in der Gemeinde Margaux, mehr bevorzugt. Der uralte Thurm vom Château Latour, das einzige Ueberbleibsel der ehemaligen starken Befestigungen, könnte Ihnen z. B. manche Geschichte von harten Kämpfen und Schlachten erzählen, welche dort im fünfzehnten Jahrhundert zwischen Engländern und Franzosen ausgefochten wurden. Château Margaux war ebenfalls stark befestigt. Die Soldaten Königs Eduard des Vierten unternahmen einst zur Zeit der Weinlese von Bordeaux aus einen Streifzug gegen die Weingärten des Schlosses und richteten arge Verwüstungen darin an. Im Uebrigen gebe ich zu, daß die Bezeichnung ‚Château‘, welche den Namen so vieler unserer Weingüter beigelegt ist, genau genommen oft nur eine grobe Gasconade ist, aber am Platze ist sie gewissermaßen, wenn sie, wie z. B. auf unser Lafite oder Latour angewandt, den Herrschersitz so königlicher Weine andeutet. Ja, das ist ein wirkliches Fürstenschloß,“ fuhr der alte Mann ganz begeistert fort, auf das durch das Grün der Bäume herleuchtende weißliche Gemäuer von Lafite hindeutend, „keine Zwingburg eines despotischen Herrschers, sondern ein schönes, mächtiges, segenbringendes Friedensschloß eines Königs von Gottes Gnaden!“
„Ein gutes Wort!“ riefen wir aus, dem alten Manne warm die Hand drückend.
„Kommen Sie jetzt,“ sprach der junge Moudon sich erhebend, „und lassen Sie uns einen Gang durch das Reich dieses Königs machen.“
Nach wenigen Minuten befanden wir uns mitten auf einem der nächstgelegenen Weinfelder, wo eine ansehnliche Schaar von Winzern bei fröhlichem Gesang und Gespräch mit der Lese beschäftigt war.
„Bei unserer Arbeit hier,“ begann unser liebenswürdiger Führer, „geht Alles gewissermaßen militärisch her. Der Commandant, welcher das Ganze leitet, theilt seine Schaar von männlichen und weiblichen Arbeitern in Sectionen von sechs bis acht Traubenschneidern oder Traubenschneiderinnen ein, welche wieder unter der Aufsicht eines sogenannten Brigadiers stehen, der seiner Abtheilung folgt und darauf Acht giebt, daß nur völlig reife Trauben geschnitten werden. Etwa vergessene Trauben zeigt er mit der Stange, welche er bei sich führt, dem Korbentleerer oder vide de paniers an, dessen Aufgabe es ist, die Körbchen der Traubenschneider, wenn sie gefüllt sind, in eine sogenannte Baste, einen viereckigen Holzkorb, zu entleeren, worauf er die gefüllten Basten dem faiseur de bastes überbringt. Dieser unterwirft die geschnittenen Trauben einer genauen Untersuchung, wobei er alle unreifen, kranken und verfaulten Beeren sorgfältig zu entfernen hat, und läßt sie dann durch zwei Bastenträger nach dem harrenden Wagen bringen. Der hier stationirte Belader oder faiseur de charge schüttet die Trauben in die beiden auf dem Wagen befindlichen Behälter (douils genannt) und hat ebenfalls Acht darauf zu geben, daß schlechte Trauben ausgesondert werden. Bei Regenwetter bedeckt er die Oeffnung der Douils sorgfältig mit einem Stück Wachsleinwand, damit jede wässerige Beimischung so viel wie möglich vermieden werde. Die Gewinnung des Weines aus den Trauben haben Sie heute Morgen selbst beobachtet.“
„Wodurch,“ fragte ich, „erklärt sich eigentlich der enorme Unterschied in der Güte der Weine? Rührt derselbe lediglich von der Bodenbeschaffenheit her?“
„Keineswegs,“ versetzte unser Freund, „wenngleich die Art des Grund und Bodens, so wie seine Bearbeitung eine Hauptrolle in der Weincultur spielen. Wenn es Sie interessirt, auf Ihre Frage eine genügendere Auskunft zu erhalten, so gestatten Sie mir etwas weiter auszuholen, obwohl Sie eigentlich fast Alles, was ich Ihnen zu sagen vermag, viel besser aus der Abhandlung Ihres Landsmannes W. Frank über die Weine des Medoc ersehen können; zu unserer Beschämung sei es gesagt, das trefflichste Werk, welches diesen Gegenstand behandelt, wofür sein Erscheinen in bereits fünfter Auflage bürgt. Lassen Sie uns indeß nach der Besitzung meines Vaters hinübergehen. Von der Plattform des Hauses aus haben wir einen herrlichen Rundblick auf die ganze Umgegend; auch weht dort ein angenehmer, kühlender Wind von der Gironde herüber, während Einem hier der glühende Steinboden fast die Füße versengt.“
Nach wenigen Minuten hatten wir uns auf der erwähnten Plattform, von welcher wir uns allerdings eines schönen Panorama auf Strom und Land erfreuten, installirt. Erfrischungen und Cigarren standen uns zur Seite, gegen die Sonnenstrahlen schützten uns unsere Sonnenschirme.
„Das liebe Frankreich,“ begann unser Freund – „besonders aber das Departement der Gironde, in welchem wir uns befinden, scheint von der Natur von Hause aus so recht zum Weinbau bestimmt gewesen zu sein. Die tertiären Felsformationen, welche die Basis dieses Landstriches bilden, wenngleich sie nicht immer nackt zu Tage treten, sonderm vielfach von Sand-, Kies- und Erdschichten fruchtbarerer Art bedeckt sind, begünstigen gerade die Weincultur ungemein, indem die Wurzeln des Weinstockes vorzugsweise lieben, sich in die Felsspalten einzuklemmen und da Nahrung zu finden, wo jede andere Pflanze elendiglich verkümmern müßte.
Für den Weinbauer kommt es nun hauptsächlich darauf an, daß er bei Bestellung seines Landes mit Kenntniß und Umsicht eine geschickte Auswahl derjenigen Rebenarten (cepages) trifft, welche dem Boden am meisten zusagen und deren vereinigtes Product einen Wein liefert, der gerade diejenigen Eigenschaften besitzt, welche feine Nasen und Zungen so hoch zu schätzen wissen. Wenn Weine, wie die von Lafite, Latour, Margaux und andere, einen so großen Ruf von Alters her hatten und sich desselben noch erfreuen, so ist das kein bloßer Zufall, sondern ein Beweis für die Ausdauer, mit welcher man beständig auf Verbesserung des Productes durch Anschaffung anerkannt vortrefflicher, feiner Cepagen bedacht war, ein Unternehmen, welches ebensoviel genaue Sachkenntniß erfordert, wie es kostspielig ist. – Wollen Sie einen Beweis? Sehen Sie, dort unten an Grunde stößt eine Bodenstrecke, welche zu Lafite gehört, mit einem Stücke Land meines Vaters nachbarlich aneinander. Der Boden ist genau derselbe, die Weingattung ebenfalls, und dennoch wird der Wein vom Château mit fünftausend Franken bezahlt, während der unserige vielleicht ein Drittel dieses Preises erzielt. Und woher kommt das?
[88] Einzig und allein daher, daß dem Château Lafite noch andere, kostbarere Gattungen von Weinreben zu Gebote stehen, deren Erlangung unserem Geldbeutel versagt ist.
Allerdings kommt auch viel auf die Bodenbeschaffenheit an, denn mit den besten Gewächsen würden Sie auf dem fast nackten Felsgestein von Blaye z. B., das Sie dort in der Ferne am rechten Ufer der Gironde liegen sehen, keine glänzenden Resultate erzielen. Die dort und auf dem Bordeaux gegenüberliegenden Höhenzuge, oder den Côtes, gedeihenden Weine werden immer geringerer Art bleiben und nie mit den Weinen des Medoc rivalisiren können. Indessen ist damit nicht gesagt, daß der Weinbau unseres Departements nicht noch an vielen Orten der Verbesserung fähig wäre; es gehört dazu nur Arbeit, Zeit und Geld. Wenn gewisse Gegenden des Medoc auch im Allgemeinen den Ruf der größeren Vorzüglichkeit ihrer Weine behaupten werden, so giebt es doch noch manche andere Orte, welche recht erfreuliche Resultate zu Tage gefördert haben; ich erinnere Sie nur an die Weine von St. Emilion, sowie an diejenigen von Haut Brion, welche letztere in unmittelbarer Nähe von Bordeaux gedeihen und mit den ersten Gewächsen des Medoc auf gleiche Stufe gestellt werden. Namen wie: Pape Clement und La Mission, gleichfalls Weingüter in der Nähe von Bordeaux haben ebenfalls keinen schlechten Klang. Die liebe Geistlichkeit hat sich eben in der Wahl der Plätze für ihre Anpflanzungen nie getäuscht.“
„Ich muß gestehen,“ sagte ich, „daß ich früher nur eine sehr oberflächliche Vorstellung von dem, was man Medoc nennt, gehabt habe. Im lieben Deutschland bezeichnet man häufig irgend eine beliebige Flasche Rothspohn mit dem Namen Medoc, und die Eingeweihten ausgenommen, giebt sich das große Publicum völlig damit zufrieden. Woher kommt der Name Medoc?“
„Unter Medoc,“ versetzte unser Freund, „begreifen wir den aus sanftem Hügelland bestehenden, nordöstlichen Streifen eines Landstriches, welcher wie ein Dreieck geformt ist, dessen nach Norden gerichteter, kleinster Winkel im Westen vom Ocean, im Nordosten von der Gironde und später von der Garonne gebildet wird, eine geographische Lage, welcher früher wahrscheinlich die ganze Landschaft die Bezeichnung ‚Medoc‘ verdankte, die vom lateinischen medio aquae, d. h. von Wasser umgeben, abzuleiten ist. Die Grenzen des Medoc sind im Süden das Bordeauxer Stadtgebiet und im Südwesten die traurigen Sand- und Haideflächen der sogenannten ‚Landes‘, auf welchen nichts als die Fichte und das Haidekraut fortkommen. Der die Weincultur hauptsächlich interessirende Theil des Medoc erstreckt sich von dem Flecken Blanquefort stromabwärts bis zum Flecken St. Seurin de Cadourne und wird auch Haut Medoc genannt; der Bas Medoc, welcher von dem letztgenannten Orte beginnt, endigt in der sogenannten Pointe de Grave, welche den Scheitelpunkt des erwähnten, vom Meer und der Gironde hervorgerufenen spitzen Winkels bildet.
Die Weine des Bas Medoc sind nur von geringerer Güte. Alle renommirten Gewächse des Haut Medoc werden dagegen in folgenden, von Bordeaux aus der Reihenfolge nach nordwestlich gelegenen sechs Gemeinden: Cantenac, Margaux, St. Julien, St. Laurent, Pouillac und St. Estèphe gezogen. Um einige Ordnung in dieses Chaos mehr oder minder berühmter Gewächse und Namen zu bringen, hat die Bordeauxer Handelskammer eine Classeneintheilung bewerkstelligt, welche der Güte der Weine möglichst entspricht, wenngleich sich diesem Systeme nicht immer Unfehlbarkeit nachsagen läßt, da man dem geheimnißvollen Walten der Naturkräfte keine Fesseln anzulegen vermag. – Diese Eintheilung unterscheidet zunächst fünf Classen gleichsam geadelter Gewächse (crûs classés), an deren Spitze Lafite, Latour und Margaux stehen. Hieran schließt sich eine Reihe mehr oder minder vortrefflicher Gewächse, welche man Bourgeois (Bürger) nennt, und das Gros bilden die Vins de Paysans oder Bauernweine.“
Der Weincultur sind im Departement der Gironde ungefähr 15000 Hectaren, das heißt, ein Siebentel der ganzen Bodenfläche gewidmet, welche einen jährlichen Durchschnittsertrag von über drei Millionen Hectolitern Wein liefern. Von diesem Quantum verbraucht der inländische Bedarf ungefähr ein Drittel, während zwei Drittel der Ausfuhr nach dem Auslande verbleiben. Die jährliche Durchschnittsernte des Medoc speciell beträgt ungefähr 50,000 Faß oder 200,000 Oxhoft, das Faß zu je vier Oxhoft, von je 225 Litres Inhalt gerechnet. Von dieser großen Quantität liefern indessen die erwähnten fünf Classen feiner Weine nur 5000 Faß oder 20,000 Oxhoft, und eine gleiche Masse die classificirten Bürgerweine. Auf die Feinschmecker des ganzen Erdenrundes vertheilt, ist diese Masse immerhin nur sehr beschränkt, und es liegt auf der Hand, daß der Inhalt so mancher Flasche mit hochtrabender Etiquette die Kehle des gläubigen Trinkers hinabgleitet, ohne auch nur das Geringste mit dem Göttertranke gemein zu haben, dessen Namen er sich anmaßt.“ –
Nur allzurasch war uns der Tag bei den lieben Leuten verstrichen. Am Abend leerten wir noch die versprochene 1858er, mit der Morgensonne des nächsten Tages aber traten wir, von den Grüßen unserer freundlichen Wirthe begleitet, den Rückweg an.
Wieder in Bordeaux angelangt, könnte ich mich eigentlich vom Leser verabschieden, aber da ich es einmal unternommen habe, ihm ein Führer durch das Bordeauxer Weinland zu sein, so möge er noch einen Augenblick Geduld haben und mir nach jenem Wunderschlosse, dem „Château Yquem“, folgen, dessen getreuem Abbild mein Freund Rudolph Sprenger aus Rostock, ein hier ansässiger junger Lithograph, einen Ehrenplatz auf seiner in der vorigen Nummer beigefügten Zeichnung einräumen zu müssen glaubt. Wir nehmen daher die Eisenbahn, welche parallel mit dem linken Stromufer läuft, verlassen in Preignac den Zug und befinden uns jetzt so zu sagen in „dem Medoc der Bordeauxer Weißweine“. Wiederum ist’s die Zeit der Weinlese, leider aber sind sämmtliche Rebpflanzungen, bei welchen uns der Weg vorüberführt, mit dicken, hohen Steinmauern umgeben, so daß uns nur selten ein Einblick in den reichen Segen gestattet ist. Nach einer stundenlangen langweiligen Fahrt öffnet sich endlich die Gegend. Zu beiden Seiten des Weges liegen jetzt die Weingärten offen und unabsehbar da, und wir können die gelblichen, saftreichen und zuckersüßen Trauben prüfen, wonach wir in der brennenden Hitze so lange geschmachtet.
Unfern von uns sind Winzer mit einer eigenthümlichem Arbeit beschäftigt. Anstatt die schönen, goldenen Trauben, nach welchen uns der Sinn stand, zu schneiden und zu sammeln, suchen sie mühsam nach den einzelnen, röthlichen, eingeschrumpft und selbst verschimmelt aussehenden Beeren, welche sie mit der Scheere lösen. Dies Verfahren ist zu auffällig, als daß wir uns nicht nach seinem Zweck erkundigen sollten, und da erfahren wir denn eine befremdende Thatsache. Aus diesen von uns verschmähten Beeren, der ersten Auslese, wird der köstlichste, feinste und theuerste Weißwein, die crême (Sahne) gewonnen, eine zweite Auslese liefert die tête (Kopf), eine dritte das centre (Mitte), und endlich eine vierte die queue (Ende). Die Ernte wird durch dies Verfahren auf höchstens zwei Drittel des eigentlichen Ertrages zurückgeführt, und dieser Umstand, sowie die Langwierigkeit der Weinlese, welche auf diese Art betrieben Monate lang währen kann, erklären uns die hohen Preise der feinen Bordeauxer Weißweine.
Von den vier berühmten Weißwein-Districten, welche eine bedeutend beschränktere Bodenfläche, als die der Rothweine einnehmen, liegen Preignac und Barsac, von der Garonne begrenzt, hinter uns. Rechts vom Wege befindet sich die Gemeinde Bommes, links Sauternes. Noch wenige Minuten dann, und Château Yquem, der stattliche Herrschersitz des Königs der Weißweine, liegt links auf einer sanft ansteigenden Anhöhe vor uns. Die Weinfelder der Besitzung sind alle in der vortrefflichsten Ordnung, die Trauben vorzüglich, und es lüstet uns nicht wenig, in den Schloßkeller hinabzusteigen und uns ein Gläschen von dem köstlichen Jahrgange zu erbitten, von welchem einst der Großfürst Constantin, der Bruder des Kaisers Nikolaus von Rußland, ein Faß oder neunhundert Litres zu dem enormen Preise von zwanzigtausend Franken oder fünftausend dreihundertdreiunddreißig preußischen Thalern erstand. Leider haben wir jedoch vergessen, uns bei dem Marquis von Lur-Saluces, dem Besitzer dieser wahren Goldgrube, einführen zu lassen, und die Stunde ist bereits vorgerückt. Es gilt nicht zu säumen, unten im Städtchen Langon den Bahnzug zu erreichen, der uns bei dunkler Nacht in zwei Stunden nach Bordeaux heimführt.
Also gute Nacht und Lebewohl, aber hoffentlich auf Wiedersehen! Und wenn dem freundlichen Leser einmal eine Flasche echten Château Lafite’s oder gar ein Gläschen herrlichen 1847er Château Yquem’s, des Götterlabsals, unter die Hände kommt, so genieße er sein Glück mit Bedacht und gedenke dabei freundlich seiner Landsleute am Garonnestrande, die sich ja auch zum Besten seiner Kehle mühen.
[89]
Wenn Jemand uns sagen wollte, er habe eine taube Nuß gepflanzt und es sei daraus ein stattlicher Baum geworden, so würden wir lachen und antworten: wir leben im neunzehnten Jahrhundert, Freund, und da giebt’s keine Wunder mehr. Die Geschichte der Mormonen aber würde uns dann widerlegen; denn sie spielt mitten im besagten Jahrhundert und ist genau das Wunder vom Baum aus tauber Nuß.
Und wenn ferner uns Jemand erzählte, er habe ein Ding, halb Feuer und halb Wasser, ein Geschöpf aus Frosch und Nachtigall zusammengesetzt, einen Regenwurm mit Hirschgeweihen oder auch nur ein Gebilde, das oben Frauenzimmer und unten Fisch, gesehen, so würden wir ihm nur glauben, wenn er hinzufügte: im Traume. Die Biographie des Propheten der Mormonen aber zeigt uns in voller wohlverbürgter Wirklichkeit weit Seltsameres als solche Zwitter der Traumwelt. Sie führt uns einen Heiligen vor, der zugleich ein Hanswurst war, einen kleinen Muhammed, der, mit einem großen Barnum zusammengewachsen, nach einem Leben voll plumper Lüge und kecken Schwindels den Tod des Märtyrers starb, und der jetzt von mehr als hunderttausend Menschen, und zwar keineswegs wilden Mohren oder Rothhäuten, sondern Angehörigen der „erleuchtetsten“ Nationen, als eine Art Halbgott, nicht viel geringer als Jesus Christus, verehrt und angerufen wird.
Das wäre! sagt der verehrte Leser. Witz oder Uebertreibung? Keins von Beiden. Hören wir die Geschichte.
In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts – so erzählen die Mormonen – lebte zu Manchester bei Palmyra im Staate New-York eine Familie Smith, die aus Vermont eingewandert war und sich durch Gottesfurcht und frommen Lebenswandel auszeichnete. Namentlich der jüngste Sohn derselben, Joseph, hielt seinen Sinn schon in früher Jugend auf himmlische Dinge gerichtet, und häufig geschah es, daß er bis tief in die Nacht hinein zum Herrn um Erleuchtung über den Weg zu seiner Seele Heil flehte. Da begab sich’s, als er sein sechszehntes Jahr erfüllt hatte, daß sein Gebet erhört wurde. In Verzückung gefallen, sah er am Himmel ein glorreiches Licht, welches sich allmählich auf die Stelle im Walde herabsenkte, wo er kniete, und aus dem ihm zwei strahlende Engel entgegentraten. Dieselben verkündeten ihm, daß das gesammte Christenthum in Verderbniß versunken und deshalb von Gott des Priesterthums entkleidet worden sei, daß er, Joseph Smith, aber vor dem großen Jehova Wohlgefallen gefunden und Vergebung seiner Sünden gewonnen habe und daß er den Auftrag erhalten solle, das Priesterthum auf Erden wiederherzustellen und eine Kirche wahrer Gläubigen zu gründen zum Empfange des Herrn, dessen tausendjähriges Reich nahe sei.
Etwas später, am 23. September 1823, hatte er ein zweites Gesicht. Als er einsam auf dem Felde war, erschien ihm „eine überaus liebliche, unschuldige und herrliche Gestalt“, die ihm eröffnete, daß er zunächst berufen, ein in uralter Zeit verfaßtes heiliges Buch, welches die Offenbarungen Gottes in Amerika enthalte und von einem indianischen Propheten in der Nachbarschaft seines Wohnortes vergraben worden sei, wiederzufinden und zu veröffentlichen. Am nächsten Morgen nach dem Gipfel eines Hügels zwischen Palmyra und Canandaiqua geführt und angewiesen nachzugraben, fand er wirklich eine Steinkiste, aber der Versuch, sie zu öffnen, mißglückte wiederholt. Jedesmal schlug ihm ein Unsichtbares auf die Hand. Auf sein inbrünstiges Gebet um Erklärung dieses Räthsels empfing er die Antwort: der Schatz bleibe ihm vorenthalten, weil er, auf dem Wege vom Teufel überredet, sich vorgenommen habe, den Inhalt der Kiste zur Förderung seiner zeitlichen Angelegenheiten zu mißbrauchen. Wenn er sich bessere, solle er die Erlaubniß bekommen, die heilige Urkunde von hier abzuholen. Uebrigens solle er inzwischen Koptisch studiren, um sie entziffern zu können. Zu gleicher Zeit aber wurden ihm die Augen aufgethan, und „siehe, da stand vor ihm, der ihm jene bösen Gedanken eingegeben, der Fürst der Finsterniß, umgeben von seinen unzähligen Gesellen“.
Vier Jahre lang befleißigte sich Joseph nun eines Gott wohlgefälligen Wandels und strebte eifrig der Wahrheit nach, wobei ihm der Engel zur Hand ging. Endlich, am 22. September 1827 eröffnete dieser ihm die Steinkiste, zeigte ihm den Inhalt, der in dem Schwerte Laban’s, einem Brustharnisch, einer Prophetenbrille, Urim und Thummim genannt, und einer Anzahl von Täfelchen mit fremdartigen Schriftzeichen bestand, und gestattete ihm, einen Theil dieses Schatzes mit heim zu nehmen. Das Schwert, in der Zeit König Zedekia’s aus Jerusalem nach Amerika gelangt, war vom feinsten Stahl und hatte einen goldenen Griff. Die Brille zeigte die Gestalt eines kleinen Bogens, in dessen Oesen zwei durchsichtige Steine eingesetzt waren, und man konnte mit ihr Sprachen, die man nicht verstand, sowie in der Vergangenheit und Zukunft lesen. Die Tafeln, die wie Gold aussahen, waren „mit ägyptischen Hieroglyphen bedeckt und durch drei an der einen Seite hindurchgehende Ringe zu einem Bande zusammengehalten“. Einen Theil derselben verschloß ein Siegel.
Als der Engel sich entfernte, blickte Joseph noch einmal in das Behältniß. Da nahm er eine ungeheure Kröte wahr, die sofort heraussprang und sich in den Satan verwandelte. Derselbe sah den Propheten eine Weile starr an, dann fuhr er auf ihn los, versetzte ihm einen fürchterlichen Schlag und entriß ihm die heiligen Platten. Jener aber griff ihn, beherzt und durch übernatürliche Kraft gestärkt, an und rang mit ihm, bis er ihm den Schatz wieder abgerungen hatte, worauf er sich schleunigst entfernte. Zwar eilte ihm der böse Feind nach und verabreichte ihm noch einen Stoß, daß er hoch emporflog, die Platten dagegen vermochte er ihm nicht wieder zu rauben. Wohl aber erhoben sich jetzt andere Gegner.
Als die Nachricht von dem Funde sich in der Nachbarschaft von Manchester verbreitete, erlitt die Familie Smith von dem gottlosen Volke schwere Anfechtung. Man stellte die Sache höhnend als Betrug dar. Pöbelrotten bestürmten das Haus des Propheten und schossen ihm in die Fenster. Mehrmals wurden Versuche gemacht, ihm die kostbaren Platten zu entreißen. „Da er nun stets in Gefahr war,“ so erzählt der Mormonenapostel Pratt, „von einer Bande verworfenen Gesindels ermordet zu werden, so entschloß er sich endlich, den Ort zu verlassen und nach Pennsylvanien auszuwandern, wo sein Schwiegervater wohnte.
Er packte also seine Sachen ein, verbarg die Platten in einem Faß mit Bohnen und trat die Reise an. Noch war er indeß nicht weit gekommen, als ihn ein Gerichtsdiener mit dem Befehl, sein Gepäck zu untersuchen und die Platten in Beschlag zu nehmen, einholte. Aber wie sorgfältig er auch nachsah, dieselben waren nicht zu entdecken.
Smith zog nun weiter. Ehe er jedoch sein Ziel erreicht hatte, hielt ihn ein zweiter Beamter mit einem ähnlichen Auftrag an, war aber ebensowenig im Stande, das Gesuchte zu finden, und so langte der Prophet endlich bei seinem Schwiegervater am Susquehanna an.“
Hier übertrug er mit Hülfe der Urim und Thummim und eines Schreibers, Namens Cowdery, den unversiegelten Theil des Urkundenbuchs in’s Englische, und diese Uebersetzung erschien 1830, ein Jahr nach ihrer Vollendung, unter dem Titel: „Die goldene Bibel“, der später in „Das Buch Mormons“ verwandelt wurde, in Newyork im Druck.
So die Ueberlieferung der Mormonen. Anders die profane Geschichte, die Folgendes berichtet:
In den zwanziger Jahren lebte zu Manchester bei Palmyra eine Yankeefamilie Smith, deren Glieder sämmtlich im Rufe von leichtsinnigen Tagedieben und lügenhaften Taugenichtsen standen. Namentlich der jüngste Sohn, Joseph, hielt seinen Sinn schon in früher Jugend auf allerlei Schwindel und Nichtsnutzigkeit gerichtet. Statt zu lernen, trieb er als Knabe Possen. Statt zu arbeiten, streifte er als junger Mann lieber in der Gegend umher, um Schätze zu suchen, wobei er sich bisweilen einer Wünschelruthe oder eines Siebes, gewöhnlich aber eines von ihm beim Graben eines Brunnens gefundenen durchsichtigen Kiesels bediente, den er am Hute trug und der ein „Seherstein“ sein sollte. Er war ein Bursch von stattlicher Figur und angenehmen Zügen, der mit [90] viel natürlichem Verstand ein gewisses einnehmendes Wesen und eine gewisse Beredsamkeit verband und mit dreister Anwendung dieser Eigenschaften manchen Einfältigen täuschte. In der Regel ließ er sich von denen, welchen er einen Schatz zu heben versprach, ein schwarzes Schaf liefern, das er alsdann unter Beschwörungsformeln schlachtete. Das Blut wurde den Geistern geopfert, das Fleisch und das Fell behielt er für sich. Spötter sagten deshalb, sein Schatzgraben habe zwar kein Gold und Silber, aber viel Hammelfleisch gebracht. Im Jahre 1825 entführte er dem Farmer Hale zu Harmony in Pennsylvanien, der ihn gastfreundlich aufgenommen, seine Tochter und ließ sich heimlich mit ihr trauen. Um dieselbe Zeit schwatzte er einem gewissen Lawrence unter dem Vorwand, er habe am Susquehanna eine reiche Silberader entdeckt, eine Summe Geldes ab. 1826 betrog er in ähnlicher Weise einen Deutschen, Namens Stowell, indem er in einer Höhle bei Manchester einen ungeheuren Goldklumpen wissen wollte.
Mit der „Goldenen Bibel“ aber, die Smith, von Engelshand geleitet, in jenem Hügel bei Palmyra (die Mormonen nennen ihn Cumorah) gefunden haben soll, verhielt sich’s folgendermaßen.
In den Jahren 1809–1812 hatte der Eisenwerksbesitzer Spaulding zu Conneauct in Nordohio in seinen Mußestunden eine Art historischen Roman verfaßt, den er „Die entdeckte Handschrift“ nannte und in welchem er die Ansicht durchgeführt hatte, daß die Ureinwohner des westlichen Continents Nachkommen der Kinder Israel seien. Dieses Buch bot er später dem Drucker Lambdin in Pittsburg zum Verlag an, und derselbe behielt es mehrere Jahre in Verwahrung und betrachtete es, als Spaulding 1816 starb, als sein Eigenthum. In dieser Eigenschaft gedachte er es, als er mit seiner Druckerei Bankerott gemacht, zu einer Speculation, die ihm wieder aufhelfen sollte, zu verwenden, denn es war trotz vieler Mängel im Stil immerhin ein Werk, welches Aufsehen erregen mußte. So übergab er es zur Feilung einem Bekannten, dem ehemaligen Setzer Sidney Rigdon, der in der Mitte der zwanziger Jahre zu Pittsburg als Prediger der Disciples, einer Wiedertäufersecte, wirkte. Der Tod Lambdin’s machte Rigdon zum alleinigen Besitzer des Geheimnisses, und ohne Verzug ging er an die Ausbeutung desselben. Zunächst prägte er den Roman in eine Bibel um. Dann traf er Vorbereitungen, um das Buch vom Glanz des Wunderbaren umgeben erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck setzte er sich heimlich mit dem damals auch in der Gegend von Pittsburg bekannt gewordenen Schatzgräber Joseph Smith in Verbindung, auf den die zu jener Zeit sich verbreitende Nachricht, in Canada sei ein altes Buch auf goldenen Tafeln ausgegraben worden, hinwies und der, wenn man ihn den Fund thun ließ, den Verdacht von Rigdon ablenken mußte. Sodann aber zog der Anfertiger der Indianerbibel von seinem bisherigen Aufenthaltsorte weg nach dem Städtchen Mentor im nördlichen Ohio, um sich dort eine Gemeinde zu gründen, der er hierauf ähnliche Dinge von der Verderbtheit des gesammten Christenthums, von der nothwendigen Erneuerung des Priesterthums und von der nahebevorstehenden Wiederkunft Christi vortrug wie die, welche der Engel seinem Gehülfen Smith verkündet hatte.
Soweit war Alles nicht ungeschickt eingefädelt. Nur fehlte es den beiden Schwindlern noch an den Mitteln zur Veröffentlichung des angeblichen Fundes durch den Druck. Indeß wußte Smith hier bald Rath zu schaffen, indem er sich an den Farmer Martin Harris, einen leichtgläubigen Tropf, der schon verschiedenen Secten angehört, mit dem Vorgeben machte, Gott habe ihm offenbart, er, Harris, werde ihm fünfzig Dollars zur Herausgabe der Goldenen Bibel vorstrecken. Harris war bereit dazu, und als die verlangte Summe natürlich nicht genügte, so gab er nach und nach gegen dritthalbtausend Dollars her, obwohl er dabei lebhaftem Widerstand von Seiten seiner Frau begegnete.
Nun ging man an’s Werk. Da Smith damals im Schreiben wenig bewandert war, so dictirte er seine Uebersetzung des Textes auf den Goldplatten oder, wie wir uns jetzt ausdrücken müssen, das ihm von Rigdon gelieferte Manuscript, erst diesem Harris, dann dem oben erwähnten Cowdery, der seines Zeichens ein verdorbener Schulmeister war. Weshalb der Prophet dabei hinter einem Vorhang saß, bedarf keiner Erklärung, und wenn er sich bei der Entzifferung der angeblichen Urkunde – es war nach den Mormonen „Neuägyptisch“ – die Prophetenbrille vor die Augen hielt, so werden die Leser ebenfalls nicht im Zweifel sein, was er damit beabsichtigte.
Daß etwas der Art, wie die oben beschriebenen Platten, existirt haben, ist nicht glaublich. Zwar sind der Ausgabe des Buchs Mormons, die mir vorliegt, zwei Documente vorausgeschickt, in denen elf Zeugen erklären, dieselben gesehen und in Händen gehabt zu haben. Aber diese Zeugen gehören, mit Ausnahme von Zweien, sämmtlich der Familie des Propheten und der ihres Nachbars Whitmer an, der 1838 von der Secte als Lügner, Dieb und Falschmünzer denuncirt wurde. Ein andrer Zeuge ist der wiederholt erwähnte Amanuensis Smith’s, Oliver Cowdery, später gleichfalls aller denkbaren Schlechtigkeiten angeklagt. Der letzte endlich, jener Harris, scheint ziemlich unklare Begriffe von der Bedeutung eines Zeugnisses gehegt zu haben, indem er einerseits durch Namensunterschrift erklärte, jene goldartigen Täfelchen gesehen und betastet zu haben, andrerseits aber dem Professor Anthon in Neuyork versicherte, Bruder Joseph habe sich geweigert, ihm dieselben zu zeigen, da „er nicht hinreichend rein von Herzen sei“.
Eine Probe der Schrift auf den Platten, die Harris dem Professor auf einem Blatt Papier brachte, bezeichnete dieser als einen Mischmasch alterthümlicher Alphabete und Phantasiebuchstaben. „Es war,“ so sagt er in seinem Gutachten, „augenscheinlich von Jemand angefertigt, der (man erinnere sich hier, daß Sidney Rigdon ursprünglich Buchdruckergehülfe gewesen) vor sich ein Buch mit verschiedenen Schriftgattungen hatte.“Humboldt mitgetheilten mexicanischen Kalender copirt war.“
„Lateinische, griechische und hebräische Buchstaben, Kreuze und Schwänzchen, auf den Kopf gestellt oder umgelegt, waren in senkrechte Säulen geordnet, und das Ganze endigte mit der Figur eines Kreises, der in mehrere Felder geschieden, mit zahlreichen seltsamen Zeichen ausgefüllt und – zweifelsohne nach dem vonDas Buch Mormons, welches rasch fünf starke Auflagen erlebte und jetzt in englischer, französischer, walisischer, italienischer, spanischer, dänischer und deutscher Sprache zu haben ist, ist ein starker Band, der ungefähr so viel Stoff enthält wie das Alte Testament ohne die Apokryphen. Es zerfällt in die Bücher Nephi 1 und 2, Jacob, Enos, Jarom, Omni, Mosiah, Alma, Helaman, Nephi des Jüngeren, Mormon, Ether und Moroni. Der Inhalt hat nicht das Mindeste mit der geschichtlichen Wahrheit zu thun, ja er verstößt fast durchgehends gegen die Möglichkeit. Die Form ist mit ihrem unaufhörlichen „Und es begab sich, daß“ eine ungeschickte Nachahmung des biblischen Stils. Das Ganze ist durchgehends langweilig, trocken, eintönig und für Nichtmormonen ungenießbar. So unterlasse ich’s, eine Probe davon zu geben, und begnüge mich mit einer kurzen Uebersicht über den Inhalt.
Um das Jahr 600 v. Chr. wurde eine jüdische Familie vom Stamm Josephs, der fromme Lehi mit seinem Weibe Sariah und seinen vier Söhnen Laman, Lemuel, Sam und Nephi, von Jerusalem, wo damals der König Zedekia herrschte, zuerst an die Ostküste des Rothen Meeres, dann durch Asien an die See Irrkantum und zuletzt über das Meer nach der Westküste Südamerika’s geleitet, und elf Jahre später brach ein anderer Zug israelitischer Auswanderer, stärker als der frühere und meist aus Angehörigen vom Stamm Juda bestehend, gleichfalls nach dem großen Festlande jenseits des Stillen Oceans auf. Sie landeten in Nordamerika, begaben sich indeß später nach der Gegend der Landenge von Panama, wo man sie nach ihrer Hauptstadt die Leute von Zarahemla nannte und wo sie nach Verlauf von etwa vierhundert Jahren von dem einen Theile der Frühergekommenen entdeckt wurden und mit ihnen zu einem Volke verschmolzen.
Die Nachkommen Lehi’s nämlich schieden sich einige Zeit nach ihrer Ankunft auf amerikanischem Boden in zwei Stämme, indem einige von ihnen die übrigen wegen ihrer Gottesfurcht anfeindeten und verfolgten. Diese Frommen, die sich nach dem sie führenden Propheten Nephiten nannten, wanderten nach Centralamerika und von da nach dem Norden aus, während jene Gottlosen, nach ihrem Feldherrn Lamaniten geheißen, im Süden zurückblieben. Der Fluch Gottes verwandelte später ihre weiße Farbe in ein schmutziges Roth, dagegen ruhte der Segen des Himmels auf den Nephiten und führte sie zu Gedeihen und Ausbreitung.
Nachmals wichen jedoch auch sie von den Wegen des Herrn, verfielen in Sünden und tödteten die Propheten, die sie davon abmahnten. Da ergrimmte der große Jehova über sie und suchte sie mit harten Strafen heim. Finsterniß sank auf die Erde herab, ein grauenvolles Erdbeben wüthete von [91] einem Meeresstrande bis zum andern, Berge sanken zu Thälern ein, Thäler schwollen zu Bergen auf, Seen flutheten an der Stelle verschlungener Ortschaften, und der größte Theil der Nephiten und Lamaniten wurde vernichtet. Die aber, welche diese furchtbare Katastrophe überlebten, wurden mit einer persönlichen Erscheinung Christi, der kurz vorher zu Jerusalem gekreuzigt worden und gen Himmel gefahreu war, begnadigt. Er zeigte ihnen Seitenwunde und Nägelmale, predigte ihnen das Evangelium, setzte die Sacramente ein, heilte Lahme und Blinde, erweckte einen Todten und machte dem Volke alle Dinge bis an das Ende der Tage bekannt.
Nachdem der Erlöser sein Werk in Amerika vollendet, stieg er wieder in den Himmel. Die zwölf Jünger aber, die er gewählt, zogen durch das Land, verkündeten überall die frohe Botschaft, thaten Wunder und bekehrten nicht nur alle bis dahin dem Gesetz Mosis unterthanen Nephiten, sondern auch viele Lamaniten. Der dadurch hervorgerufene gottselige Zustand des amerikanischen Volkes erhielt sich länger als dreihundert Jahre in seiner Reinheit.
Allmählich jedoch rissen wieder Unglauben und Ungerechtigkeit ein, und gegen das Ende des vierten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung hatte die Ruchlosigkeit einen solchen Grad erreicht, daß die Langmuth des Herrn sich in strafenden Zorn verwandelte. Ein schrecklicher Krieg brach zwischen den Lamaniten im Süden und den jetzt nur noch in Nordamerika wohnenden Nephiten aus, und dessen Ausgang war die fast gänzliche Vertilgung der letzteren auf dem Berge Cumorah, wo sich der Rest der Nation in einem meilenlangen Lager verschanzt hatte. Die Wahlstatt dieser ungeheuren Schlacht, welche im Jahre 384 n. Chr. stattfand, war mit nicht weniger als 230,000 Leichen bedeckt.
Unter den Ueberlebenden befanden sich der Prophet Mormon und dessen Sohn Moroni, von denen jener einen Auszug aus den Ueberlieferungen seiner Vorväter gemacht hatte, den er vor seinem Tode dem Sohne zur Vollendung übergab, während jene Traditionen von ihm auf Gottes Geheiß im Berge Cumorah verborgen wurden. Moroni führte die Chronik seines Vaters noch etwa vierzig Jahre fort, und wir erfahren von ihm, daß die unversöhnlichen Lamaniten die wenigen von den Kindern Nephi, welche jener Vertilgungsschlacht entronnen waren, so lange verfolgten, bis das ganze Geschlecht, ihn ausgenommen, vernichtet war. Er berichtet ferner, daß die Lamaniten nach Ausrottung ihrer Gegner unter sich selbst in Streit geriethen und daß ganz Amerika lange Zeit nichts als ein großer Schauplatz von Gewaltthat, Raub und Blutvergießen war. Er schließt endlich seine Geschichte im Jahre 424 nach Christi Geburt, um die Platten, auf die sie geschrieben, ebenfalls in den heiligen Berg zu vergraben.
Sie haben es, wie Sie uns schreiben, für Ihre „heilige Pflicht“ gehalten, die „Gartenlaube“ davon in Kenntniß zu setzen, wie stark dieselbe in ihrer Ansicht von der Gesinnung des Kerns der Bevölkerung von Hannover, d. h. der ländlichen, sich täusche, wenn sie glaube, ihre „deutschpatriotischen Umtriebe hätten vermocht, auch hier den Haß gegen das Ausland zu nähren und die Treue gegen den angestammten Fürsten zu untergraben“. Sie versichern uns, daß die Welfentreue dem Adel und dem Landvolk mehr gelte, als all’ das Poetengesinge vom sogenannten deutschen Vaterlande, und daß mit dieser Welfentreue vollkommen im Einklang der Ausspruch stehen könne: „lieber französisch, als preußisch!“
Wir würden Ihren Brief als ein zwar trauriges, aber unschädliches Zeichen der Zeit still bei Seite gelegt haben, wenn Ihre Behauptung blos auf den Adel, nicht auf das gesammte Landvolk Hannovers sich bezöge. Alle Welt weiß jetzt, daß, je kleiner ein Staatswesen, um so kleinlicher das adelige Treiben, je größer und mächtiger ein Staat, um so größer die Aufgaben, um so würdiger die Ziele auch des Adels werden. Ihn wie das Volk hat die Kleinstaaterei nicht gehoben, sondern erniedrigt: ein reußischer, hessischer, nassauischer etc. Adel konnte im persönlichsten höheren Kammerdienerdienst am kleinsten Fürstenhofe noch etwas Bevorzugtes vor allem Volke erkennen, – ein Mann von deutschem Adel niemals!
Sie heucheln einen kosmopolitischen Standpunkt, um nur desto ungenirter in Welfendienstwonne zu schwärmen; das mag man Ihrer eigenen Verantwortung überlassen, – aber Sie unterstehen sich, im Namen „des Kerns“ Ihres Volkes zu reden, und das zwingt uns, Sie bei Seite stehen zu lassen und uns an dieses Volk selbst zu wenden.
Unsere Leser wissen, wie häßlich erlogen es ist, daß die Gartenlaube Haß gegen das Ausland und Untreue gegen die heimischen Fürsten lehre, und zwar Alles unter dem Mantel der Vaterlandsliebe. Allerdings freuen wir uns, ja, wir sind stolz darauf, daß der Begriff „Vaterland“ mehr zu Ehren gekommen ist. Wie tief er gesunken war, davon hat das Volk der Gegenwart keine Ahnung. „Hm, was ist Vaterland? Der Topf ist Vaterland!“ So sprach noch der alte Voß. Schiller verstand noch 1782 unter Vaterland das Herzogthum Würtemberg und wohnte zu Jena „im Auslande“. Erst die Befreiungskriege weckten den ganz entschlafenen Gedanken an ein „deutsches Vaterland“ wieder auf, und weder der heiligen Allianz noch dem deutschen Bunde gelang es, ihn wieder auszurotten. Wie aber soll treue Liebe zum gemeinsamen Vaterland die Treue gegen die Fürsten schmälern, wenn diese selbst jene treue Liebe mit hegen? Muß die gemeinsame Liebe zum großen Ganzen nicht Volk und Fürst erst recht innig verbinden? Haben wir dafür etwa keine Beispiele in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts? – Ebenso wird derjenige, welcher der Begeisterung für sein eigenes Volk und Land fähig ist, auch der rechte Mann sein, das Ausland nach seinen Vorzügen zu würdigen, ohne Neid und ohne Haß, wenn dieses Ausland sich zu gleicher gerechter Würdigung versteht.
Aber – „lieber französisch, als preußisch!“? Wahrlich, der Graf von Paris mag Recht haben, wenn er in seinem bekannten Briefe über Deutschland sagt: „Der preußische Hochmuth im Benehmen, der den Deutschen selbst unerträglich ist, wenn sie ihn zu ertragen haben, schmeichelt ihrem Stolze, wenn sie ihn gegen das Ausland gerichtet sehen,“ – dieser Hochmuth mag schwer wiegen: nur den Männern Niedersachsens, den Enkeln der französischen Unterthanen des Königreichs Westphalen und der Departements der Ems, der Weser und der Niederelbe des französischen Kaiserreichs, den Enkeln der Truppen des Rheinbundes in Napoleon’s Hand, den Enkeln der Helden von Waterloo – ihnen sollte sein und ist sicherlich eine solche Parole unmöglich!
Völker haben ein kurzes Gedächtniß für die Missethaten der Gewaltigen, nur darum, um den Deutschen die Augen offen zu erhalten über die Glückseligkeiten, die ihnen unter französischer Herrschaft geworden, haben wir eine Reihe von Bildern und Artikeln aus den „Zeiten unserer schweren Noth“ gebracht, und ebendeshalb schreiben wir auch die folgenden Zeilen. Ist es denn ganz vergessen, wie die Karte von Deutschland in den Jahren 1809 bis 1813 aussah? War es eine Zeit deutschen Fürstenruhms und Volksglücks, als Oesterreich, vom deutschen Reiche ausgeschieden, ohnmächtig im Südosten, wie Preußen, auf 2800 Quadratmeilen zusammengeschmolzen, machtlos im Nordosten der Staaten eines Rheinbundes lag, dessen fünfzehn Millionen Deutsche dem französischen Kriegsherrn ein Heer von mehr als 120,000 Mann zur Verfügung stellen mußten? Und liegen die Leiden dieser Rheinbundstruppen, liegt die massenhafte Hinopferung derselhen in Tirol, Spanien und Rußland so weit hinter uns? Und wie wurde den tapferen Deutschen ihr französischer Heldenmuth gelohnt! Gleich Strafsoldaten galten sie nur als Kanonenfutter! Es ging hoch her! Als das Regiment der Herzoge von Sachsen, das erst in Tirol geblutet, bei Barcelona sich abermals ausgezeichnet, erhielt der Mann fünfzehn Groschen, um an Napoleons Geburtstag auf des Kaisers Wohl zu trinken! – Und wie hoch ehrte er sie, seine Vasallentruppen! Als vor dem
[92] russischen Feldzuge, noch in Dresden, wo im Hoftheater ihm zu Ehren die Inschrift strahlte: „Weniger groß und glänzend als Er ist die Sonne!“ – ein Russe ihn auf die vielen Menschenleben hinwies, die dieser Krieg fressen werde, sagte er lachend, auf die vierfache Zahl seiner deutschen, italienischen und polnischen Hülfstruppen hinweisend: „Si vous perdez cinq Russes, je ne perds qu’un Français et quatre cochons“ – „Wenn Sie fünf Russen verlieren, verliere ich nur einen Franzosen und vier Schweine!“ Ein sauberes Compliment für die Träger der „Helenamedaille“!
Neuerdings hat in einigen Theilen Deutschlands der Widerwille gegen „preußische Vergewaltigung“ auch Männer des Volkes, aber immer erst auf dem beschönigenden Umweg der Lehre von der Solidarität der Nationen, bis zu der Annahme verführt, daß als Mittel zum Zweck jede Hülfe, folglich auch französische, nicht zurückzuweisen sei. Diese Volksfreunde, so ehrlich sie es mit dem nach ihrer Ansicht wahren Wohl des Volks auch meinen, sahen sich dadurch dem Vorwurf preisgegeben, mit den offenen Feinden der deutschen Vaterlandsliebe, den Ultramontanen, und den Feinden deutschen Freiheitsstrebens, den persönlich ergebensten Dienern jeder Souveränetät, Hand in Hand gehend, mit dem Ausland zu liebäugeln. Ihre Beschönigung dieses Treibens besteht darin, daß sie nicht auf die Hülfe der ihnen verhaßten dermaligen französischen Regierung hoffen, sondern auf die des französischen Volks – und in diesem Sinne rechtfertigen sie das hier und da sogar laut gewordene „lieber französisch, als preußisch“. Man schraubt sich zur Schwindelhöhe der Gegnerschaft gegen jede Nationalitätspolitik hinauf, um für den Freiheitskampf um so breiterem Boden zu gewinnen; – aber man vergißt, daß auch für dieses Ideal gar Vieles noch nicht reif ist und daß die Deutschen mit dem unwürdigen Opfer, das Vaterland für „Freiheit aus fremder Hand“ aufzugeben, noch allezeit allein in Europa standen und schließlich zum Schaden die Schande mit in den Kauf nehmen mußten.
Und die Geschichte hat es doch kaum einem Volke bequemer gemacht, so viel von den Wohlthaten des französischen Volks zu wissen, als dem deutschen. Wir wollen auf die glorreichste französische Zeit hinblicken, als die siegende französische Republik allen Nachbarvölkern mit den Waffen in der Faust „Freiheit, Gleichheit und Recht“ zu bringen verhieß. Da handelte denn doch wohl das Volk unmittelbar. Und was hat es jenen vier Departements des deutschen Rheinlandes, Roer, Donnersberg, Saar und Rhein-Mosel, welche die Republik 1798 befreite, d. h. an sich riß, statt des verheißenen Volksglücks gebracht? Pariser Pastetenbäcker und Juweliere wurden Oberforstmeister dieser Lande, um die schönen Wälder zu verwüsten und das Geld in den eigenen Säckel zu stecken; man ballt die Faust heute noch, wenn man liest, mit welch’ grenzenloser Unverschämtheit von den republikanischen Beamten die Länder bestohlen und ausgesogen, mit welch’ empörender Wegwerfung jede Reklamation der Bewohner behandelt, wie Alles hervorgesucht wurde, was nur irgend das Selbstgefühl derselben auf das Tiefste verwunden konnte. Das hat kein monarchischer Gewaltherr befohlen, das ist von den Freiheitsaposteln jenes Volks selbst ausgegangen. Und dieses Volk ist seitdem um kein Haar anders geworden, noch heute kann es sich keinen Fortschritt anders denken, als daß Frankreich an der Spitze marschirt und Paris den Mittelpunkt der Welt bedeutet.
Und die Heere der französischen Republik, die in Wahrheit „das Volk in Waffen“ waren und, wie ihre Proclamationen verkündeten, nur gegen die Tyrannen fochten, – wie behandelten sie in Deutschland das Volk? Die Alten sind freilich fast alle gestorben, welche unter dem Uebermuth der welschen Beglücker und Sieger hatten den Rücken krümmen müssen, aber der Großvater hat’s dem Enkel auf dem Knie erzählt, wie sie gehaust haben, diese Wüthriche voll bübischer Zerstörungswuth, und in den Schuldenbüchern gar vieler Gemeinden, Städte und Länder ist heute noch jene Zeit zu spüren. Das Unausstehlichste blieb aber immer der freche Hohn, mit welchem die gemeinste Hab- und Genußsucht unser braves Volk marterten und die heimischgewohnten Genüsse in jeder Fremde forderten. – Der Krieg ist kein Menschenveredler; je länger er herrscht, um so üppiger wächst die Rohheit der Leidenschaften. Die Scala derselben könnte kein Volk genauer studiren, als wiederum das deutsche, das in seinem Lande in den letzten vierthalbhundert Jahren einhundertfünfzig Kriegsjahre erlebte und alle waffentragenden Völker Europas als Sieger und Besiegte, als Freunde und Feinde auf seinem Boden sah. Von allen hat es unsägliches Leid erfahren, aber von keinem Feinde gehässigeres, als von den ersehnten Freunden unserer von Haß geblendeten Zeitgenossen.
Ihnen gilt das Bild, welches der wackere patriotische Stauber in München aus jener schwäbischen Franzosenzeit der Gegenwart mahnend vor die Augen und Herzen stellt. Das ist nur eine von den hunderttausend damals verpesteten Häuslichkeiten unseres Landvolks. Die Hausfrau bereitet die beste Speise, die sie kennt, für die fremden Gäste, die Hausgenossen freuen sich die ganze Woche auf den Tag, wo sie auf den Tisch kommt, und der rohe Uebermuth besudelt die „Gottesgabe“ so arg, daß selbst das Kind im Korbe die Händchen erschrocken zusammenschlägt. Was aber der arme, solcher Brutalität schutzlos preisgegebene Bauer in diesem Augenblick gedacht und gefühlt, das möge Jeder nachzudenken und nachzufühlen suchen, der für Volkswohl und Menschenwürde das Wort führt. Ohne Humanität ist selbst die Freiheit werthlos. Die höchste Bildung des Menschen ist nur durch den nationalen Geist möglich, nur er kann den Weg zum höchsten Ziel alles Erdenstrebens bahnen, zu dem freien Menschenthum, welches die Nationen wie Kinder einer Familie vereinigen soll. Wer das Menschenthum will, muß den nationalen Beruf achten, der in jedem braven Herzen die Vaterlandsliebe zum Gewissen und zum Führer hat. Das gilt von jedem Volk und Land.
Es ist nicht Haß gegen eine fremde Nation gepredigt, wenn man Gerechtigkeit für die eigene fordert. Und ebenso wird es kein Unrecht sein, wenn man heutzutage auch von einem deutschen Fürsten fordert, daß sein Patriotismus größer sei, als seine Selbstsucht. Niemand wird den Entthronten die menschliche Theilnahme versagen, zu allen Zeiten ehrte man das Unglück und bestrafte die Verspötter desselben mit Verachtung. Aber der Unglückliche muß sich der Theilnahme würdig zeigen. Wer jedoch nicht nur duldet, daß fremde Gewalt für ihn aufgerufen werde, sondern nach solcher Hülfe selbst greift, verkehrt selbst das Mitleid in sein Gegentheil; und er begeht ein schweres Verbrechen am Vaterlande, wenn er dieselbe Gewalt in das Land hereinwünscht, unter welcher viele Millionen jahrelang so entsetzlich gelitten haben.
Wir konnten bereits die nächste Folge der Flugschriften und Petitionen sehen, welche Frankreich zum Eingriff in die deutsche Neugestaltung ermuthigen sollten. Dürfen wir auch nicht jedes Volk verantwortlich machen für das, was in seinen Reihen und angeblich in seinem Geiste öffentlich geäußert wird, so kennen wir doch die französischen Preßzustände zu genau, um nicht behaupten zu können, daß, was dort zu drucken gestattet ist, eines höheren Einverständnisses sicher sein muß. Und nun lese man unterschiedliche neuere französische Flugschriften, so findet man auf das deutsche „Lieber französisch, als preußisch“ die französische Antwort in „Le Rhin c’est la paix“ – „Der Rhein ist der Friede“, d. h. Frankreich gestattet allezeit mit Vergnügen die Wiederherstellung der alten Bundesherrlichkeit, wenn ihm dafür die Rheingrenze gegeben wird.
Ob unsere Hannoveraner, Hessen, Nassauer, Frankfurter und Schleswig-Holsteiner um diesen Preis ihre ehemalige „Selbstständigkeit“ zurückwünschen und unsere Baiern, Schwaben, Alemanen, Pfälzer und Franken die ihre um diesen Preis sichern wollen? Wir bitten schon wegen dieser Frage um Verzeihung. Wissen wir doch nur zu gut, was die Herzen dieser Völkerschaften mit Bitterkeit und Trauer erfüllt: sie alle wollen mit Leib und Seele gute Deutsche sein, das war die allgemeine Sehnsucht unter dem Bundestagsjammer; um so härter kommt es ihnen an, daß sie nun erst Preußen sein sollen, um Deutsche zu werden. Dieses ihr Mißgefühl hat seine Berechtigung, trotz alledem darf es ihnen den Patriotismus nicht in sein Gegentheil verkehren. Bei aller Vielstaaterei haben in Deutschland stets Deutsche gewohnt und zu allen Zeiten hatten sie nichts Höheres zu erstreben, als was mit rechtem Mannesmuth jetzt erst vollkommener als je vorher erstrebt werden kann und errungen werden muß: Jedem Deutschen eine freie Heimath in dem durch Einheit starken Vaterlande!
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Die Pflege und der weitere Ausbau der Naturwissenschaften und deren Anwendung auf das praktische Leben haben unbeirrt von jeweiligen Spannungen und Gewittern in der politischen Atmosphäre ihren steten Fortgang; mehr und mehr erweitern sich bald in dieser, bald in jener Richtung, in größeren und kleineren Fortschritten die Grenzen unseres Wissens und Könnens, vermehrt sich der Reichthum an wissenschaftlichen Ergebnissen, Entdeckungen und Erfindungen, das Gemeingut aller Culturvölker, dem Menschenfreunde zu hoher Freude, nur wenigen dunkelen Köpfen zum Aergerniß. In der That ist ja auch die Theilnahme des größeren Publicums an den Fortschritten auf den Gebieten der Wissenschaft, Industrie und Technik in unserer Zeit so hoch gestiegen, wie dies bei ihrem so vielfachen Eingreifen in die verschiedensten Lebensverhältnisse, und bei dem wachsenden Streben nach allgemeiner Bildung nur erwartet werden kann. Und so dürfte es hoffentlich auch von manchem unserer Leser nicht ungern gesehen werden, fortan in unserem Blatt allmonatlich eine kurze Uebersicht der in die bezeichneten Fächer einschlagenden neuen Erscheinungen zu finden, so weit solche ein nicht blos fachmännisches Interesse zu haben scheinen, sondern auch für größere Kreise in irgend welcher Art instructiv, nutzbringend oder Annehmlichkeit fördernd sein könnten.
Eine außerordentliche Entdeckung ist angekündigt und mag verzeichnet werden auf die Gefahr hin, daß sie sich in einen amerikanischen Puff auflöst. Die unterseeische Telegraphie soll künftig keiner Kabelleitung mehr bedürfen, und noch ehe die Franzosen ihren Strang nach Amerika gelegt haben werden, soll eine andere Correspondenz hergestellt sein, die frei durch’s Wasser geht. Das klingt freilich unglaublich genug, aber die Telegraphie, wie sie heute besteht, die Eisenbahnen, die Photographie etc. waren doch auch einmal unglaubliche Dinge. Ein Amerikaner, Mower oder Wouer, hat also, wie mit aller Bestimmtheit gemeldet wird, die Entdeckung gemacht, daß das Kabel entbehrt werden kann, und mit seinen neuen Apparaten an den großen nordamerikanischen Seen, namentlich am Ontario zwischen den Städten Toronto in Canada und Oswego im Staate New–York, mit bestem Erfolge experimentirt. Es ist stundenlang ohne die geringste Störung hin und her telegraphirt worden. Die Uebermittelung der Zeichen erfolgte so gut wie augenblicklich. Der Erfinder will demnächst nach Europa kommen und zwischen Spanien (oder Portugal) und Nordamerika seine erste transatlantische Linie einrichten, deren Herstellung nicht mehr als fündzigtausend Franken kosten soll, eine Kleinigkeit gegenüber den fünfundzwanzig bis dreißig Millionen, die für Anfertigung und Legung eines Kabels erfordert werden! Die Erfindung soll auf folgendem, allerdings schwer einleuchtenden Erfahrungssatze beruhen: Die in’s Wasser geleitete Elektricität zersetzt dasselbe und es entstehen dadurch Stöße, die, statt sich nach allen Richtungen auszubreiten, sich lediglich in einer geraden horizontalen Linie fortsetzen, die ausschließlich und genau der Richtung zwischen Ost und West folgt, wie die Linien der Breitengrade laufen. In diesem Falle bedürfte es allerdings neben dem Zeichengeber nur noch eines Apparates zum Aufsaugen und Sichtbarmachen dieser Strahlungen, deren Existenz nach den bisherigen Erfahrungen über das Verhalten der Electricität nicht zu vermuthen war und also erst zu beweisen wäre. –
Das der Benutzung der Dampfkraft noch anhaftende große Uebel, die Kesselexplosionen, ist bisher mit so wenig Erfolg bekämpft worden, daß die Unglücksfälle dieser Art in letzter Zeit sich sogar vermehrt haben, in größerem Verhältniß als die Dampfmaschinen selbst. Wären die Fachleute erst über die eigentlichen Ursachen der Explosionen im Reinen, so würde auch das wirksamste Gegenmittel bald gefunden sein, aber so weit ist man eben noch nicht; es giebt noch vielerlei widerstreitende Meinungen, Erklärungen und Hypothesen über den Gegenstand, die alle mehr oder weniger Anhänger gefunden haben. Eine neuerdings von Herrn Wasserbau-Inspector Hipp in Coblenz aufgestellte und gegen verschiedene Einwürfe gut vertretene Theorie hat viel Einleuchtendes und Ansprechendes. Derselbe findet die Ursache der Explosionen ganz allein in der Bildung und Verbrennung explosiver Gasgemische im Kessel. Es kann zwar wohl die Dampfspannung in einem solchen durch zu starke Feuerung so übertrieben werden, daß die Kesselwände dem Drucke nicht mehr gewachsen sind; dann erfolgt an der schwächsten Stelle eine Zerreißung und der Dampf strömt einfach aus. Von solchen Kesselberstungen, die schon durch gewöhnliche Aufmerksamkeit zu verhüten sind, unterscheiden sich aber wesentlich die eigentlichen Explosionen mit ihren oft furchtbar verheerenden Wirkungen. Der Kessel ist dann eine mit Knallgas geladene platzende Bombe. Die Entstehung von Knallgasen ist aber sehr wohl möglich unter der Voraussetzung, daß bei zu tiefem Wasserstande frei gelegte Partieen der Kesselwandungen in’s Glühen gerathen.
Diesen Zustand der Dinge nimmt Herr Hipp für alle vorkommenden Explosionen als vorhanden an, und hiergegen könnte sich wohl Opposition erheben; sie würde dann aber den evidenten Nachweis zu führen haben, daß Kessel auch ohne vorgängiges Erglühen explodiren können. Glühendes Eisen zersetzt, wie allbekannt, Wasserdämpfe, um mit dem Sauerstoff derselben Oxyd zu bilden. Sind aber die Dämpfe mit Luft gemischt, wie dies in einem Kessel immer der Fall, so lange die Speisepumpe im Gange ist und mit dem Wasser auch Luft zuführt, so erfolgt eine Dampfzersetzung nicht, sondern das Eisen nimmt bequemer den ungebundenen Sauerstoff der Luft auf. Erst wenn diese bei unterbrochener Speisung sich erschöpft hat und noch glühende unoxydirte Flächen vorhanden sind, muß der Dampf den Sauerstoff hergeben und Wasserstoff bleibt übrig, ein an sich ganz unschädliches Gas, das aber, wenn wieder Wasser mit Luft in den Kessel gelangt, in Vermischung mit letzterer ein gefährliches Knallgas bildet. Die meisten Explosionen finden nun aber gerade beim Anlassen der Maschinen, also bei Zuführung frischen Speisewassers statt. Eine andere Knallgasfabrication kann Platz greifen beim Gebrauch fettigen Speisewassers. Das Fett wird von den glühenden Wänden zersetzt, es bildet sich Kohlenwasserstoff, Leuchtgas, ganz wie in einer Gasretorte, und es liegt diese Gefahr eigentlich noch näher als die erstere, denn es braucht dabei nicht erst eine Lufterschöpfung und Wiederzufuhr erfordert zu werden, sondern das Kohlengas kann sich jederzeit mit der Kesselluft mischen und, wenn das richtige Mischungsverhältniß eingetreten und glühende Stellen vorhanden sind, sich entzünden. Kommt es aber dahin, so wirkt natürlich die augenblickliche ungeheure Hitzesteigerung auch auf das Kesselwasser und verwandelt einen großen Theil desselben in Dampf, und so wird eine Kraft entfesselt, der selbst die stärksten Mauern schon haben weichen müssen. Das richtige und sehr einfache Vorbeugungsmittel gegen Unglück wäre sonach, daß man das Glühendwerden von Kesselpartieen verhüte durch immer hinreichend hohen Wasserstand. –
Stahl bildet bekanntlich vorzugsweise das Material für elastische Federn. Die Nordamerikaner haben jetzt angefangen, denselben durch einen anderen Stoff zu ersetzen, dem man die Befähigung hierzu kaum zutrauen sollte, nämlich Kork. Zur Anfertigung dieser neuartigen Federn erweicht man vorher die Korkstücke in einem Gemisch von Wasser und Syrup, schneidet sie in Scheiben von sechs oder sieben Zoll Durchmesser, durchlocht diese in der Mitte, schichtet eine Anzahl derselben in einen eisernen Hohlcylinder und preßt sie in einer hydraulischen Presse so weit zusammen, daß die Korksäule auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Höhe reducirt wird. Nachdem nun durch das System ein eiserner Schraubbolzen geschoben und eine Mutter gegengeschraubt ist, kann die Presse gelöst werden und die Feder ist fertig. In einer New-Yorker Maschinenfabrik sind derartige Federn schon seit fünf Jahren in Anwendung und haben sich bei den gewaltsamsten Stößen und schwersten Drücken, die in der Praxis vorkommen können, so unversehrt erhalten, daß man ihnen das Prädicat „unverwüstlich“ beilegen möchte. –
Ueber das Wesen und die Vegetationsbedingungen der Trüffeln hat man lange nichts Rechtes gewußt und namentlich hat der willkürliche Anbau derselben trotz vieler Versuche nicht gelingen wollen. Erst in neuer Zeit ist die Trüffelfrage gelöst, und es giebt nun in Frankreich wirklich Trüffelplantagen und ein sicheres Anbauverfahren. Das letztere ist von den Bauern einiger Gemeinden der Provence entdeckt, lange im Stillen ausgebeutet und ihnen endlich abgelauscht worden. Will man auf dem für die Trüffel allein passenden sterilen, kalkig-kiesigen Boden eine Pflanzung anlegen, so ist außer dem Umhacken des Bodens nichts nöthig als Eicheln zu säen von einem Baume, unter welchem recht reichlich Trüffeln wachsen. Die Aussaat geschieht reihenweise in bemessenen Abständen, die Pflanzung wird alljährlich behackt und allmählich, so wie die jungen Eichen heranwachsen, durch Herausnehmen von Bäumchen mehr gelichtet, bis der bleibende Abstand von vier Meter erreicht ist. Im fünften oder sechsten Jahre erscheinen um die Stämmchen die ersten Trüffeln, der Ertrag nimmt dann alljährlich zu, ist am reichlichsten zwischen zwölf und zwanzig Jahren und dauert bis zum Absterben des Baumes. In dem Maße, als die Eiche größer wird und ihre Saugwurzeln weiter nach außen schiebt, erweitert sich auch der Trüffelring, denn nur über dem kleinen Gewürzel wächst der Pilz. Düngung ist zulässig, aber lediglich mit gerbstoffhaltigen Pflanzentheilen, wie Eichen- und Kastanienblättern, den grünen Schalen der letzteren etc. Gießen bei Dürre hat keinen Erfolg gegeben. Die Trüffel, die schwarze nämlich, denn die übrigen, sämmtlich geringer geschätzten Sorten werden nicht gebaut, beginnt ihr Wachsthum im Mai oder Juni, ist im September schon groß, aber wässerig und fadschmeckend; im November sieht sie marmorirt aus und vom December an reift sie. Sie ist dann schwarz oder violett und entwickelt ihr charakteristisches Parfüm. Der Reifezustand tritt plötzlich, gleichsam über Nacht ein, aber immer nur an einzelnen Knollen, und es zieht sich demzufolge die Ernte bis in den März hinein. Zum Ausnehmen der reifen Knollen bedienen sich die Pflanzer der bekannten professionirten Trüffelsucher mit ihren abgerichteten kleinen Hunden oder Schweinen; indem diese Thiere nur die reifen Stücke markiren, weil die unreifen noch nicht riechen, bleiben die letzteren ungestört. Die Trüffelbeete selbst sind so leicht an der kahlen trockenen Beschaffenheit des Erdreichs zu erkennen, daß die zahlreichen Diebe sie auch bei Nacht zu finden wissen; aber da sie für das speziellere Aufsuchen keine vierbeinigen Kundschafter mitbringen können, so hacken sie eben Alles um, stehlen einen Theil und verderben das Uebrige. –
Die Apparate und Geräthe der Haushaltung haben durch die industrielle Technik, seitdem sich dieselbe mit einer gewissen Vorliebe diesem Fache zugewendet, schon manche sehr dankenswerthe Verbesserung erfahren, und selbst manches ganz Neue ist zur Verfügung gestellt und macht sich nützlich durch Vereinfachung der Arbeit, Ersparniß an Zeit und Geld, oder größere Bequemlichkeit und Annehmlichkeit. Als ein solcher neuer, aller Beachtung werther Artikel erscheinen die patentirten elastischen Drahtmatratzen der Herren R. Mitzbach und Lieber in Augsburg. Wenn bisher Stahlfedermatrazen das Beste und Theuerste in diesem Bedarfsartikel waren, so leisten die kaum halb so theuren Drahtgebilde nicht nur ganz dieselben Dienste, sondern versprechen selbst noch größere Annehmlichkeit. Dieselben bestehen aus einem doppelten, an den Kanten dreifachen, verzinkten Metallgeflecht, sind im Innern hohl und scheinen so leicht und luftig gebaut, daß man ihnen beim bloßen Anblick ihre Widerstands- und Sprungkraft gar nicht zutrauen sollte, vielmehr dieselbe erst durch Daraufsetzen oder [95] -Legen erproben muß. Es bedarf nur des Ueberbreitens einer Filz- leichten Seegras- oder Roßhaardecke, um ein äußerst behagliches, gleichsam schaukelndes Lager zu haben. Preis, bei sechsjähriger Garantie, zehn bis sechszehn Gulden. –
Daß es auch giftige Strümpfe geben könne, ist wohl noch Niemandem von selbst in den Sinn gekommen. In England war kürzlich eine Sorte in grellen Anilinfarben gemusterter Strümpfe oder Unterstrümpfe (Chaussettes) stark in die Mode gekommen, aber sie bewirkten bei einer großen Anzahl Trägerinnen ernstliche locale Hautkrankheiten. Es wurden deshalb Klagen vor den Richter gebracht und nach Constatirung der Thatsache mußte die gefährliche Waare aus dem Handel verschwinden. Ein Paar solcher Strümpfe war auch nach Hâvre gekommen und hatte nach dem Befunde zweier Aerzte in folgender Weise Uebel angerichtet: die Grundfarbe des Stoffes, Anilinviolett, war durchaus ohne Wirkung auf die Haut geblieben, dagegen hatte sich die ganze aus lebhaft hochroth gefärbter Seide bestehende Streifenmusterung abcopirt in sehr heftiger geschwollener, wie Brandblasen aussehender Entzündung. Ein allgemeines Unwohlsein, einer leichten Vergiftung ähnlich, hatte sich hinzugesellt und wich erst nach zweitägiger ärztlicher Behandlung. Die giftige Farbe erwies sich als Corallin, das gleich dem Anilin aus dem Steinkohlentheer stammt, aber aus der darin vorfindlichen Phenolsäure (Steinkohlenkreosot) hergestellt wird. Das Corallin als das lebhafteste Roth findet auch sonst in der Färberei jetzt häufig Anwendung, und man hat übrigens von dem Tragen so gefärbter Zeuge noch keine nachtheiligen Folgen bemerkt. Man wird sie nach der Meinung der französischen Aerzte auch ferner ohne Besorgniß benützen dürfen zu allen Theilen der Bekleidung, welche nicht unmittelbar und fest an der Haut anliegen, und dieser Fall wird ja überhaupt wohl nur bei den Strümpfen vorkommen. Während aber somit dieser eine künstliche Farbstoff sich als ein häßliches Zugpflaster erwiesen hat, kann ein zweiter andere Gefahren oder wenigstens Schrecken bewirken. Die Gelbfärberei in Seide geschieht jetzt großentheils mit pikrinsaurem Kali, einem explosiven Stoff, den keine Eisenbahn mehr zum Transport übernehmen will. Hat eine Dame in ihrer Kleidung solches Gelb, so liegt die Möglichkeit gar nicht so fern und soll sich in England schon verwirklicht haben, daß in der Nähe eines heißen Ofens oder Kamins solche Theile warm genug werden, um mit einem plötzlichen Knalleffect auf Nimmerwiedersehen zu verpuffen. –
Elektrocapillarität ist die Aufschrift eines neu eröffneten Capitels der Naturwissenschaft, das mit einer Reihe neuer interessanter Thatsachen beginnt und deren ohne Zweifel noch mehr gewähren wird. Durch langwierige Versuchsarbeiten ist der rühmlich bekannte französische Professor Becquerel zu Ergebnissen gelangt, die sowohl an sich als in Betracht der daran zu knüpfenden Folgerungen höchst belangreich erscheinen. Die Sache ist in der Kürze folgende: Wenn man die Lösungen zweier verschiedener Salze zusammenmischt, so erfolgt in einer Mehrzahl der Fälle sofort eine Umpaarung oder sogenannte doppelte Zersetzung derselben; die Säuren oder Basen der Salze wechseln ihre Stellen und es entstehen aus den früheren Salzen zwei neue. Dieser Vorgang erfolgt stets und ist vorherzusagen, wenn man weiß, daß das eine der neuen Salze eine in Wasser unlösliche Verbindung ist, denn eben durch die Unlöslichkeit ist die engere Verwandtschaft dieses Paares documentirt. Dieses Salz scheidet sich also als Niederschlag aus der Mischung ab und ist in der Regel amorph, das heißt ohne kristallinische Gestaltung. Statt dieser allbekannten Erscheinungen verlaufen aber nach Becquerel die Dinge ganz anders, wenn die beiden Flüssigkeiten nicht direct zusammengebracht, sondern eine jede für sich in ein Behältniß gegossen werden, das vermittels einer durchlässigen Membran von organischem Gefüge, etwa ein Stück Thierblase, in zwei Abtheilungen geschieden ist. Die Wirkung erfolgt nun in weit langsamerem Gange und andere Neubildungen treten auf; statt amorpher Niederschläge entstehen auf beiden Flächen der Scheidewand Kristalle, die chemisch und physikalisch anders als jene beschaffen sind. Es läßt sich aber dabei die Mitwirkung einer anderen als der chemischen Kraft, der Elektrizität nämlich, deutlich nachweisen. Ein jedes unter den angegebenen Umständen zusammengebrachtes Paar chemisch verschiedener Flüssigkeiten bildet in Wirklichkeit ein galvanisches Element mit positivem und negativem Pol. Füllt man beispielsweise die eine Zelle des Apparats mit Thonerdekali, die andere mit Chromchlorür, so schießen auf der positiven Fläche der Membran, welche mit der ersteren Flüssigkeit in Berührung ist. Krystalle von wasserhaltiger Thonerde, auf der anderen grüngefärbte von gewässertem Chromoxyd an. Analog verhalten sich Thonerdekali und Antimonchlorür. Bringt man an Stelle der ersteren Substanz kieselsaures Kali, so entstehen ausgezeichnete Kieselerdekrystalle von solcher Härte, daß sie Glas ritzen. Eine einseitige Krystallisation wird erhalten durch die Gegenwirkung zwischen Kali- und Kobaltlösung. Bei directer Vermischung dieser beiden entsteht ein blauer Niederschlag von Kobaltoxyd; im getheilten Apparat dagegen schießt das Oxyd in schönen Krystallen an. Durch diese und eine große Anzahl anderweiter Experimente ist also dargethan, daß bei Dazwischenkunft einer organischen Membran, obwohl sie selbst durchaus keiner chemischen, sondern nur physikalischer Wirkungen fähig ist, bekannte chemische Vorgänge ganz wesentlich abgeändert werden, und es liegt nun sehr nahe, diese Erscheinungen mit denjenigen in Parallele zu setzen, welche in den lebendigen Organismen der Thier- und Pflanzenwelt zu Stande kommen.
Es hat sich in der heutigen Gelehrtenwelt die Ueberzeugung oder der Glaube herausgebildet, daß die belebte Natur von ganz denselben Gesetzen beherrscht wird wie die unbelebte, daß eine besondere Lebenskraft nicht existirt, vielmehr alle pflanzlichen und thierischen Lebenserscheinungen aus dem Zusammenwirken chemischer, physikalischer und elektrischer Kräfte zu erklären sein müssen. Hierbei könnte nun Bequerel’s Elektrocapillarität sehr wohl dienlich sein, denn der Pflanzen- und Thierkörper besteht ja fast ausschließlich aus membranösen Scheidewänden zwischen verschiedenartigen Flüssigkeiten. So lange diese Gewebe sich im normalen Zustande erhalten, besteht Elektrocapillarität und damit die Fortdauer der Lebensfunctionen; erschlaffen die Gewebe, erweitern sich ihre Poren, so ändern sich die Dinge: es tritt allmählich directe Berührung zwischen den verschiedenen Flüssigkeiten ein und damit gelangt die so zu sagen ordinäre Chemie zur Action, welche für den betreffenden Organismus Krankheit und Tod bedeutet.
Die Carnevalstage in Buenos-Ayres. Es war Mitte März
des Jahres 1859, als ich langsam durch die aufgeregten Straßen von
Buenos-Ayres wandelte. Die Sonnengluth des jenseitigen Wendekreises neigte sich zu Ende. Ein dröhnender Kanonenschuß und ein
tausendstimmiges durch die ganze Stadt wogendes Hurrah verkündete
den Beginn des Carnevals. Von allen Seiten ertönte der wilde
Ruf: „Agua, agua!“ und von Dächern und Balconen stürzte ein unerschÖpflicher Wasserfall auf die vorüberziehenden Cavaliere. Doch jetzt
kommt Hülfe! Große Spritzenwagen rassein herbei. Auf ihnen hocken
langbärtige rothe Teufel, die mit gellen Lärmtrompeten, Knarren. Klappern,
Blechkasten und schrillen Pfeifen ein höllisches Concert aufführen. Sie
halten unter den Balconen und erwidern die herabstürzenden Eimerfluthen
mit den Wasserschlangen ihrer gutgezielten Schläuche und dem Schlachtenruf: „Nieder mit den Wäscherinnen!“ Vergebens! Die Wasserstrahlen
zerschellen zischend an den aufgespannten Schirmen, hinter denen die
schalkhaft verborgenen Nixen sicher zielen und doppelt sicher treffen. Ein
Trompetensignal verkündet Waffenstillstand. Welch’ reizende Metamorphose!
Confect, Bonbonnièren, mitunter auch Schmuck fliegen mit zierlichen
Grüßen zu den Balconen hinauf, von denen sich die schlanken Sennoritas in hellschimmernden Gewändern herabneigen, und Blumensträuße,
Kränze und Seidenschleifen regnen lieblich dankend von oben herab. Aber
nicht alle werden aufgefangen und an die heißen verlangenden Lippen der
Carnevalsteufel gedrückt. Manche fallen daneben, – und eine dichte
lauernde Schaar schwarzer, brauner und gelber Buben stürzt raubgierig
auf die schimmernde Beute, und erst von überschwemmenden Fluthen
gebadet, löst sich der balgende Knäuel wieder auseinander. Andere als
Locomotiven oder Dampfschiffe maskirte Spritzen folgen den ersten und
wiederholen dasselbe Spiel, bis die Sonne sinkt und ein abermaliger
Kanonenschuß den ersten Carnevalstag endet. Maskenschwärme durchschweifen jetzt die nachtkühlen Straßen und Plätze. Nach den rhythmischen
Klängen schnarrender Clarinetten, der Harmonica, Flöte, Guitarre und
brummender Tambourins marschiren, springen, singen, tanzen und tollen
sie gespensterhaft im Mondenschein.
Am zweiten Carnevalstage beginnt der Straßenkampf mit farbigen Eiern, die mit wohlriechendem Wasser gefüllt und mit buntem Wachs geschlossen sind. Von den Dächern antwortet das schwere Geschütz sogenannter Wasserbomben. Die dortigen Zeitungen im Times-Format bieten hierzu ein äußerst zweckmäßiges Material. Man rafft sie im Augenblick des Gebrauchs an den Enden schlauchartig zusammen, taucht sie in’s Wasser und schleudert sie reichlich gefüllt auf die Hüte der Vorübereilenden und Angreifer, auf denen sie dumpf klatschend auseinanderbersten. Die Hauptstraßen sehen des Abends beim Mondschein, von Papierresten überschüttet, wie beschneit aus.
Zahlreicher als am ersten Abend wühlt und wirbelt heute ein phantastischer Hexensabbath, ein toller Narrenjahrmarkt durcheinander. Ich war in die Calle de Lima, eine abgelegene Seitenstraße, eingebogen, um den ankrähenden Fistel-Begrüßungen der Masken einigermaßen auszuweichen, als mich plötzlich vier Frauengestalten flamingoroth, kolibrischillernd umflatterten. Mit sinnverwirrender Beredsamkeit erkundigten sie sich nach meinem Befinden und titulirten mich mit zärtlichen Beinamen. Die eine begrüßte mich als Cousin Don Carlos, die andere als Schwager Don Luis, die dritte als Gevatter Don Emilio, die letzte endlich gar als ihren ungetreuen Don Juan. Auf ihren Scherz eingehend, nannte ich sie Carlota, Luisita, Emilia und querida (geliebte) Juanita. Die größte von ihnen schwenkte um ihr Haupt ein klingelndes Tambourin, das sie eben so meisterhaft handhabte, wie die zweite ihre Castagnetten. Dabei trällerten alle vier ein damals sehr beliebtes Volkslied und umkreisten mich in wildem Reigen. Mit einem starken Tambourinschlage brachen sie plötzlich ab und standen still. „Adios mascarita, adios, adios!“ sagten die drei Flamingos mit tiefen, graciösen Verbeugungen und tänzelten mit wiederbeginnendem Sang und Klang von dannen.
Der Kolibri aber umrankte, wie eine wilde Liane der Parana-Inseln, meinen Hals – ich fühlte eine schlanke, jugendlich volle Gestalt an meiner Brust – ich weiß nicht wie es kam, daß ich mich tiefer neigte – ein flüchtiger Kuß zuckte elektrisch über meine Lippen, und „Adios!“ flüsterte sie, „adios!“ ... Es überlief mich glühend heiß, denn sie hatte meinen Namen genannt; aber wie ein schußerschrecktes Reh entwand sie sich und entwich zu den bereits harrenden Schwestern. Alle vier tauchten schnell in einen fandangotollen vorüberjauchzenden Maskenschwarm. – Fort war sie, die schillernde Sirene!
Am letzten und daher auch schönsten Carnevalstage rasseln elegante, blumen- und flitterbeladene Phaëtons durch alle Straßen. Büffelhosige Neger, tigerbemäntelte Mulatten und straußfederngekrönte, nackte Indianer mit Bogen und pfeilgespicktem Köcher thronen auf dem Bock. Pharaonen, Solimans, Bayards, vor Allem aber gehörnte Siegfrieds und rasende Rolands galoppiren auf edlen Rossen unter die Balcone ihrer harrenden Dulcineen. Galonnirte, gleichfalls berittene Diener folgen ihnen, befrachtet mit verhüllt und unverhüllt prangenden Geschenken, die heute den geliebten Augen einen zärtlich dankbaren Blick entschmeicheln sollen. Heute fällt kein Strauß zu Boden, der nicht hastig aufgehoben, an Brust und [96] Mund, gedrückt, sorgfältig bewahrt würde, denn heute bergen die weichen Blumenkelche außer ihrem Dufte noch manches heiße, längstersehnte Geständniß, manches Rendezvous, manch’ andere tiefgeheime Verheißung. Wie sehnsüchtig blickt die edle, bleiche Sennorita ihrem stolzen Ritter nach und grüßt solange mit wehend weißem Schleier, bis die wallenden Barettfedern an einer Straßenbiegung verschwunden sind.
Nordöstlich von der emporragenden Freiheitsgöttin auf der Plaza Victoria leuchtet eine glänzende Illumination, rauscht eine bacchantische Ballmusik durch die weitoffenen Balconthüren des Teatro Colon. Vor dem Portale drängen und reihen sich dunkle Kutschen mit leuchtenden Laternenaugen. Schimmernde Ballgäste schwanken durch zuschauende Maskengruppen zur Steintreppe und müssen manche schmeichelhafte, manche beißende Kritik anhören. Von hier aus überschwemmt ein kaleidoskopisches Gewühl die mondhelle Plaza. Krähende Pierrots, Harlekins, Sassafrasse, Dulcamaras, Magier, Don Quixotes, Riesen und Zwerge wirbeln gliederzuckend, tarantelwüthig um die Freiheitsgöttin, wie um das goldene Kalb in der Wüste. Weiterhin erregt ein der Vignette des „Punch“ entsprechender Compadrito mit safranrothem, spitzem Frack und falschem Buckel durch burleske Einfälle, Prisennehmen und Niesen ein brausendes Beifallsgelächter. Phantastisch uniformirte Züge der „Comparsas“ marschiren wohlgeordnet mit Sang und Klang die Straßen entlang und bringen befreundeten Familien Serenaden.
Der Mond leuchtete weich und voll über die letzte Carnevalsnacht. Langmäntlige „Serenos“ (Nachtwächter) mit Lampen und Blendlaternen fangen bereits die Verkündigung der zwölften Stunde und verloren sich dann in die tiefen Schatten an den Häusern. Flüchtig leichte Tritte, seidenes Rauschen dicht hinter mir machte mich aufmerksam. Eine hohe verschleierte Gestalt schwebte an mich heran, schob ihren zitternden Arm unter den meinigen und flüsterte fast athemlos. „Caballero, retten Sie, schützen Sie mich! Ich werde verfolgt!“
Ein wunderschönes bleiches Antlitz blickte mich unter dem emporgehobenen schwarzen Schleier mit oceandunklen Augen so ängstlich bittend an, daß an eine Weigerung nicht zu denken war.
„Woher kommen Sie?“ fragte ich.
„Vom Ball!“
„Wer verfolgt Sie?“
„Mein Mann!“
„Warum?“
„Er will mich tödten!“
„Wohin wollen Sie?“
„Zu meinen Eltern!“
„Nach welcher Straße?“
„Der Calle de las Piedras!“
Mit bebender Scheu wandte sie sich um, – sie zitterte heftiger; – auch mir war es, als ob in der Entfernung von etwa zwanzig Schritt eine Gestalt uns eilig folgte, schnell lenkte ich um die nächste Ecke, – eine uns entgegenkommende leere Kutsche wurde hastig von mir beansprucht, – wir stiegen ein, – der Wagen wendete um, da bog in wildem Lauf gleichfalls eine Gestalt um die Ecke, – die Pferde zogen an, – ein Schuß krachte hinter uns, und wie rasend stürmten die scheugewordenen Pferde mit uns von dannen.
Nach zehn Minuten langten wir an und stiegen aus. Noch war Licht im Hause; sie pochte an’s Fenster. „Wer ist da?“ fragte eine Stimme von innen. „Ich bin es, Euere Mercedes! Schnell, schnell, macht auf!“
Ein Negermädchen mit einer flackernden Kerze in der Hand öffnete.
Mit innigem Blick schaute Mercedes mich an und lispelte: „Gott lohn’ es Ihnen.“ Sie reichte mir die schmale kleine Hand und – die Thür schloß sich.
Auf der Schwelle schimmerte eine blutrothe Busenschleife. Ich hatte sie bei ihr gesehen, darum hob ich sie auf und steckte sie sorgfältig in die Brusttasche meines Rockes. „Adios, Du reizende, unglückliche Mercedes!“
Zu aufgeregt, um mich nach Hause zu begeben, lenkte ich meine Schritte hinab zur Landungsbrücke, die auf hohen Pfeilern weit in den Hafen hineinragt. Die dunklen Umrisse der Stadt verschwammen beim Dämmerlicht des Mondes in ferne, traumhaft graue Nebel.
Es schlug Eins! Die La-Platawellen rauschten stärker und warfen mondbeglänzte Schaumrosen an das Ufer und im Norden verschwand eine leuchtende Sternschnuppe in den tiefen Nebeln.
Der Carneval war vorüber. Ein blauer, sonniger, festmüder Aschermittwoch blickte durch die offenen Thüren und Fenster meiner Wohnung.
Da trat vom Markte heimkehrend, einen runden Korb mit Gemüse auf dem Kopfe, die junge, schlanke Mulattin Incarnacion in den Hofraum. Ohne den gefüllten Korb abzusetzen, beide Arme auf die Hüften gestemmt, erzählte sie heftig aufgeregt und mit Ausrufungen des tiefsten Mitgefühls, vor einer Stunde sei ein junges, schönes Weib von ihrem eifersüchtigen Manne in der Calle de las Piedras meuchlings erstochen worden, gerade als sie aus dem Hause ihrer Eltern nach dem Kloster San Juan zur Messe gehen wollte. O Mercedes, Mercedes!
Buenos-Ayres, im August 1868. Ferdinand Böhm.
Die Fabrication des Schrots in England. Wie eine Flintenkugel
gegossen wird, weiß ein Jeder, auch ohne daß er dem Caspar in
der Wolfsschlucht dabei zusah, die Fabrication des Schrotes aber, welches ähnlich wie die Kugeln früher in kleinen, viele Löcher enthaltenden
Formen gegossen wurde, dürfte, wie sie heute betrieben wird, weniger
bekannt sein, deshalb will ich es unternehmen, das, was ich darüber in
England sah und hörte, in gedrängter Kürze mitzutheilen.
Die Geschichte der Erfindungen, in welcher neben dem Bedürfniß nach Besserung einer Hantirung der Zufall oft eine so hervorragende Rolle spielt, erzählt uns, daß vor ungefähr fünfzig Jahren ein Bleigießer in Bristol, Namens Watts, durch einen Traum, in dem er einen Bleiregen auf sich herabfallen sah, auf den Gedanken gekommen sei, geschmolzenes Blei von der Höhe des Kirchthurms seiner Vaterstadt herab in ein unten hingestelltes Gefäß mit kaltem Wasser zu gießen, um auf diese Weise die kleinen Kügelchen herzustellen, deren Anfertigung seither so viel Zeitaufwand und Mühe kostete. Der Versuch gelang ihm vollkommen und er verkaufte seine Erfindung für eine nicht unbedeutende Summe.
In ähnlicher Weise, wie Watts vor einem halben Jahrhundert Schrot goß, wird dasselbe nun heute noch fabricirt, nur ist im Laufe der Jahre das dabei eingehaltene Verfahren wesentlich verbessert.
Die Thürme, von denen herab das geschmolzene Metall mittels Röhren in die darunter angebrachten Bassins fällt, haben eine Höhe von zweihundert Fuß. Mittels einer schmalen eisernen Wendeltreppe, welche ihr Licht von oben erhält, besteigen wir einen derselben und betreten den runden, staubigen Arbeitsraum, in dem sich, umgeben von unzähligen Mulden Blei, vor einem großen Schmelztiegel ein einziger Mann befindet. In der Mitte dieses Raumes sehen wir eine offene Fallthür und über unseren Köpfen gerade oberhalb derselben eine zweite, denn wir sind erst in dem ersten Schmelzzimmer angekommen, von welchem aus nur die feineren Nummern Schrot, zu deren Bildung ein geringerer Fall nothwendig ist, als zu den größeren, hergestellt werden. Die nichts weniger als einen freundlichen Anblick gewährenden Wandungen dieses Raums sind mit einer schmutzig grünen Decke überzogen, deren Entstehung uns sofort klar wird, wenn wir aus dem Schmelztiegel die erstickenden gelblichgrünen Dämpfe aufsteigen sehen, welche theils durch den im Bleie enthaltenen Schwefel, theils aber auch durch den der Masse zugesetzten Arsenik entstehen; letzterer Zusatz ist nothwendig, um sowohl das Metall zu härten, als auch dessen vollständigere Rundung zu bewirken. Diese giftigen Dünste üben einen sehr nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit Derer, welche sie einzuathmen gezwungen sind, und stellen somit die Schrotfabrication in die Reihe derjenigen industriellen Unternehmungen, welche nur auf Kosten menschlichen Wohlergehens bestehen. Ueber der Fallthür steht, von einem eisernen Rahmen getragen, ein zwölf Zoll im Durchmesser haltendes Sieb. Der Boden desselben ist mit Löchern versehen, welche der Größe des zu gießenden Schrots entsprechen und in den in Anwendung kommenden verschiedenen Sieben von 1/50 Zoll Durchmesser bis zu 1/360 Zoll variiren. Die Dimensionen der Löcher sind wesentlich schmaler als das entsprechend fabricirte Schrotkorn, für welches sie bestimmt sind, indem das flüssige Blei in feinen Fäden durch dieselben fließt und sich erst während des Herabfallens zu Kügelchen bildet.
Ehe der Gießer das flüssige Metall vermittels eines eisernen Schöpflöffels in das Sieb zu füllen beginnt, bedeckt er den Boden desselben mit einer ziemlich dicken Lage der Schlacken oder des Bleioxyds von der Oberfläche der Schmelzpfanne, und erst nachdem er sich durch eine Probe überzeugt, daß er eine genügende Masse dieses Stoffes hineingelegt hat, um einen gleichmäßigen Abfluß zu bewerkstelligen, beginnt er seine Operation, die schnell und ohne Aufhören fortgesetzt wird, bis die Pfanne geleert ist. Zischend hören wir dann die sich formenden Körner in das Wasserbassin fallen, welche hell und blitzend wie Silber von einem oder mehreren anderen Arbeitern herausgeschöpft und in das Trockenzimmer geschafft werden, woselbst sie auf durch Dampf erhitzten eisernen Platten schnell die anhaftende Feuchtigkeit absorbiren, doch auch den bisherigen Glanz sofort verlieren.
Daß nicht auch manche unvollkommene Körner bei dieser Fabricationsmethode vorkommen, bedarf wohl kaum der Erwähnung; diese werden dann nach vollendetem Trockenproceß auf eine ebenso einfache wie sinnreiche Weise von den vollkommenen getrennt, indem man sämmtliches Schrot mit einer besonders geformten Schaufel auf eine schiefe Ebene wirft und herablaufen läßt, wo dann die nicht ganz runden Körner nach verschiedenen Zickzackbewegungen auf derselben liegen bleiben und demnächst noch einmal in die Schmelzpfanne wandern.
Nach diesem Proceß folgt der des Sortirens, welcher mit Hülfe einer Maschine geschieht, die einer Kornreinigungsmaschine nicht unähnlich ist und die Körner mittels durchlöcherter Cylinder, je nach deren Größe, kunstgerecht in ein besonderes Fach wirft.
Der letzte Gang, den die Schrotkörner vor ihrer Verpackung für den Markt zu machen haben – die in Säckchen von achtundzwanzig Pfund englisch von Frauenhänden geschieht – ist in die Polirmühle, welche gleichzeitig mehrere hundert Centner derselben, die mit einer bestimmten Quantität gepulvertem Reißblei gemischt und in große, von Dampfkraft in Bewegung gesetzte Cylinder gebracht werden, durch die schnelle rotirende Bewegung, welche sie erhalten, vollkommen abschleift und ihnen das tiefschwarze Aussehen giebt, welches wir an denselben kennen.
Der Jäger von Fach unterscheidet zwölf Sorten von Schrot, deren
Nummern durch die Größe bestimmt werden. Die Körner der größten
derselben, Schwanenschrot oder auch Rehposten genannt, haben ungefähr
den Umfang gewöhnlicher Erbsen, während die kleinsten, Nummer 12,
Vogeldunst genannt, einem Stecknadelkopf gleichkommen. Einige wenige
Fabriken machen eine noch kleinere Sorte, deren Körner nicht größer sind,
als die des gewöhnlichen Schießpulvers, und besonders in England von Naturalisten und Sammlern zum Schießen von Schmetterlingen und kleinen
tropischen Vögeln, welche durch das gewöhnliche Schrot zu sehr zerfetzt
werden würden, sehr geschätzt sind. F. v. Wickede.
Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der russische Carneval. Mit Abbildung. – Könige von Gottes Gnaden. Eine Rothweinskizze von Paul Wendt. (Schluß.) – Wunderliche Heilige. 4. Joseph Smith und die Goldene Bibel. – Fremde Hand im Vaterland? Eine Antwort dem Rittergutsbesitzer Herrn v. M. im Hannöverschen. Mit Illustration. – Polytechnikum der Gartenlaube. Nr. 1. – Blätter und Blüthen: Die Carnevalstage in Buenos-Ayres. Von Ferdinand Böhm. – Die Fabrication des Schrots in England. Von F. v. Wickede.