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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]
Zweite Auflage.
No. 1. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


An unsere Freunde und Leser!

      Grüß Euch Gott, lieben Leute im deutschen Lande!

Zu den vielen Geschenken, die Euch der heilige Christ bescheert hat, kommen auch wir mit einer Gabe – mit einem neuen Blättchen! Seht’s Euch an in ruhiger Stunde. Was wir wollen und bringen – das Alles können wir Euch freilich nicht im Voraus sagen und aus der ersten Nummer werdet Ihr’s auch nicht ganz ersehen können; wir hoffen indeß, es soll Euch gefallen.

Wenn ihr im Kreise Eurer Lieben die langen Winterabende am traulichen Ofen sitzt oder im Frühlinge, wenn vom Apfelbaume die weiß und rothen Blüthen fallen, mit einigen Freunden in der schattigen Laube – dann leset unsere Schrift. Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und für die Familie, ein Buch für Groß und Klein, für Jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat am Guten und Edlen! Fern von aller raisonnirenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions- und andern Sachen, wollen wir Euch in wahrhaft guten Erzählungen einführen in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten.

Dann wollen wir hinaus wandern an der Hand eines kundigen Führers in die Werkstätten des menschlichen Wissens, in die freie Natur, zu den Sternen des Himmels, zu den Blumen des Gartens, in die Wälder und in die Eingeweide der Erde, und dann sollt Ihr hören von den schönen Geheimnissen der Natur, von dem künstlichen Bau des Menschen und seiner Organe, von Allem, was da lebt und schwebt und kreucht und schleicht, was Ihr täglich seht und doch nicht kennt. Und was außerdem noch von Interesse ist im Thun und Treiben der Menschen – Ihr sollt’s finden in unserm Blättchen, das zu alle den Dingen, die wir Euch bieten, auch noch verzierende und erklärende Abbildungen bringt von anerkannten Künstlern.

So wollen wir Euch unterhalten und unterhaltend belehren. Ueber das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume, und es soll Euch anheimeln in unsrer Gartenlaube, in der Ihr gut-deutsche Gemüthlichkeit findet, die zu Herzen spricht.

So probirt’s denn mit uns und damit Gott befohlen!

 Ferdin. Stolle, Redakteur. Ernst Keil, Verleger. 

Die Gartenlaube erscheint wöchentlich mit vielen Illustrationen und kostet vierteljährlich nur 10 Ngr. Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.

Leipzig, Ende December 1852.
Die Verlagshandlung. 
[2]

Ein Mutterherz.

Erzählung nach einer wahren Begebenheit
von
Ferdinand Stolle.

In einem jener stillen grünen Thäler des schönen Sachsenlandes, wo lieblich die blauen Wellen der Mulde die Blumenufer küssen und der Himmel, so weit der Blick reicht, auf grüne Waldberge herabsinkt, umschatteten majestätische Linden ein freundliches Landhaus. Weithin über die gesegnete Gegend grüßten gastlich die grünen Jalousien, und der auf schlanken Säulen ruhende Altan war bekränzt mit blühenden Oleandern und buntfarbigen Hortensien. Fröhlich grünte auf der Morgenseite der Wein an sauber gehaltenem Geleite und in dem angrenzenden Garten ruhte der Frühling in stiller Pracht.

Aus der Glasthüre, die nach dem Balkon führte, trat eine nicht zu große, feingebaute Frau, mit sanften anmuthvollen Gesichtszügen. Ihr Anzug war einfach, aber geschmackvoll. Lange ruhte ihr schönes, von langen Wimpern umschattetes Auge auf der reichen Frühlingslandschaft; dann setzte sie sich an ein Tischchen in der Ecke des Balkon und nahm eine Stickerei zur Hand.

Rings athmete Stille: Lerchengesang klang von den Waldbergen herüber. Ueberall junges goldnes Grün – ein liebes Frühlingsbild.

Da knisterte von Neuem die Glasthüre, und vorsichtig, um von der geliebten Gattin nicht bemerkt zu werden, trat ein hoher stattlicher Mann heraus. Er trug ein Packet unterm Arme und nahte sich so leise wie möglich der Stickerin, um durch einen Kuß auf ihren schönen Nacken sie angenehm zu überraschen. Aber Felicitas hatte ein feines Ohr. Sie wandte das Köpfchen, und als sie den geliebten Gatten erschaute, eilte sie mit einem Freudenausruf dem unerwartet Heimgekehrten in die Arme.

Georg führte die Freudigüberraschte in den angrenzenden Salon, schlug das Packet auseinander, und indem er ihr einen Kuß auf die schöne Stirn drückte, schlang er mit Geschick und Grazie einen kostbaren Shawl um ihren Nacken.

Wo wäre das Weib, das beste nicht ausgenommen, das bei einem solchen aus Liebe dargebrachtem Geschenk nicht eine Art weiblicher Glückseligkeit empfände. Felicitas war ganz Freude, Glück und Dank. Sie war nicht putzsüchtig; aber ein solches kostbares Kleidungsstück, zugleich ächt und werthvoll, war schon immer der Wunsch ihres Herzens gewesen. Sie hatte ihn zwar nie laut ausgesprochen; aber der zartsinnige Gatte hatte ihn doch erlauscht und die erste passende Gelegenheit benutzt, ihn im reichen Maaße zu erfüllen.

Nach Felicitas kam die ganze Hausgenossenschaft an die Reihe. Da war Niemand vergessen. Jedem hatte der gute Hausherr ein passendes Geschenk, eine sogenannte „Messe“ mitgebracht. Da war Jubel im Hause. Eins zeigte seine Gabe dem Andern. Ueberall frohes Erstaunen, Bewundern, Dankgefühl. Ein kleiner Frühlingheiligerabend.


Als aber der Abendstern erblühte in himmlischer Schöne, die Lindenbäume stärker dufteten, das Wehr in der Ferne zu rauschen begann und die Nachtigall in langgehaltenen Tönen von Zeit zu Zeit aus den Waldbergen herüberschlug, saßen Georg und Felicitas wieder auf dem Balkon und erfreuten sich des himmlischen Frühlingsabends. Georg hatte seinen Arm um das geliebte Weib geschlungen, und sie auf ihre schönen Augen küssend, wie er so gern that, frug er: Nun, meine geliebte Königin der Unglücklichen, wie steht es in Deinem Reiche, was machen Deine Armen? Hast Du gereicht mit der Summe, die ich Dir zurückgelassen?

Felicitas seufzte. Mein guter lieber Mann, sprach sie, in dem ihr so eigenthümlich sanften, wohlthuenden Tone, Du glaubst nicht, wie groß das menschliche Elend ist, wenn man der Armuth nur etwas tiefer in das hohle Auge blickt. Die Summe, die ich vor Deiner Abreise überkommen, glaube mir, ist wohlangewendet; aber sie reichte nicht; und da ich kein Geheimniß vor Dir habe, mein guter Georg, so will ich Dir nur gestehen, selbst wenn Du schelten solltest, daß ich eine kleine Anleihe bei meiner Wirthschaftskasse gemacht habe, die ich durch spätere Ersparnisse wieder einzubringen gedenke.

Bei diesen Worten zuckte ein Strahl himmlischer Freude über Georg’s Gesicht. Er preßte das geliebte Weib inniger an’s Herz. Du Engel, sprach er, so will ich Dir eine recht frohe Botschaft mittheilen. Wisse, meine bedeutende Speculation vom vorigen Herbste ist von wunderbarem Segen begleitet gewesen. Ich kehre doppelt [3] so reich zurück, als ich es war, da ich von Dir Abschied nahm. Ich kann daher auch das Budget Deiner Barmherzigkeitskasse um das Doppelte erhöhen. Folge nun ganz[WS 1] Deinem edeln Herzen und thue wohl denen die Deiner Wohltaten bedürftig und ihrer würdig sind. Erfülle ganz Deinen Lieblingsspruch: Seid barmherzig, wie euer himmlischer Vater barmherzig ist.

O mein Freund, erwiederte Felicitas, indem sie ihre kleine weiße Hand dankbar in die des Gatten legte, wie glücklich machst Du mich. Wie soll ich Dir danken. Ja, fuhr sie nach einer Pause fort, und schaute mit seligem Lächeln in den sinkenden Abendstern, der Himmel meint es gut mit uns. Jetzt fehlt nichts mehr zu unserm Glücke, nichts. Gleichwohl trat eine Thräne in ihr schönes Auge und sie lehnte ihr weiches Lockenhaupt an die Brust des Gatten.

Mein gutes Kind, sprach in milden Trostesworten Georg, indem er sanft und liebevoll das seidene Haar seiner Gattin abwärts strich, bedenke, wie freundlich der Herr gegen uns ist. Er gab uns Gesundheit, Liebe und Frieden, Wohlhabenheit; er würdigte uns, Werkzeuge seiner Barmherzigkeit zu sein und unsern armen Brüdern und Schwestern von seinen Gaben freundlich mitzutheilen – warum sollte Er uns das Eine versagt haben, wenn er dabei nicht seine weisen Absichten hätte? Also, mein geliebtes Kind, hadern wir nicht mit einer weisen Vorsehung, sondern unterwerfen wir uns seinem Rathschlusse in kindlicher Demuth.

Ich hadre ja nicht mit Gott, sprach Felicitas, aber ich hoffe gewiß, daß er mir diese Thränen vergeben wird.

Die beiden Gatten verweilten noch geraume Zeit auf dem lieben Plätzchen und erfreuten sich des erquickenden Frühlingsabends. Die Linden dufteten. Die Wundertöne der Nachtigall ließen sich von Zeit zu Zeit vernehmen. Hinter den Waldbergen keimte das Silber des Mondes, der bald über das Frühlingsthal seinen feenhaften Silberschein breitete.


So weit die Rosen leuchteten in dem schönen Thale und die Lerchen sangen, gab es kein glücklicheres Paar als Georg und Felicitas. Ihrer Verbindung hatte keine Geldspeculation oder sonstige berechnete Rücksicht zu Grunde gelegen. Es war die Vereinigung zweier edeln Seelen, die sich verstanden, zweier Herzen, die sich liebten. Sie erkannten gegenseitig ihren Werth; darum die hohe Achtung gegen einander, die zarte Rücksichtsnahme in Betreff kleiner Schwächen, welche letztere nur zu oft geeignet sind, den Frieden der besten Ehe zeitweilig zu trüben.

Beide Gatten erfreuten sich der blühendsten Gesundheit, und was die irdischen Glücksgüter anlangte, so waren sie hiermit wenigstens in so weit gesegnet, daß sie sich dem schönen Zuge ihres Herzens, Andern wohlzuthun, in reichem Maaße hingeben konnten.

Das Sprichwort, wer Liebe säet, wird Liebe ernten, erfüllte sich daher auch bei ihnen. Ein gutes Volk ist wohl dankbar, wenn man es gut mit ihm meint. Felicitas galt für die gute und schöne Fee des ganzen Thales. Wenn daher das erste Veilchen oder Schneeglöckchen erblühte; wenn sich die erste Erdbeere röthete; wenn sich die erste Centifolie aufschloß, der hielt es für eine theure Pflicht, sie zu brechen und im saubern mit grünen Blättern austapezirten Körbchen nach dem freundlichen Landhause mit den grünen Jalousien und blanken Fenstern zu tragen.

Felicitas wußte dann für die Ueberbringer solcher Liebesgaben, für Jeden ein freundlich Wort. Sie erkundigte sich theilnehmend nach Eltern und Kindern, die sie fast alle persönlich kannte. Sie versprach, recht bald selbst zu kommen und sich für die schönen Blumen oder Früchte, deren Schönheit und Güte sie nicht genug loben konnte, zu bedanken. So kam es, daß Niemand ohne Herzensfreude das freundliche Landhaus verlies.

Ja, Felicitas führte ihren schönen Namen „Fee des Thals“ nicht vergebens. Sie war nicht blos wohlthätig in Folge ihres weichen Herzens; sie war auch wohlthätig mit Klugheit und Weisheit. Wohlzuthun ist eine große Kunst und diese Kunst verstand die edle Frau im schönsten Sinne des Worts. Wenn ihr menschliches Elend oft in abschreckender Gestalt vor Augen trat, so warf sie nicht, um nur des unangenehmen Anblicks ledig zu werden, eine Gabe hin; nein, sie blickte dem Unglück tiefer in das Auge und forschte, ob Heilung möglich, und war sie es nicht, suchte sie nach Kräften zu lindern. Sie ließ nicht blos durch ihre Dienerschaft Nahrung und Kleidung – Geld gab sie nur in seltenen Fällen – in arme Familien tragen, sie ging selbst in die ärmste Hütte und überzeugte sich durch den Augenschein, wie am zweckmäßigsten zu helfen sei. Sie frug auch nicht, ob dieser oder jener, der durch eigen Verschulden in’s Unglück gekommen, ob er ihrer Wohlthat auch würdig sei: die Noth war da, die Noth schrie zum Himmel, und Felicitas half.

Was aber dem Wohlthun der edeln Frau die Sternenkrone aufsetzte – sie gab nie mit „Gnade“ sondern mit Liebe; sie gab nie mit vornehmer Herablassung, sondern mit schwesterlicher Theilnahme; denn sie war verklärt von der Lehre unsers Heilands Jesu Christi.

Ein solches Wohlthun konnte denn auch nur von reichem Segen begleitet sein. Felicitas erwarb sich Vertrauen. Sie ward nicht wie eine Herrin, sondern wie eine Mutter verehrt und geliebt, und als solche erwarb sie sich größern Einfluß, als wenn sie selbst Herrin des Thals gewesen wäre.

Sie verlangte aber für ihre Liebe und ihr Wohlthun auch Gegenbeweise von Liebe und Erkenntlichkeit. Wohnungen, die früher voll Schmutz und Unreinlichkeit, so daß sie eher dem Aufenthaltsorte von Thieren glichen als dem von Menschen, sie wurden nach und nach reinlicher, netter, wohnlicher. Kein Kind, und war es noch so arm, durfte in nachlässiger oder zerrissener Kleidung oder unsauber vor Felicitas erscheinen. In den Hütten, die sie besuchte, mußte Gottesfurcht und Gottvertrauen wohnen. Rohe Lästerreden, Flüche und Verwünschungen, wie man sie bei den ungebildeten Thalbewohnern früher so oft vernommen, sie verstummten allmählich. Der Gedanke an Felicitas, daß sie es nicht gern höre, wirkte oft wie ein Wunder selbst auf das verhärteste Gemüth. Und alle diese Opfer der Gewohnheit, Trägheit und Rohheit, man brachte sie gern und freudig, ohne alle Anstrengung, denn man brachte sie aus – Liebe. Ja, wer Liebe säet, wird Liebe ernten.

Also bereitete sich Felicitas ihren Himmel auf Erden.

Und doch sollte auch dieser Himmel getrübt sein. Ein Ton war es, der fort und fort tönte und mit leisem Weh selbst oft in den glücklichsten Stunden weinend durch ihr [4] Herz zog. Eine heiße Sehnsucht, die nie Erfüllung fand; eine geträumte Glückseligkeit, die nie zur Wahrheit ward; ein Reichthum von Liebe, der schweigend und trauernd in der Brust ruhte, weil er nie Erwiederung fand – kein lächelnd Kindlein erfreute das einsame Mutterherz.

Wenn auch Felicitas, obwohl mit schwerem Herzen für ihre Person auf das erträumte Glück verzichtet hätte, so war sie doch wahrhaft unglücklich, sobald sie ihres Gatten gedachte. Obwohl dieser in zarter Rücksicht es nie aussprach und im Gegentheil stets ihr liebreich Trost sprach, so lehrt sie doch ihr feiner weiblicher Instinct, wie glücklich Georg sein würde, wenn ihm ein holdes Kind heraufblühte, in welchem er seine Tugend, seinen reichen Geist, seinen edeln Sinn niederlegen und pflegen – ein holdes Kind, das ihm, wenn das Alter sein Haar weiß gefärbt, den eigenen schönen Jugendtraum zurückführen könne.

Und von Jahr zu Jahr ward die Hoffnung schwächer in der Brust des edeln Weibes; aber die Liebe, die unerfüllte Sehnsucht blieb dieselbe.

Das war die Wolke, die ihren Himmel trübte.

Ach, wie oft konnte sie Stunden lang sitzen in den Hütten der Armuth und sich erquicken in den Aeußerungen der mütterlichen und kindlichen Liebe in den kindergesegneten Familien. Wie liebte sie die Kleinen, wie ward auch zu sie von ihnen geliebt. Wie ward sie jubelnd umringt, wo sie sich blicken ließ; wie liebkoste und schmeichelte man ihr; aber mit stiller Wehmuth erkannte ihr weiblich Gemüth nur zu bald die ergreifende Wahrheit: die Mutter ist ihnen doch lieber.

Wie oft trat eine Thräne in ihr Auge, wenn ein kleinen liebes Mädchen einen Blumenstrauß brachte oder ein munter Knäblein ein Körbchen mit süßen Früchten, und die Kleinen so lieblich aufschauten und ihre kaum verständlichen Worte vorbrachten – wie manchmal trat da Felicitas eine Thräne in das Auge bei dem Gedanken: Wenn wir so ein Kindlein hätten!

Der gute Georg war unermüdlich in sanften Tröstungen. Wenn in einer befreundeten oder bekannten Familie der Himmel ein geliebtes Kind zu sich genommen, wie wußte er den Schmerz des gebeugten Vaterherzens und des gebrochenen Mutterherzens ergreifend zu schildern. Wenn er von einem Kinde erfuhr, das sich verirrt und das nur geboren schien, um den Seinen Kummer und Sorge zu bereiten; das alle auf ihn verwendete Liebe nur mit Undank und Lieblosigkeit belohnte, wie beklagte er die tiefgebeugten Eltern.

Sieh’, meine Felicitas, pflegte er dann zu sagen, wer weiß, ob es der Himmel nicht gut gemeint hat mit uns; ob er uns nicht ein so großes Herzeleid hat ersparen wollen.


Und abermals war ein Jahr dahin gegangen. Ein reizender Frühlingsmorgen war aufgeblüht. In tausend Glocken und Kelchen blitzten Diamanten, Rubinen, Smaragden, der himmlische Brautschmuck des Morgens.

Georg war bereits früh aufgestanden und zeichnete in seinem morgensonnlichen, nach den Waldbergen hinausgelegenen Arbeitszimmer an einem Bauplane zu einem neuen, geräumigeren und freundlicheren Schulhause, verbunden mit einer Kleinkinderbewahranstalt – einem längst gehegten Lieblingswunsche seiner Felicitas; wo die Kleinen, wenn die armen Eltern auf der Arbeit und keine Zeit haben, Aufsicht zu führen, die Kindleins unter freundlicher Aufsicht stehen und theils spielende, theils nützliche Beschäftigung finden.

Finken und Grasmücken schmetterten unmittelbar vor den offenstehenden Fenstern, durch welche erfrischende Morgenluft herein wehte.

Georg war so eben in Betrachtung des herrlichen Naturbildes versunken, das vor ihm ausgebreitet lag, als die Thür aufging und Felicitas, schön wie eine junge Frühlingsrose hereintrat. Ihr Gesicht[WS 2] leuchtete in seliger Freude.

Sie eilte auf Georg zu und seine beiden Hände ergreifend, drückte sie dieselben mit sprachloser Innigkeit.

Endlich begann sie: Denke Dir nur, Georg, ich habe einen himmlischen Traum gehabt. Denke Dir nur, Gott hatte mir ein kleines Mädchen geschenkt. Es ruhte an meiner Brust und blickte mich mit seinen blauen Goldäugelein himmelgroß an.

Georg, der eben kein Traumgläubiger war, gedachte des Sprichworts: Träume sind Schäume. Aber er wollte die selige Stimmung seiner Gattin nicht zerstören. Darum küßte er sie und sagte in prophetischem Tone: Träume kommen von Gott: drum sei nicht hoffnungslos, meine Seele.

Felicitas erröthete; bei dem Gedanken an diese Hoffnung verklärte sich ihr Antlitz und in ihr Auge trat eine Thräne, schöner, heiliger, himmlischer als alle Diamanten und Perlen, die draußen in den Glocken der Blumen liegen.

Doch sollte ihr Traum wunderbarerweise auf andre Art in Erfüllung gehen.

[5]

Der Deutsche in Amerika.

Die Farm eines Deutschen mit Blockhaus.

Es war ein schöner Sonntagsmorgen, als ich von Dir und der Heimath Abschied nahm. Auf den Fluren lag die warme Frühlingssonne, die Vögel schmetterten ihre Lobgesänge gen Himmel und von den Thürmen unsrer kleinen Vaterstadt läuteten die Glocken und riefen die Frommen zur Kirche. Wir standen auf dem Berge und schauten hinab in das heimathliche Thal, an das sich meine schönsten und liebsten Erinnerungen knüpften. Ich werde den Augenblick nie vergessen. Du hattest den Arm um meinen Hals geschlungen, wir sprachen nicht, wir sahen uns nur still in die Augen und drückten uns die Hände und dachten der Vergangenheit. Ja, die Heimath, die liebe Heimath!

Dann zog ich mein Mützchen ab und betete. Nicht für mich, Du weißt es, mein lieber Bruder, für die alte gute Mutter flehte ich, die uns so herzlich liebte und die nun schon zwei Jahre im kühlen Grabe ruht. Und als ob mich der Gedanke an die Frau wunderbar gestärkt hätte, so drückt’ ich lächelnd dann rasch den letzten Kuß auf Deine Lippen und „Grüß mir die Mutter und das Tienchen und das Gretchen“ tönte es noch einmal und „Leb wohl – leb wohl!“ – dann schieden wir. Du gingst der alten, ich der neuen Heimath zu.

Warum ich den Entschluß faßte, der Euch und mir so viel Herzeleid bereitet hat – ich brauche es Dir nicht zu wiederholen. Ich war kein Lump, den man nach Amerika schickt, um ihn los zu werden, einerlei ob er drüben verkömmt oder ein ehrlicher Mann wird, das Faullenzen war auch meine Sache nicht, und ich habe es durch mein ganzes Leben hindurch bewiesen, daß ich arbeiten will und kann, zur Noth für zwei Mann. Daß in Amerika die Goldklumpen auf der Straße liegen, die man nur aufzuheben braucht, um sein Glück zu machen, habe ich nun gar nicht geglaubt, wie ich denn überhaupt die Welt immer nur mit nüchternem Blicke beobachtet habe. Und doch mußte ich gehen, ich mußte! Ich konnte es nicht länger aushalten in der Heimath, es zog mir das Herz zusammen, bei all’ dem Jammer und Elend, ich hätte manches Mal … es war besser so, ich ging.

Seitdem sind nun 6 Jahre vergangen. Meine Hoffnung hat mich nicht betrogen. Durch meiner Hände Arbeit [6] habe ich mir ein bescheidenes Eigenthum errungen, das just ausreicht, mein Leben auf eine bequeme Weise zu fristen. Ein Nothpfennig für die alten Tage ist auch schon angelegt, zwar klein noch, aber mit der Zeit wird schon mehr dazu kommen. Ich fühle mich glücklich, und wie die Sachen jetzt stehen, sehne ich mich nicht zurück nach der Heimath. Ich habe viel gesehen, viel erfahren, mich in Allem versucht und kenne Amerika durch und durch. Ich liebe dieses Land und bin stolz darauf, ein Bürger der Freistaaten zu sein, aber ich kenne auch dessen Schattenseiten und weiß, was gut und was schlecht daran ist. Es ist nicht Alles Gold, was glänzt.

Was ich erlebt und wie ich es angefangen habe, mir eine Existenz zu verschaffen, davon erzähle ich Dir ein ander Mal. Heute nur zur Beantwortung der übrigen Fragen Deines Briefes, des einzigen, den ich seit unserer Trennung empfangen. Du kündigst mir neue Auswanderer aus unserem engern Vaterlande an und fragst dabei nach unsern Landsleuten und wie sie leben hier, was sie treiben, nach ihrer Stellung den Eingebornen gegenüber u. a. m. Das sind viele Fragen auf ein Mal, die ich kaum in einem Briefe werde beantworten können.

Meinst Du die Stellung der Deutschen den übrigen nicht eingeborenen Amerikanern gegenüber, so kann ich Dir mit Stolz berichten, daß sie bei weitem am meisten von allen eingewanderten Völkern gelten. Ich verstehe darunter den einzelnen Deutschen, nicht die Deutschen als Volk. In dem einzelnen Deutschen achtet man den geschickten Handwerker, den fleißigen unverdrossenen Ackerbauer, überhaupt den genügsamen und dabei ehrlichen Arbeiter. Die neuere Zeit mit ihren Kämpfen hat uns aus Deutschland viel Intelligenz herübergesandt, die sich in den meisten Fällen rasch Bahn gebrochen und den Amerikanern den Glauben genommen hat, als bestände das deutsche Volk nur aus armen Bauern und Handwerkern, die zu Hause kein Brod haben. Deutschland ist durch diese sehr in der Achtung gestiegen. Die Deutschen als Volk bespöttelt, ja verachtet der Amerikaner noch, und weil sie auch hier mit allen Ansprüchen auf Selbstständigkeit und Macht doch nur zerstreute Massen ohne innere Gestaltung und Zusammenhalt bilden, so gelten sie im Verhältniß zu dem, was sie durch Zahl und Bildung gelten könnten, eben doch am wenigsten.

Ich wiederhole es, den einzelnen Deutschen achtet und liebt man. Der eingeborne Amerikaner fühlt recht wohl, daß der Deutsche durch Tüchtigkeit, Ehrlichkeit und wirkliche Kenntnisse bei Weitem über ihm steht, wenn er auch äußerlich weniger Abgeschliffenheit besitzt. Es imponirt dem Amerikaner, daß der Deutsche, in den meisten Fällen ohne alle Mittel, mit Verschmähung aller in Amerika erlaubten trügerischen Mittel doch bald zu einer gewissen Wohlhabenheit gelangt, die er stets gut und ohne Prellerei auszubeuten versteht. Und da der Amerikaner gar wohl weiß, wie schwer es in seinem Lande dem Mittellosen wird, ohne Schwindel und Betrug sich rasch ein Besitzthum zu erwerben, deshalb kann er auch dem Deutschen, der dieses Räthsel meist löst, seine Achtung nicht versagen.

Und sei versichert, mein lieber Bruder, das Loos eines Einwanderers ist anfangs nicht beneidenswerth. Es hat mich oft gejammert, wenn neue Schiffe aus Deutschland eingelaufen waren und die armen Leute nun truppweise auf den Hafenplätzen oder Straßen zusammenstanden. Man erkennt sie bald an den langen Röcken und kurzen Jacken, an den verlegenen neugierigen Blicken, aber noch öfter an ihrem krankhaften Aussehen. Von ihren Leiden, die sie unterwegs ausgestanden, könnte man Bücher füllen. Im zweiten Jahre meines Hierseins kamen circa 10,000 Deutsche in New-York an, davon mußten 400 sogleich in’s Krankenhaus geschafft werden, mehr als 100 waren unterwegs gestorben. Ein in Amerika erschienenes Buch erzählt, daß auf dem Schiffe Pontiac von 230 Auswanderern 40 schon unterwegs in’s Meer versenkt wurden, die übrigen traten an’s Land gleich Leichen, von Hunger, Schmutz und Schlägen entstellt. Von den 66 Deutschen dabei wurden 45 sogleich in’s Krankenhaus geschafft, einige starben, andere wurden wahnsinnig.

Durch die strenge Polizei, mit der neuerer Zeit sowohl in Deutschland wie hier die Auswanderungsschiffe überwacht werden, ist allerdings der Willkür der Schiffsagenten und Capitains ein Ziel gesetzt worden, trotzdem fallen bei der Ueberfahrt noch genug Nichtswürdigkeiten vor. Und mit der Ausschiffung hat leider die Noth dieser armen Leute noch nicht ein Ende. Glaube um Gottes Willen nicht, daß ich die Zustände schwärzer schildere, als sie sind, was ich Dir erzähle, ist leider nur zu wahr und Du wirst gut thun, Deinen Freunden, die hierher kommen, das Nöthige davon als Warnung mitzutheilen, damit sie nicht wie viele Andere durch ihre Unwissenheit und Leichtgläubigkeit in’s Unglück rennen.

Wenn sich der Ankommende an der Humanität der amerikanischen Zollbeamten erfreut hat, die gar auffallend gegen das barsche Benehmen der deutschen und englischen Douaniers absticht, so wird er gleich darauf völlig erschreckt durch die Masse lärmender und grüßender Landsleute, die bei der Ankunft vom Lande aus das Schiff überschwemmen. Das ist der Abschaum der Menschheit, der hier dem Auswanderer entgegentritt. Diese verhärteten Strolche, die zur Schande des deutschen Namens nur in der Absicht kommen, die auszuschiffenden Landsleute auf die nichtswürdigste Weise zu hintergehen und ihnen das Wenige, was sie mitgebracht haben, vollends abzunehmen, sind das Unglück vieler Deutschen. Mit der freundlichsten Miene stürzen sie den einwandernden Landsleuten entgegen, begrüßen sie auf das herzlichste, nennen sie bei Namen, den sie irgendwie erfahren, und wissen durch gute Rathschläge, durch Gefälligkeiten aller Art, ja oft sogar durch augenblickliche kleine Geldopfer das Vertrauen der Ankommenden, die froh sind, einen so guten gefälligen Menschen in der Fremde gefunden zu haben, so vollständig zu gewinnen, daß diese sich unbedingt dem guten Landsmann anvertrauen. Der neue Freund zeigt ihnen auch mit aller Gefälligkeit die Sehenswürdigkeiten der Stadt, verspricht für gute Weiterbeförderung der Effekten Sorge zu tragen und lockt die Arglosen unter Vorspiegelung billiger Wohnung in einen entlegenen Stadttheil, wo in irgend einer unbekannten Winkelkneipe das Geschäft geordnet und ein oder auch mehrere Gläser auf die glückliche Zukunft getrunken werden. Wenn dann der Einwanderer andern Morgens nach seinen lieben Landsmann fragt, ist dieser verschwunden und mit ihm seine Brieftasche und oft auch seine Effekten.

So von gewissenlosen Strauchdieben um Alles betrogen, [7] in der großen Stadt ohne Hülfe und Freund, auf der Straße von den Gassenbuben mit dem Zuruf: Dutchman! Dutchman! verhöhnt, glaubt sich der Arme in einem Lande herzloser Schurken und denkt mit Thränen an die verlassene Heimath zurück. Man muß diesem Elend begegnet sein, um daran zu glauben. Während der raffinirteste Luxus in der Stadt so weit getrieben wird, daß z. B. in dem Bureau einer Zeitung (Sun) eine große seidene, fächerartige, mit goldenen Buchstaben überdeckte Maschine angebracht ist, die dem Eintretenden in den heißen Monaten kühle Luft zufächelt, ist es keine Seltenheit, daß von unsern ankommenden Landsleuten, die gesund vom Schiffe kommen, einzelne vor Hunger und Mangel aller Art elendiglich umkommen.

Und noch bin ich nicht zu Ende mit meinem Unkengeschrei. Wenn ich wahr sein will, muß ich nothgedrungen noch manches düstere Gemälde vor Deinen Blicken aufrollen. Denn nur dadurch, daß ich auch die Kehrseite unsrer Zustände schildere, kann ich die thörichten, sanguinischen Hoffnungen, mit denen so Viele hierher kommen, etwas dämpfen. Daß trotz alledem Amerika das einzige Land der Zukunft ist, in dem noch Millionen meiner Landsleute eine schöne glückliche Existenz finden können – das hoffe ich Dir später ebenfalls zu beweisen.




Aus der Menschenheimath.

Briefe[1]
Des Schulmeisters emer. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Erster Brief.

Da ist sie nun wieder, die Zeit der Weihnacht und des Jahreswechsels. Da freut sich Alles, Alt und Jung – Groß und Klein, und alle Hände regen sich, alle Sinne mühen sich, wie wohl den lieben Angehörigen eine Freude zu machen wäre. Es mag herkommen, wo es will, zu einem Lichterbäumchen und ein Paar Aepfeln und Nüssen wird Rath geschafft; und die kleinen Kinderchen lernen ein Verschen auswendig, um den Alten eine Freude zu machen; die Größeren schreiben es auch wohl, und die Mädchen stricken dem alten Vater ein Paar warme Socken. Du lieber Himmel, wenn ich so an all’ das denke, so wird mir ganz weich um’s Herz, denn ich habe ja Niemand, Niemand, dem ich eine Vaterfreude machen könnte, Niemand, den ich als guten Sohn oder als herzliebes Töchterlein an’s Herz drücken könnte. Alles ist mir gestorben. Meine Frau hat mich verlassen, und mein Robert liegt bei den Düppeler Schanzen verscharrt. Du weißt ja, wo er liegt, denn er fiel an Deiner Seite.

Wenn ich Abends so ganz allein im Stübchen sitze – die alte treue Magd sitzt theilnahmlos am Spinnrocken, denn sie ist halb taub – und ich so vor mich hin sinne, und Alles um mich her bis auf das ewige Ticktack der alten Wanduhr mäuschenstill ist; so kann ich manchmal recht traurigen Herzens werden. Dann kommt mein alter Karo hinter dem Ofen hervor und legt seinen Kopf auf meinen Schoos und schaut mich mit seinen Augen so treuherzig an, als wollte er mich fragen um mein Herzeleid.

So war’s auch neulich Abend einmal. Ein Decembersturm rüttelte an den alten, morschen Fensterladen und den ganzen Tag hatte ich keine Seele gesehen; denn vor meinem abgelegenen Häuschen kommt bei schönem Wetter selten Jemand vorüber, geschweige denn bei argem Gestöber, wie es den ganzen Tag gehaust hatte. Ich war aber nicht eigentlich traurig, sondern vielmehr weich, sehnsuchtsvoll gestimmt, denn ich dachte an Dich und die frohen Tage, die ich vorigen Herbst bei Dir und Deiner braven Frau verlebt hatte. Ich erinnerte mich alles dessen, was wir gesprochen hatten. „Was mag er denn machen!“ dachte ich, „könntest Du doch die Weihnachts- und Neujahrszeit bei ihm und seinen muntern Buben zubringen!“ So gab ein Gedanke den andern. Zuletzt war ich bis zu dem Gedanken gekommen, den Du jetzt schwarz auf weiß in Händen hast. Ich dachte, wenn auch die alten Beine und der leichte Geldbeutel den weiten Weg bis in Dein Haus unmöglich machten, so konnte ich ja doch brieflich bei Dir sein. Da bin ich nun. Siehst Du mich nicht zwischen den Zeilen stehen, wie ich Dir lächelnd die Hand zum Gruße reiche?

Wie das Alles so in meinen grauen Kopf gekommen ist – fragst Du? Du weißt ja, daß ich leider weiter nichts zu thun habe, als was ich mir auf eigne Hand zu schaffen mache. Du weißt auch, daß ich selbst immer etwas Neues aus guten Büchern lerne und daher auch Andern davon mittheilen kann. Meine Liebhaberei zu den Büchern habe ich immer noch und mancher hochgelehrte Herr Professor würde sich wundern, in dem armseligen Stübchen eines Schulmeister emer. einen vollen Bücherschrank zu finden. Wird auch nebst meinem alten Lehnstuhl und meinen Bienenkörben meine einzige Verlassenschaft sein! Du lieber Himmel, für wen? Doch [8] daß ich nicht Eins in’s Andere rede. Ich meinte nur so. Ich schreibe Dir alle Wochen einen recht langen, langen Brief, da habe ich kaum etwas Nützliches zu thun, und erzähle Dir darin bald von Dem, bald von Jenem, allerlei. Aber immer soll’s was Nützliches sein. Dein Haus wird ja groß, dem kannst Du’s ja wieder erzählen, oder guten Freunden, wenn Du welche hast. Von was ich Dir erzählen werden? Das wird sich schon finden. Ich kenne dich ja. Sieh einmal z. B., jetzt schneit’s, daß man die Hand nicht vor den Augen sehen kann. Habe ich Dir schon einmal erzählt, wie sich die Schneeflocken in der Luft bilden, und wie sie so wunderschöne Figuren bilden? Neulich fragtest Du mich nach dem Wesen des Wetterglases und warum beim Bierbrauen die Gerste erst keimen müßte, um das süße Malz zu geben. Damals kamen wir wieder davon durch andere Dinge ab. Sieh, solche Dinge will ich Dir erzählen und – denn ich habe ja Zeit – auch immer durch kleine Bilderchen veranschaulichen, wo es zum Verstehen nothwendig ist.

Wie viele Millionen Samenkörner hast Du schon der Mutter Erde in den Schooß gestreut, und sie sind Dir bis auf die tauben und die die Vögel fraßen, alle aufgegangen. Das langweilige Geschäft des Säens wird Dir gewiß nicht mehr langweilig sein, wenn Du wissen wirst, wie fein das Samenkorn inwendig gebaut ist und wie, wodurch und an welcher Stelle in demselben der kleine Keim geweckt wird. Bald hoffst Du auf Regen, bald auf Sonnenschein für Deine Saatfelder. Weißt Du aber auch, was Wärme und Wasser thun, wenn sie Deine Pflanzen zum Wachsthum treiben – diese beiden großen Triebfedern in der nimmer ruhenden Werkstatt des Erdenlebens? – Wenn Du ein Bäumchen aus Deiner Pflanzschule hinaus auf einen Ackerrain setzest, so eilest Du, damit inzwischen die feinen Saugwürzelchen nicht vertrocknen und absterben. Soll ich Dir einmal den wunderbar zarten Bau eines solchen Würzelchens abzeichnen? Gewiß, Du wirst dann mit noch einmal so viel Sorgfalt beim Verpflanzen verfahren.

Als ich neulich bei Dir war, fragtest Du mich, was ich immer so allein halbe Tage lang in den Bergen herum kletterte. Jetzt will ich Dir’s sagen. Ich hatte damals just kurz vorher eine sogenannte geologische Karte bekommen, – was das heißt, will ich Dir auch einmal brieflich deutlich machen – auf welcher auch die Gegend, wo Dein Dorf liegt, mit enthalten war. Du wirst Dich wundern, wenn ich Dir einmal brieflich das mittheile, was ich damals auf meinen Spaziergängen gelernt und beobachtet habe. Du wirst dann hören, nicht nur aus was für Steinarten Eure Berge gebildet sind, sondern auch wie sie entstanden sind, daß der eine um Jahrtausende älter oder jünger als der andere ist, daß in alter, alter Zeit, noch lange vorher, ehe es Menschen gab, in Eurer Gegend Elephanten und Rhinozorosse und andere gänzlich ausgestorbene Thierarten lebten, von denen sich jetzt dort noch versteinerte Ueberreste finden.

Also – soll ich? – doch, dumme Frage! ich kenne Dich ja. Man kann Dir ja keine größere Freude machen, als mit nützlichen und lehrreichen Neuigkeiten.

Drum für heute genug. Heute über acht Tage kommt der erste Brief. Damit Du indeß vorläufige Idee von dessen Inhalt bekommst, so lege ich Dir das dazu gehörige Bildchen hier bei. Ich werde Dir darin von dem Bau und dem Keimen des Pflanzensamens Einiges erzählen. Du brauchst nicht zu antworten, außer wenn ich mich Dir nicht deutlich genug gemacht habe. Du hast in Deiner Wirthschaft zu thun.

Lebe wohl.

Dein 

über seinen eignen Einfall hocherfreuter 

Lehrer und Freund Fr. 


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Schnellpressendruck von Giesecke & Devrient in Leipzig.

  1. Wie Mancher schreibt Briefe an einen seiner Freunde und ahnet nicht, daß später sein Freund oder dessen Hinterlassene die gesammelten Briefe zu aller Welt Nutz und Frommen drucken lassen. Nicht Alles, was für den Druck geschrieben wird, ist werth, daß man es druckt; aber Vieles, was blos für eines einzelnen Freundes Kopf und Herz bestimmt war, verdient durch den Druck Vielen zugänglich gemacht zu werden. Die Red. hat gemeint, daß auch diejenigen Briefe dies verdienen, welche ein alter hochverdienter Schulmann an seinen ehemaligen Schüler geschrieben hat. Die Bilderchen, die den Briefen beiliegen, sollen immer in sauberen Holzschnitten ausgeführt und den gedruckten Briefen beigefügt werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gang
  2. Vorlage: Gesiche