Die Gartenlaube (1858)/Heft 48
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No. 48. | 1858. |
(Schluß.)
Das wollte nun freilich Magdalene nicht zugeben und es gab darüber manchen Hoppas in der Försterei. Derweil lernte die Josephe Nähen, Waschen, Bügeln und Schneideriren, daß es ein Spaß war, und die Magdalene dachte: „Kömmt Zeit, kömmt Rath.“
Die Zeit kam und der Rath auch; nämlich das Frühjahr, was die Herrschaft nach Waldenberg brachte. Der Frau von Walden gefiel die Josephe, wie noch keine, seit sie die Magdalene gehabt hatte, und ehe der Vater Arnold nur so recht zur Besinnung kam, daß ja eigentlich aus seiner Josephe keine Kammerjungfer hatte werden sollen, war sie’s schon, und noch dazu eine perfecte.
Das Freilen Marie kriegte gleich eine ordentliche Liebe zu ihr und die Mutter Magdalene erzählte es allen Leuten, die’s hören wollten, es wär’ ihr, als sei sie wieder jung geworden; denn mit ihrer Josephe ging’s justement so, wie’s ihr in ihrer Jugend gegangen wäre.
Es war doch nicht Alles justement so, wie bei ihr, aber das konnte sie freilich nicht wissen; denn erstens wurde die Josephe im ganzen Schlosse „Mamsell Sephe“ und vom Baron Max und vom Jäger Ulrich gar „Freilen Sephe“ geheißen, und zweitens war’s auch darin ganz anders, daß der Jäger Arnold und der Jäger Ulrich wie Tag und Nacht von einander verschieden waren.
Der Jäger Ulrich hatte, er sagte es selber, einen wahren Narren an der Freilen Sephe gefressen, aber er war ihr in den Tod hinein zuwider. Es war ihr auch nicht zu verdenken, denn wenn man den Ulrich und den Baron Max nebeneinander sah, so hätte man müssen blind sein, wenn man den Jäger noch hätte angucken mögen.
Die Frau von Walden meinte, die Josephe wäre für eine Kammerjungfer beinahe zu fein, aber der Baron Max und das Freilen Marie waren anderer Meinung und konnten sie über ihre feine Art nicht genug loben. Wie das Jahr darauf die Herrschaft wieder von der Stadt nach Waldenberg kam, konnten sich die Leute nicht genug verwundern, was die Mamsell Sephe für einen Staat mitbrachte; sie trug sich schier wie das Freilen, und that auch gewaltig fürnehm. Die Frau von Walden war aber damit nicht zufrieden, und sie kam auch nimmer nach Gleichenberg, – Der Magdalene war das Herz gewaltig schwer, daß die Herrschaft schon über drei Monate in Waldenberg und die gnädige Frau noch mit keinem Schritte bei ihr gewesen war.
Dafür kam einmal der Herr von Walden angeritten und der Arnold kannte sich schier nicht vor Freuden, wie der Brandfuchs vor seiner Thür hielt. Aber gleich an der Thür merkte er’s, daß kein gut Wetter war. Der Herr von Walden gab ihm wohl auch die Hand und drückte sie ihm, wie sonst, aber es kam ihm vor, als guckte er bei Seite, als er ihn grüßte. Er brauchte nicht lange zu warten, bis er wußte, wo’s hing; denn der Herr von Walden war keiner, der viel Federlesens machte. Das war eine schlimme Stunde für die Försters. Der Herr von Walden sagte ihnen, der Jäger Ulrich wollte ihre Josephe nehmen; sie möchte ihn zwar nicht, aber um der Ehre willen wär’s doch gut, denn im Schlosse könnte sie nicht bleiben.
Darauf sagte der Arnold:
„Ich weiß, daß der Ulrich ein Halunke ist, aber die Josephe nimmt ihn.“
Dem Herrn von Walden ging’s bald so nah, wie den Försters, denn er hielt große Stücke auf den Arnold, und wie er wieder auf seinen Brandfuchs stieg, den der Förster ihm hielt, sah Einer so bleich aus, wie der Andere. Wie er aber droben saß, reichte er dem Arnold noch einmal die Hand und sagte mit einem tiefen Seufzer:
„Ja, Arnold, so geht’s! Kleine Kinder, kleine Sorgen; große Kinder, große Sorgen,“
Der Arnold wußt’s.
Nach acht Tagen kam die Sephe; die Leute sagten, auf Zuspruch zu ihren Eltern, und es wollte es kein Mensch glauben, wie sie am Sonntag ein für alle Mal mit dem Jäger Ulrich aufgeboten wurde.
Am Dienstag war die Trauung. Der Arnold ging herum, wie wenn er von Stein wäre, und sein Kopf wurde alle Tage weißer; die Magdalene traute sich nicht, ihn anzusehen, sah überhaupt schier nichts, denn ihre Augen waren ihr wie zugeschwollen, und die Sephe hatte vom Vater noch kein Wort und keinen Blick bekommen. Nur wenn der Arnold allein mit der Magdalene war, schlug er sich manchmal mit der Faust an die Stirn und sagte:
„Ich wollt’ ja Alles tragen, wenn nur der Ulrich kein Hallunke wär’.“
Der Arnold war selbst eine kreuzbrave Seele, drum sah er’s den Augenblick, wenn Einer es nicht war; und er hatte es recht gesehen; der Ulrich war ein Hallunke; aber dem Arnold war’s beschieden, daß er’s nicht lange mit ansehen sollte. Anfang Winters ließ die Sephe ein Töchterchen taufen, das hieß Marie. Der Ulrich war noch Jäger beim Herrn von Walden und mit nach der Stadt gezogen, die Sephe aber bei den Eltern geblieben. Der Arnold [682] hob das Kind aus der Taufe, aber schon in der Kirche konnte man’s merken, daß er sich immer veränderte, und wie er daheim in die Stube trat, fiel er der Länge lang hin und war todt.
Die Leute sagten, den habe der liebe Herr Gott zur guten Stunde abgerufen. Unser Herr Gott thut Alles zur guten Stunde; aber freilich, die Magdalene und die Sephe, die wußten nicht viel von guten Stunden mehr. Die Försterin hätte können in der Wohnung bleiben, bis der neue Förster einzog, weil aber der neue Förster ihr Eidam war, so blieb sie ganz drin. Sie zog nur in die obere Stube und da that sie ihr Möglichstes, um der Sephe beizustehen. Die hatte es schwer, denn dem Ulrich war nicht viel darum zu thun gewesen, schon aus dem Herrenbrode zu kommen, und wenn er auch eine schöne Stelle und noch ein Extra-Jahrgeld bekam, so konnte sie ihn doch nicht halten, wie er’s im Schloß gewöhnt war. Da ging er früh und Abends in’s Wirthshaus und der Wirth hielt Wein nur für den „Herrn Förster“. Wie hurtig da aus den Kreuzern Gulden werden und ihrer Wege gehen, das weiß Jeder.
Die Magdalene und die Sephe guckten ängstlich dazu und das nahm der Ulrich übel. Es gab keine gute Stunde mehr in der Försterei.
Zwei Jahre, nachdem die Marie auf die Welt gekommen war, kriegte die Sephe den kleinen Karl; sie nahm aber einen Treff aus dem Kindbett mit; die Sorge that auch das Ihrige, denn der Ulrich kam bald nimmer aus dem Wirthshause und im Hause ging’s immer knapper zu. Sie schlich herum, wie ein Gespenst, und endlich sagten die Leute auch von ihr, daß unser Herr Gott ihr eine gute Stunde geschickt habe. Die Magdalene dachte, das Herz müßte ihr brechen, wie sie an der Leiche von ihrem einzigen Kinde stand, aber sie dankte doch dem lieben Gott, daß ihr Kind die Last vom Leben hinter sich hatte; so was kann nur eine Mutter.
Ein Jahr lang mußte die Magdalene noch viel von dem Ulrich leiden; da wurde er ihr eines Abends in’s Haus gebracht; die Leute sagten, es hätte ihn ein Wilddieb erschossen, es gab ihrer auch, die sagten, er hätte es selbst gethan.
Sie wollte, wie der neue Förster kam, nimmer in Gleicheberg sein, und zog mit den beiden Kindern nach Weißbach, wo sie her war; das lag doch seine drei Stunden weit von Gleichenberg und Waldenberg, wo die Leute sie im Glück gekannt hatten.
In Weißbach wußte keins mehr viel von ihr. Es braucht wenig Jahre, so ist ein menschlich Andenken verweht, wie der Wind. Die ersten Jahre bekam sie regelmäßig Geld geschickt, denn der Herr und die Frau von Walden lebten noch; auch wie die kurz nach einander gestorben waren, kam, vom Baron Max durch den Rentverwalter geschickt, das Jahrgeld. Die Magdalene war fleißig, da ging’s ihnen gut; freilich dadrauf konnte sie nicht mehr so halten, wie sonst, daß Alles blank war und nach was aussah, denn das braucht Zeit, und bei der Marie war keine Rede von weißen Strümpfen und Fürtüchern, sie trug aber keine Kappe; das that sie, weil’s billiger ist, im bloßen Kopfe zu gehen, und es fingen auch schon mehrere Mädchen an, die Kappe fortzulassen. Die beiden Kinder gingen in die Schule und die Nachbarn meinten, es ginge ihnen nichts ab.
Da kam ein Jahr um’s andere weniger Geld und endlich blieb’s ganz aus. Die Magdalene hatte aber ’was gespart und arbeitete noch besser; die Marie kam aus der Schule und griff mit zu, da ging’s denn noch ein paar Jahr lang; das bischen Gespartes ging freilich drauf. Auf einmal kriegte das „Fröle“[1] die Gicht und das nahm so überhand, daß sie bald gar nichts mehr thun konnte. – Sie hatte noch ein paar „gute Stück“ aus der „guten Zeit“, die gingen eins nach dem andern fort, und bald sah’s erbärmlich genug bei der Magdalene aus, aber reinlich immer. Der Hauptverdienst von der Marie war, daß sie die Wäsche hatte, wenn Gäste im Schlosse waren; sie bügelte und besserte aus und scheute sich überhaupt keiner Arbeit. Es gehörte ordentlich zu ihrem Leben, daß sie nur recht zugreifen konnte; es war, wie wenn ihre Hände es selber wüßten, was auf sie ankäme, und das Mädchen war nie glücklicher, als wenn sie vor Arbeit nicht wußte, wohin. Vom Fröle und von der Mutter war’s ihr geblieben, daß sie gern hatte, wenn Alles nach was aussah, aber es fiel ihr nicht ein, daß es nach mehr aussehen sollte, als es bei armen Leuten recht war. Sie selber wußte nicht, daß sie nach was Rechtem aussah, mit sammt ihren blauen Strümpfen. Der Karl war bei einem Schreiner in der Lehre, aber das war ihm arg, denn er wollte partout Jäger werden; das ging freilich nicht, denn der Schreiner that’s ohne Lehrgeld, und woher’s nehmen zum Jäger?
Die Kinder hatten’s nicht leicht bei ihrem Fröle, denn die Magdalene war nimmer, wie sonst. Der Mangel und die Leiden hatten sie schrecklich verbittert und besonders hatte sie jetzt gerade so einen Haß auf die „Fürnehmen“, wie sie sonst einen Narren an ihnen gefressen hatte. Alles, was sonst die Ursache zum größten Lobe war, gab jetzt den Grund zum bittersten Tadel, und sie machte sich ein Geschäft daraus, den Kindern einen Haß gegen sie beizubringen. Beim Karl war es ihr nicht schwer geworden; der wäre jeden Augenblick bei der Hand gewesen, das „schlechte Volk“ von der Erde zu vertilgen und damit der Welt einen großen Dienst zu thun; die Welt und Marie glaubte auch Alles, was das Fröle sagte, denn sie hatte einen gewaltigen Respect vor ihr, aber sie dachte mehr daran, wo sie genug Arbeit herkriegte, als wie sie die fürnehmen Leute hassen sollte, von denen sie, freilich immer nur durch die Dienstboten, doch den Hauptverdienst hatte.
Jetzt nun, gerade an dem Donnerstage, wo die Marie mit dem Karl in’s Holz gegangen war, ging’s der alten Magdalene oft so erbärmlich, daß der Doctor aus dem Flecken Siebenkreuz schon öfter hatte einsprechen müssen. In der Apotheke stand eine Rechnung, im Schlosse hatten sie schon lange keine Arbeit gefunden und die Herbsttage waren schon recht kühl; es mußte warm in der Stube sein und von einem Holztage zum andern ging das Holz rein auf. Heute hatten sie den letzten Stecken in den Ofen gethan, wie sie fortgingen, und wie sie ihr Mittagsbrod verzehrt hatten, trieb die Marie den Karl an, er sollte die große Welle an den Haken nehmen und heimschleifen, sie wolle noch die Kütze[2] voll Stückchen und Tannenzapfen lesen und dann auch kommen.
Der Karl that’s und die Marie las und las, bis ihre Kütze voll war; dann band sie ihre Schürze ab, breitete sie auf den Boden und las wieder, bis sie auch voll war. Nun konnte sie aber vor Kreuzschmerzen sich schier nimmer bücken und sie setzte sich unter eine große Buche, um noch eine Viertelstunde auszuruhen, ehe sie heimging.
Sie hatte die Schürze mit dem gelesenen Holze zugebunden und das Bündel lag neben ihr, es dauerte aber nicht eine Minute, so lag der Kopf drauf; auf die Augen fiel’s wie Blei und sie schlief fest; sie mußte erschrecklich müde gewesen sein.
Mit einem Male fuhr sie auf; sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen, und dachte, sie wäre gerade erst „eingedusselt“, und wenn nicht etwas in ihrer Nähe geknuspert und im Laub gerasselt hätte, wäre sie wohl noch lange nicht aufgewacht. Sie traute ihren Augen nicht, denn nicht weiter als fünfzig Schritt von ihr stand ein prächtiger Rehbock.
Er schaute mit seinen klugen Augen nach allen Seiten, als wollte er seiner Sache erst recht sicher sein, dann bückte sich das zierliche Köpfchen und die Zunge leckte am Boden. Die Marie merkte erst, daß sie im Suchen bis an das Rehholz gerathen war.
Sie saß da und traute sich nicht zu athmen, in der Angst, das schöne Thier könnte fortlaufen; da hörte sie über sich in den Zweigen ein leises knacken, das Thier fuhr in die Höhe, aber im nächsten Augenblick blitzte und krachte es. Das Thier that noch einen einzigen Sprung zur Flucht und im andern Augenblicke lag’s zuckend am Boden. Das Blei hatte gut getroffen.
Die Marie dachte im Schreck, sie müßte selbst getroffen sein, und stieß, wie der Schuß knallte, einen gellen Schrei aus; sie konnte nicht von der Stelle, aber ihre Augen richteten sich in die Zweige hinauf und sahen ein paar Füße, dann einen grauen Rock, dann ein paar Arme, dann ein Gewehr und zuletzt zeigte sich ein braun gebranntes Gesicht mit einem schwarzen Barte. Der Mann, zu dem dies Alles gehörte, stieg auf lauter abgeschnittenen Aesten und, wo sie fehlten, auf eingekeilten Holzstücken am Baume herunter und stand im nächsten Augenblicke neben ihr, eben so erschreckt, wie sie, denn der Schrei der menschlichen Stimme gleich nach dem Schusse hatte ihm den Waidmannsspaß auch versalzen.
War die Marie nach dem Schusse erschrocken genug, so verging’s ihr nicht, wie der Jäger auf sie zu sprang. Er sah aber gleich, daß er den richtigen Bock geschossen hatte und das Mädchen nur vom Schreck so bleich und zitterig unter dem Baume saß.
Der Schwarzbärtige dankte Gott, daß es nur ein Schreckschuß gewesen war. Er riß hurtig seinen Büchsenranzen herunter und [683] brachte daraus eine Flasche hervor, die er ihr an den Mund hielt. Sie schüttelte sich, denn sie dachte, es wäre Schnaps, und davor hatte sie einen Ekel, wohl, weil sie sich noch dunkel erinnerte, was der in ihrer Kindheit für Unglück angerichtet hatte. Aber der Jäger sagte:
„Es ist ja Wein, trink’ nur einen Schluck.“
Die Marie war erst auch vor dem Jäger erschrocken gewesen, denn Mancher, der sonst ganz reputirlich in der Welt herumgeht, sieht aus, wie ein Menschenfresser, wenn er in seiner Jagdhaut steckt, und bildet sich dabei, das ist das Allerschönste, noch Wunders ein, wie was Rares er aussah’. Der den Bock neben der Marie geschossen hatte, sah auf den ersten Blick auch nicht zu schön aus, wie er aber mit der Flasche neben ihr kniete und mit freundlicher Stimme und noch freundlichern Augen sagte: „Trink nur einen Schluck,“ da war es ihr, als dürfte sie’s ihm gar nicht abschlagen und als wäre das ein ganz Anderer, als der ihr im ersten Augenblicke den Schreck einjagte. Sie trank einen Schluck und fühlte auch auf der Stelle, daß sie wieder Leben in sich hatte. Sie sagte, indem sie tief aufathmete:
„Jetzt ist mir’s gleich besser.“
Der Jäger mußte laut lachen; das passirt einem am ersten, wenn man sich von was erholen will, was gerade nicht zum Lachen war; und bei der Marie fing’s auch an, im Munde zu zucken. Wenn man erst eine Metze Salz zusammen gegessen hat, kann man bekannt sein, aber manchmal wird man’s auch schon, wenn man nur einmal zusammengelacht hat, und so ging’s hier auch. Der Jäger wußte bald, wer die Marie war, und er hatte ihr erzählt, daß er mit dem Herrn von Walden auf Zuspruch im Schlosse sei. Die Marie sah ihn dabei wie scheu an und sagte:
„Da seid Ihr wohl der Jäger?“
„Ja, ich bin der Jäger.“
„Drum.“
Er lachte wieder laut aus und wollte wissen, warum sie „Drum“ sagte. Sie meinte, weil sie gleich gesehen hätte, daß er kein Fürnehmer wäre, denn sonst hätte er gewiß eher nach seinem Bocke, wie nach ihr gesehen.
Man konnt’s merken, daß er sich das nicht von ihr erwartet hatte; er sah sie eine Weile ganz ernstlich an, dann sagte er:
„Es ist auch wahr, ich hab’ meinen Rehbock ganz vergessen.“
Dabei stand er auf und ging nach dem Flecke hin, wo das todte Thier lag. Der Marie war’s, als hätte sie was Unrechtes gethan und als müßte sie sagen, er sollte ihr’s nicht verübeln, aber sie hatte nicht den Muth dazu. Sie blieb sitzen und legte die zwei Hände in den Schooß, derweil sie zusah, wie der Jäger den Bock sich über die Achsel warf, um fortzugehen. Wie er sich nach ihr umdrehte, sagte er:
„Bleibst Du denn noch immer sitzen?“
Da fiel’s ihr ein, daß sie doch nun auch heim müßte, und sie sagte:
„Mich deucht, es muß spät sein.“
Er sah sich nach der Sonne um und sagte:
„Es wird wohl bald um sechs sein.“
Dunkelroth im Gesicht sprang sie aus, raffte ihr Bündel in die Höhe und rannte, was sie konnte, ein Stück in den Wald hinein, wo sie ihre Kütze hatte stehen lassen. Der Jäger dachte, sie müßte wiederkommen, aber ein paar Minuten darauf sah er sie drüben im Felde auf einem andern Pfad dem Dorfe zu laufen, als wenn es hinter ihr brennte. Wie sie an das Dorf kam, begegnete sie dem Karl. Er sollte ihr entgegengehen; das Fröle hatte Sorge, es wär’ ihr was „gepassirt“, weil alle die anderen Leute schon um drei Uhr aus dem Holze heim waren und sie allein nicht. Die Marie hatte ja selber nicht gewußt, daß sie an die vier Stunden geschlafen hatte. Sie erzählte dem Karl und dem Fröle, wie’s ihr gegangen war; da hörte die Magdalene, daß der Herr von Walden in Weißbach wäre. Es gereute die Marie schier, daß sie’s erzählt hatte; sie wußte, daß das Fröle auf den Baron Max schlecht zu sprechen war, und es war ihr gar nicht eingefallen, daß das ja der jetzige Herr von Walden wäre. Das Fröle kriegte ihren Stickhusten und hinterher war das Reißen in den kranken Gliedern schier nicht zum Aushalten. Sie legte sich nach der Wand zu und wollte schlafen; die Marie mußte ihr Licht machen und setzte sich an’s Spinnrad. Der Karl ging zu seinem Meister, dort schlief er.
Der Marie war’s ordentlich eine Wohlthat, daß Alles’ still wurde und sie mit ihrem Spinnrade allein war; sie hatte was auf dem Herzen, was sie drückte, und konnte an nichts Anderes denken; da hilft nichts so tragen, als wenn’s still um einen wird. Der Jäger war erst so gut mit ihr gewesen und zuletzt, von da an, wo sie sagte „Drum“, hatte er sie mit seinen schwarzen Augen angesehen, als wenn er sie in sie hineinbohren wollte. Und nun war sie auch noch so einfältig fortgelaufen und hatte nicht einmal „Schön Dank“ gesagt. Der mußte sie doch für eine rechte Trampel halten; sie hätte wer weiß was darum gegeben, wenn er das nicht gedacht hätte. Sie konnte an nichts Anderes denken.
Da pochte es ganz leise an die Stubenthür, sie fuhr zusammen, daß sie um ein Haar das Rad umgeschmissen hätte. Sonst war sie ja ihr Lebtag nicht so schreckhaft gewesen, aber das mußte der Schuß machen. Sie hatte nicht das Herz, „Herein“ zu rufen, aber es pochte noch einmal und das Fröle rief:
„Wer ist da?“
Die Thür ging auf und ein großer bleicher Mann in einen Mantel gewickelt trat herein. Die Marie zitterte am ganzen Leibe, wie sie seinen Gruß mit „Schön Dank“ erwiderte. Sie sah gleich, daß sie ihn nicht kannte, aber die Stimme von dem Manne war auf sie zutrat. Sie sah, daß seine Augen schimmerten, wie wenn Wasser drin stände. Er sagte:
„Ist die Frau Arnold daheim?“
Da bog sich die Gestalt der Frau Magdalene auf ihrem Lager weit vor und sie rief noch einmal, aber mit so lauter Stimme, daß die Marie davor zusammenfuhr:
„Wer ist da?“
Der fremde Mann nahm seinen Hut ab, ließ den Mantel herunterfallen und wendete sich gegen das Lager der Alten.
„Kennt Ihr mich noch, Frau Magdalene? Es sind viele Jahre vergangen und mein Haar sieht wohl bald nicht mehr schwärzer aus, wie Eures.“
Aber der Husten wurde immer ärger und die Alte zog ihre Hand barsch weg. Die Marie sprang zu, um ihr das Kissen höher zu rücken und sie hinauszuheben. Wie’s ihr sauer wurde, denn das Fröle hatte seine Last, bog sich der Fremde über sie weg, um ihr zu helfen, und drückte sie so fest an sich, daß sie dabei an was denken mußte, was weit hinaus ihr im Sinne lag und wovon sie manchmal träumte. Allemal aber, wenn sie daran dachte, spannte sich’s wie ein eisernes Band um ihre Brust und das Wasser mußte ihr aus den Augen schießen.
Sie sah sich, sie mußte noch recht klein gewesen sein, im Schooße von einer bleichen Frau, die sie fest an sich drückte und mit Küssen zudeckte, derweil die Thränen ihr über’s Gesicht liefen. Sie wußte es noch ganz genau, daß ihre Aermchen nicht ganz um den Hals herumreichten, daß sie sie aber auch wieder und immer wieder küßte, bis sie ihr im Arme einschlief, und noch heute, wenn sie daran denken mußte, wollte sie alle Mal die Arme ausstrecken, und es ging leise, sie wußte es wohl selber nicht, aus ihrem Munde:
„Mein Mutterle.“
Das Fröle war auch gut mit ihr gewesen und hatte ihr manchmal schön gethan, aber sie hatte dabei nicht an’s Mutterle denken müssen. Wie der Fremde sie an sich drückte, ging’s ihr leise über die Lippen:
„Mein Mutterle.“
Er wandte sich plötzlich und sagte:
„Morgen komme ich wieder, Frau Magdalene,“ und ehe die Marie wußte, wie ihr geschehen, hatte er Hut und Mantel umgenommen und war zur Thür hinaus; die Alte hustete gewiß noch eine Stunde lang, bis sie so hin war, daß sie in die Kissen fiel und entschlief. Die Marie ging in die Kammer daneben und legte sich auch, aber sie mußte immer an den fremden großen Mann mit grauen Haaren denken, und wie sie endlich einschlief, träumte sie von „ihrem Mutterle“. Der Jäger und daß er sie für „eine rechte Trampel“ halten könnte, war ihr nimmer eingefallen.
Früh, wie sie zum Fröle kam, wunderte sie sich, daß sie freundlicher war, wie sonst, und ihr nachguckte, wohin sie auch ging, aber keins sagte was von dem fremden Manne und dem Karl wurde auch nichts gesagt. So ging der Tag hin und wie es dunkel war, [684] um die Stunde wie gestern, brannte die Lampe und die Marie saß am Spinnrad, da pochte es wieder an der Thür und der Mann kam auch wieder. Die Magdalene hatte schon einen Stuhl an ihr Bette rücken lassen und er setzte sich hin. Sie hustete nicht und gleich fingen sie mit Sprechen an.
Er hatte sich in der Stube umgesehen und fragte, ob es ihr denn knapp ginge. Da konnte sie erst weiter nichts thun, als mit den zitternden Händen in der Stube herumzeigen. Der Baron Max, denn der war’s, konnte nicht begreifen, warum sie ihn dabei ansah, als wenn er Schuld dran wäre, und sagte:
„Hab’ ich Euch nicht genug geschickt?“
Und wie sie sagte, daß sie nun schon seit vier Jahren keinen rothen Heller und vorher auch nur ein Weniges bekommen habe, fuhr er von seinem Stuhle auf, als wenn ihn ein Schlag getroffen hätte, und es ging wie ein Gestöhne aus seiner Brust. Die Magdalene sah gleich, daß er unschuldig an ihrem Elende war, und wie er ihr nun sagte, daß er ihr jedes Jahr zur bestimmten Zeit das Geld durch seinen Rentmeister geschickt habe, da wachte mit einem Male die alte Liebe zu ihm und den Seinigen in ihr wieder auf; sie griff nach seiner Hand und weinte bitterlich. Es war kein Zweifel, daß der Rentmeister das Geld mit noch vielem anderen unterschlagen hatte. Seit drei Monaten war er nicht mehr im Dienst. Wie die Magdalene zu Worte kommen konnte, erzählte sie ihm Alles, was sie betroffen, und wie die Noth gerade jetzt am größten gewesen und daß sie manchmal gedacht, unser Herr Gott habe sie ganz vergessen. Aber der Baron Max erzählte ihr auch, wie es ihm ergangen sei. Er hatte Weib und Kind gehabt und sie verloren, seine Schwester Marie war auch gestorben und nun er alt würde, wäre er kränklich und stehe allein in der Welt. Da habe er den Sohn von einem Vetter, der seinen Namen trüge, an Kindesstatt angenommen. Aber im Haus sei Niemand, der ihm die Wirthschaft führe und ein Herz für ihn habe, drum habe er sich ausgedacht, die Frau Arnold solle mit den beiden Kindern zu ihm ziehen. Sie sollte dort ihre gute Pflege und Alles haben, was sie brauchte, und die Marie wie das Kind vom Hause gehalten sein.
Die Magdalene traute nicht ihren Ohren, sie konnte auch nichts sagen, aber sie nahm seine Hand und weinte bitterlich, Endlich rief sie die Marie, nahm ihre Hand und legte sie auf die des Barons; aber das war ihm nicht genug. Er nahm sie in den Arm und küßte sie, wie nur ein Vater sein Kind küßt. Ihr kam’s vor, als träumte sie, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals und sagte:
„Mein Mutterle.“
Im Dorfe war ein paar Tage lang ein großes Gerede, wie’s hieß, die alte Arnolden zög’ wieder nach Waldenberg, aber die Leute sagten, es wär’ nicht mehr als billig, daß der Herr von Walden für sie sorgte. Der Karl, wie er’s hörte, wollt’ es partout nicht leiden, aber der Herr von Walden hatte versprochen, er sollte Jäger werden, und nun war ihm Alles recht. Wer immer die rechten Fliegen trifft, der kann alle Fische an seine Angel kriegen.
Nach acht Tagen kam ein Wagen von Waldenberg, der holte die Magdalene und die Kinder ab. Vorher hatten sie Alles bezahlt, was sie schuldig waren, und Jedes hatte einen neuen Anzug gekriegt. Wenn’s einem wo noch so schlecht gegangen ist, so wird’s einem doch sauer, wenn man auf einmal weg soll, und es ist ordentlich, als bände das Leid fester wie’s Glück. Drum, wie die Drei im Wagen saßen, weinten die Magdalene und die Marie bitterlich, und die Leute, die noch Abschied nahmen, auch. Dem Karl sah man nichts von Trauer an; er saß mit dem Kutscher auf dem Bocke und konnte es nicht erwarten, bis es fort ging.
In Waldenberg wurden sie von dem Herrn von Walden aufgenommen, wie wenn sie alle zu ihm gehörten; im obern Stockwerk waren ein paar Stuben für die Magdalene und die Marie eingerichtet, die waren so hell und sonnig, daß ihnen das Herz lachte, wie sie hinein zogen. Der Karl kam zum Förster nach Gleichenberg.
Die Marie fand auch noch einen ganzen Schrank und eine Kommode voll neuer Anzüge und schöner Wäsche, sie dachte, von allen den Kleidern wären nur ein Paar, die sie anziehen könnte; so fürnehm könnte sie sich nicht tragen. Aber das Fröle war an so was gewöhnt, und nach und nach kam da und dort ein besseres Stück vor, und wurde angezogen. Das Zulegen gewöhnt sich leicht, nur wenn’s rückwärts geht, wird’s schwer; drum ist’s bei allen Dingen gut, wenn man erst von unten anfängt. Die Marie hatte immer nach was ausgesehen, und jetzt sah sie schön aus; aber es fiel ihr gar nicht ein, daß sie drum Eins einmal mehr ansehen könnte; nur manchmal erwischte sie sich dabei, daß sie dachte, ob der Jäger sie wohl wieder erkennte, wenn er sie jetzt säh’; aber es war ihr immer traurig dabei zu Muthe, denn sie dacht’s nun ganz gewiß, sie säh’ ihn nicht wieder, denn in Waldenberg war er nicht, und dann wieder, es wär’ so am besten, weil er im Bösen von ihr gegangen war.
Sie hatte vielerlei zu thun, und da vergehen solche Gedanken am besten. Sie mußte den ganzen Haushalt führen, es ging aber Alles am Schnürte, denn das Fröle sagte ihr, was sie nicht wußte, und die Leute sagten, sie machte es „wie eine Alte.“
Der Herr von Walden konnte die Augen nicht von ihr lassen, und sie hatte ihn so lieb, wie wenn’s ihr Vater wäre. Wenn sie nicht beim Fröle war, mußte sie bei ihm sein, und die Leute sagten, er wäre nicht mehr zu erkennen, so vergnügt säh’ er aus; denn seit er Frau und Kind verloren hätte, wär’ kein Lachen mehr von ihm gehört worden. Aber elend sah er aus, und er war auch nicht gesund, nur die Marie könnt’ es ihm Alles recht machen, wenn er sich klagte; sie war so leise bei Allem, was sie that, daß er sie gar nimmer wollte von sich lassen. Dem Fröle ging nichts ab, denn sie konnte haben, was sie wollte, und der Doctor kam alle Tage zu ihr; da konnte die Marie beim Herrn von Walden bleiben.
Es war schon ein halbes Jahr, seit sie in Waldenberg waren, da wurde der Herr von Walden in der Nacht ernstlich krank. Der Doctor sagte, es wäre die fliegende Gicht, und der Kranke müßte recht in Acht genommen werden. Er hatte arge Schmerzen und die Marie wich Tag und Nacht nicht von seinem Lager. Die Leute sagten, das wäre dem Herrn sein guter Engel, und er selber, wenn sie sich über ihn hinbog und ihm den Trank reichte, denn er konnte selbst nichts thun, sagte es zu ihr, und zog ihre Stirn manchmal zu sich herunter, daß er sie darauf küssen konnte.
Nachts rückte sie einen großen Lehnstuhl neben sein Bett und wenn er schlief, schlief sie neben ihm; wenn er aber wachte, war sie auch da. Oft schlief er ein und hielt ihre Hand in der seinen; dann fiel ihr Kopf neben der Hand auf’s Bett und sie schlief ein. In einer Nacht war sie auch so neben ihm eingeschlafen, sein Athem war schwer. Der Arzt hatte zum alten Johann gesagt, er sollte manchmal nachsehen, und wenn sich etwas Bedenkliches zeigte, ihn rufen lassen. Um ein Uhr trat der Diener leise in die Thüre, um wieder nachzusehen; diesmal war er aber nicht allein; über seine Schultern hinweg bog sich das ernste Gesicht eines jungen Mannes. Es war braun gebrannt und dunkle Haare und Bart gaben ihm noch was viel Ernsteres. Der Johann drehte sich nach ihm um, und wies mit der Hand nach den Zweien. Er sah aber schon nichts Anderes mehr. Er holte sich leise einen Stuhl herbei, stellte ihn auch neben das Bett und sagte:
„So, Johann, nun schlafe Du, ich wache vollends.“
Der Alte ging, und er setzte sich. Seine Augen sahen von dem Kranken auf die Marie und von ihr auf den Kranken, und es kam kein Schlaf hinein. Da regte sich der Kranke und gleich war auch das Mädchen da – aber er schlief weiter, und nur die Marie blieb wach. Da nahm eine Hand die ihrige – und sie dachte, sie träumte, wie sie die Augen aufmachte und vor ihr der Jäger saß. Endlich, wie er sie immer ansah und dabei so freundlich nickte, kam es ihr doch vor, als wenn das nicht nur geträumt könnte sein. Sie sagte leise: „Seid Ihr’s denn, oder nicht, Herr Jäger?“
Fast hätte der Jäger wieder aufgelacht, aber er that’s nicht, denn der Kranke regte sich nun wirklich und schlug die Augen auf. Sein Blick fiel auf den Jäger und der stand gleich auf vor ihm. Es ging wie eine Veränderung in dem Kranken vor, seine zwei Hände streckten sich aus und er rief:
„Gottlob, daß Du da bist, mein Werner! Ich hätte nicht mögen aus der Welt gehen, wenn Du mir nicht die Augen zugedrückt hattest.“
Da ging’s wie ein Zittern durch den ganzen Körper von der Marie, sie war aufgestanden, wie der Jäger aufstand, aber sie setzte sich wieder, denn „der Werner“, das war ja der Neffe, der Sohn vom Herrn von Walden und dem mußte sie Platz machen. Nach einer kleinen Weile, die Beiden sprachen immer zusammen, aber sie hörte nichts, stand sie leise auf und schlich der Thüre zu;
[685] [686] es war ihr, wie wenn sie nichts mehr da zu thun hätte, aber sie war noch nicht bis an die Thür gekommen, da rief die Stimme des alten Herrn: „Marie, bleib da, mein Kind,“ und der Jäger war an ihrer Seite und zog sie zu dem Stuhle am Bette hin. Der Vater nahm ihre Hand, und legte sie in die des Sohnes und sagte: „Siehst Du, Marie, wenn ich fort muß, lasse ich Dich nicht allein.“
Sie wußte nicht, was sie sagen und auch nicht, wo sie hinsehen sollte, denn ihr schwindelte es. Sie fühlte nur, wie die Hand des Sohnes sich fest um die ihre schloß und seine tiefe Stimme neben ihr sagte:
„Du sollst nie allein sein, Marie.“
In der Thür aber stand der alte Johann, denn er hatte drinnen sprechen hören, und warnte, der Doctor habe es streng verboten, daß der Herr Baron sich nicht aufregen dürfe. Der Morgen brach auch schon hervor und der Kranke sagte, der alte Diener solle bei ihm bleiben, die Beiden, der Sohn und die Tochter, aber sollten schlafen gehen. Sie gingen, aber ob sie schliefen? Die alte Magdalene wunderte sich schier, wie sich die Marie früh anzog, denn sie brauchte nicht zuzureden, ungeheißen zog sie ein Sonntagskleid an, und es war doch nur ein purer blanker Werkeltag.
Von da an pflegte die Marie nicht mehr allein, der Sohn war neben ihr und in der Krankenstube waren drei glückliche Menschen. Der Vater sah’s von Tag zu Tag, wie die Liebe seiner Kinder zu einander wuchs. Die Maria sorgte still fort für Alles, was er brauchte, und der Werner erzählte ihm und ihr von Allem, was er gesehen und gehört in der weiten, weiten Welt. Was er auch sagen mochte, und wenn sie früher nie davon gehört hatte, so wurde ihr’s doch klar und begreiflich. Sie merkte und begriff, wovon sie früher nur so geahnt hatte, daß es eine Arbeit gäbe, die man nicht zu sehen braucht, und die erst in jede sichtbare den rechten Kern hinein legt, das ist die Arbeit, die der Gedanke thut; je mehr sie das inne wurde, je mehr Respect mußte sie vor jeder Arbeit bekommen, und je größer wurde ihre Liebe zu dem Werner. Der Werner aber meinte, so glücklich wär’ er in seinem Leben nicht gewesen, als wie das fleißige, einfältige Mädchen ihm zuhörte, denn das Größte und Herrlichste, was man in der lieben Gotteswelt sehen und hören kann, sehen und hören wir ja erst dann im Sinne Gottes, wenn durch die Liebe des Menschen der göttliche Hauch darin Gestalt bekömmt.
Das Auge des Vaters ruhte immer seliger auf den Beiden, aber mit jedem Tage wurde es matter und der Athem wurde schwächer. Eines Abends sah Marie den Herrn Docter und den Werner immer fragender an, weil sie bemerkte, daß sie sich bedenkliche Blicke zuwarfen; ihr Mund traute sich aber nicht zu fragen, und auch die Stube zu verlassen, hatte sie nicht den Muth; da winkte der Kranke sie zu sich heran und sagte:
„Marie, ich muß meinem Werner etwas sagen.“ Und sie verließ das Zimmer.
Der Sohn beugte sich zur Lippe des Vaters, die nur leise sprach: „Du wirst, nicht wahr, mein Werner, Du wirst meine Marie nicht verlassen?“
„Nein, Vater, sie wird die Meine sein.“
„Ich danke Dir, Werner; ich wußte es, Du wirst sie zu Deinem Weibe nehmen und nie vergessen, daß sie in meinen letzten Lebensstunden die Freude meines Lebens wurde.“
„Ja, Vater, Marie wird mein Weib werden und ich werde sie lieben für Dich und für mich.“
Ein Lächeln zog über Herrn von Walden’s Gesicht, wie er sagte: „Rufe mir Marie!“
Sie kam und ihr Auge begegnete dem Blick des Vaters. Sie neigte sich zu ihm und er sagte:
„Habe Dank, Marie, Du warst mein Engel.“
Ihr Kopf schmiegte sich an des Vaters Brust. Es war eine tiefe Stille um sie her. Endlich bog sich Werner über sie, und sie hob den Kopf, um nach dem Vater zu sehen; ihr Blick begegnete aber dem seinigen nicht mehr, denn er war gebrochen.
Marie zuckte zusammen. Wie Sterben aussieht, hatte sie schon eine ganze Weile mit angesehen, aber den Tod kannte sie nicht.
Werner’s Hand legte sich leise auf die Augen des Vaters und wie er sie aufhob, waren sie geschlossen. Marie sah zu ihm auf, da kniete er nieder neben ihr und sagte:
„Sieh, Marie, der Vater hat uns verlassen.“
Es zuckte, wie wenn ein Messer sie getroffen hätte, durch ihre Glieder und sie sah ihn mit bitterem Jammer an; aber er legte seinen Arm um sie her, sein Kopf legte sich an den ihrigen und er sagte wieder:
„Nicht wahr, Marie, Du bist nun doch nicht allein, denn der Vater hat Dich mir gelassen, und nun sag’ mir’s gleich hier neben ihm, daß Du ihm folgen und mein sein willst für’s ganze Leben.“
Marie hatte viele Monate lang schwere körperliche Anstrengungen ertragen, um sich nur ganz der Pflege des Kranken hinzugeben, und ihr ganzes Leben war ja ein schweres gewesen von Kindesbeinen auf; sie hätte aber noch lange, sie hätte vielleicht immer solch’ schwere Last des Lebens ertragen und nicht eher gemerkt, wie schwer sie sei, als bis alle ihre Kraft drangesetzt war; von Arbeit, Entbehrung und Aufopferung konnte sie leben; das ist so bei der Frau, die rein und natürlich aufwächst und ein frisches Herz in der Brust hat; wie aber Werner zu ihr sagte: „Sag’ mir, ob Du mein sein willst,“ da ging die Kraft ihr aus; an’s Glück muß man sich auch gewöhnen. Sie sah ihn stumm an, als verständ’ sie ihn nicht, aber im andern Augenblicke hing sie ihm am Arme und war ohne Leben. Der alte Arzt, der im Schlosse zu Waldenberg schon lange wie ein Freund aus- und einging, kam gerade recht. Ihm konnte Werner sagen, was sie niedergeworfen, denn daß der Schmerz und die Sorge es nicht konnten, das hatte er am Bette des Kranken gesehn, und sein Haar war grau geworden unter viel Aufopferung. Er lächelte und sagte: „Dagegen gibt’s Mittel.“
Die Magdalene wußte nicht, wie ihr geschah, als ein Trauer- und Freudenfest zusammen in ihre stille Stube drang. Sie drückte die Hände fest zusammen und sagte zu dem jungen Schloßherrn:
„Unser Herr Gott macht Alles recht, denn das Kind weiß von Hoffahrt nichts und drum muß ihm das Glück zukommen aus freier Hand.“
Ob sie wohl glücklich wurden, der reiche Schloßherr und das arme Försterskind? Und ob wohl keins von den vornehmen Verwandten die Nase rümpfte, wie der reiche Herr von Walden sie als sein Weib auch in die Stadt führte? – Lust hatte manches, aber schöner, wie sie, und feiner und klüger gab’s keine im ganzen von Lichterglanz hellen Saale der großen Welt, als die Baronin Walden, unsere Marie Ulrich; und die Lust hatten, die Nase zu rümpfen, versahen’s und lächelten ihr zu.
Lange waren sie aber nicht im hellen Saale der großen Welt, denn sie zog’s nach Waldenberg und von da nach Gleichenberg. – In Waldenberg trafen sie nach wenig Jahren die alte Magdalene nicht mehr, sie war in Glück und Frieden heimgegangen, aber in Gleichenberg wohnte der junge Förster Karl Ulrich – und wenn der Herr und die Frau von Walden mit einem Häufchen braun- und schwarzgelockter Kinder dahin kamen, gab es einen Jubel ohne Ende, denn der Onkel Karl wußte jede Nußhecke und jeden Platz im Walde, wo Beeren und Blumen zu finden waren; die mußte er den Kindern der Schwester zeigen, denn er selbst lebte allein in dem Hause, wo er geboren wurde. Das war ein Jubel ohne Ende. Aber es jubelten nicht nur die Kleinen – auch Werner und Marie theilten die Kinderlust – was war ihnen dagegen der helle Saal der großen Welt?
Zufolge des ganz glücklich beobachteten Systems einer angenehmen Abwechselung folgen den Raubthieren zunächst wieder die Wiederkäuer. Es sind die vier baktrischen Kameele und die Damhirsche. Von den ersteren befand sich eins schon im Garten, als zwei der übrigen von den von ihrer Reise aus dem Himalaya zurückgekehrten Brüdern Schlagintweit dorthin geschenkt wurden. Das Weibchen davon warf im Garten selbst kurz darauf ein Junges und dieses bewegt sich nun ganz munter und schon mit zwei ganz netten Höckern verziert unter den übrigen herum.
Gewiß wird Jeder das Kameel unschön finden mit seiner häßlichen [687] Rückenform, seinem langen, dicken Halse und dem stets horizontal vorgestreckten Kopfe, seinen eingeschnittenen Weichen und den plumpen, in breiten Ballen endigenden Beinen. Und doch gehören alle diese Formen zu den Bedingungen seiner Nützlichkeit. Seine Höcker sind wie zum Aufpacken umfangreicher Lasten geschaffen, mit seinem langen Halse kann es selbst im gewöhnlichen Schritt die am Wege, selbst in Felsenspalten stehenden Kräuter erreichen, welche von den beweglichen gespaltenen Lippen und den für einen Wiederkäuer auffallenden Zähnen passend gepackt werden, selbst wenn sie stachlig sind. Die kräftigen Beine mit den breiten Ballen verhindern das Einsinken in nachgibigen Boden, und selbst die eingeschnittenen Weichen scheinen allein die eigenthümliche Art des Niederlegens und Liegens zu ermöglichen, welche den Kameelen und den in dieser Hinsicht gleichgeformten Lama’s eigenthümlich ist, und welche denselben gestattet, in liegender Stellung bepackt sich zu erheben. Es ist daher zu bewundern, daß erst in diesem Jahre der erste energische Versuch gemacht wurde, das Kameel in Nordamerika einzuführen und zum Transport durch wasser- und pflanzenarme Gegenden zu verwenden. Von hundert nach Texas verschifften Kameelen wurde der vierte Theil als Probe zu einer weiten Expedition verwendet, bei welcher die Thiere schließlich sogar den Colorado schwimmend zu kreuzen hatten, und sie bewährten sich auf der ganzen Reise und auch bei dieser letzten Probe, auf welche man sehr gespannt war, vollkommen, so daß sie möglicherweise von nun an einen bedeutenden Einfluß auf die dortigen Culturverhältnisse ausüben werden und bei dem Anblicke künftiger Karawanen sich Mancher nach Afrika und Westasien versetzt glauben wird.
Die Damhirsche nebenan, ein starkes Rudel bildend, bieten durch die Schönheit ihrer Gestalt und oft schön gefleckten Färbung einen anziehenden Gegensatz zu den großen unförmlichen Kameelen. Auch sie sind unsern Lesern bereits so geschildert, daß wir sofort und im Fluge noch die Schweinewirthschaft in’s Auge fassen, welche im vollsten Sinne des Wortes von den grunzenden und quiekenden Nachbarn nebenan geführt wird. Bis über die Ohren liegt der wilde Eber im Schlamm und, nicht zufrieden damit, ist er mit dem Rüssel noch beschäftigt, neue Quantitäten dieses Materials auf sich zu bringen.
Doch horch – ein donnerndes Gebrüll schallt uns ganz in der Nähe aus dem dichten Gebüsch in’s Ohr. Erschrocken stehen wir still und fühlen uns gemahnt, wie wohl manchmal der Eingeborene oder Reisende in Afrika in ähnlicher Weise geschreckt werden mag, vielleicht, um nicht wieder davon zu erzählen. Wir nahen uns, und plötzlich springt mit einem gewaltigen Satze der Löwe, der unser Kommen gehört und lauernd im Sande gelegen hat, uns entgegen! Niemals fühlt man sich so sicher bei diesem Anblicke, daß man nicht seine Schritte hemmt oder gar zurückfährt, so wenig denkt man in solchem Augenblicke an das schützende Eisengitter. Da steht er, der Gewaltige, und blickt uns, obgleich Gefangener, herausfordernd und stolz an.
Der vor uns stehende Löwe ist ein schönes und lebensvolles Exemplar. Gleich einer Bronze-Statue schimmert sein glattes Fell in der Sonne und die an Leib und Schenkel hervortretenden feinen Adern vollenden das Noble seiner Erscheinung. Straff steht, ein Zeichen von Gesundheit und Kraft, das Mähnenhaar nach allen Seiten von Kopf und Hals ab und in seinen entschiedenen Bewegungen prägt sich das Gefühl der überlegenen Stärke aus. Wie viel mehr schleichen die anderen großen Katzenarten, die sich zugleich hier befinden, in ihren Käfigen umher, z. B. der schwarze Panther, welcher, wenn sein schwarzer Kopf mit den grünleuchtenden Augen und den blinkenden Zähnen den Beschauer anfletscht, einen wahrhaft diabolischen Eindruck macht! Selbst der Tiger, obgleich gewiß ein schönes Thier und eigentlich das Ideal der Raubthiere, hat weder in Haltung noch Bewegung den Ausdruck des Majestätischen, wodurch der Löwe allgemein berühmt ist. Gerade die größere Gelenkigkeit seiner Glieder, welche er vor dem letzteren voraus hat, nimmt dem Auftreten derselben einigermaßen das Entschiedene, was die Bewegungen des Löwen besonders kennzeichnet. Zwei andere noch hier befindliche Löwen sind jünger und weniger schön, dagegen gewährt das Leoparden-Paar einen herrlichen Anblick, wenn der eine den in ihrem Behälter aufgerichteten Baumstamm erklettert und, von dem andern spielend ergriffen, sich von oben durch blitzschnelle Tatzenhiebe vertheidigt.
Bei dem Anblicke dieser verschiedenartigen Raubthiere aus dem Katzengeschlechte wird man leicht an die Stellung erinnert, welche dieselben dem Ureinwohner ihrer Heimath, sowie dem civilisirten Europäer gegenüber einnehmen. Stetig weicht der Löwe in Algerien vor den Kugeln der Franzosen, insbesondere des Löwentödter’s Gerard, zurück, während er bis zu ihrer Ankunft der Schrecken der Araber gewesen ist. In manchen andern Theilen Afrika’s, dieser Domaine des Löwen, wagen die Eingebornen gar nicht, sich ihm zu widersetzen, und erst der Europäer oder dessen Feuergewehr wird sein Gegner. In Indien scheint trotz der verfolgenden Engländer der Tiger nur langsam an Terrain zu verlieren, offenbar eine Folge der dortigen Vegetation, und es ist sicher, daß mit der Unordnung, welche durch den jetzigen Krieg dort entstanden ist, auch die Herrschaft dieses „Menschenfressers“ sich wieder erweitert hat. Daß Kriege allemal diese Folge haben, ist eben so natürlich als bekannt. Im Winter 1812–13 kamen die Wölfe aus Rußland im Gefolge der Armeen bis in’s Innere von Deutschland herein, auch der letzte Krieg in Ungarn hatte eine ungeheuere Vermehrung der Wölfe, Füchse, selbst Bären im Gefolge und Jahre gehören dazu, um die Thiere wieder zu verdrängen. Aber auch andere Ursachen können hier wirken, wie denn z. B. in Polen das Verbot des Führens von Schießgewehren ungestörte Vermehrung der Wölfe zur Folge hat und haben muß. Unzugängliche, dünn bevölkerte Gegenden sind natürlich Hauptbedingung einer Raubthierexistenz, und Südamerika mit seinen Wäldern wird daher gewiß noch sehr lange das Paradies des Jaguars, jenes dritten Herrschers im Katzengeschlechte, sein. In diesem Jahre allein wurden dort bei Rosario, einem am Parana gelegenen Orte, elf Jaguars gefangen oder erlegt, welche bei der letzten Ueberschwemmung dieses Stromes auf schwimmenden Inseln herabgeschwommen kamen, und in Gesellschaft anderer unfreiwilliger Passagiere, als Rehe, Hirsche, Wasserschweine, den Einwohnern der umliegenden Ortschaften zur willkommenen Beute wurden.
Der Riese der Landthiere, neben einem neuholländischen und einem amerikanischen Strauße wohnend, empfängt uns, ohne sich im mindesten in seinem Tagewerk stören zu lassen. Mit einem groben, von der Spitze seines Rüssels gepackten Leinwandlappen bewaffnet, ist er unaufhörlich beschäftigt, sich der ihn plagenden Stechfliegen zu erwehren. In mächtigen Schwingungen fliegt klatschend der eigenthümliche Fliegenwedel bald rechts, bald links, bald zwischen den Vorderbeinen hindurch an den Bauch, manchmal auch auf Schultern und Rücken, von wo er dann abgeschüttelt und mit dem Rüssel wieder aufgefangen wird, um von Neuem zu beginnen. Manchmal läßt auch der Rüssel den Lumpen plötzlich los, um ohne Hülfe mit einem gutgezielten wuchtigen Schlage den Feind, dem doch ein Stich gelungen, zu treffen. Zu Dutzenden ist das Schlachtfeld mit den Leichen der Gefallenen besät, aber neue Schaaren füllen stets ihre Lücken wieder aus. Freilich, wenn der Elephant seine Künste (welche die gewöhnlichen sind) zeigen muß, dann ist er seinen Peinigern preisgegeben, aber alles Verwendbare, z.B. Peitsche, Taschentuch, benutzt er deswegen auch schnell einige Augenblicke, ehe er es pflichtschuldigst seinem Wärter übergibt. Daß übrigens sein Lappen nicht lange vorhält, kann man sich denken; nach Verlauf einiger Wochen muß derselbe stets durch einen neuen, gut gesäumten ersetzt werden, welche Instandhaltung der Garderobe die Pflicht des Wärters ist.
Merkwürdigerweise scheint beim Ankauf dieses Elephanten für den zoologischen Garten von Seiten des Verkäufers der nicht ganz mißlungene Versuch gemacht worden zu sein, das Thier für ein männliches auszugeben, obgleich bei der Größe des Thieres der Mangel der Stoßzähne schon gar keinen Irrthum zulassen konnte.
Nichts hört wohl der Elephant so oft, als das Schnauben und Brummen seiner Nachbarn, der braunen Bären, deren Zwinger gleich den Resten eines mittelalterlichen Bauwerkes hinter dem Gebüsch hervorragt. Er bildet gleichsam einen hohlen Thurm, an dessen Außenseiten man auf Treppen bis zu seinem oberen umgitterten Rande emporsteigt und so von oben das Treiben der Bewohner erblickt. Außer zwei nebenan befindlichen Bären wird gegenwärtig die Bewohnerschaft aus fünf der Familie Petz angehörigen Mitgliedern gebildet: einer Bärin mit zwei erwachsenen Söhnen und deren Tante, sowie einem Hausfreund. In der Mitte ihres gepflasterten Fußbodens und am Rande eines Wasserbassins ragt ein in große Aeste sich theilender Baumstamm bis zur Höhe des oberen Mauerrandes empor, und mit mächtigen Schritten und die Vorderglieder fast wie menschliche Arme gebrauchend, steigt sofort einer der zottigen Burschen bis zur Spitze des Baumes, wenn sich Besucher [688] oben sehen lassen, um die Thiere zu füttern. Mit großer Behendigkeit fängt der Obensitzende die ihm zugeworfenen Stücken mit dem Maule oder, sind sie für dasselbe unerreichbar, wohl auch mit den Tatzen auf, während die Uebrigen unten sämmtlich aufrecht auf den Hinterfüßen stehen und durch sehnsüchtige Blicke und Töne die Mahnung, sie nicht zu vergessen, aussprechen. Die Gemüthlichkeit hört aber, wie überall beim Fressen, auch hier auf, wenn ein hinuntergeworfener Brocken sein Ziel, das offene Bärenmaul, verfehlt und zwischen die Gesellen fällt. Sehr widerhaarige Töne, zwischen Gebrumm, Geschrei und Gebrüll mitten inne stehend, sind dann auch für den entfernteren Spaziergänger das Zeichen eines solchen Mißgeschicks und bezeichnen die Stimmung des Leerausgegangenen.
Dieses ganze Schauspiel wiederholt sich den Tag über so oft, als durch das Publicum dazu Veranlassung gegeben ist, denn der Appetit ist stets vorhanden. Bei Gelegenheit des Appetites wollen wir uns auch einmal ausnahmsweise eine wissenschaftliche Bemerkung über die Nahrung der Bären erlauben; dieselbe besteht aus Brod, allen Arten Früchten, Mützen, Taschentüchern und anderen Vegetabilien. Ein leinenes Taschentuch, wenn es zu ihnen herunterfällt, wird sofort und unter großem Wetteifer der ganzen Gesellschaft zerrissen und verzehrt, wie wir dies selbst gesehen; und an einer Tuchmütze, die also doch auch für gut befunden wurde, hat der Vater des erwähnten Bären-Brüderpaares sein Leben lassen müssen. Die Mama dieses würdigen Paares hatte schon früher mehrmals im Zwinger Junge geworfen, es war aber versäumt worden, sie abzusperren, und so war die Mutter nicht im Stande gewesen, ihre Jungen vor dem neugierigen Appetite ihrer Genossen, selbst des Rabenvaters zu schützen, bis sie im späteren Falle, gleich jenem Pudel das Unnütze der Vertheidigung einsehend, aus Liebe oder Verzweiflung ihre Jungen selber fraß. Beim letzten Male ihres hoffnungsvollen Zustandes abgesperrt, zog sie aber dann ihre Kinder um so erfolgreicher auf.
Was glotzt uns aus dem Teiche, der jetzt vor uns liegt, für eine schwarze, unbewegliche Masse an? Soll das ein Thier sein? Ja, gewiß, und sogar ein seit Jahrhunderten in Europa häufiges Thier, der gemeine Büffel; bis an die Nasenspitze ist er im Wasser verborgen, stehend oder liegend suchen die übrigen der kleinen Heerde das Gleiche zu thun, und die muntere Bachstelze scheut sich nicht, auf den beweglichen, ungeschlachten Leibern zu ruhen oder Beute zu suchen. Mit seiner stets vorgestreckten borstigen Schnauze, seinem oft wild über das Auge wachsenden Stirnhaar, seinen hängenden Ohren und den plumpen, an den Knieen zottigen Beinen macht der Büffel den Eindruck einer zwar gewaltigen, aber auch stumpfthierischen Kraft, und gleichwohl war der Büffelstier ritterlich genug, als einst von zwei im Garten ausgebrochenen Bären der eine eine Büffelkuh angefallen hatte, dieselbe sofort durch einen mächtigen Stoß, mit welchem er das Raubthier in den Teich schleuderte, von demselben zu befreien.
Diese Büffel bilden, gleichwie die nebenan befindlichen Zebu-Rinder, eine kleine, sich immer selbst ergänzende Heerde, daher man bei beiden stets Junge antrifft. Beide, obgleich zur Gattung Ochs gehörig, repräsentiren ganz entschieden Gegensätze; die Büffel ungeschlacht und roh, der Zebu von feinem Bau und fast sanftem Blicke, jener schwarz, dieser weiß. Während die Hörner des Büffels nach hinten gerichtet und gebogen sind, stehen diejenigen des Zebu gerade nach außen. Der Büffel ist berüchtigt durch seine Widerspenstigkeit, während die Anwendung des Zebu’s in seiner Heimath die vielfältigste ist und auf seine Anstelligkeit schließen läßt.
Das Inspectionshaus neben den Zebu’s, in welchem der die Aufsicht über den Garten führende Inspector wohnt, enthält in seinem Erdgeschoß eine Sammlung größtentheils solcher Thiere, die theils ihrer Empfindlichkeit wegen die bei uns oft veränderliche Temperatur nicht vertragen, theils wegen ihrer Kleinheit diese Aufstellung erfordern. Im zweiten Zimmer fesseln besonders die Schlangen, obgleich die hier befindlichen „Riesenschlangen“ durch ihre Größe nichts weniger als imponiren, wie das auch anderswo oft der Fall ist.
Sehr häufig trifft man es, daß die Thiere mit weißen Ratten oder Mäusen, welche in demselben Zimmer gezogen sind, gefüttert werden. Man sperrt die Opfer einfach in den Behälter der Schlangen und überläßt es diesen, sich derselben zu bemächtigen. So sehen wir z. B. in einem Käfig einen gräulichen Klumpen von drei bis vier durcheinander liegenden Klapperschlangen; eben so viele weiße und weiß- und graugefleckte Mäuse klettern mühsam, da sie schon durch erhaltene Bisse gelähmt sind, über die Leiber ihrer Feinde und an dem Drahtgitter empor, um sich zu retten. Gierig werden sie von den lauernden Blicken der gräßlichen Reptilien verfolgt und sobald eine, matt geworden, herabfällt, nähert sich langsam ein häßlicher Kopf und packt ganz gemächlich das unglückliche Thier. Doch die Todesangst gibt demselben neue Kräfte; schreiend sträubt es sich mit der Kraft der Verzweiflung und die Schlange, dadurch genirt, öffnet ihren Rachen und entläßt die Maus, um sich vielleicht einer andern zuzuwenden. So wiederholt sich dasselbe Schauspiel oft drei, vier Mal, auch öfter, ehe das Opfer sich ohne Widerstand ergibt. Schneller geht es, wenn zwei Schlangen zugleich eine Maus erfassen, in wenigen Augenblicken ist dann das Thierchen wehrlos und todt, und die widerlichen Köpfe rücken sich allmählich näher, bis der stärkere den andern zwingt, ihm die Beute ganz zu überlassen und sich nach anderer umzusehen. Höchst auffallend ist es, daß nicht schon durch den ersten Biß der giftigen Schlange das Opfer sofort oder doch in Kurzem getödtet wird, und es bleibt fast nur die Erklärung dafür, daß bei dem langsamen Anpacken die Giftzähne nicht wirken können, was bei einem schnell versetzten Bisse jedenfalls geschehen würde. Daß der Anblick dieser geschilderten Scenen ein höchst widerlicher ist und viel Ueberwindung erfordert, wird man übrigens gern glauben.
Unsere einheimischen Schlangen, die giftige Kreuzotter und die unschädliche Ringelnatter fehlen natürlich niemals, so wenig, als die schöne grüne Eidechse unseres Vaterlandes.
Die großen Raubvögel, von denen wir außer dem Uhu noch keinen sahen, befinden sich an dem wieder betretenen Gartenwege in einer Reihe nebeneinander angebrachter Käfige. Stumm und ruhig sitzen die zu den Adlern gehörigen Thiere auf ihren Blöcken, blos den Kopf in fortwährender Bewegung nach Allem, was irgend auffällt, und das Auge im feurigsten Glanze leuchtend. Die Geier hingegen, durch ihre gewöhnlich minder langen und krummen Krallen mehr dazu befähigt, halten sich öfter auf dem Boden auf, und die an das Schnattern der Gänse erinnernde Stimme des weißköpfigen Gänsegeiers ertönt häufig, wenn er sich mit seinen Genossen um die Reste der Mahlzeit herumstreitet. Alle diese Vögel kann man nur in ihrer Freiheit kennen lernen; der Flug ist es, in dem sie als das in seiner Art vollkommene Thier erscheinen, und der Gefangene ist nur das halbe Bild seiner selbst, weil das belebende Element ihm genommen. Ein wehmüthiges Gefühl überkommt den Beschauer, wenn er die riesigen Condors sich am Boden um sich selbst drehen sieht, sie, die in ihrer Heimath noch hoch über den Gipfeln der Anden im Aether schweben und keine Ferne kennen.
Bei der Colonie kleiner Raubthiere angekommen, stellen sich uns die Gebrüder Reinecke, obgleich höchst unfreiwillig, vor, und der bloße Anblick der immer scheuen, immer listig lauernden Gesellen läßt ihnen Alles zutrauen, was man denselben nachsagt. Sehen nicht alle Uebrigen, die Waschbären, der Wombat, der Schakal, selbst der graue Polarfuchs wie Biedermänner dagegen aus? Nur die Marder mit ihren fast schlangenartig sich windenden Leibern zeigen ein ähnliches listiges Gebahren, aber nicht entfernt kann sich in dieser Beziehung der Ausdruck ihres Kopfes mit dem eines Fuchses messen.
Das vollendetste Bild eines biedern Bürgers ist indeß jedenfalls der Dachs; er kennt keine krummen Wege, als höchstens die seiner unterirdischen Gänge, er schleicht nicht leise einher, sondern tappt, allen hörbar, mit seinen langen Grabekrallen laut genug auf seinem steinernen Boden herum, denn ihn plagt nicht das böse Gewissen seines Vetters. Leider ist die Gelegenheit sehr selten, diese Beobachtungen zu machen, denn man hat aus zu weit getriebener Nachsicht für seine Neigungen ihm einen unterirdischen Raum ausgemauert, in welchem er wohl den ganzen Tag verbringt, und nur des Abends zum Vorschein kommen soll. Wer übrigens Dachs und Fuchs gesehen, wird finden, daß in dem altdeutschen „Reinecke Fuchs“ die Charakterzeichnung dieser Thiere ganz vortrefflich gelungen ist.
Weiterhin nehmen neue noch nicht gesehene Raubthiere unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, voran die gestreifte Hyäne, dieses merkwürdiger Weise immer noch Vielen als furchtbar geltende Thier. Man sieht hier schlagend, wie schwer es ist, einmal eingewurzelte Irrthümer auszurotten. Da glauben noch Manche, daß die Hyäne Löwen und Tiger bekämpfe und, was des Unsinns mehr [689] ist. Man übersieht dabei, daß schon die Beine des Thieres durch ihre Form verrathen, wie wenig es solchem Kampfe gewachsen ist. Nach den Berichten des Löwentödters Gerard in Algier ist dort die Hyäne nicht gefürchtet, sondern verachtet, gleichwie die Jagd auf sie, und alle Schilderungen von wahrheitsliebenden Reisenden scheinen damit überein zu stimmen. Ein neuerer Reisender in Südafrika, Livingstone, hat sie des Schießens gar nicht werth erachtet, sondern einen ganzen Trupp in die Flucht gejagt, indem er der vordersten den Feldstuhl an den Kopf warf. Diese Verachtung des Thieres ist auch nichts Auffälliges. – Nur todte oder sterbende Thiere fallen der Hyäne zur Beute, denn sie hat schwerlich den Muth, einen wirklichen Kampf zu bestehen. Die auf Schlachtfeldern, auf den Wegen der Karawanen, in den orientalischen Städten liegenden Leichen sind ihr, gleichwie des Geiers Futter. Dazu hat sie ihr starkes Gebiß, aber nicht zum Kampfe. Auch sind die Beobachtungen in Menagerien stets geeignet, den Glauben an ihre Furchtbarkeit umzustoßen. Das „Dressiren“ hat, so weit ihre Intelligenz dazu reicht, jedenfalls in Bezug auf ihre Gefährlichkeit nicht viel Schwierigkeit, natürlich ist es aber im Interesse der Menageriebesitzer, dies dem Publicum zu verhehlen und im Gegentheil das Thier so furchtbar als möglich zu schildern. Außerordentlich häufig muß übrigens die gestreifte Hyäne in ihrer Heimath sein, denn in jeder, fast selbst der kleinsten Menagerie hat man Gelegenheit, das widerliche Thier, das das Gepräge seiner Lebensweise schon im Aeußeren trägt, zu sehen.
Durch die meisten deutschen Zeitungen ging im letzten Frühjahr die Nachricht, daß drei Wölfe aus dem zoologischen Garten zu Berlin ausgebrochen waren. Einer davon wurde in Charlottenburg erschossen, die andern hatte man, den einen sogar noch im Garten, wieder eingefangen. Man mußte geneigt sein, zu glauben, daß den Thieren die Flucht nur durch die nachlässig verschlossene Käfigthüre möglich gewesen sein konnte. Dem war aber nicht so, sondern sie hatten sich unter den Steinen, welche das Fundament ihres Eisengitters bilden, durchgewühlt und die etwa lockern Steine herausgebrochen. Der Aufruhr, welcher in dem gerade sehr zahlreich besuchten Garten entstanden war, und die lärmende Verfolgung hatte die Thiere so scheu gemacht, daß, wie schon gesagt, nur einer nach starker Gegenwehr von dem Wärter im Garten selbst konnte ergriffen werden; die andern übersprangen die an vielen Stellen defecte Umfassungsplanke und flohen, der eine dem Tode entgegen nach Charlottenburg, der andre, immer verfolgt, bis in den botanischen Garten. Dort, durch einen Teich schwimmend, empfing er am Ufer von einem auf ihn wartenden Gartenarbeiter einen Schlag auf den Kopf, der ihn leblos niederstreckte. Gebunden und zurücktransportirt, hat er sich aber vollkommen wieder erholt, und befindet sich nebst dem andern Zurückgebrachten wieder im alten Käfig. Ganz freundlich die Zähne fletschend geht der eine immer an seinem Cameraden vorüber, welcher vielleicht über neuen Fluchtplänen brütet.
Nach den Versicherungen der Wärter übrigens würden die Flüchtlinge wahrscheinlich ohne große Schwierigkeit von selbst wieder in ihren Behälter zurückgekehrt sein, wenn sie nicht der entstandene Lärm scheu gemacht hätte, wie denn z. B. einer der bereits erwähnten flüchtig gewordenen Bären gleichfalls sich wieder freiwillig in seinen Zwinger zurückbegab.
Der Anblick des Wolfes ruft gewiß bei Manchem das alte und doch immer noch anziehende Thema von der Abstammung des Hundes, überhaupt unserer Hausthiere wieder wach. Obgleich die Zähmung des Hundes ein Stück Culturgeschichte ist, so existirt doch, wie es scheint, dafür lediglich die nackte Thatsache. Ueber das Wie, Wann, Wo und ob das Urthier wirklich ein Wolf ist, wie Manche wollen, scheint wenigstens bis jetzt Gewisses noch gar nicht zu bestehen. Ebenso geht es mit den meisten, insbesondere den wichtigsten unserer andern Hausthiere. Bewundernswürdig ist jedenfalls, daß das Menschengeschlecht schon in den ersten Anfängen seiner Entwicklung dieselben Thiere mit sicherm Blick gefunden und zu seinen Zwecken gezähmt hat, welche auch noch jetzt bei den enorm entwickelten Culturverhältnissen die unentbehrlichen sind und voraussichtlich bleiben werden. Alle neuern Versuche, der seit Jahrhunderten festgestellten Zahl unserer Hausthierarten neue hinzuzufügen, scheinen zu scheitern und nur die Ausbreitung der alten zu glücken, und es muß daher der Eitelkeit des Menschen schwer werden, sich von der Ansicht zu trennen, daß gerade diese Thierarten ganz extra für ihn geschaffen seien.
Wir sehen noch die Beutelratte, den berühmten Ichneumon, dessen intimes Verhältniß zu den Krokodileiern auch bereits durch den Afrikareisenden Brehm auf Null reducirt ist, den Luchs mit seinen feinen Ohrpinselchen, und außer einer Himalayakatze noch[WS 1] zwei junge wilde Katzen aus dem Harz.
Und nun, lieber und ermüdeter Leser und Besucher, wenn Du eine Erinnerung aus Robinson auffrischen willst, so begleite uns [690] noch auf dem letzten Gange zu den Llama’s, tritt aber nicht zu nahe, denn sonst spritzt Dir das boshafte Männchen sich bäumend seinen Speichel sofort in’s Gesicht. Obgleich glücklicher Vater von zwei schönen Kindern, deren eines fast erwachsen, obgleich Gatte einer liebenswürdigen, schöngewachsenen Gattin, ist dieses Thier doch so bös, daß man fast wie vor einem Raubthiere zurückfährt, wenn es, sich bäumend, das Gitter zu überspringen sucht, und die Zähne des Unterkiefers dabei drohend zeigt. Und dabei ist es ganz oder ziemlich blind; wir müssen das Letztere annehmen, denn es ist außerdem fast unerklärlich, mit welcher Genauigkeit zielend es seinen Speichel wirft. Schöne Thiere sind es indeß, diese Llama’s; alle Formen erinnern zwar an das häßliche Kameel, aber alle sind zur Schönheit umgewandelt. Besonders die prachtvolle Haltung des biegsamen Halses geben dem Thiere ein stolzes Ansehen, und der leichte elastische Schritt, in dem es die fein geformten Beine bewegt, vollenden diesen Eindruck. Eine schöne Staffage der Landschaft werden sie daher jedenfalls bilden, wenn die beabsichtigten Versuche der französischen Regierung, sie auch auf dem Atlas einzubürgern, gelingen sollten.
An dem benachbarten Rehpaar vorübergehend, zieht uns noch das Känguruh zur Betrachtung an, leider jetzt blos eins, so daß die Gelegenheit, die famose Bewegungsart dieser Thiere zu sehen, eine seltene ist. Früher lebte hier ebenfalls ein kleines Rudel dieser merkwürdigen Gestalten, und man konnte oft die mit den langen Hinterbeinen ausgeführten gewaltigen Sätze beobachten, wenn die Thiere sich gegenseitig verfolgten. Dieses einzelne Exemplar hat natürlich nie Veranlassung dazu, die größte Schnelligkeit zu entwickeln. Immerhin bleibt es aber selbst liegend eine höchst auffallende Erscheinung; besonders wenn das Thier mit den hintern gewaltig entwickelten Gliedern dem Beschauer näher liegt, kommt das Ganze dem Auge immer wie eine ungeheuere perspectivische Verkürzung vor, so klein sind die vordern Glieder im Verhältniß zu den hintern und dem langen, muskelreichen Schweife.
Die Urheber des schrillen Geschrei’s, welches uns öfters in die Ohren getönt hat, sehen wir noch im Verlassen des Gartens, es sind Seeadler in verschiedener Altersfärbung. Auch ein weißköpfiger Seeadler aus Nordamerika, ein schöner Vogel, ist gleichfalls seit Kurzem hier und erinnert uns an Franklin, welcher das Thier, wohl weil es ein Raubvogel, nicht in dem Wappenschild der Vereinigten Staaten angebracht wissen wollte und, irren wir nicht, dafür, aber ohne Erfolg, den Truthahn vorschlug.
Doch genug, wir fürchten ohnedieß nicht ohne Grund, schon längst die Geduld des Lesers ermüdet zu haben. Gleichwohl ist vielleicht die Bitte um Nachsicht gerechtfertigt, da es uns darum zu thun war, ein einigermaßen vollständiges Bild des Institutes in seinem gegenwärtigen Zustande zu geben und zum Besuche anzuregen.
Eine Debatte der Landesgemeinde über das Gesetz fand nicht weiter statt. Der Entwurf war, nach Vorschrift der Verfassung, längere Zeit vorher – die Verfassung fordert mindestens vier Wochen – nicht nur von allen Kanzeln des Landes verlesen, sondern auch durch den Druck in Jedermanns Hände gebracht. Die Regierung hatte außerdem durch Druckschriften in speciell eingehender Weise ihre Ansicht darüber kund gegeben. Die verschiedenen Zeitungen des Landes hatten über die einzelnen Artikel nach allen Seiten sich ausgesprochen. Die Landesgemeinde hatte, nach dem Referate des Landammanns, nur noch abzustimmen, zu mehren, anzunehmen oder abzuwerfen.
Der Landammann verkündete vorab, welche Fragen, und in welcher Reihenfolge, gestellt werden sollten.
Die erste Frage war, ob der Verfassungsentwurf im Ganzen oder artikelweise ins Mehr gesetzt werden solle. Danach hatten die weitern Fragen sich zu richten. Die Revisionscommission sowohl als die Regierung hatten aus mehreren Gründen eine artikelweise Abstimmung gewünscht und vorgeschlagen. Der Landammann unterstützte den Wunsch. Der hauptsächlichste Grund war, daß so Keiner in der Manifestirung seiner freien Ueberzeugung irgendwie beschränkt werde.
Nachdem der Landammann die nöthigen Erläuterungen hierüber gegeben, erklärte er, daß der Landweibel nunmehr „das Mehr über die zu stellenden Fragen aufnehmen werde.“ Sofort trat in seinem halb schwarzen und halb weißen Mantel der zur Seite hinter ihm stehende Landweibel an die Schranke vor, und stellte in folgenden Worten die erste Frage ins Mehr:
„Wem es wohlgefallt („Wem’s wohlg’fallt“, sprach er es aus), daß der Entwurf in seiner Gesammtheit, und daß nicht jeder einzelne Artikel desselben ins Mehr genommen werden soll, der hebe die Hand auf.“
Die Hände der für die Frage Stimmenden erhoben sich.
Es mußte die Gegenprobe gemacht werden.
„Wem es wohl gefallt, daß nicht der Entwurf in seiner Gesammtheit, sondern daß jeder einzelne Artikel besonders ins Mehr genommen werden soll, der hebe die Hand auf.“
Die Hände der dazu Stimmenden erhoben sich.
Das Resultat der Abstimmung war zweifelhaft. Der Landammann erklärte das, und daß er die Fragen noch einmal zur Abstimmung werde bringen lassen.
Dies geschah ganz in der vorigen Weise. Das Resultat war wiederum zweifelhaft.
Es wurde noch einmal verfahren, wie vorher. Ein klar erkennbares Mehr ergab sich diesmal für die Abstimmung des Ganzen, und der Landammann verkündete es.
Der Landweibel trat wieder vor:
„Wem es wohlgefallt, daß der der Landesgemeinde vorgelegte Entwurf der Verfassung noch besonders vorgelesen werden soll, der hebe die Hand auf.“
Keine Hand erhob sich. Bei der Gegenfrage erhoben sich alle Hände.
Der Landammann verkündete das Resultat.
Der Landweibel rief die Hauptfrage auf:
„Wem es wohlgefallt, daß der Entwurf zu einer Verfassung, wie er von der Revisionscommission ausgearbeitet und der Landesgemeinde vorgelegt worden ist, angenommen werden soll, wem das gefällig ist, der hebe die Hand auf.“
Auf dem weiten Platze unter allen den Tausenden von Menschen herrschte eine Stille, daß man einen Apfel zur Erde hätte fallen hören. Die Versammlung dieser beinahe zwölftausend freien Männer gewährte in diesem Augenblicke einen feierlichen, erhabenen und erhebenden Anblick. Ein Jeder war sich seiner Freiheit bewußt, war sich bewußt, daß er in der Ausübung eines der erhabensten Rechte für Freiheit sich befand.
Zwei Drittheile der Anwesenden erhoben die Hände.
Das freie Volk von Appenzell hatte sich eine neue Verfassung gegeben. Freilich nur neue Formen für die bessere Erhaltung seiner Freiheit. Denn die Freiheit selbst hatte es, unangetastet und ungeschmälert, schon seit Jahrhunderten.
Der Landammann verkündete das Resultat. Es wurde mit der vollen, bewußten Ruhe aufgenommen, unter der es entstanden war.
Es war nur noch die Frage zu stellen, wann, ob namentlich mit der nächsten ordentlichen Landesgemeinde im Frühjahre 1859, die neue Verfassung in Kraft treten, und der große Rath die hierauf hin besehenden Anordnungen treffen solle?
Die Frage wurde gestellt, wie die vorigen, und einstimmig bejaht. Damit waren die Geschäfte der Landesgemeinde beendigt. Noch einmal trat der Landammann vor. Er entblößte sein Haupt. Alle Anwesenden nahmen ihre Hüte ab. Der Landammann sprach:
„Herr Landammann, meine Herren, liebe, getreue Mitlandleute und Bundesgenossen! Ihr habt ein wichtiges Gesetz beschlossen. Ihr habt als freie Männer, als freie Eidgenossen, Euch eine neue Verfassung gegeben. Möge nun dieses neue Gesetz lange Zeit Gutes für und unter Euch wirken! Möge es Eure Freiheit und [691] Euren Sinn für Freiheit befestigen, bis einst ein glückliches Fortschreiten Eurer Zustände und Verhältnisse und der mit ihnen stets fortschreitende und sich entwickelnde Geist des Guten wieder neue, bessere Institutionen für das Land fordert. Das walte Gott!
„Und hiermit erkläre ich diese außerordentliche Landesgemeinde für geschlossen!“
Er bedeckte sich. Mit ihm alle Andern.
Die Landesbeamten zogen in dem frühern Zuge zum Pfarrhause zurück.
Die Landesgemeinde löste sich auf.
Es war auf der Kirchuhr noch nicht zwölf Uhr, und das Ganze hatte mithin keine Stunde gedauert.
Ein wichtiges Gesetz war in der Stunde beschlossen, ein großes Werk war gethan.
„Die Augen von Europa sind auf uns gerichtet!“ Wie oft hörte man und hört man noch die Phrase in deutschen und anderen Kammern und Kämmerchen!
Kein Mensch in Appenzell dachte daran, daß Europa auf die Landesgemeinde in Hundwyl vom 3. October sehen werde. Noch weniger wurde ein Wort darüber laut. Europa sah auch nicht dahin; außerhalb der nächsten Cantone der Schweiz kein Mensch in der Welt. Europa wird auch ferner nicht daran denken, dem kleinen Cantone zu seiner „Errungenschaft“ Glück zu wünschen.
Aber Europa hätte wohl auf den grünen Rasenplatz in dem Alpendorfe Hundwyl, auf den klaren Sonntagmorgen, auf die hohen Berge und Alpen ringsum, und auf die zwischen diesen Bergen auf der grünen Matte versammelten „ehr- und wehrhaften“ und freien elf- bis zwölftausend Appenzeller Männer die Augen richten mögen, wie sie so klar, so ruhig, so besonnen, so frei, ihr großes Werk der Freiheit begannen, durchführten und beschlossen.
Auch ein Volk klein an Zahl kann groß sein!
Die Landesgemeinde war beendigt. Aber ich muß Ihnen doch noch Einiges von ihr erzählen.
Die bei weitem größte Mehrzahl der Anwesenden begab sich unmittelbar nach der Auflösung auf den Rückweg nach Hause. Nur verhältnißmäßig sehr Wenige bliebe noch im Dorfe zurück.
Ich wollte den Tag noch bis zu dem hübschen St. Gallen, das ich seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, und ich nahm deshalb Abschied von meinem freundlichen Begleiter Grunholzer, um, gleichfalls ohne weiteren Aufenthalt, meine Wanderung durch das Gebirge anzutreten.
Mein Weg führte mich in den größten Zug der Zurückkehrenden, durch und vorbei an den belebten Dörfern Stein, Teufen und so weiter. Ich hatte noch einzelne Begleiter bis in St. Gallen hinein; sie waren aus dem Badeorte Heiden jenseits St. Gallen.
Von den wunderbar schönen, fruchtbaren, reichen Gegenden, von den wilden Schluchten, durch welche Bäche und kleine Flüsse tief unten im Grunde rauschten, von den grünen Wiesen, Weiden und Alpen, von den hohen Bergen, malerischen Dörfern, Sennhütten und so weiter, von dem Allen, was ich auch auf diesem Wege so herrlich sah, will ich Ihnen nichts erzählen; ich könnte fast nur wiederholen, was ich Ihnen von dem Wege nach Hundwyl gesagt habe.
Aber von den Menschen, die von der Landesgemeinde zurückkehrten, habe ich Ihnen noch Einiges zu berichten.
Als wir die Höhe zwischen Hundwyl und Stein erreicht hatten, sah man sie rund umher auf allen Anhöhen, in allen Thälern in unübersehbaren Zügen auf den schmalen Bergpfaden dahingehen. Wie am Morgen alle die Menschenströme nach dem Einen Punkte von den hohen Bergen sich ergossen hatten, so stiegen sie jetzt von dem Einen Punkte aus nach allen Seiten und Richtungen die hohen Berge wieder hinan. Noch stundenlang konnte man durch neue Thäler, auf neuen Anhöhen diese Ströme verfolgen.
Und Alle waren sie eben so ordentlich und ruhig, wie auf dem Hinwege und auf der Versammlung selbst. Fast Jeder trug seinen Degen, um leichter in den Bergen marschiren zu können, in der Hand. Es waren in den Zügen der Heimkehrenden viele junge Leute. Aber nirgends sah man auch nur ein Fechten oder Handthieren mit dem Gewehre, nirgends ein Rennen, Ringen, Necken oder dergleichen, nirgends hörte man ein wüstes Schreien, nur ein überlautes Wort.
Und man sah es den Leuten an, nicht etwa die Furcht vor dem Gesetze, das Excesse und Verbrechen am Tage der Landesgemeinde mit doppelt schweren Strafen bedroht, wirkte auf sie ein, die feierliche Stimmung des Tages war es vielmehr, das bewußte oder unbewußte Gefühl des schönen Tages, des großen Werkes, das sie als freie Männer ausgeführt hatten.
Dabei war die Achtung auffallend, die die jüngeren Männer vor den älteren hatten. Ein ganz alter Greis ging mit in dem Zuge. Er war noch körperlich rüstig, aber den Geist hatte das Alter wohl etwas angegriffen. Er mußte die Andern von mir haben sprechen hören, und so machte er sich an mich heran.
„Der Herr ist aus Elbling?“ fragte er mich.
Er meinte die Stadt Elbing.
Ich antwortete ihm „Nein.“
Ein paar junge Männer waren dicht bei uns. Sie lächelten, so wie er die Frage an mich richtete. Aber gutmüthig, leise, daß er es ja nicht merken sollte. Einer von ihnen zog mich auch so auf die Seite:
„Er ist ein alter Soldat, der mit den Franzosen in Rußland war. Sein drittes Wort ist Elbling.“
Der alte Soldat erzählte mir nun selbst, wie er im Jahre 1812, aus der Russischen Campagne zurückgekehrt, in Elbing krank geworden und längere Zeit im Quartiere gelegen habe. Und trotz meines Verneinens blieb er dabei, ich müsse aus Elbling und gar ein Sohn aus dem Hause sein, in dem er im Quartiere gelegen habe.
„Das sagt er zu jedem Fremden,“ flüsterte der junge Mann mir wieder zu. „Sonst ist er ein braver Mann.“
Das war Alles, was über den Mann bemerkt wurde. Wo anders in der Welt hätten mitten in einem Volkshaufen die kindischen Worte des Greises nicht Spott und lautes Gelächter hervorgerufen? –
Eins war auf dem Rückwege anders, als auf dem Hinwege. Es wurde jetzt überall von der Landesgemeinde gesprochen, von ihrem Resultate, von den einzelnen Artikeln. Mit der Annahme der Verfassung waren Alle einverstanden, die ich hörte. Mit einzelnen Artikeln nicht, und sehr Viele hätten deshalb eine artikelweise Abstimmung lieber gesehen. Aber ein Streiten hörte man auch jetzt nicht. Nirgends traten die Leute aus ihrer Ruhe heraus.
Sie wandten in ihren Gesprächen sich auch an mich.
„Der Herr war mit dem Herrn Grunholzer gekommen? Der Herr hatte noch keine Landesgemeinde gesehen?“
„Nein, noch niemals.“
„Nun, wie hat es dem Herrn denn bei uns gefallen?“
So konnte ich Theil nehmen, und ich hörte manches Interessante. Gegen die Schaffung des Obergerichtes hatten sie vorzüglich einzuwenden, daß wieder mehr Beamte gewählt werden müßten.
„Zu viele Beamte taugen nicht,“ bemerkten s«. „Sie meinen sonst zuletzt, sie seien die Herren im Lande.“
Bei dem Criminal- und Polizeigericht hatte das Wort Polizei sie gestoßen. Sie kannten das Wort bisher nur in Beziehung auf Bettler und Vagabunden und auf den Wirthshausbesuch nach der nächtlichen Polizeistunde.
„Zu viele Polizei im Lande taugt nicht,“ hieß es auch hier, „und der Richter soll gar nichts mit der Polizei zu thun haben; er soll nach den Rechten über die Landleute zu Gericht sitzen. Wir sind aber keine Vagabunden, die man aus dem Lande transportiren kann.“
Welch ein richtiges, bewußtes Gefühl lag überall den Urtheilen zu Grunde!
Am interessantesten waren mir folgende Bemerkungen. Sie fanden bei Gelegenheit des Gesprächs über die Criminal- und Polzeigerichte statt.
Ich habe schon oben gesagt, wie der Landammann über und für sie in seiner Rede mit besonderer Wärme gesprochen hatte. Das hatte nicht ich allein, das hatten alle Anwesenden bemerkt. Aber auf die Andern hatte es einen Eindruck gemacht, von dem ich keine Ahnung gehabt hatte.
Ein alter schlichter Landmann sprach sich auf dem Rückwege zuerst darüber aus und Alle ohne Ausnahme stimmten ihm bei.
„Ja,“ sagte der alte Mann kopfschüttelnd, „was der Herr Landammann über die Criminal- und Polizeigerichte sagte, das war nicht so ganz recht.“
Ich bemerkte ihm, daß mir gerade das besonders gefallen habe. Der Landammann habe mit den einleuchtendsten Gründen und auf durchaus klare Weise die Nothwendigkeit einer zweiten Instanz in Strafsachen hervorgehoben.
[692] „Das mag sein, Herr. Aber der Herr Landammann sprach zu eifrig für die Sache.“
„Wie? Zu eifrig?“
„Ja, Herr, man sah es ihm an, daß er da nicht mehr für das Volk, sondern für sich sprach, und der Herr Landammann, wenn er auch unsere erste Obrigkeit ist, ist immer nur für das Volk da, und wenn er auf dem Landammannsstuhle in der Landesgemeinde ist, dann soll er ganz und gar nicht für sich, sondern nur für das Volk sprechen.“
Ich sah den Mann verwundert an. Ich verstand nur halb, was er sagte. Ein Schullehrer aus einem benachbarten Dorfe ging mit, er nahm erläuternd das Wort.
„Wir ehren und achten unsere Obrigkeit; aber wir halten vor Allem auf unsere Freiheit, und besonders auf der Landesgemeinde wollen wir, daß jeder Einzelne nur nach seinem eigenen, freien Urtheile beschließen soll. Am allerwenigsten soll sich unsere Obrigkeit herausnehmen dürfen, auf das Urtheil der Leute einwirken zu wollen. Ich gebe zu, daß der Herr Landammann heute nur für eine gute Sache und nur Gutes gesprochen hat; aber er zeigte doch offenbar, daß er die Leute überreden wollte, in seinem Sinne zu stimmen. Das wollen wir nicht; das soll er nicht. Wie er heute für eine gute Sache überreden wollte, so könnte es ein ander Mal kommen, daß er etwas durchsetzen wollte, was nicht zum Wohle des Landes gereichte.“
Das war es, was der alte Landmann gemeint hatte, als er sagte, der Landammann habe nicht mehr für das Volk, sondern für sich gesprochen, und das dürfe nicht sein. Er bestätigte es, mit ihm alle Anderen.
Was sagen Sie dazu, mein lieber Freund?
Die Leute erläuterten ihre Worte noch durch eine Thatsache. Ein anderer alter Landmannn erzählte sie mir:
„Vor mehreren Jahren war Landammann der Herr Zellweger. Er war einer der tüchtigsten Landammänner, die das Land gehabt hat. Aber einmal vergaß er sich. Es war auch auf einer Landesgemeinde. Es handelte sich darum, ob der Soldat (Landwehrmann) sich, wie bisher, seine Waffen selbst anschaffen solle, oder ob sie, wie ein neuer Vorschlag gemacht war, auf Kosten des Landes ihm geliefert werden sollten. Der Landammann Zellweger war gegen den neuen Vorschlag, besonders aus dem Grunde, weil dadurch eine neue Steuer für das Land herbeigeführt werde, und weil nichts bedenklicher und gefährlicher für das Land sei, als die Schaffung einer neuen Steuer. Auf die erste folge die zweite, auf die zweite die dritte u. s. w. Das Alles war recht und gut. Aber er brachte es mit einem Eifer vor, daß man merkte, es sei ihm daran gelegen, daß die Leute nach seinem Willen stimmten, er wolle die Leute überreden, er wolle seinen Willen durchsetzen. Und was geschah da, Herr? Er hatte, wie ich sage, Recht. Es war daher auch fast die ganze Landesgemeinde auf seiner Seite, und der neue Vorschlag wurde verworfen. Ich selbst stimmte auch so. Die ganze Landesgemeinde hatte aber auch auf der Stelle die Ueberzeugung gewonnen, daß ein Landesbeamter, der nicht für das Volk, sondern für sich spreche, der das Volk nach seinem Willen leiten wolle, nicht mehr unsere Obrigkeit, nicht mehr unser Landammann sein könne. Als nachher die neue Obrigkeit für das folgende Jahr gewählt wurde, wurde er nicht wieder gewählt. Ich selbst stimmte gegen ihn.“
Und hiermit schließe ich meinen Bericht.
Sie sehen, lieber Keil, ist ein Volk auch noch so klein, es kann durch seine Tüchtigkeit, durch seine charakterfeste Liebe für Gesetz und Freiheit doch groß sein.
[693]
Die Nordamerikaner gelten jetzt für die besten Schiffbauer; namentlich in der Herstellung von Segelschiffen haben sie eine unbestrittene Meisterschaft erlangt; ihre schnellsegelnden Kutter wetteifern beinahe mit den Dampfschiffen und noch immer ist man bemüht, die Schnelligkeit der Fahrt zu steigern. Immer und überall handelt ja dies merkwürdige Volk nach dem alten Spruche:
„Zeit ist Geld!“. Je mehr sie Zeit ersparen und gewinnen, um so mehr glauben sie, und mit Recht, Geld und Geldeswerth zu gewinnen. Daher ihre Hast und ihre Eile in Allem, daher auch ihr Streben, die Zeit so weit als möglich abzukürzen, welche ihre Schiffe zur Fahrt auf den Flüssen und über die Meere brauchen.
In ihrem Programme, das sie in Bezug auf ihren neuen Dampfer erlassen haben, heißt es unter Anderem:
„Wir bauen denselben, um größere Sicherheit und Schnelligkeit, sowie dadurch wohlfeileren Transport zu ermöglichen. Da er ganz von Eisen gebaut ist, so steht nie eine Gefahr durch Feuer zu befürchten und wegen der von einander getrennten wässerdichten Gemächer kann auch nicht wohl ein Sinken in Folge von einem Zusammenstoße etc. erfolgen, denn es kann eins der Gemächer, ja es können mehrere sich mit Wasser füllen, ohne die Sicherheit des Ganzen ernstlich zu gefährden. [694] Die Gestalt des Schiffes ferner macht dasselbe stärker, als die übrigen, und gewährt dem Winde und den Wogen weit weniger Fläche, so daß die Gefahr durch schwere Wogen und durch Sturm ebenfalls verringert wird. Von je weniger Schwere das Schiff selbst ist, um so mehr Fracht kann es führen und um so weniger nimmt die Last des Schiffes allein von der bewegenden Kraft in Anspruch. Mit 200 Tonnen Kohlen an Bord wird dieser Dampfer 200 Passagiere, die Briefbeutel und werthvolle Fracht, wie Geld etc. befördern können und wir glauben, daß er die Fahrt nach England binnen vier Tagen zurücklegt.
„In Folge dieser raschen Fahrt können die Fahr- und Frachtpreise sehr bedeutend herabgesetzt werden und da eine Verminderung der Kostspieligkeit der Seereisen und des Seetransports, bei Erhöhung der Sicherheit, ein Gewinn für die Nationen ist, so dürfen wir wohl auf besondere Beachtung unseres Unternehmens rechnen.“
Schon mehrere Jahre sind vergangen, seit ich den letzten Becher aus des Niles Fluthen zum Abschiede trank, und noch immer habe ich die Wahrheit des arabischen Wortes: „Wer einmal den Nil gekostet hat, dem läßt die Sehnsucht keine Ruhe, bis er wiederkehrt zu seinen palmenbestandenen Ufern,“ nicht durch die That beweisen können, so gern ich auch wollte. Hundert Bande, die zu sprengen ich zu schwach bin, fesseln mich hier in der Heimath; nur der Geist kann sich ergehen auf jenen Lichtgefilden des Morgenlandes, welche mir lieb und theuer geworden sind, wie die Stätte meiner Geburt. Gar oft will mir ein eignes Sehnen im Herzen sagen, daß jene Länder mir zur zweiten Heimath geworden seien; denn niemals habe ich es vermocht, diese Sehnsucht von dem bittersüßen Heimweh zu unterscheiden. Ich sehne mich aber nicht blos nach den Ländern im Osten, sondern auch recht innig zuweilen nach Menschen, lieben, guten Menschen von dort her, welche mir einst theuer und werth waren. Gar befreundete Gestalten treten vor mein inneres Auge, wenn ich das alte, zerlesene Buch meiner Erinnerungen wieder aufschlage; jedoch ist unter ihnen allen kaum eine, welche sich mit der einen Rose vergleichen ließe. Ihr Duft hat mich eine Zeit lang berauscht, und weht heute noch oft herein in meine Gedanken und Träume. Es war ein frisch-milder, lieblich-wohliger Duft, den jene Rose vorstreute, und heut zu Tage noch kann ich traurig werden, wenn ich an sie denke. Wenn ich doch einmal mir die Brust schmücken könnte mit dieser Rose!
Ich war in den Tagen, von denen ich reden will, ein munterer Bursch von kaum mehr als zwanzig Jahren, welcher trotz mancher sehr ernsten Erlebnisse lustig in die Welt hinaussah, und fröhlich übermüthig alle übrigen Adamskinder nur als Gegenstände seiner Heiterkeit oder seines Spottes betrachtete. Ein hübsches Stückchen Erde hatte ich bereits gesehen; mit verschiedenen Völkern hatte ich mich vertraut gemacht; Italienisch und Arabisch, die beiden Hauptsprachen für den europäischen Reisenden, waren mir geläufig geworden. Da führte mich mein unstätes Jägerleben auch nach einer der bedeutendsten Städte des untern Egyptens, in deren Nähe ein großer, jagdreicher See sich ausbreitet. Die Stadt liegt reizend. Ein Arm des Nils geht mitten durch sie hindurch, Palmenwälder umhegen sie, und in nicht allzu großer Ferne bildet ein Stückchen Meer den prachtvollen Rahmen zu dem am wenigsten anziehenden Theile des Rundbildes, das man von den platten Dächern der höheren Häuser der Stadt genießt. Man hatte mir in Kairo Empfehlungsbriefe an einige der reichsten und deshalb angesehenen christlichen Bewohner der Stadt mitgegeben, welche mir sogleich nach meiner Ankunft eine Wohnung verschafften, wie ich sie gern habe. Kahil, so hieß mein Gastfreund, räumte mir und meinen Dienern mehrere Zimmer in einer alten „Wekahle“ ein, welche nur von Christen bewohnt wurde.
Um meinen deutschen Lesern die nöthige Beschreibung dieser Wohnung zu geben, muß ich wohl erst sagen, daß „Wekahle“ eigentlich ein verwaltetes Gut bezeichnet, gewöhnlich aber als Benennung eines großen Gebäudehaufens gilt, dessen untere Räumlichkeiten Waarenlager sind, während die oberen von verschiedenen Familien bewohnt werden. Meist sind diese Wekahlaht schon alt und mehr oder weniger zerfallen; im Hofe gibt es ein wirres Durcheinander von Gängen, Thüren, Winkeln, Ecken, in der Höhe malerische Erker mit kostbarem alten Gitterwerk, in welchem der ganze, große Reichthum einer arabischen Künstlerseele sich geltend gemacht hat, jetzt aber einzelne Stäbe oder größere Theile herausgebrochen sind, gleichsam, um ein Malerauge noch unwiderstehlicher zu fesseln, als es ohnehin geschieht. Dazu fällt nun das reiche Licht des Südens auf Mauer und Wände und webt und dichtet mit den alten Gittern, Erkern, Ecken, Winkeln, Vorsprüngen auf den buntfarbigen Mauern Gemälde zusammen, deren Reiz so gewaltig ist, daß sie auch das trockenste Menschengemüth mächtig ergreifen. In einem solchen Hause zu wohnen, ist gar ein eigener Genuß. Bald lacht die Sonne hell durch’s Fenster herein in’s alterthümliche, arabisch-märchenhafte Zimmer, bald wirft sie nur noch Streiflichter an irgend eine Wand desselben, bald schielt und schafft sie an einer anderen Hofseite mit Schatten und Licht; bald läßt der Wind den ziemlich einsam Hausenden durch die sich sanft und anmuthig neigenden Palmenhäupter, welche überall hereinsehen, grüßen; bald fesselt ein morgenländisches Menschengetriebe unten im Hofe die Aufmerksamkeit. Nach des Tages ununterbrochenem Wechsel haucht dann das Abendroth noch seine duftigen Farbentöne über die Halbtrümmer, und der Mond versucht es, das in Silber nachzumalen, was die Sonne in glühenden Goldfarben mit südlicher Meisterschaft vorgemalt hatte. Dann wird es still genug, um die Klänge des „Soht“, einer Art liegender Harfe, zu vernehmen, welche die einfache, wehmüthig ernste Weise begleiten, in die ein schmachtendes oder still beglücktes Menschenherz irgend ein Schasol einhüllt, weil dieses schier allzureich ist an Pracht und Fülle des Gedankens, Lieblichkeit und Anmuth des Wortes, als daß es so unverhüllt seine berauschenden Blüthen entfalten könnte. In einem derartigen Hause wohnte ich.
Meine Wohnung war von den übrigen streng geschieden. Wenn man von der Straße aus durch das große Hufeisenbogenthor hereintrat, kam man in eine Art Vorhalle mit einer prächtig alten, zerfallenen Holzdecke; zwei Treppen mit ziemlich unregelmäßigen Stufen führten rechts und links nach den oberen Geschossen. Man betrat nun einen breiten, durch Oberlicht erleuchteten Gang, in welchem die Eingangsthüren zu den einzelnen Wohnungen lagen. Die siebente oder achte Thüre führte zu meiner Behausung. Diese war im Ganzen einfach und klein. Eine Küche, ein Vorsaal und ein Zimmer lagen im ersten Geschoß, zwei Zimmer im zweiten. Von hier aus stieg man vermittelst einer Holztreppe zu dem platten Dache hinauf, welches mit hohen Mauern umhegt war und keinen Blick auf die Terrassen meiner Nachbarn gestattete, zum Glück aber noch einen Oberbau besaß, von wo aus das Auge nicht nur alle übrigen Terrassen des Hauses, sondern auch einen großen Theil der Stadt und das weite, in Fülle schwelgende Flachland beherrschen konnte. Was kümmerte es mich, daß allen früheren Bewohnern meines Haustheiles diese Höhe als heilige Stätte erschienen war, welche ihr Fuß nicht zu betreten wagte – weil sie von dort aus leicht irgend eine Frau der Nachbarn gesehen haben könnten! Ich wußte, daß meine Nachbarn Christen waren, und deshalb auf ihre Frauen unmöglich die eigentliche Bedeutung des Wortes „Harem“ – d. i. das Unantastbare – angewendet werden konnte; darum stieg ich unbesorgt allabendlich auf das Dach jenes kleinen Terrassenstübchens hinauf. Von da aber hatte ich eine so reizende Aussicht! Die Sonne ging jedesmal prachtvoll hinter einem dünnbestandenen Palmenwalde unter, und malte dann immer einen so überaus herrlichen Goldgrund zu dem Palmenbilde, daß jede einzelne Krone nicht nur scharf und deutlich davon abstach, sondern auch eine Farbe annahm, welche mir so wunderbar vorkam, daß ich mich gar nicht satt sehen konnte. Und das war noch durchaus nicht das Einzige, was ich sah. Jenes Zauberspiel des Lichtes, welches ich im Kleinen im Innern der Wekahle bemerkte, war auch über die Häuserreihen an beiden Ufern des Stromes verbreitet und dort von noch ganz anderer Wirkung – ich bin gar nicht im Stande zu beschreiben, von welcher. Nur das kann ich sagen, daß die kühnsten Gebilde meiner Einbildungskraft noch unendlich weit von der Wirklichkeit übertroffen wurden. Jeder Abend dort oben webte mir neue, gleich bunte und gleich liebe Träume um das Herz, [695] jeder Abend machte mir das Plätzchen theurer. Ich kannte zuletzt jeden Erker, ich wußte, wann dieser im Licht, jener im Schalten liegen würde; ich hatte die Barken auf dem Strome mit ihren weißen, dreieckigen, geblähten Segeln schon hundert Mal gesehen; ich wandelte schon seit mehr als Jahresfrist unter Palmen — und konnte doch nicht von meinem Schausitze lassen. Das kam daher, weil mir eine innere Stimme dunkel andeutete, daß ich einstmals noch weit mehr von jenem Orte aus entdecken sollte, als bisher.
Eines Abends träumte ich wiederum still der eben geschiedenen Sonne nach. Von den Minarets herab tönte noch die Mahnung des Mueddin an die Gläubigen, das Abendgebet zu sprechen. Deshalb war auch das Getöse der Stadt plötzlich verhallt, das Tiktak der Hämmer auf der nahen Werfte mit einem Male verstummt.
„Hai ál el salah!“ (Rüste Dich zum Gebet!) — sang der Verkündiger des Glaubens, und die meisten Gläubigen beeilten sich, der Aufforderung nachzukommen. Einige hatten die Wäsche bereits vollendet und lagen im Gebet auf den Knieen, zuweilen sich erhebend, um wieder niederzufallen und die Stirne in den Staub zu drücken, zuweilen beide Arme ausbreitend und wieder die Hände zusammenhaltend, wenn sie das aufgeschlagene Buch des Propheten darstellen sollten, wie dies das Gesetz des Islam erfordert; die ausdrucksvollen Gestalten waren förmlich umflossen von dem Golde des Abends. Andere waren eben im Begriff, sich nach den vorgeschriebenen Regeln zu säubern, „um rein hinzutreten im Gebet vor Gott.“ Ein Andachtshauch ging durch die still gewordene Stadt; selbst die Palmenkronen bewegten sich nicht mehr: ich aber lebte doppelt, denn ich wachte und träumte zugleich. Da wurden meine Augen von einem Bilde gefesselt, welches ich dem Traume zuschreiben wollte, und mit Luft der Wirklichkeit zuschreiben durfte. Auf der nächsten Terrasse war eine Frauengestalt erschienen, so schön, so anmuthig, so kindlich lieblich, wie ich sie bisher noch niemals erschaut hatte. Ich konnte mich nicht losreißen von ihr, und mußte sie anreden:
„Gebe Dir Allah, der Erhabene, einen glücklichen Abend, Herrin!“ rief ich zu ihr herüber.
Sie erschrak, und wollte sich das Gesicht mit dem Schleier verhüllen, hatte aber zum Glück dieses jetzt ganz entbehrliche Kleidungsstück unten vergessen.
„Warum, Herrin meiner Seele, erschrickst Du? Und warum willst Du mir das Licht des Vollmondes, Deines Gesichtes, entziehen? Weißt Du nicht, daß ich ein Franke bin? In meiner Heimath verhüllen die Wolken wohl oft die Sonne am Himmel, aber die Wolken des Schleiers nicht die Sonnen auf Erden. Ich bin gewohnt, unsern lieblichen Töchtern der Erzmutter Eva frei in's Angesicht zu schauen; warum willst Du Sonne Dich mir verbergen? Bist Du nicht Christin?“
„Wohl bin ich Christin,“ erwiderte sie, „gelobt sei Gott und unser Herr; aber ich kenne noch keinen fremden Mann, welcher mein Gesicht gesehen hätte. Dein Land ist nicht mein Land, Deine Sitte nicht meine Sitte, Herr! Im Lande der Franken ist die Frau frei, hier ist sie Sclavin; bedenke das, Guter! Möge Deine Nacht glücklich fein!“
Sie wollte gehen.
„Halt, Herrin, warum willst Du davon eilen? Hast Du mich noch nicht gesehen?“
„O, schon sehr oft; gleich am ersten Tage Deiner Ankunft sah ich Dich und seitdem alle Tage.“
„Nun wohl, fürchtest Du Dich vor mir?“
„Nein, aber die Sitte gestattet mir nicht, mit Dir zu reden.“
„Aber, Mädchen, ist denn die Sitte meines Landes nicht besser, als die des Landes der Mohammedaner?“
„Gewiß, Herr; ich habe oft gewünscht, die Tochter eines Franken zu sein; denn ich liebe die Franken, weil ich weiß, daß ihre Männer anders sind, als die unsrigen. Man sagte mir, daß ihre Frauen die wahren Freundinnen ihrer Männer wären; wir sind die Dienerinnen unserer Herren!“
„Hast Du denn einen Herrn, meine Herrin?“
„Nein, ich bin noch bei meinen Eltern. Doch glückliche Nacht!“
„Warum entfliehst Du, Licht meiner Augen? Bleibe, ich bitte Dich!“
„Ich darf nicht.“
„Go sage mir wenigstens Deinen Namen, Du liebliche Gazelle!“
„Ich heiße Warde.“
„Wirst Du wieder hierher kommen?“
„Ich darf nicht. Gute Nacht, Herr!“
Sie war verschwunden; ich wußte noch immer nicht, ob ich wachte oder träumte. Aber den Namen Warde hatte ich behalten, ich wußte genau, daß er „Rose“ bedeutet; denn ich verspürte den Duft dieser Rose — im Herzen. Ich hätte ja nicht einundzwanzig Jahre alt sein müssen! Zwar dachte ich an eine andere Blume in der Heimath, von welcher ich oft gemeint hatte, daß sie einmal für mich allein blühen werde; aber diese Blume war, seitdem ich die Rose des Morgenlandes gesehen hatte, fast verblichen. Ich entwarf Pläne, mich in das Haus meines Nachbars einzuschmuggeln, die Mauer zu übersteigen, welche mich von der mir zum Rosengarten gewordenen Terrasse trennte; ich dachte plötzlich an Hierbleiben und Hüttenbauen, kurz an Alles, woran ein junger Mann unter derartigen Umständen denken kann. Vorerst aber beschloß ich, abzuwarten, was der folgende Abend bringen würde.
Er kam und brachte mir wirklich meine Rose! Kindlich aufrichtig erzählte mir Warde, daß sie nicht habe kommen wollen; aber ich sei auch nicht, wie die andern fremden Männer. Das möge wohl daher kommen, daß ich ein Franke sei. Dann fragte sie mich, was ich von ihr wolle.
„Reden will ich mit Dir, Gazelle; meine Augen bedürfen ihres Lichtes; meine Seele bedarf des Hauches ihres Lebens; die Muscheln meiner Ohren sind bereit, die Perlen deiner Worte in sich aufzunehmen.“
Ich wollte noch weit mehr sagen, aber ich merkte, daß es zweierlei Sprachen gibt im Leben. Vorher hatte ich mir eingebildet, recht gut arabisch sprechen zu können; jetzt sah ich, daß ich gar nichts von der Sprache verstand, als die allergewöhnlichsten Worte. Ich quälte mich mit Versuchen, die Gedanken auszudrücken, welche mir eine Wortfülle brachten, wie früher nie — aber nur eine Fülle deutscher Worte. Das, was ich eben gesagt hatte, war mir kurz vorher von einem weisen Scheich gelehrt worden, mit welchem ich eiligst Freundschaft geschlossen hatte. Aber der Unterricht dieses edlen Mannes reichte ja nicht zum hundertsten Theile aus. Ein Glück nur, daß er mir gesagt hatte, „Habihbti“ bedeute „meine Geliebte.“ Ich radebrechte also flugs weiter:
„Ich wünsche, o Rose, Du bist Habihbti.“
Sie lächelte. Dann fragte sie ernsthaft:
„Bist Du verheirathet, Herr?“
„Nein, Warde.“
„Hast Du eine angelobte Braut?“
„Nein.“
„Hast Du Eltern?“
„Gott sei Dank, ja.“
„Hast Du Schwestern?“
„Ja, eine einzige; aber sie ist weit, weit von mir, und meine Eltern auch, und Alle, welche ich liebe; ich bin ganz allein hier in der Fremde.“
Bedauernd sagte sie:
„Ja, Mischihn (Du Armer)!“ — Dann setzte sie hinzu: „Wohl, so will ich Deine Schwester sein; nenne mich Schwester, ich werde Dich Bruder nennen!“
Nun folgten schöne, herrliche Tage oder vielmehr Abende; ich lernte verstehen, was das Wort: „Leila“ (Nacht) bedeutet es klingt mir noch heute wie Musik, wenn ich es höre. Ich sah Warde allabendlich; der Vater mochte schmollen, die Mutter grollen, wie sie wollten, sie erschien doch. Ich nannte sie Schwester, aber ich durfte sie auch Habihbti nennen, sie nannte mich ja auch zuweilen Habihbi“ — und das Wort schien mir das schönste, wohllautendste der arabischen Sprache zu sein. Der Scheich lehrte mich Worte, wie sie in seinen Büchern standen; Warde lehrte mich solche, wie sie das frisch erblühte Leben bedurfte. Die Rose duftete für mich; ich durfte ihren Duft einsaugen, denn ich durfte meine Brust mit ihr schmücken. Ich war glücklich — und lernte alle Tage besser arabisch. Wie ein Kind — sie war noch fast ein solches — freute sich das liebliche Mädchen, als ich ihr einst Hafisee's Worte, die mich der Scheich gelehrt hatte, ohne Anstoß vortrug:
„Salah âle lillahi, ila jâmel el johm wu el leïla,
Wodjak, ja nuhni, el johm, wu schahrak, habihbti, el leïla!“
zu deutsch:
„Ich preise Gott, der Tag und Nacht gemacht,
Den Tag, Dein Antlitz, und Dein Haar, die Nacht!“
[696] Aber die Tage flogen dahin; die Pflicht gebot mir, zu scheiden. Ich sagte es Warde lange vorher und betrauerte jetzt den Abend, an welchem ich sie zuerst gesehen.
„Die Betrübniß ist eingezogen bei uns und der Schmerz ist zwischen uns getreten, mein Bruder, mein Freund, mein Herr,“ sagte sie mir; „doch Du kannst mich ja mit Dir nehmen, o Lust meiner Seele!“
„Nein, Warde, das kann ich nicht!“
„Und warum nicht, Herr?“
„Weil ich nach Ländern ziehe, in denen die Erde Feuer, der Wind eine Flamme ist; in denen die Luft zum Gifthauche und die Sonne zur Qual wird; in denen selbst der Mond ein Feind des Menschen ist. Ich muß und will nach dem Lande der Schwarzen gehen; und Du weißt ja wohl, was das bedeutet. Du duftige Rose aus dem blühenden Garten Deines schönen Landes würdest verwelken in jener Gluth; Du liebliche Gazelle würdest verdursten in dem Feuer der Wüste; Dein Leib würde versiechen unter dem Gifthauche des Windes. Weiß ich doch nicht, ob ich selbst wiederkehren werde aus jenen Ländern, und ich bin ein Mann und gewohnt, Beschwerden zu ertragen!“
„O, Du irrst, Herr,“ erwiderte sie, „Du irrst, wenn Du glaubst, eine solche Reise besser ertragen zu können, als ich. Du bist ein Fremder hier im Lande; Dich haßt nicht blos das Volk der Länder, nach denen Du ziehst, Dich hassen auch dort die Sonne und der Mond, der Wind und die Erde. Dein Haupt wird der Wind beugen, Dein Auge wird die Sonne blenden, Deinen Leib wird ihre Gluth austrocknen, Deine Nacht wird der Mond zur Hölle machen. Ich bin eine Tochter des Landes, welches der Strom durchfließt; soweit seine Quellen reichen, dehnt sich meine Heimath. Diese Sonne glühte in der Stunde meiner Geburt; dieser Mond beleuchtete die erste Nacht meines Lebens. Meine Brust ist geschützt, wie die des persischen Kriegers gegen den Giftpfeil des Windes; Du aber wirst erkranken und verwelken und Niemand wird bei Dir sein und für Dich beten! Oder glaubst Du, daß Deine schwarzen Diener an Deinem Lager warten werden? Wären sie gute Menschen, hätte Allah ihnen nicht ein schwarzes Gesicht gegeben; so schwarz als dieses ist auch ihr Herz. Darum laß mich mit Dir gehen, ich folge Dir bis an’s Ende der Welt. Ich will Dir dienen, wenn Du gesund bist, und Dich pflegen, wenn Du erkranken solltest; ich will Dir Schaselaht singen, wenn Du fröhlich bist, und Dich trösten, wenn Du traurig wirst. Nimm mich mit Dir, Chalil, mein Bruder, mein Freund!“
„Seele meines Lebens, ich kann, ich darf nicht. Es wäre Sünde an Dir und Deinem Leben, Habihbti! Und dann, wie soll ich Dich mit mir nehmen, Warde?“
„Als Dein Weib, Mann!“
„In meinem Lande heirathet man nicht so früh; ich zähle noch zu wenig Jahre, als daß ich Dich meine Frau nennen dürfte; das bedenke, o Gute!“
„So nimm mich mit Dir als Deine Dienerin, als Deine Sclavin; befiehl mir, was ich sein soll, ich werde Dir gehorchen, Herr, ich stehe auf Deinem Eigenthume.“
„Es geht nicht; es ist unmöglich, Warde,“ sagte ich traurig; „es wäre eine Sünde an Dir. Denke an mich, wenn ich in der Fremde bin!“
„O, Du wirst meiner gedenken, wenn das Unglück in Dein Zelt tritt und die Krankheit sich auf Dein Lager legt!“
„Ich werde Deiner immer gedenken, Warde!“
Sie antwortete nichts mehr; sie weinte. – Auch später bat sie mich nicht mehr, sie mit nach dem Sudan zu nehmen; aber wenn ich sie sah, bemerkte ich Thränen in ihren Augen: Himmelsthau auf der Rose! – Endlich mußte ich von ihr scheiden. Der Abschied brachte mir alle Trauer, welche in diesem Worte liegt.
„Allah behüte Dich und Issa (Jesus) sei mit Dir, Du lieber, böser, fremder Mann!“
Das waren die letzten Worte, welche ich von ihr vernahm.
Ich nahm einen arabischen Lehrer an und lernte mit wahrer Hast arabisch, um ihr schreiben zu können. Oft habe ich ihr geschrieben, doch niemals erhielt ich Antwort von ihr. Nach ihr zu fragen, verbot mir die Sitte des Landes. Wen hätte ich auch fragen sollen?
Ob sie wohl noch blühen mag, diese Rose? Ich weiß es nicht; das aber weiß ich, daß sie mir heute noch blüht, wenn mich der Wohlduft einer Rose anweht; und ich liebe darum diese Blume über Alles. Die Blume der Heimath war keine Rose – aber scharfe, giftig scharfe Dornen hatte sie wohl. Sie ist mir bald und vollkommen verblüht.
Die vorliegenden Zeilen beanspruchen nur Eins: die Würdigung der vollsten Wahrheit, welche sie enthalten. So weit ich es vermochte, habe ich arabische Worte treu in deutsche übersetzt.
Postämter in B., Dr., Berl., Döbeln, Oschatz, Risa, Wurzen. Unglücksfälle aller Art verhinderten in den letzten Wochen die regelmäßige Ausgabe der Nummern zum Freitag. Es ist Vorkehrung getroffen, daß dergleichen Unregelmäßigkeiten nicht wiederkehren.
B. Th. Das Gedicht kann nicht aufgenommen werden.
A. Tr. Der Artikel, in seinen Einzelheiten ganz interessant, ist so formlos und lüderlich gearbeitet, daß er beim besten Willen keine Aufnahme finden kann. Sie schildern polnische Wirthschaft in polnisch-lüderlicher Weise.
F. M. in Brünn. Bedauern, keinen Gebrauch von Ihrer Offerte machen zu können.
In unserm Verlage ist soeben erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
von
Adolph Kolatschek.
Inhalt:
Politik und Weltanschauung. – Das Komma im Frack. – Staatswirthschaft oder Volkswirthschaft? – Ein Gang durch Berlin. – Parteibestrebungen in Oesterreich. – Die Münchner Idealisten. – Die sardinisch-französischen Umtriebe in der Schweiz und die Genfer Politik. – Die Kunst im Gewerbe, mit besonderer Berücksichtigung der Pariser Industrie. – Robert Schumann. Eine kritische Studie. I. Schumann’s Stellung in der Musik. – Ueber den wissenschaftlichen Geist der Zeit. – Politische Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Von Frdr. Kapp. I. Historische Rückblicke. – Ueber Max Wirth’s Geschichte der Handelskrisen.
Die beste Wohlfahrtspolizei. Nach den Lehren der Volkswirthschaft. – Die Politik des Schreckens. – Thomas Carlyle’s „Geschichte Friedrich des Großen.“ – Jean Law und seine Zeit. – Robert Schumann. Eine kritische Studie. II. Das Concrete in der Musik. III. Das Kränkliche in der Musik. – Die Kunst im Gewerbe, mit besonderer Berücksichtigung der Pariser Industrie. Allgemeine Regeln. – Die Aussichten in Preußen (Aus Süddeutschland). – Oesterreich und die preußische Regentschaft. – Londoner Correspondenz. London, 24. October.
Die „Stimmen der Zeit“ erscheinen in monatlichen Heften von 7 bis 8 Bogen und kosten vierteljährlich 2 Thaler.
Gotha.