Textdaten
Autor: Kurt Tucholsky
unter dem Pseudonym
Ignaz Wrobel
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Titel: Die Ebert-Legende
Untertitel:
aus: Die Weltbühne. Jahrgang 22, Nummer 2, Seite 52-55
Herausgeber: Siegfried Jacobsohn
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 12. Januar 1926
Verlag: Verlag der Weltbühne
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Die Weltbühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1978. Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
Siehe auch: Friedrich Ebert
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[52] Die Ebert-Legende von Ignaz Wrobel

Antwort auf eine Antwort

Ich habe hier, in Nummer 50 des vorigen Jahrgangs, daran erinnert, wie Ebert im Jahre 1918 seine Aufgabe verkannt, seine Auftraggeber verraten und uns den jetzigen herrlichen Zeiten entgegengeführt hat. Einer seiner frühern Pressechefs ist, in Nummer 52, andrer Meinung.

Jeder Vergleich der Jahre 1789 und 1918 ist unhaltbar und lenkt von der Sache ab. Der 9. November hat uns niemals die völlige Umgestaltung der Wirtschaftsform, der Verwaltung und der Arbeitergesetzgebung[1] eines Landes bringen können, das dazu weder reif noch präpariert gewesen ist. Von Ebert die Taten der echten französischen Revolutionäre verlangen, heißt der Geschichte und dem Mann Unrecht tun.

Es war aber im Jahre 1918 im Keim etwas da, das der beflissene Volksbeauftragte im Keim bekämpft hat: der energische demokratische Wille, in Verwaltung und Gerichtswesen, in Diplomatie und Universität Schluß zu machen und neu zu beginnen. Dieser Reformsinn war keineswegs bolschewistisch: er war auch auf Seiten der Arbeiter recht bürgerlich und wäre niemals imstande gewesen, etwa große Sozialisierungen durchzuführen.

Der Verräter Ebert hat zweierlei mißgetan:

Er hat diesen latenten, immanenten Willen nicht begriffen und nicht aufgefangen. Er hat ihn abgefangen. Er war so verstrickt in den allerübelsten Vorstellungen von der Unentbehrlichkeit der „Spezialisten“, daß er sein Amt lieber von seinem etwas verwunderten reaktionären Inhaber verwalten ließ, als diesen zu entfernen und einen Gewerkschaftsmann einzusetzen, dessen Kollegen sich, wie die Beispiele zeigen, überraschend gut eingearbeitet haben. Es gibt keine revolutionäre Bewegung, die eine fix und fertig ausgebildete Schar von Beamten zum Beginn ihrer Machtentfaltung vorweisen kann. Der da übersetzte „revolvere“ wörtlich mit „zurückwälzen“. Die immense antimilitaristische Bewegung wurde von ihm niemals verstanden; die neuaufglänzenden bürgerlichen Ideale der Demokratie auch nicht. Daß er die Revolution des Vierten Standes nicht machen konnte, mag sein geschichtliches Verhängnis gewesen sein. Daß er nicht einmal die des Dritten gemacht hat, ist seine Schuld.

Die Gereiztheit der Parteigenossen, die dieser geborene Regierungsrat „Bolschewisten“ nannte, rührte ja eben daher, daß in den entscheidenden Tagen um den 9. November nichts, nichts und noch einmal nichts von den Ebert-Leuten unternommen wurde. Der Instinkt der Masse fühlte vollkommen richtig: Jetzt ist der Augenblick da; kein Gutsbesitzer wunderte sich, wenn er expropriiert würde, kein Offizier, kein Richter, wenn er abgesetzt, keine Verwaltung, wenn man ihr das Oberste zu unterst kehrte. Es geschah nichts. Da muckten sie auf.

Und als hier Ebert das böse Gewissen schlug, da wurde seine Schuld positiv. Wer so wenig politisches Gefühl hat, um [53] nicht zu sehen, daß es in diesem Moment das Aeußerste an verbrecherischem Wahnsinn war, einen Staat, der grade an seinen Lastern zusammengebrochen war, mit eben diesen Lastern wiederaufzubauen, dem ist nicht zu helfen. Hinter Ebert standen wenige Tage lang Millionen von Arbeitern – er holte sich entlaufene Offiziere und baute mit denen Etwas auf, was er die Ordnung nannte, und was die Arbeiter bald als Gefängnis erkannten. Hinter ihm standen wochenlang zahllose Studenten, Rechtsanwälte, selbst Beamte – er beließ die Richter und Landräte in ihren Stellungen und baute auf. Was dann begann, ist frisch in aller Erinnerung.

Es ist ja nicht wahr, wenn gesagt wird: der 9. November konnte keine Entscheidung bringen. Er hat eine gebracht. Den vollständigen Sieg der deutschen Reaktion. Und das ist Eberts Schuld, von der ihn Niemand reinwaschen kann.

Die allereinfachsten Reformen aus Angst versäumen, die simpelsten Notwendigkeiten verkennen, das Sinnfällige nicht tun, seine Rücksicht noch auf die Symbole der alten Herrschaft ausdehnen – das heißt nicht: ein Experiment vermieden haben, das heißt: ein Feigling und ein Verräter an der eignen Sache sein, die man also umsonst, vergebens, sinnlos ein Lebenlang geführt, um sie wegzuwerfen, als man die Möglichkeit hatte, sie wenigstens stückweise durchzusetzen.

In dieser Sache gibt es keine Diskussion. Hier heißt es nur die Augen aufmachen. Wo stehen wir heute –? Wo stehen wir nach fünfzig Jahren Sozialdemokratie –?

Auf dem Land die niemals geduckte Herrschaft der Amtsvorsteher und der Gutsbesitzer; in den Gerichten dieselben Richter wie unter dem Kaiser, nur: grausamer, nur kälter, nur rücksichtsloser; in der Verwaltung abgesprengte und halb verlachte Einschiebsel, die sich zu assimilieren oder zu verschwinden haben – und oben drüber, wie Öl auf dem Wasser, hier und da ein sozialistischer Minister, der bestenfalls tut, was er kann, und das ist nicht viel. Auf den Universitäten und in den Schulen die böseste Vorbereitung zu einer imperialistischen Revanche, ungeistig, aber mit organisierten Freiübungen. Das ist das Resultat von Eberts Wirkens.

Man hat uns so oft das Wort „Realpolitiker“ entgegengeschleudert. Wir wollen es sein. Die realpolitische Lage Deutschlands ist trostlos, und sie hätte es nicht zu sein brauchen, wenn Eberts „Verdienst“ nicht eben bodenlose Charakterlosigkeit gewesen wäre. Angst vor dem Wagnis ist noch keine Abkehr von der Romantik. Und weil wir hier nicht in der Pressekonferenz sind: Arbeitermorde kann man ableugnen – aus der Welt schaffen kann man sie nicht.

Niemals wäre unter dem Kaiser ein Militäreinmarsch in Thüringen und Sachsen möglich gewesen, obgleich er möglich gewesen wäre – niemals hätte das kaiserliche Imperium gewagt, die Rechte der Bundesstaaten derart zu zerstören. Niemals war das Leben Oppositioneller unter dem Kaiser so wohlfeil – „sie haben uns doch wenigstens nicht totgeschlagen“, sagte mir Harden eines Tages. Unter Ebert war es möglich. Lügen hilft da nicht.

[54] Im Bürgertum und in einem Teil der Arbeiterschaft waren im November 1918 alle Voraussetzungen zu einem Umschwung gegeben, und unterstützt wurden sie durch die fast einheitliche Gesinnung des müden Heeres. Herr Scheidemann schmeichelte am Brandenburger Tor den niedrigsten Kino-Instinkten der Zurückkehrenden und begrüßte sie als „Unbesiegte“. Sie waren in Wahrheit so besiegt wie er.

Es steht also fest:

Ebert hat nicht nur den vorhandenen Voraussetzungen keine Wirklichkeit verliehen – er ist noch weiter gegangen und hat bis ins Mark das oppositionelle Bürgertum, die Indifferenten und die eigne Partei zur Reaktion herübergezogen. Daran können wir jahrzehntelang knabbern. Und von vorn anfangen.

Weil wir aber von Ebert nichts Unmögliches erwartet, sondern nur Mögliches verlangt haben, deshalb darf unter keinen Umständen die Legende bestehen bleiben, als hätten diese verschlafenen Wichtigmacher um ihn etwa dem Vaterlande genützt, als sei das der naturgewollte Ablauf einer Bewegung, die in unsrer Generation zum ersten – und wahrscheinlich leider auch zum letzten – Mal den preußischen Boden hat wanken lassen. Wer nicht fühlt, was damals in den Straßen für ein Wind geweht hat, der soll sich nicht mit Politik beschäftigen.

Erfahrungsgemäß ist ja nun Niemand ideologischer als jene Sorte von Menschen, die die „materialistische Geschichtsauffassung“ gepachtet haben und im tiefsten deutschen Elend den Umfang ihrer Niederlage noch nicht einmal sehen. Daß der Fall Wandt, diese Rache eines blamierten Militarismus, heute ohne die Leisetreter des November nicht möglich wäre, sehen sie nicht. Daß und wie heute allüberall Sozialdemokraten behandelt werden, fühlen sie nicht. Auf Warnungen hören sie nicht. Ihnen ist „Evolution“ eine schöne Entschuldigung für ein gedeihliches Bureauwirken mit langsamer Arbeitererziehung durch Schreibmaschinenerlasse. Und wenn sie an der Laterne hängen, so zappeln sie erlöschend mit den Beinen, und ihr letztes Wort heißt: „Ein historisch belangloser Einzelfall.“

Um in Zukunft Fehler zu vermeiden, muß man die der Vergangenheit erkannt haben:

Die Männer des November haben nicht erreicht, was zu erreichen war: Personalreform an allen Gliedern des Staates; Aufhebung des Militarismus; demokratische Erziehung der Jugend, und – vor Allem – die Unterstützung einer neuen geistigen Atmosphäre, deren Ansätze vorhanden waren. Sie haben sie zerstört.

Die Männer des November haben den Ungeist der andern Seite mit allen ihren Machtmitteln unterstützt, mit Geld, mit Ämterverleihung, mit staatlicher Hilfe jeder Art; in der Wahl ihrer Mittel waren sie unbedenklich – bis zum Mord. Dieses Blut wischt kein noch so gelehrter Aufsatz von ihnen ab. Manche Mörder sind Oberpräsidenten geworden, manche sind gestorben. Ihr Andenken sei verflucht – aber Kleinbürger kann man nicht verfluchen.

[55] Jeder Anhänger dieser Männer hat das Recht verwirkt, auf Herrn Cuno, Herrn Luther und Herrn Helfferich zu schelten – sie haben es weitaus schlimmer getrieben als diese Drei, und wenn sich heute jeder nationale Minierer im Amt in Sicherheit fühlen darf, so kann er sich bei ihnen bedanken.

Zuviel verlangt, daß auch wir es tun,

Haben wir eine Klassenjustiz: Ja oder Nein? Haben wir ein antirepublikanisches Heer? Ja oder Nein? Haben wir eine reaktionäre Verwaltung? Haben wir eine schändliche Jugenderziehung auf den Universitäten? Hier gibt es keine Jahreszahlen zu memorieren – hier gibt es eine, nur eine Antwort.

Und wenn wir die erteilt haben, laßt uns nicht länger bei dem Andenken von Männern verweilen, die das nicht wert sind. Geht weiter in der Zeit, fangt von vorn an und führt euch, wenn Ihr je wieder an die Macht kommt, anders und wahrhaft revolutionär auf. Veröffentlicht Akten und enteignet die Fürsten. Werft die Richter auf die Straße und ersetzt mißliebige Beamte. Baut das Haus neu auf, aber nicht die Abtritte. Und laßt nicht zu, daß Feigheit historisch entschuldigt wird.

Von der französischen Revolution ist heute noch etwa übrig geblieben: ihre Siege. Von Ebert ist heute noch etwas übrig: seine Niederlagen, sein Mangel an Mut, sein Verrat der Genossen.

Und so lebte er fort, wenn er fortlebte.

Neue Taten über sein Andenken –!


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Arbeitergsetzgebung