Die Karawane (Fortsetzung) Märchen-Almanach auf das Jahr 1826 von Wilhelm Hauff
Die Errettung Fatmes
Die Karawane (Fortsetzung)
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Die Errettung Fatmes.

Mein Bruder Mustafa und meine Schwester Fatme waren beinahe in gleichem Alter. Jener hatte höchstens zwei Jahre voraus. Sie liebten einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kränklichen Vater die Last seines Alters erleichtern konnte. An Fatmes sechzehntem Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest. Er ließ alle ihre Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des Vaters ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie ein, auf einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte, ein wenig hinaus in die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen willigten mit Freuden ein; denn der Abend war schön, und die Stadt gewährte besonders [113] abends, von dem Meere aus betrachtet, einen herrlichen Anblick. Den Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke, daß sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren. Mustafa gab aber ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein Korsar hatte sehen lassen. Nicht weit von der Stadt zieht sich ein Vorgebirge in das Meer. Dorthin wollten noch die Mädchen, um von da die Sonne in das Meer sinken zu sehen. Als sie um das Vorgebirg herumruderten, sahen sie in geringer Entfernung eine Barke, die mit Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes ahnend, befahl mein Bruder den Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem Lande zuzurudern. Wirklich schien sich auch seine Besorgnis zu bestätigen; denn jene Barke kam jener meines Bruders schnell nach, überfing sie, da sie mehr Ruder hatte, und hielt sich immer zwischen dem Land und unserer Barke. Die Mädchen aber, als sie die Gefahr erkannten, in der sie schwebten, sprangen auf und schrien und klagten; umsonst suchte sie Mustafa zu beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor, ruhig zu bleiben, weil sie durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in Gefahr bringen, umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich bei Annäherung des andern Bootes alle auf die hintere Seite der Barke stürzten, schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die Bewegungen des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger Zeit Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht erregt, und mehrere Barken stießen vom Lande, um den Unsrigen beizustehen. Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die Untersinkenden aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche Boot entwischt, auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten aufgenommen hatten, war man ungewiß, ob alle gerettet seien. Man näherte sich gegenseitig, und ach! es fand sich, daß meine Schwester und eine ihrer Gespielinnen fehlte; zugleich entdeckte man aber einen Fremden in einer der Barken, den niemand kannte. Auf die Drohungen Mustafas gestand er, daß er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine Gefährten auf ihrer eiligen Flucht im Stich gelassen haben, indem er im Begriff gewesen sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch [114] sagte er aus, daß er gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.

Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos; aber auch Mustafa war bis zum Tod betrübt; denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester verloren war, und daß er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu sein, – jene Freundin Fatmes, die ihr Unglück teilte, war von ihren Eltern ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte er es noch nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von geringer Abkunft waren. Mein Vater aber war ein strenger Mann. Als sein Schmerz sich ein wenig gelegt hatte, ließ er Mustafa vor sich kommen und sprach zu ihm: „Deine Thorheit hat mir den Trost meines Alters und die Freude meiner Augen geraubt. Geh’ hin, ich verbanne dich auf ewig von meinem Angesicht, ich fluche dir und deinen Nachkommen, und nur wenn du mir Fatme wiederbringst, soll dein Haupt rein sein von dem Fluche des Vaters.“

Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er sich entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin aufzusuchen, und wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu erbitten, und jetzt schickte er ihn mit dem Fluch beladen in die Welt. Aber hatte ihn jener Jammer vorher gebeugt, so stählt jetzt die Fülle des Unglücks, das er nicht verdient hatte, seinen Mut.

Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt seines Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel treiben und gewöhnlich in Balsora großen Markt hielten.

Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben; denn er sandte ihm einen Beutel mit Gold zur Unterstützung auf der Reise. Mustafa aber nahm weinend von den Eltern Zoraidens, so hieß seine geraubte Braut, Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.

Mustafa machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er mußte daher sehr starke Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den [115] Seeräubern nach Balsora zu kommen. Doch da er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte, konnte er hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen. Aber am Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges ritt, fielen ihn plötzlich drei Männer an. Da er merkte, daß sie gut bewaffnet und stark seien, und daß es weniger auf sein Geld und sein Roß als auf sein Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, daß er sich ihnen ergeben wolle. Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm die Füße unter dem Bauch seines Tieres zusammen, ihn selbst aber nahmen sie in die Mitte und trabten, indem einer den Zügel seines Pferdes ergriff, schnell mit ihm davon, ohne jedoch ein Wort zu sprechen.

Mustafa gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin; der Fluch seines Vaters schien schon jetzt an dem Unglücklichen in Erfüllung zu gehen, und wie konnte er hoffen, seine Schwester und Zoraiden retten zu können, wenn er, aller Mittel beraubt, nur sein ärmliches Leben zu ihrer Befreiung aufwenden könnte. Mustafa und seine stummen Begleiter mochten wohl eine Stunde geritten sein, als sie in ein kleines Seitenthal einbogen. Das Thälchen war von hohen Bäumen eingefaßt, ein weicher, dunkelgrüner Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte, luden zur Ruhe ein. Wirklich sah er auch fünfzehn bis zwanzig Zelte dort aufgeschlagen; an den Pflöcken der Zelte waren Kamele und schöne Pferde angebunden, aus einem der Zelte hervor tönte die lustige Weise einer Zither und zweier schöner Männerstimmen. Meinem Bruder schien es, als ob Leute, die ein so fröhliches Lagerplätzchen sich erwählt hatten, nichts Böses gegen ihn im Sinn haben könnten, und er folgte also ohne Bangigkeit dem Ruf seiner Führer, die, als sie seine Bande gelöst hatten, ihm winkten, abzusteigen. Man führte ihn in ein Zelt, das größer als die übrigen und im Innern hübsch, fast zierlich aufgeputzt war. Prächtige goldgestickte Polster, gewirkte Fußteppiche, übergoldete Rauchpfannen hätten anderswo Reichtum und Wohlleben verraten, hier schienen sie nur kühner Raub. Auf einem der Polster saß ein alter, kleiner Mann, sein Gesicht war häßlich, seine Haut schwarzbraun und glänzend, und ein widriger Zug [116] von tückischer Schlauheit um Augen und Mund machten seinen Anblick verhaßt. Obgleich sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte doch Mustafa bald, daß nicht für ihn das Zelt so reich geschmückt sei, und die Unterredung seiner Führer schien seine Bemerkung zu bestätigen. „Wo ist der Starke?“ fragten sie den Kleinen. „Er ist auf der kleinen Jagd“, antwortete jener; „aber er hat mir aufgetragen, seine Stelle zu versehen.“ – „Das hat er nicht gescheit gemacht“, entgegnete einer der Räuber; „denn es muß sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder zahlen soll, und das weiß der Starke besser als du.“

Der kleine Mann erhob sich im Gefühl seiner Würde, streckte sich lange aus, um mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu erreichen; denn er schien Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu rächen; als er aber sah, daß seine Bemühung fruchtlos sei, fing er an zu schimpfen, und wahrlich! die andern blieben ihm nichts schuldig, daß das Zelt von ihrem Streit erdröhnte. Da that sich auf einmal die Thüre des Zeltes auf, und herein trat ein hoher, stattlicher Mann, jung und schön wie ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen waren, außer einem reichbesetzten Dolch und einem glänzenden Säbel, gering und einfach; aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot Achtung, ohne Furcht einzuflößen.

„Wer ist’s, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?“ rief er den Erschrockenen zu. Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich erzählte einer von denen, die Mustafa hergebracht hatten, wie es gegangen sei. Da schien sich das Gesicht „des Starken“, wie sie ihn nannten, vor Zorn zu röten. „Wann hätte ich dich je an meine Stelle gesetzt, Hassan?“ schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu. Dieser zog sich vor Furcht in sich selbst zusammen, daß er noch viel kleiner aussah als zuvor, und schlich sich der Zeltthüre zu. Ein hinlänglicher Tritt des Starken machte, daß er in einem großen sonderbaren Sprung zur Zeltthüre hinausflog.

Als der Kleine verschwunden war, führten die drei Männer Mustafa vor den Herrn des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte. „Hier bringen wir den, welchen du uns zu fangen [117] befohlen hast.“ Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: „Bassa von Sulieika! Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan stehst.“ Als mein Bruder dies hörte, warf er sich nieder vor jenem und antwortete: „O Herr! Du scheinst im Irrtum zu sein. Ich bin ein armer Unglücklicher, aber nicht der Bassa, den du suchst!“ Alle im Zelt waren über diese Rede erstaunt. Der Herr des Zeltes aber sprach: „Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich will dir Leute vorführen, die dich wohl kennen.“ Er befahl, Zuleima vorzuführen. Man brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die Frage, ob sie in meinem Bruder nicht den Bassa von Sulieika erkenne, antwortete: „Jawohl!“ Und sie schwöre es beim Grab des Propheten, es sei der Bassa und kein anderer.“ – „Siehst du, Erbärmlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist?“ begann zürnend der Starke. „Du bist mir zu elend, als daß ich meinen guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte; aber an den Schweif meines Rosses will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht, und durch die Wälder will ich mit dir jagen, bis sie scheidet hinter die Hügel von Sulieika!“ Da sank meinem armen Bruder der Mut. „Das ist der Fluch meines harten Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt“, rief er weinend, „und auch du bist verloren, süße Schwester, auch du, Zoraide!“ – „Deine Verstellung hilft dir nichts“, sprach einer der Räuber, indem er ihm die Hände auf den Rücken band, „mach’, daß du aus dem Zelt kommst! denn der Starke beißt sich in die Lippen und blickt nach seinem Dolch. Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm’!“

Als die Räuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt führen wollten, begegneten sie drei andern, die einen Gefangenen vor sich hintrieben. Sie traten mit ihm ein. „Hier bringen wir den Bassa, wie du uns befohlen hast“, sprachen sie und führten den Gefangenen vor das Polster des Starken. Als der Gefangene dorthin geführt wurde, hatte mein Bruder Gelegenheit, ihn zu betrachten, und ihm selbst fiel die Ähnlichkeit auf, die dieser Mann mit ihm hatte; nur war er dunkler im Gesicht und hatte einen schwärzeren Bart. Der Starke schien sehr erstaunt über die Erscheinung [118] des zweiten Gefangenen. „Wer von euch ist denn der Rechte?“ sprach er, indem er bald meinen Bruder, bald den anderen Mann ansah. „Wenn du den Bassa von Sulieika meinst“, antwortete in stolzem Ton der Gefangene, „der bin ich!“ Der Starke sah ihn lange mit seinem ernsten, furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa wegzuführen. Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt seine Bande mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu setzen. „Es thut mir leid, Fremdling“, sagte er, „daß ich dich für jenes Ungeheuer hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fügung des Himmels zu, die dich gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes Verruchten geweiht war, in die Hände meiner Brüder führte.“ Mein Bruder bat ihn um die einzige Gunst, ihn gleich wieder weiterreisen zu lassen, weil jeder Aufschub ihm verderblich werden könne. Der Starke erkundigte sich nach seinen eiligen Geschäften, und als ihm Mustafa alles erzählt hatte, überredete ihn jener, diese Nacht in seinem Zelt zu bleiben, er und sein Roß werden der Ruhe bedürfen; den folgenden Tag aber wolle er ihm einen Weg zeigen, der ihn in anderthalb Tagen nach Balsora bringe. Mein Bruder schlug ein, wurde trefflich bewirtet und schlief sanft bis zum Morgen in dem Zelt des Räubers.

Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt, vor dem Vorhang des Zeltes aber hörte er mehrere Stimmen zusammen sprechen, die dem Herrn des Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann anzugehören schienen. Er lauschte ein wenig und hörte zu seinem Schrecken, daß der Kleine dringend den andern aufforderte, den Fremden zu töten, weil er, wenn er freigelassen würde, sie alle verraten könnte.

Mustafa merkte gleich, daß der Kleine ihm gram sei, weil er Ursache war, daß er gestern so übel behandelt wurde; der Starke schien sich einige Augenblicke zu besinnen. „Nein“, sprach er, „er ist mein Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er mir nicht aus, wie wenn er uns verraten wollte.“

Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein. „Friede sei mit dir, Mustafa!“ sprach er, „laß uns den Morgentrunk kosten und rüste dich dann zum Aufbruch!“ Er [119] reicht meinem Bruder einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die Pferde auf, und wahrlich, mit leichterem Herzen, als er gekommen war, schwang sich Mustafa aufs Pferd. Sie hatten bald die Zelte im Rücken und schlugen dann einen breiten Pfad ein, der in den Wald führte. Der Starke erzählte meinem Bruder, daß jener Bassa, den sie auf der Jagd gefangen hätten, ihnen versprochen habe, sie ungefährdet in seinem Gebiet zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen ihrer tapfersten Männer aufgefangen und nach den schrecklichsten Martern aufhängen lassen. Er habe ihm nun lange auflauern lassen, und heute noch müsse er sterben. Mustafa wagte es nicht, etwas dagegen einzuwenden, denn er war froh, selbst mit heiler Haut davongekommen zu sein.

Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb meinem Bruder den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach: „Mustafa, du bist auf sonderbare Weise der Gastfreund des Räubers Orbasan geworden; ich will dich nicht auffordern, nicht zu verraten, was du gesehen und gehört hast. Du hast ungerechterweise Todesangst ausgestanden, und ich bin dir Vergütung schuldig. Nimm diesen Dolch als Andenken, und so du Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu, und ich will eilen, dir beizustehen. Diesen Beutel aber kannst du vielleicht zu deiner Reise brauchen.“ Mein Bruder dankte ihm für seinen Edelmut; er nahm den Dolch, den Beutel aber schlug er aus. Doch Orbasan drückte ihm noch einmal die Hand, ließ den Beutel auf die Erde fallen und sprengte mit Sturmeseile in den Wald. Als Mustafa sah, daß er ihn doch nicht mehr werde einholen können, stieg er ab, um den Beutel aufzuheben, und erschrak über die Größe von seines Gastfreundes Großmut; denn der Beutel enthielt eine Menge Goldes. Er dankte Allah für seine Rettung, empfahl ihm den edlen Räuber in seine Gnade, und zog dann heiteren Mutes weiter auf seinem Wege nach Balsora.

Hier schwieg Lezah und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an. „Nein, wenn es so ist“, sprach dieser, „so verbessere ich gerne mein Urteil von Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schön gehandelt.“

[120] „Er hat gethan wie ein braver Muselmann“, rief Muley; „aber ich hoffe, du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mir bedünkt, sind wir alle begierig, weiter zu hören, wie es deinem Bruder erging, und ob er Fatme, deine Schwester, und die schöne Zoraide befreit hat.“

„Wenn ich euch nicht damit langweile, erzähle ich gerne weiter“, entgegnete Lezah; „denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings abenteuerlich und wundervoll.“

Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustafa in die Thore von Balsora ein. Sobald er in einer Karawanserai abgestiegen war, fragte er, wann der Sklavenmarkt, der alljährlich hier gehalten werde, anfange. Aber er erhielt die Schreckensantwort, daß er zwei Tage zu spät komme. Man bedauerte seine Verspätung und erzählte ihm, daß er viel verloren habe; denn noch an dem letzten Tage des Marktes seien zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher Schönheit, daß sie die Augen aller Käufer auf sich gezogen hätten. Man habe sich ordentlich um sie gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu einem so hohen Preis verkauft worden, daß ihn nur ihr jetziger Herr nicht habe scheuen können. Er erkundigte sich näher nach diesen beiden, und es blieb ihm kein Zweifel, daß es die Unglücklichen seien, die er suche. Auch erfuhr er, daß der Mann, der sie beide gekauft habe, vierzig Stunden von Balsora wohne und Thiuli-Kos heiße, ein vornehmer, reicher, aber schon ältlicher Mann, der früher Kapudan-Bassa[1] des Großherrn war, jetzt aber sich mit seinen gesammelten Reichtümern zur Ruhe gesetzt habe.

Mustafa wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen. Als er aber bedachte, daß er als einzelner Mann dem mächtigen Reisenden doch nichts anhaben, noch weniger seine Beute ihm abjagen konnte, sann er auf einen andern Plan und hatte ihn auch bald gefunden. Die Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die ihm beinahe so gefährlich geworden [121] wäre, brachte ihn auf den Gedanken, unter diesem Namen in das Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen Versuch zur Rettung der beiden unglücklichen Mädchen zu wagen. Er mietete daher einige Diener und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld trefflich zu statten kam, schaffte sich und seinen Dienern prächtige Kleider an und machte sich auf den Weg nach dem Schlosse Thiulis. Nach fünf Tagen war er in die Nähe dieses Schlosses gekommen. Es lag in einer schönen Ebene und war rings von hohen Mauern umschlossen, die nur ganz wenig von den Gebäuden überragt wurden. Als Mustafa dort angekommen war, färbte er Haar und Bart schwarz, sein Gesicht aber bestrich er mit dem Saft einer Pflanze, der ihm eine bräunliche Farbe gab, ganz wie sie jener Bassa gehabt hatte. Er schickte hierauf einen seiner Diener in das Schloß und ließ im Namen des Bassa von Sulieika um ein Nachtlager bitten. Der Diener kam bald wieder, und mit ihm vier schöngekleidete Sklaven, die Mustafas Pferd am Zügel nahmen und in den Schloßhof führten. Dort halfen sie ihm selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine breite Marmortreppe hinauf zu Thiuli.

Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder ehrerbietig und ließ ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte, aufsetzen. Nach Tisch brachte Mustafa das Gespräch nach und nach auf die neuen Sklavinnen, und Thiuli rühmte ihre Schönheit und beklagte nur, daß sie immer so traurig seien; doch er glaubte, dieses würde sich bald geben. Mein Bruder war sehr vergnügt über diesen Empfang und legte sich mit den schönsten Hoffnungen zur Ruhe nieder.

Er mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der Schein einer Lampe, der blendend auf sein Auge fiel. Als er sich aufrichtete, glaubte er noch zu träumen; denn vor ihm stand jener kleine, schwarzbraune Kerl aus Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand, sein breites Maul zu einem widrigen Lächeln verzogen. Mustafa zwickte sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um sich zu überzeugen, ob er denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor. „Was willst du an meinem Bette?“ rief Mustafa, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. [122] „Bemühet Euch doch nicht so, Herr!“ sprach der Kleine; „ich habe wohl erraten, weswegen Ihr hieher kommt. Auch war mir Euer wertes Gesicht noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den Bassa mit eigener Hand hätte erhängen helfen, so hättet Ihr mich vielleicht getäuscht. Jetzt aber bin ich da, um eine Frage zu machen.“

„Vor allem sage, wie du hieher kommst“, entgegnete ihm Mustafa voll Wut, daß er verraten war. „Das will ich Euch sagen“, antwortete jener; „ich konnte mich mit dem Starken nicht länger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustafa, warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafür mußt du mir deine Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht behülflich sein; gibst du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen Herrn und erzähle ihm etwas von dem neuen Bassa.“

Mustafa war vor Schrecken und Wut außer sich; jetzt, wo er sich am sicheren Ziel seiner Wünsche glaubte, sollte dieser Elende kommen und sie vereiteln; es war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte: er mußte das kleine Ungetüm töten. Mit einem Sprung fuhr er daher aus dem Bett auf den Kleinen zu; doch dieser, der etwas Solches geahnet haben mochte, ließ die Lampe fallen, daß sie verlöschte, und entsprang im Dunkeln, indem er mörderisch um Hülfe schrie.

Jetzt war guter Rat teuer; die Mädchen mußte er für den Augenblick aufgeben und nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das Fenster, um zu sehen, ob er nicht entspringen konnte. Es war eine ziemliche Tiefe bis zum Boden, und auf der andern Seite stand eine hohe Mauer, die zu übersteigen war. Sinnend stand er an dem Fenster; da hörte er viele Stimmen sich seinem Zimmer nähern; schon waren sie an der Thüre; da faßte er verzweiflungsvoll seinen Dolch und seine Kleider und schwang sich zum Fenster hinaus. Der Fall war hart, aber er fühlte, daß er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und lief der Mauer zu, die den Hof umschloß, stieg, zum Erstaunen seiner Verfolger, hinauf und befand sich bald im Freien. Er floh, bis er an einen kleinen Wald kam, wo er sich erschöpft niederwarf. Hier überlegte er, was zu thun sei. Seine Pferde und [123] seine Diener hatte er müssen im Stiche lassen; aber sein Geld, das er in dem Gürtel trug, hatte er gerettet.

Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen andern Weg zur Rettung. Er ging in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er um geringen Preis ein Pferd kaufte, das ihn in Bälde in eine Stadt trug. Dort forschte er nach einem Arzt, und man riet ihm einen alten, erfahrenen Mann. Diesen bewog er durch einige Goldstücke, daß er ihm eine Arznei mitteilte, die einen todähnlichen Schlaf herbeiführte, der durch ein anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden könnte. Als er im Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen langen, falschen Bart, einen schwarzen Talar und allerlei Büchsen und Kolben, so daß er füglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud seine Sachen auf einen Esel und reiste in das Schloß des Thiuli-Kos zurück. Er durfte gewiß sein, diesmal nicht erkannt zu werden; denn der Bart entstellte ihn so, daß er sich selbst kaum mehr kannte. Bei Thiuli angekommen, ließ er sich als den Arzt Chakamankabudibaba anmelden, und, wie er es sich gedacht hatte, geschah es; der prachtvolle Namen empfahl ihn bei dem alten Narren ungemein, so daß er ihn gleich zur Tafel einlud. Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine Stunde besprochen hatten, beschloß der Alte, alle seine Sklavinnen der Kur des weisen Arztes zu unterwerfen. Dieser konnte seine Freude kaum verbergen, daß er jetzt seine geliebte Schwester wiedersehen solle, und folgte mit klopfendem Herzen Thiuli, der ihn ins Serail führte. Sie waren in ein Zimmer gekommen, das schön ausgeschmückt war, worin sich aber niemand befand. „Chambaba oder wie du heißt, lieber Arzt“, sprach Thiuli-Kos, „betrachte einmal jenes Loch dort in der Mauer! Dort wird jede meiner Sklavinnen einen Arm herausstrecken, und du kannst dann untersuchen, ob der Puls krank oder gesund ist.“ Mustafa mochte einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie nicht; doch willigte Thiuli ein, daß er ihm allemal sagen wolle, wie sie sich sonst gewöhnlich befänden. Thiuli zog nun einen langen Zettel aus dem Gürtel, und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln beim Namen zu rufen, worauf allemal eine [124] Hand aus der Mauer kam, und der Arzt den Puls untersuchte. Sechs waren schon abgelesen und sämtlich für gesund erklärt; da las Thiuli als die siebende „Fatme“ ab, und eine kleine weiße Hand schlüpfte aus der Mauer. Zitternd vor Freude ergreift Mustafa diese Hand und erklärte sie mit wichtiger Miene für bedeutend krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl seinem weisen Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu bereiten. Der Arzt ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel: „Fatme! Ich will Dich retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine Arznei zu nehmen, die Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze das Mittel, Dich wieder zum Leben zu bringen. Willst Du, so sage nur, dieser Trank habe nicht geholfen, und es wird mir ein Zeichen sein, daß Du einwilligst.“

Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte. Er brachte ein unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme noch einmal den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr Armband; das Tränklein aber reichte er ihr durch die Öffnung in der Mauer. Thiuli schien in großen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob die Untersuchung der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf. Als er mit Mustafa das Zimmer verlassen hatte, sprach er mit traurigem Ton: „Chadibaba, sage aufrichtig, was hältst du von Fatmes Krankheit?“ Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: „Ach Herr, möge der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes Fieber, das ihr wohl den Garaus machen kann.“ Da entbrannte der Zorn Thiulis: „Was sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die ich zweitausend Goldstücke gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse, daß wenn du sie nicht rettest, so hau’ ich dir den Kopf ab!“ Da merkte mein Bruder, daß er einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli wieder Hoffnung. Als sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave aus dem Serail, dem Arzt zu sagen, daß das Tränklein nicht geholfen habe. „Biete deine ganze Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du dich schreibst, ich zahl’ dir, was du willst“, schrie Thiuli-Kos, fast heulend vor Angst, so vieles Gold an dem Tod zu verlieren. „Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller [125] Not befreit“, antwortete der Arzt; „Ja! ja! gib ihr ein Säftlein“, schluchzte der alte Thiuli. Frohen Mutes ging Mustafa, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er ihn dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf einmal nehmen müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch einige heilsame Kräuter am See holen, und eilte zum Thor hinaus. An dem See, der nicht weit von dem Schloß entfernt war, zog er seine falschen Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß sie lustig umherschwammen; er selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete die Nacht ab und schlich sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse Thiulis.

Als Mustafa kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein mochte, brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine Sklavin Fatme im Sterben liege. Er schickte hinaus an den See, um schnell den Arzt zu holen; aber bald kehrten seine Boten allein zurück und erzählten ihm, daß der arme Arzt ins Wasser gefallen und ertrunken sei; seinen schwarzen Talar sehe man mitten im See schwimmen, und hie und da gucke auch sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor. Als Thiuli keine Rettung mehr sah, verwünschte er sich und die ganze Welt, raufte sich den Bart aus und rannte mit dem Kopf gegen die Mauer. Aber alles dies konnte nichts helfen; denn Fatme gab bald unter den Händen der übrigen Weiber den Geist auf. Als Thiuli die Nachricht ihres Todes hörte, befahl er, schnell einen Sarg zu machen, denn er konnte keinen Toten im Hause leiden, und ließ den Leichnam in das Begräbnishaus tragen. Die Träger brachten den Sarg dorthin, setzten ihn schnell nieder und entflohen, denn sie hatten unter den übrigen Särgen stöhnen und seufzen gehört.

Mustafa, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die Träger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann zog er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob dann den Deckel von Fatmes Sarg. Aber welches Entsetzen befiel ihn, als sich ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Züge zeigten! Weder meine Schwester, [126] noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem Sarg. Er brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals zu fassen; endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn. Er öffnete sein Glas und flößte ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen auf und schien sich lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte sie sich des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu Mustafas Füßen. „Wie kann ich dir danken, gütiges Wesen“, rief sie aus, „daß du mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!“ Mustafa unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage: Wie es denn geschehen sei, daß sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet worden sei? Jene sah ihn staunend an. „Jetzt wird mir meine Rettung erst klar, die mir vorher unbegreiflich war“, antwortete sie; „wisse, man hieß mich in jenem Schlosse Fatme, und mir hast du deinen Zettel und den Rettungstrank gegeben.“ Mein Bruder forderte die Gerettete auf, ihm von seiner Schwester und Zoraiden Nachricht zu geben, und erfuhr, daß sie sich beide im Schloß befinden, aber nach der Gewohnheit Thiulis andere Namen bekommen haben; sie heißen jetzt Mirzah und Nurmahal.

Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und versprach ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Mädchen dennoch retten könne. Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schöpfte Mustafa von neuem Hoffnung; und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen, und sie sprach:

„Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis; doch habe ich gleich vom Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war sie zu schwer. In dem innern Hof des Schlosses wirst du einen Brunnen bemerkt haben, der aus zehn Röhren Wasser speit. Dieser Brunnen fiel mir auf; ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters einen ähnlichen gesehen zu haben, dessen Wasser durch eine geräumige Wasserleitung herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen auch so gebaut sei, rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht und fragte nach seinem Baumeister. ‚Ich selbst habe ihn gebaut‘, antwortete er, ‚und das, was du hier siehst, ist noch das Geringste; aber das [127] Wasser dazu kommt wenigstens tausend Schritte weit von einem Bach her und geht durch eine gewölbte Wasserleitung, die wenigstens mannshoch ist; und alles dies habe ich selbst angegeben.‘ Als ich dies gehört hatte, wünschte ich mir oft, nur auf einen Augenblick die Stärke eines Mannes zu haben, um einen Stein aus der Seite des Brunnens ausheben zu können: dann könnte ich fliehen, wohin ich wollte. Diese Wasserleitung nun will ich dir zeigen; durch sie kannst du nachts in das Schloß gelangen und jene befreien. Aber du mußt wenigstens noch zwei Männer bei dir haben, um die Sklaven, die das Serail bei Nacht bewachen, zu überwältigen.“

So sprach sie; mein Bruder Mustafa aber, obgleich schon zweimal in seinen Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit Allahs Hülfe, den Plan der Sklavin auszuführen. Er versprach ihr, für ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm behülflich sein wollte, ins Schloß zu gelangen. Aber ein Gedanke machte ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei oder drei treue Gehülfen bekommen könnte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das Versprechen, das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe, zu Hülfe zu eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem Begräbnis auf, um den Räuber aufzusuchen.

In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte er um sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen Frau in der Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er Orbasan zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen dahin. Er fand bald wieder jene Zelte, und trat unverhofft vor Orbasan, der ihn freundlich bewillkommte. Er erzählte ihm seine mißlungenen Versuche, wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht enthalten konnte, hie und da ein wenig zu lachen, besonders, wenn er sich den Arzt Chakamankabudibaba dachte. Über die Verräterei des Kleinen aber war er wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand aufzuhängen, wo er ihn finde. Meinem Bruder aber versprach er, sogleich zur Hülfe bereit zu sein, wenn er sich vorher von der Reise gestärkt haben würde. Mustafa blieb daher diese Nacht wieder in Orbasans [128] Zelt; mit dem ersten Frührot aber brachen sie auf, und Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl beritten und bewaffnet, mit sich. Sie ritten stark zu und kamen nach zwei Tagen in die kleine Stadt, wo Mustafa die gerettete Fatme zurückgelassen hatte. Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu dem kleinen Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in geringer Entfernung sehen konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht abzuwarten. Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort ließen sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurück, und schickten sich an, hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen Fatme noch einmal alles genau, nämlich: daß sie durch den Brunnen in den innern Schloßhof kämen, dort seien rechts und links in der Ecke zwei Türme, in der sechsten Thüre, vom Turme rechts gerechnet, befinden sich Fatme und Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven. Mit Waffen und Brecheisen wohl versehen, stiegen Mustafa, Orbasan und zwei andere Männer hinab in die Wasserleitung; sie sanken zwar bis an den Gürtel ins Wasser; aber nichtsdestoweniger gingen sie rüstig vorwärts. Nach einer halben Stunde kamen sie an den Brunnen selbst und setzten sogleich ihre Brecheisen an. Die Mauer war dick und fest; aber den vereinten Kräften der vier Männer konnte sie nicht lange widerstehen; bald hatten sie eine Öffnung eingebrochen, groß genug, um bequem durchschlüpfen zu können. Orbasan schlüpfte zuerst durch und half den andern nach, und als sie alle im Hof waren, betrachteten sie die Seite des Schlosses, die vor ihnen lag, um die beschriebene Thüre zu erforschen. Aber sie waren nicht einig, welche es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum linken zählten, fanden sie eine Thüre, die zugemauert war, und wußten nun nicht, ob Fatme diese übersprungen oder mitgezählt habe. Aber Orbasan besann sich nicht lange: „Mein gutes Schwert wird mir jede Thüre öffnen“, rief er aus, ging auf die sechste Thüre zu, und die andern folgten ihm. Sie öffneten die Thüre und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich zurückziehen, weil sie sahen, daß [129] sie die rechte Thüre verfehlt hatten, als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter Stimme um Hülfe rief. Es war der Kleine aus Orbasans Lager. Aber ehe noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen geschah, stürzte Orbasan auf den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei, verstopfte ihm den Mund und band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich an die Sklaven, wovon schon einige von Mustafa und den zwei andern halb gebunden waren, und half sie vollends überwältigen. Man setzte den Sklaven den Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und Mirzah wären, und sie gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien. Mustafa stürzte in das Gemach und fand Fatme und Zoraiden, die der Lärm erweckt hatte. Schnell rafften diese ihren Schmuck und ihre Kleider zusammen und folgten Mustafa; die beiden Räuber schlugen indes Orbasan vor, zu plündern, was man fände; doch dieser verbot es ihnen und sprach: „Man solle nicht von Orbasan sagen können, daß er nachts in die Häuser steige, um Gold zu stehlen!“ Mustafa und die Geretteten schlüpften schnell in die Wasserleitung, wohin ihnen Orbasan sogleich zu folgen versprach. Als jene in die Wasserleitung hinabgestiegen waren, nahm Orbasan und einer der Räuber den Kleinen und führten ihn hinaus in den Hof; dort banden sie ihm eine seidene Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten, um den Hals und hingen ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf. Nachdem sie so den Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie selbst auch hinab in die Wasserleitung und folgten Mustafa. Mit Thränen dankten die beiden ihrem edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb sie eilends zur Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, daß sie Thiuli-Kos nach allen Seiten verfolgen ließ. Mit tiefer Rührung trennte sich am andern Tage Mustafa und seine Geretteten von Orbasan; wahrlich, sie werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die befreite Sklavin, ging verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat einzuschiffen.

Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die Heimat. Meinen alten Vater tötete beinahe die Freude des Wiedersehens; den andern Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete [130] er ein großes Fest, an welchem die ganze Stadt teilnahm. Vor einer großen Versammlung von Verwandten und Freunden mußte mein Bruder seine Geschichte erzählen, und einstimmig priesen sie ihn und den edlen Räuber.

Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und führte Zoraiden ihm zu. „So lösche ich denn“, sprach er mit feierlicher Stimme, „den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die Belohnung, die du dir durch deinen rastlosen Eifer erkämpft hast; nimm meinen väterlichen Segen, und möge es nie unserer Stadt an Männern fehlen, die an brüderlicher Liebe, an Klugheit und Eifer dir gleichen!“

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  1. Kapudan-Bassa ist im Orient der Admiral über das gesamte Seewesen des Reiches.
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